Meine Reise mit den Meeresschildkröten - Christine Figgener - E-Book
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Meine Reise mit den Meeresschildkröten E-Book

Christine Figgener

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Beschreibung

»Ein wunderbares Buch, das Wissenschaftler:innen, Naturschützer:innen und alle ansprechen wird, die sich für die Welt um uns herum interessieren.« Jane Goodall, DBE, Gründerin des Jane Goodall Instituts und UN-Botschafterin des Friedens Elegant gleiten sie durchs Wasser, legen Tausende Kilometer zurück und finden selbst Jahre später noch den Weg an die Strände ihrer Geburt. Meeresschildkröten sind geheimnisvolle Urzeitwesen, und Christine Figgener macht sich seit Langem für ihre Erforschung und ihren Schutz stark. Jetzt nimmt uns die promovierte Meeresbiologin mit auf eine Reise durch das Leben dieser faszinierenden Tiere. Vom Nest folgen wir den Babys in die Weiten der Ozeane, besuchen ihre Kinderstuben und begleiten sie auf ihrer gefährlichen Reise zum Erwachsensein. Von einer, die auszog, die Schildkröten zu retten Allen Bedrohungen zum Trotz wird jedes Jahr eine neue Generation ausgebrütet, der Christine Figgener zum Schlupf verhilft. Eindrucksvoll erzählt sie von der Suche nach nistenden Weibchen an nächtlichen Karibikstränden, von schwankenden Bootsfahrten auf dem Pazifik und von den Gefahren, denen sowohl Schildkröten als auch Schildkrötenschützer:innen ausgesetzt sind. Vor allem aber steckt sie an mit ihrer Begeisterung und Leidenschaft, denn es braucht uns alle, um die Schildkröten und ihren Lebensraum zu retten. »Nur jemand, der so leidenschaftlich und engagiert ist wie die Autorin, kann durchhalten, obwohl ihr Herz jedes Mal bricht, wenn sie eine der von ihr studierten Meeresschildkröten verliert.« Jane Goodall, DBE, Gründerin des Jane Goodall Instituts und UN-Botschafterin des Friedens Die Autorin ist ausgezeichnet als »TIME's Next Generation Leader«. Mit Illustrationen und Fotos "Dieses Buch ist ein Geschenk für alle, die Spaß daran haben, von einer außergewöhnlich klugen und schlagfertigen Wissenschaftlerin zu lernen, die ihrer Leidenschaft gefolgt ist und unsere Welt ein kleines Stückchen besser macht." Hannes Jaenicke

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Mit 53 Abbildungen und neun Illustrationen

© Piper Verlag GmbH, München 2023

Redaktion: Fabian Bergmann

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de

Coverabbildung: Thierry Bois (oben) und Pexels/Pixabay (unten)

Illustrationen: Michaela Geese

Bildteilfotos: Christine Figgener, außer anders angegeben

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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Für Jairo, der Meeresschildkröten ebenso liebte wie ich, und für meine Nichte Charlotte, die noch ganz am Anfang ihrer Lebensreise steht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Anatomie einer Meeresschildkröte

Prolog

Vom Nest in die Welt

Zu Besuch in den Kinderstuben

Erwachsen werden

Du bist, was du isst

Die Reisen der Meeresschildkröten

Schildkrötenliebe

Homecoming

Aus dem Leben einer Meeresschildkrötenforscherin

Eine neue Generation

Epilog: Zukunftsmusik

Dank

Lebenszyklus einer Meeresschildkröte

Jung- und Alttiere der Meeresschildkrötenarten

Bildteil

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Anatomie einer Meeresschildkröte

Prolog

Ein paar Stunden bin ich nun schon am menschenleeren nächtlichen Strand unterwegs. Über mir erstreckt sich ein unglaublicher Sternenhimmel. Die Luft fühlt sich schwer in meinen Lungen an, und es riecht nach einer Mischung aus Salz und modrigem Holz, durchweht von süßem Blütenduft. Auf meiner einen Seite ragt die finstere Wand des undurchdringlichen Dschungels auf, während ich auf der anderen den Wellen des Karibischen Meeres ausweichen muss. Es ist noch warm, obwohl es nach Mitternacht ist, und mein langärmeliges, dunkles Sweatshirt klebt unter dem Rucksack mit der Forschungsausrüstung an meinem Rücken. Auch wenn sich meine Augen inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt haben, stolpere ich mehr, als dass ich laufe. Der Strand ist ein unübersichtlicher Hindernisparcours: umgestürzte Baumstämme, kleinere Äste und die allgegenwärtigen Senken und Mulden des weichen, feuchten Sandes. Pausenlos suche ich die Wasserlinie mit meinem Blick ab. Hin und wieder durchfährt mich ein Adrenalinschub, wenn ich einen lang gestreckten Schatten erspähe. Aber bisher hat sich jeder dieser Schatten als Baumstamm oder -stumpf entpuppt. Und ich frage mich, ob ich überhaupt erkennen würde, wonach ich Ausschau halte, wenn die Zeit käme …

Hinter mir versucht mein noch unerfahrenerer Begleiter Michael strauchelnd und schwitzend, mit mir Schritt zu halten. Nachdem er ein weiteres Mal beinahe hingefallen wäre, flucht er heftig: »Warum müssen wir im Dunkeln laufen, warum können wir nicht einfach unsere Taschenlampe benutzen?« Ich wende mich halb zu ihm um. »Meeresschildkröten mögen bei ihrer Eiablage die Dunkelheit. Sie orientieren sich bei ihrem Strandgang an den krassen Helligkeitsunterschieden zwischen dem hellsten Teil des Himmels, normalerweise sind das die Sterne und der Mond, die sich im Wasser spiegeln, und der stockdunklen Vegetation«, erkläre ich. »Wenn wir weißes Licht verwenden würden, könnten wir sie verschrecken und davon abhalten, ihre Eier zu legen.« Das scheint ihn zufriedenzustellen, und ich richte meine Aufmerksamkeit wieder in Richtung Meer.

Seit zwei Wochen nehme ich hier in Costa Rica an einem Projekt zum Schutz der Lederschildkröten teil, und obwohl ich Michael gegenüber so tue, als wüsste ich, wovon ich rede, habe ich noch keine einzige zu Gesicht bekommen. Die letzten 14 Tage habe ich in der Station verbracht und dort alles über Biologie, Ökologie und Schutz von Meeresschildkröten gelernt – einschließlich der Datensammlung und der notwendigen Maßnahmen, die nistende Mütter und ihre Eier vor Wilderern schützen sollen. Allerdings war das bisher nur reine Theorie, da wir während unserer Trainingspatrouillen nicht einem nistenden Weibchen begegneten. Und jetzt ist die Zeit fürs Training vorbei. Ich wurde ins kalte Wasser geschmissen und stolpere nun zusammen mit diesem einen Freiwilligen den Strand entlang, um »ein paar Schildkröten zu retten«, wie es die zuständige Biologin spaßig-motivierend formulierte.

Der Schweiß läuft mir langsam vom Po die Beine hinunter, und ich kann die Bartmücken spüren, die es unter meine lange Hose geschafft haben und sich jetzt an einer Blutmahlzeit erfreuen. Vielleicht sollte ich in Zukunft doch lange Socken anziehen, wie es mir empfohlen wurde. Meine Gedanken schweifen ab, zu meinem Bett und meinem sicheren Moskitonetz in der Station. Wie lange geht meine Schicht noch? Ein kurzer Blick auf die Uhr, deren Ziffernblatt wegen der hohen Luftfeuchtigkeit von innen beschlagen ist, verrät mir, dass ich noch zwei Stunden vor mir habe. Erst um vier Uhr morgens werde ich endlich todmüde ins Bett kriechen dürfen.

Auf einmal reißt mich mein Unterbewusstsein aus den Gedanken. Hat sich der dunkle Baumstamm dort in den Wellen etwa bewegt? Ich stoppe abrupt und halte den Atem an. Mein Begleiter prallt in mich hinein. »Was ist los?«, will er wissen. »Ich glaube, da ist eine Schildkröte«, flüstere ich. Tatsächlich scheint sich der Stamm etwas weiter den Strand hinaufgeschoben zu haben. Ich gehe ein paar Schritte näher, und jetzt kann ich es ganz deutlich sehen: Dort im seichten Wasser zeichnet sich die schwarze Silhouette einer riesigen Meeresschildkröte ab. Die Wellen waschen über sie hinweg, und der Mond spiegelt sich silbrig auf ihrem glatten Panzer. Sie hebt immer wieder den Kopf, so als müsste sie sich orientieren.

Mein Herz fängt wie wild zu klopfen an, und meine Gedanken rasen. Krampfhaft versuche ich, mich an alles zu erinnern, was wir im Training gelernt haben. Das Wissen wirbelt durch meinen Kopf, aber vor allem ein Detail drängt sich in den Vordergrund: Eine Meeresschildkröte ist besonders in den Anfangsstadien vor dem Eierlegen sehr schreckhaft und kriecht wieder zurück ins Wasser, wenn ihr die Situation nicht geheuer ist. Also ist für uns erst mal Rückzug angesagt. Ich zupfe Michael am Ärmel, und wir gehen mehrere Meter höher auf den Strand in den Schatten einiger Bäume. Dort erkläre ich ihm, dass wir warten müssen, bis das Weibchen anfängt, das Nest zu graben, bevor wir uns nähern können.

Über das Rauschen der Wellen höre ich, wie die langen Flossen auf den Sand klatschen und das Tier sich mit Ächzen und Stöhnen mühevoll den Strand hinaufzieht. Irgendwann verändern sich die Geräusche, es klingt, als würde Sand durch die Gegend geworfen. Langsam schleiche ich mich im Dunkeln näher. Tatsächlich scheint das Weibchen eine akzeptable Stelle gefunden zu haben und ist nun damit beschäftigt, alles fürs Nisten vorzubereiten. Über die nächste halbe Stunde pirsche ich mich mehrmals von hinten heran, um zu schauen, wie weit es ist. Die Minuten ziehen sich endlos hin, die ganze Zeit beschäftigt mich die Sorge, dass die Schildkröte den Nistvorgang vielleicht doch noch abbrechen könnte.

Allerdings gibt mir das Warten auch die nötige Atempause, um meine Nervosität unter Kontrolle zu bekommen und unsere Forschungsausrüstung vorzubereiten. Ich ziehe ein Datenblatt aus dem Rucksack und beschrifte es mit Datum und Uhrzeit. Dann suche ich mit meinem roten Taschenlampenlicht die Vegetationslinie ab, bis ein weißer Reflektor aufleuchtet. Ich laufe darauf zu und kann darüber die auf einen Baum geschriebene Zahl 25 lesen. Über die letzten zwei Wochen haben wir von Nord nach Süd Zahlen von 1 bis 160 in Abständen von 50 Metern an Bäume gemalt, sie sollen uns bei der Orientierung und Datensammlung helfen. Da der Baum links von uns und der Schildkröte steht, muss sie direkt vor dem Baum mit der Nummer 24 oder zwischen 24 und 25 sein. Auch das notiere ich gewissenhaft, denn all diese Informationen benötigen wir später für unsere Statistiken und um das Nest für die Bestimmung des Schlupferfolges wiederzufinden.

Endlich kommt der riesige Körper der Schildkröte zur Ruhe, und sie fängt an, mit ihren Hinterflossen ein Nest zu graben. Zu zweit schleichen wir uns jetzt vorsichtig von hinten näher heran. Wir dürfen nun zum ersten Mal unseren Taschenlampenstrahl auf die Schildkröte richten – jedoch nur das rote Licht und auch nur auf ihren Rücken und Schwanz. Die sensible Phase ist vor der Eiablage. Sobald die ersten Eier gelegt werden, fällt das Weibchen in eine Art Nisttrance – die meisten Arten lassen sich jetzt kaum noch stören.

Unglaublich, wie riesig die ist, denke ich, während ich mich hinter der Schildkröte auf dem Bauch in den Sand lege und meinen Lichtstrahl ihren Rücken hochgleiten lasse. Sie ist von Kopf bis Schwanz länger, als ich groß bin (1,70 Meter!), und muss so um die 300 bis 600 Kilogramm wiegen. Das ist keine Ausnahme für eine Lederschildkröte, wie ich in den kommenden Jahren lernen werde, aber dieser erste Anblick ist einfach beeindruckend. Faszinierend ist auch, wie grazil sie ihre Hinterflossen trotz ihrer Größe und ihres an Land doch eher unbeholfenen Erscheinungsbildes bewegt – sie benutzt sie wie Hände, um den Sand aus dem halb fertigen Nest zu entfernen. Wahnsinn!

Michael und ich verharren in ehrfürchtigem Schweigen und beobachten die Hinterflossen bei der Arbeit. Abwechselnd gleiten sie langsam in die immer tiefer werdende Eikammer hinein, strecken sich, kratzen mit dem hinteren Ende am entgegengesetzten Rand Sand weg, biegen sich, um den auf ihnen liegenden Sand aus dem Nest zu balancieren und ihn dann gekonnt und mit Schwung draußen zur Seite zu werfen. Ein hypnotisierender Anblick, der mich glatt in den Schlaf wiegen könnte, wenn das Adrenalin nicht wäre.

Nachdem ich ein paar Minuten regungslos zugeschaut habe, bemerke ich etwas Metallisches, das immer wieder aufblitzt, wenn das Weibchen die Flossen wechselt. Bei genauerem Hinsehen erkenne ich zwei Metallanhänger, die an der Basis beider Flossen zum Schwanz hin befestigt sind. Ein kurzes Gefühl der Erleichterung überkommt mich. Diese Schildkröte ist schon identifiziert und markiert worden, und ich muss mein spärliches, bis jetzt nur theoretisches Wissen um das Markieren von Meeresschildkröten heute nicht in die Praxis umsetzen. Ich ziehe mir ein Paar Latexhandschuhe über und gebe das wasserfeste Datenblatt auf dem Klippboard an Michael. Ohne die Schildkröte oder ihren Schwanz zu berühren, reibe ich mit einem Finger vorsichtig den Sand von beiden Metallmarken ab und lese die Nummern und Buchstaben vor: »V1858 und V1357.« Ich lasse Michael die Serien sicherheitshalber wiederholen, die Kombi stimmt, und damit haben wir zwei weitere wichtige Daten gesichert. Bisher läuft es doch ganz gut, das beruhigt mich.

Ich widme meine Aufmerksamkeit nun der Umgebung, denn ich muss die Entscheidung treffen, ob das Nest natürlich belassen werden kann oder ob die Eier verlegt werden müssen. Letzteres hieße, dass ich die Eier entweder in der Nähe an einem sichereren Ort am Strand verstecken oder sie zu unserer ein paar Kilometer entfernten Inkubationsstation bringen müsste. Wir sind mit 30 Metern weit von der Linie der letzten Flut entfernt und etwa drei Meter vor der Baumgrenze. Das Weibchen ist während des Grabens weder auf Baumwurzeln noch auf Wasser gestoßen. Zudem sind wir auf einem Strandabschnitt, auf dem keine menschliche Behausung steht. Das alles ist vielversprechend, die Eier scheinen hier im natürlichen Nest erst mal sicher zu sein.

Ich ziehe also den Handzähler aus dem Rucksack und instruiere Michael: »Du wirst erkennen, dass sie mit dem Nest fertig ist, wenn sie mit einer Flosse nur noch ein bisschen am Rand kratzt, aber keinen Sand mehr entfernt. Dann wird sie die Flosse aus dem Nest ziehen und damit ihren Schwanz bedecken. Das ist das Zeichen, dass sie mit der Eiablage beginnen wird.« Michael muss dann gut aufpassen, denn er muss jedes Ei zählen, das aus der Öffnung an der Basis des Schwanzes, der Kloake, fällt.

Wir müssen nicht lange warten. Nach ein paar Minuten zieht das Weibchen seine Flosse aus dem Nest und legt sie über den Schwanz. Vorsichtig schiebt Michael seine linke Hand unter die Flosse und hebt sie hoch, damit er freie Sicht auf die Eikammer hat. Ich kann das Weibchen pressen sehen, und dann fallen zwei etwa billardkugelgroße weiße Eier ins Nest.

Während Michael gewissenhaft zählt, ziehe ich das teuerste Forschungsgerät aus meinem Rucksack hervor. Ein PIT-Tag-Scanner, mit dem ich die Schildkröte nach integrierten Mikrochips absuche. Zu meiner Freude ertönt auch gleich ein Piepton, als ich den Scanner über ihre Schultern gleiten lasse, und eine Nummer erscheint auf dem Display. Wieder eine Info mehr für unser Datenblatt!

Ich schaue Michael über die Schulter. »Hat sie schon angefangen, ihre falschen Eier zu legen?«, frage ich. Er bejaht, und jetzt sehe auch ich die kleineren Eier, die schon im Nest liegen. Von der Größe eines Tischtennisballs bis hin zu der einer Erbse ist alles dabei. Diese sogenannten falschen Eier sind nur Eiweißkugeln mit Schale (auf Englisch shelled albumen globes, kurz SAGs) und dienen vermutlich als Platzhalter, damit die geschlüpften Babys später besser agieren und kooperieren können. Den falschen Eiern geht wortwörtlich die Luft aus, während die echten Eier inkubieren, und sie kreieren so Extraplatz. Gemeinsam schauen wir zu, wie die letzten ins Nest plumpsen. Als das Weibchen fertig ist, drückt es die Flosse, die auf seinem Schwanz gelegen hat, ins Nest und presst sie auf die Eier. Dann zieht es die Flosse zurück, legt sie neben dem Nest ab und lässt die andere Flosse zusammen mit ein bisschen Sand ins Nest gleiten. Wieder presst es auf die Eier und den Sand. Müsste ich externe Marken anbringen, dann wäre jetzt der perfekte Zeitpunkt dafür. Dieses Spiel wiederholt sich, bis die Eier komplett bedeckt und das Nest bis zum Rand mit Sand gefüllt ist.

Wir müssen die große Dame nun noch vermessen. Es werden generell Länge und Breite des Rückenpanzers, des Carapax, ohne Kopf und Schwanz mit einem Maßband an der Kurve des Rückens entlang gemessen. Dafür braucht man bei Lederschildkröten immer zwei Personen, da Länge und auch Breite die Armspannweite der meisten Menschen übertreffen und es zudem ziemlich unbequem ist, einen halben Spagat über den Rücken einer Lederschildkröte zu machen. Das werde ich bei späteren Tieren am eigenen Leib erfahren. Heute Nacht aber verläuft die Vermessung reibungslos, obwohl das Weibchen schon angefangen hat, sein Nest zu tarnen, und wir vorsichtig sein müssen, um nicht von den riesigen Vorderflossen umgehauen zu werden. Die Schildkröte ist mit 1,62 Metern Panzerlänge definitiv ein stattliches Exemplar und ein bisschen größer als die durchschnittliche Lederschildkröte hier in der Karibik, deren Carapax gewöhnlich 1,55 Meter misst. Nachdem wir auch diese Daten zusammen mit der Anzahl der Eier (96!) notiert haben, ist unsere Arbeit fürs Erste getan. Wir packen unsere Ausrüstung zusammen und setzen uns ein Stück abseits in den Sand, um der Schildkröte bei ihren letzten Flossengriffen zuzuschauen. Ich merke, wie ich mich langsam entspanne und das Adrenalin endlich Platz für die Endorphine macht. Meine erste Lederschildkröte! Der absolute Oberwahnsinn!

Während das Weibchen grunzend Sand um sich wirft, um das Nest zu tarnen und die Spuren zu verwischen, hänge ich meinen Gedanken nach. Selbst in meinen kühnsten Träumen hatte ich mir nicht vorstellen können, dass ich irgendwann mal nach Zentralamerika auswandern würde, um Meeresschildkröten zu erforschen und zu schützen. Aber jetzt sitze ich hier, am anderen Ende der Welt, unter einem Sternenhimmel, den ich in meinem Leben bisher nur wenige Male so klar gesehen habe. In der Dunkelheit kann ich am Strand immer noch die Umrisse des riesigen Meerestieres ausmachen, das gerade in meinem Beisein Eier gelegt hat. Ich muss mich kneifen. Doch das ist kein Traum. Ich kann die Brise vom Meer auf meiner Haut spüren und nehme den Geruch von Algen und Kloakenflüssigkeit wahr, der von der nistenden Schildkröte zu mir herüberweht.

Rückblickend kann ich sagen, dass mit dieser einen Lederschildkröte mein großes Abenteuer begann.

Wallriffschildkröte

Gefährdungsstatus (IUCN): unzureichende Datengrundlage (DD – data deficient) Panzerlänge: 75–99 cmGewicht: 70–90 kgHauptnahrung: weiche WirbelloseGeschlechtsreife: 15–25 JahreRemigrationsintervalle: 2–3 JahreNistintervalle: 15 TageAnzahl der Gelege pro Saison: 3–4Gelegegröße: 55 EierInkubationszeit der Gelege: 50–55 TageBesonderheiten: Vorkommen auf die Gewässer im Norden Australiens und Süden Papua-Neuguineas beschränkt; große Eier im Verhältnis zur Körpergröße; flacher Panzer, daher der englische Name flatback turtle

Vom Nest in die Welt

 

Trotz der frühen Morgenstunde steht die costa-ricanische Sonne schon hoch am Himmel und brennt mir heiß auf den Kopf, während ich Schaufel um Schaufel schwarzen Sand schippe. Dicke Schweißtropfen laufen mir übers Gesicht und in die Augen. Im Auftrag des Lederschildkrötenschutzprojekts Baulas y Negras in Ostional, das ich vor Ort als Biologin leite, heben meine Kollegen und ich eine tiefe Grube aus. Wir haben schon vor ein paar Stunden unsere T-Shirts ausgezogen, um keinen Hitzschlag zu bekommen, und stehen nun schweißüberströmt bis zum Bauchnabel in einem Loch, das sich über eine Fläche von circa 5 × 7 Metern erstreckt. Meine Rückenmuskeln sind ein einziger Schmerz von der Arbeit der letzten Tage, ich habe Blasen an den Händen, die in der Zwischenzeit aufgeplatzt und blutig sind. Letzte Nacht habe ich nach meiner Strandpatrouille nur drei Stunden geschlafen, und trotzdem fängt mein Tag gerade erst an. Wenn wir endlich mit dem Ausheben der Grube fertig sind, werden wir am Nachmittag kiloweise nassen Sand vom Rand der Wellen in Schubkarren oder, in Säcke gepackt, auf dem Rücken den Strand hochschleppen, um ihn dann, zusätzlich siebend, in das riesige Loch zu schaufeln. Eine Knochenarbeit. Und wofür?

Alle sieben noch existierenden Meeresschildkrötenarten sind vom Aussterben bedroht, jede einzelne steht auf der Roten Liste gefährdeter Arten. Echte Karettschildkröte und Atlantische Bastardschildkröte werden global als »vom Aussterben bedroht« eingestuft, die Grüne Schildkröte als »stark gefährdet«, Lederschildkröte, Oliv-Bastardschildkröte und Unechte Karettschildkröte als »gefährdet«, und zur Wallriffschildkröte gibt es nicht genug Daten, um ihren Status endgültig bestimmen zu können. Der Gefährdungsstatus einzelner Populationen ist sogar noch weitaus besorgniserregender, als die globale Situation vermuten lässt. Viele hatten in den letzten fünf Jahrzehnten einen drastischen Rückgang zu verzeichnen. Für einige Populationen und Arten sieht es in der Tat so brenzlig aus, dass es keine Garantie für ihr zukünftiges Überleben gibt – dazu zählt auch die Ostpazifische Lederschildkröte, die der Hauptfokus unseres Projekts in Ostional ist. Ihre Zahl ist so stark zurückgegangen, dass nach aktuellen Berechnungen jährlich nur noch etwa 300 Weibchen an den Stränden von Mexiko bis nach Kolumbien nisten. Wissenschaftler:innen gehen davon aus, dass wir in zehn Jahren gar keine Lederschildkröten mehr im Ostpazifik finden werden – es sei denn, wir Menschen leisten Hilfestellung.

Und genau das tun meine Kollegen und ich gerade. Zu diesem Zeitpunkt nisten noch neun Weibchen in Ostional, was in den kommenden Jahren jedoch weiter abnehmen wird. Das Hauptziel unseres Projekts ist deshalb, so viele Meeresschildkrötenbabys wie nur möglich zu produzieren und sicherzustellen, dass eine neue Generation von Lederschildkröten entsteht. Im Detail sieht das so aus, dass wir jede Nacht am Strand patrouillieren, damit die Meeresschildkrötenweibchen ungestört ihre Eier in den Sand legen können – beziehungsweise manchmal auch in eine Tüte, die wir unter ihren Schwanz halten. Wenn wir uns für Letzteres entscheiden, werden die Eier danach an einen sicheren Ort verlegt, um dort in Ruhe ausbrüten zu können.

Warum wir das machen? An vielen unserer Niststrände werden die Schildkröteneier von Menschen gestohlen, von Wilddieben oder Nesträubern (poacher auf Englisch, hueveros auf Spanisch). Daneben gibt es auch viele natürliche Feinde, die sich gerne den Bauch mit den Eiern vollschlagen, wie Waschbären, Nasenbären, Stinktiere, Geier und Krabben. Leider haben deren Zahlen in den letzten Jahren erheblich zugenommen. Durch die Zerstörung der natürlichen Lebensräume verlieren wir vermehrt größere Raubtiere, welche die Populationen von Waschbären und Co unter Kontrolle halten könnten. Ein zusätzliches Problem sind Haushunde, die frei durch die Gegend streifen, die Nester ausbuddeln und sich an den Eiern satt fressen.

Doch damit nicht genug! Die Gezeiten und der Anstieg der Meeresspiegel durch den Klimawandel führen zur kontinuierlichen Erosion von Sand an Stränden, sprich, der Sand wird nach und nach abgetragen. Nester werden mit Wasser überspült, oder die Eier bleiben sogar unter Wasser begraben. Oft werden ganze Strandabschnitte innerhalb weniger Wochen komplett weggewaschen und mit ihnen Nester, die im Sand inkubierten.

Zum Schutz der gelegten Eier setzen deshalb viele Projekte auf bewachte Inkubationsstationen, auf Englisch hatcheries und auf Spanisch viveros. Sie sollen eine erfolgreiche Inkubation garantieren. Auch wir wollen so möglichst viele Meeresschildkröten bis zum Schlüpfen begleiten. Dementsprechend fängt fast jede unserer Nistsaisons mit einem ähnlichen Szenario an: Wir müssen eine Grube am Strand mit sauberem Sand füllen, Zäune aufstellen und Schatten spendende Unterstände bauen, damit die Nester ungestört ausbrüten können – 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche von Menschen bewacht.

Idealerweise bauen wir diese Stationen wochenlang in schweißtreibender Arbeit, noch bevor die ersten Weibchen zur Eiablage kommen. Leider ist uns in der letzten Nacht ein Weibchen zuvorgekommen, und jetzt sitzt uns die Zeit im Nacken, denn das Lederschildkrötenweibchen wird, den Nistintervallen seiner Art folgend, in zehn Tagen zur nächsten Eiablage kommen. Bis dahin muss unsere Station fertig sein. Der beschwerlichste und langwierigste Teil des Baus ist das Ausschaufeln der Grube und das Sieben des Sandes, der im Anschluss dort hineingefüllt wird. Ein doppelter Zaun aus Insektenschutznetz, anti aphid mesh, wird bis zu 1,20 Meter tief vergraben und schließt zusammen mit einem Maschendraht oberirdisch auf einer Höhe von 1,50 Metern die gesamte Fläche sicher ein. Mindestens die Hälfte der Inkubationsstation wird außerdem von einem Sonnensegel aus Bambusstangen und einer Art Tarnnetz beschattet. Auf der Sandfläche der Station markieren wir Quadrate von 1 × 1 Meter mit Schnüren, dort werden die Nester später im Schachbrettmuster wieder vergraben, um die Nestdichte künstlich klein zu halten.

Meistens arbeiten wir ein paar Stunden am Morgen vor dem Frühstück, bevor die Sonne zu heiß scheint, und ein paar Stunden am Nachmittag, wenn die größte Mittagshitze vorüber ist. Nachts gehen wir auf Strandpatrouille. Manche der Projekte, die ich über die Jahre geleitet habe, haben nicht nur eine Station, sondern gleich zwei, und die nicht nur auf einer kleinen Fläche wie hier, sondern doppelt oder dreimal so groß. Diese Vorbereitungen gehören definitiv nicht zu meinen Lieblingsaufgaben, sind aber eine Notwendigkeit, um das Überleben der Eier sicherzustellen und so viele Jungtiere wie möglich zu produzieren.

Selbst wenn ein natürliches Nest erfolgreich bis zum Ende inkubieren kann, liegt der Schlupferfolg nicht bei 100, sondern eher bei 50 bis 60 Prozent. Wir können die Anzahl der geschlüpften Jungtiere auf durchschnittlich 70 bis 90 Prozent steigern, indem wir alle gelegten Nester in Inkubationsstationen ausbrüten und zusätzliche Maßnahmen ergreifen. Dazu zählen zum Beispiel zylindrische Körbe aus Kaninchendraht und Insektennetz, die über jedes der Gelege gestülpt werden. Der untere Rand wird 20 bis 30 Zentimeter tief eingegraben und soll Krabben davon abhalten, sich ins Nest zu buddeln und die Eier zu fressen. Das Insektennetzverhindert, dass Fliegen ihre Eier ablegen und sich die Maden dann ins Nest graben, um die Eier und Babys anzufressen.

Durch die Körbe und den Zaun haben die Babys aber logischerweise nicht mehr die Möglichkeit, direkt zum Wasser zu laufen. Deshalb müssen wir die Station tagtäglich bewachen und die einzelnen Nester alle 20 Minuten kontrollieren. Geschlüpfte Babys werden sofort aus den Körben genommen und in eine dunkle Kiste mit feuchtem Sand gelegt. Tagsüber warten wir, bis die Nacht hereinbricht oder es regnet und die Temperaturen dadurch kühler sind, bevor wir die Babys freilassen. Nachts werden sie in einer Gruppe gesammelt und dann gemeinsam freigelassen.

Den Schlupferfolg und damit auch den Erfolg unserer Hilfestellung bestimmen wir, indem wir die geschlüpften Nester aufbuddeln und eine Inventur des Inhalts machen. So können wir sehen, wie viele Babys tatsächlich geschlüpft sind und wie viele nicht. Dann öffnen wir zusätzlich die verbliebenen Eier, um herauszufinden, warum aus ihnen nichts geschlüpft ist. Hat überhaupt ein Embryo angefangen, sich zu entwickeln, oder hat ein Bakterien- oder Pilzbefall das verhindert? Das sind wichtige Daten, um unsere Schutzstrategien zu beurteilen und, wenn notwendig, zu verbessern. Natürlich ist diese Nestinventur, auf Englisch nest excavation, alles andere als angenehm. Obwohl dieses Prozedere innerhalb von 24 bis 48 Stunden ausgeführt wird, nachdem die Hauptgruppe der Babys das Nest verlassen hat, sind viele der Eier schon halb verfault. Kein Wunder also, dass ich mit der Inventur einen erbärmlichen Gestank verbinde, der sich trotz Latexhandschuhen an Hände und Kleidung heftet. Während meiner Diplomarbeit habe ich teilweise bis zu 20 Nester pro Tag ausgegraben. Um den Geruch zu neutralisieren, band ich mir oft ein parfümiertes Tuch vor den Mund, was leidlich half und mir den Duft meines Lieblingsparfüms für immer verdorben hat.

An vielen Stränden müssen wir zusätzlich künstlichen Schatten spenden, damit die Nester nicht zu warm werden und die Eier nicht kochen. Temperatur ist ein wichtiger Faktor in der Entwicklung der Meeresschildkrötenbabys, denn zu kalte (unter 24 °C) sind genauso tödlich für heranwachsende Embryonen wie zu heiße (über 36 °C), vor allem über einen längeren Zeitraum. Die Bebauung von Stränden hat vielerorts zum Verlust der schattenspendenden natürlichen Vegetation geführt, und der Klimawandel lässt globale Temperaturen zusätzlich ansteigen, sodass an vielen unserer Niststrände Temperaturen jenseits des letalen Limits herrschen. Mit Sonnensegeln können wir sie aber so weit herunterregulieren, dass die Eier ohne Problem ausbrüten. Auf diese Weise produzieren wir in jeder Saison Tausende kleine Meeresschildkrötenbabys, die wir dann unter Aufsicht ins große, weite Meer entlassen können.

Die Inkubationstemperatur spielt noch eine weitere wichtige Rolle, denn das biologische Geschlecht von Meeresschildkröten entscheidet sich nicht wie beim Menschen und vielen anderen Tieren über Geschlechtschromosomen, sondern über die Sandtemperatur im zweiten Drittel der Inkubation, der thermosensitiven Zeit, in der die vorherrschende Temperatur einen Einfluss auf die Entwicklungsprozesse hat. Ist es wärmer, entwickeln sich mehr Weibchen, ist es kälter, mehr Männchen. Man kann sich diese Regulierung gut mit dem englischen Merksatz »hot chicks, cool dudes« (heiße Mädels, coole Jungs) merken. Diese temperaturabhängige Geschlechtsdetermination (TGD, auch TSD von temperature-dependent sex determination) kennt man nur von einigen Reptilien- und Fischarten. Es ist noch nicht vollständig geklärt, wie der eigentliche Prozess im Detail abläuft, aber ein verantwortliches Enzym scheint die Aromatase zu sein, deren Aktivität mit steigender Temperatur zunimmt. Sie wandelt das männliche Geschlechtshormon Testosteron in das weibliche Geschlechtshormon Östrogen um. Der Temperaturunterschied zwischen einem Nest mit 100 Prozent Männchen oder Weibchen liegt bei gerade mal 2,5 °C. Aber es gibt eine Schlüsseltemperatur, bei der sich die Embryonen in einem Geschlechterverhältnis von genau 50:50 entwickeln, die sogenannte pivotal temperature, die für die meisten Arten bei um die 29 °C liegt.

Der Klimawandel und die daraus resultierende Erderwärmung haben in den letzten Jahrzehnten dazu geführt, dass generell mehr Weibchen als Männchen schlüpfen – zum Teil in krassen Verhältnissen wie 9:1. Diese Entwicklungen machen mir große Sorgen, denn obgleich wir die Auswirkungen vielleicht noch nicht sehen, wird der Mangel an Männchen in den kommenden Jahren zu einer weiteren Gefährdung für die bereits bedrohten Populationen der Meeresschildkröten werden.

Ein paar Jahre später stehen wir wieder auf dem gleichen Strand. Die Station, die wir dieses Mal errichten, ist aber nicht für unser eigentliches Schutzprojekt bestimmt, sondern für einen BBC-Dokumentarfilm, in dem über das Innenleben eines Oliv-Bastardschildkrötennestes berichtet werden soll. Für uns Wissenschaftler:innen sind die Monate der Inkubation eine geheimnisumwobene Zeit, denn wir wissen immer noch nicht alles darüber, was im Nest und in den Eiern geschieht. Wir können die Eier und die darin heranwachsenden Embryonen schließlich nur bedingt beobachten und erforschen. Die Dokumentarfilmer:innen wollen ein paar dieser Geheimnisse lüften und machen sich unser Wissen über den Bau von Inkubationsstationen sowie die große Anzahl an Schildkröten in Ostional zunutze, um über Kameras im Nest noch nie zuvor gewonnene Einblicke in ein brütendes Meeresschildkrötennest zu erhalten.

Unser Strand ist nämlich berühmt für ein Phänomen, das sich arribada nennt, Spanisch für Ankunft. Jeden Monat kommen – normalerweise in der Woche vor Neumond – Tausende von Oliv-Bastardschildkrötenweibchen hier an, die ihre Eiablage als Massenanlandung synchronisieren. Über einen Zeitraum von drei bis zehn Nächten können so bis zu einer halben Million Weibchen gleichzeitig nisten. Stellt euch einen ein bis zwei Kilometer langen Strandabschnitt mit schwarzem Sand bei Nacht vor, auf den plötzlich, als hätte jemand einen unhörbaren Pfiff ausgestoßen, Tausende Schildkröten krabbeln, oft neben- und auch übereinander. Ein stetiger Strom von Schildkrötensilhouetten fließt aus dem Wasser heraus und wieder ins Wasser hinein bis sich auf jeder freien Fläche ein Weibchen befindet, das entweder gerade ein Loch buddelt oder schon dabei ist, Eier zu legen. Sand und intakte sowie zerbrochene Eier fliegen durch die Gegend und einem auch immer mal wieder direkt ins Gesicht, wenn man nicht vorsichtig ist. Man kann keinen Meter laufen, ohne fast auf eine Schildkröte zu treten. Es ist keine Seltenheit, dass sich ein Weibchen in den Schulterriemen eines unachtsam abgestellten Rucksacks verheddert und ihn über den Strand zerrt. So haben wir schon mehr als einmal Ausrüstungsgegenstände im Sand oder im Meer verloren. Ringsherum tönt das stampfende Geräusch all dieser Schildkröten, die mit ihrem Bauchpanzer tanzend den Sand über ihren Eiern festklopfen. Tagsüber kommen nur vereinzelt Weibchen zur Eiablage, da die Sonne erbarmungslos herunterbrennt, aber mit ihrem Untergang und der hereinbrechenden Flut beginnt das Spektakel jede Nacht aufs Neue und endet erst wieder mit den ersten Sonnenstrahlen.

Dieses Naturschauspiel, über das noch wenig bekannt ist und das einem schlicht den Atem raubt, ist schon in vielen Dokumentarfilmen und Hochglanzmagazinen porträtiert worden. Wer die zweite Staffel von »Unser blauer Planet« gesehen hat, kennt die beeindruckenden Drohnenbilder, die von einer solchen arribada in Ostional aufgenommen wurden. Weltweit kann man dieses Phänomen an nur knapp einem Dutzend Stränden beobachten, die meisten von ihnen in Zentralamerika und zwei in Indien. Ostional ist einer von zwei Stränden, an denen die größten arribadas dokumentiert wurden.

Über die nächsten Wochen wollen wir insgesamt fünf Gelege von Oliv-Bastardschildkröten in künstliche Sandnester der Inkubationsstation bringen. Dort können die Eier über eingebaute Plexiglasscheiben gefilmt und die Temperaturen in jedem Nest mit einem raffinierten Thermometer von außen überwacht werden. Zusätzlich nutzen wir Mikrofone, die die Laute aus dem Nest aufzeichnen. Für mich als Wissenschaftlerin und Schildkrötennerd unglaublich spannend! Die BBC hat eine Truppe aus verschiedenen Wissenschaftlerinnen (!) zusammengestellt, die unterschiedliche Aspekte der Meeresschildkrötenwiege vor der Kamera erforschen sollen. Begleitet werden wir dabei von zwei weiteren Wissenschaftlern, die das Unterfangen publikumswirksam kommentieren sollen.

Endlich ist es so weit. Die Inkubationsstation ist fertig und das Kamerateam angereist. Ihr Aufenthalt wurde im Voraus so geplant, dass eine hohe Chance besteht, eine arribada filmen zu können und während der Massennistung die benötigten fünf Gelege einzusammeln. Aber es kommt wie immer anders als geplant. Nachdem wir mehrere Nächte vergeblich auf eine arribada gewartet haben, entscheiden wir, die Eier von einzelnen nistenden Weibchen zu sammeln, von denen es auch genügend in Ostional gibt. So können die Nester in Ruhe ausbrüten, und wir müssen den zweiten angesetzten Drehtermin in 45 Tagen nicht noch weiter nach hinten schieben.

In der nächsten Nacht machen wir uns also auf die Suche nach diesen einzelnen Weibchen. Ich laufe die Wasserlinie des Strandes auf und ab und sehe nach ein paar Stunden endlich einen hochgewölbten, dunklen »Stein« aus den Wellen gleiten. Sogleich schicke ich ein Lichtsignal Richtung Drehteam, das wenige Kilometer entfernt wartet. Damit löse ich bei der verschlafenen Crew leichtes Chaos aus, weil jede:r versucht, sich und sein Equipment so schnell wie möglich zu organisieren. Endlich setzt sich die Karawane in Bewegung und hastet den Strand entlang auf meine rote Lampe zu. Innerhalb einer Viertelstunde sind die Produzentin, die zwei Regisseurinnen, die zwei Kameramänner, der Tonassistent, die zwei wissenschaftlichen Moderatoren und drei unserer lokalen Assistenten ein bisschen außer Atem bei mir und der Schildkröte angekommen und bereiten alles vor, um den Prozess des Eiersammelns zu filmen.

Idealerweise fangen wir die Eier mithilfe einer speziellen Tüte auf, noch während die Schildkrötenmutter sie aus ihrer Kloake presst und bevor sie in den Sand fallen. Dazu legt man sich hinter dem Tier auf den Bauch und hält die Tüte vorsichtig unter die Kloake. Die Tüten müssen äußerst stabil sein und genug Volumen besitzen, da ein einziges Gelege mehrere Kilo wiegen und je nach Art bis zu 200 Eier umfassen kann. Doch wie überstehen die fragil wirkenden Eier den Sturz aus 45 bis 75 Zentimetern Höhe überhaupt unbeschadet? Meeresschildkröteneier haben genau wie die anderer Reptilien eine flexible, pergamentartige Schale, die ihren Aufprall abfedert. Sie ist außerdem für Wasser und Gase durchlässig, sodass der Embryo kontinuierlich mit Sauerstoff versorgt wird, der ungehindert aus dem Sand durch die Schale diffundiert. Die Schale selbst besteht aus einer faserigen inneren organischen Membran und einer äußeren anorganischen oder mineralischen Schicht aus Kalziumkarbonat, das in Kristallform als Aragonit oder Kalzit auf die organische Membran aufgelagert wird. Eine tolle Verpackung, die den Embryonen ein sicheres Zuhause bietet.

Sobald das Weibchen alle Eier gelegt hat, zieht man die Tüte behutsam aus dem Nest. Wenn man es umsichtig genug macht, bekommt die Schildkröte von alledem nichts mit und beginnt, ihr Nest mit Sand zu bedecken, als wären ihre Eier noch dort. Dadurch vermeiden wir unnötigen Stress für das Tier. Wenn man sich hingegen wie ein Elefant im Porzellanladen benimmt, die Kloake berührt oder generell zu viele hektische Bewegungen macht, kann es vorkommen, dass das Weibchen mitten im Legeprozess die Flucht ergreift. Natürlich ist das ein Szenario, das es unter allen Umständen zu vermeiden gilt. Dementsprechend üben wir das Eiersammeln mit neuen Leuten erst im Trockenen und erklären im Detail, worauf sie achten müssen. Auch unser Filmteam samt Moderatoren und Wissenschaftler:innen hat diese Einweisung erhalten.

Nachdem alle Eier im Sack beziehungsweise in der Tüte sind, tragen wir sie aufmerksam und möglichst ohne Schütteln zur Inkubationsstation. Die Entwicklung der Embryonen beginnt nämlich mit dem Fall aus der Kloake und dem ersten Kontakt mit Sauerstoff. Dieser löst eine Fortsetzung der Zellteilung aus, die schon im Leib der Mutter durch die Verschmelzung ihrer Ei- mit den männlichen Samenzellen begonnen hat, aber durch die sauerstoffarme Umgebung im Eileiter zum Stillstand gekommen war. Nach der Eiablage bildet sich aus dem Zellhaufen der kleine Schildkrötenembryo, der vom Eidotter genährt wird. Idealerweise wird das Gelege innerhalb von sechs bis zwölf Stunden nach Eiablage umgelegt, denn danach heftet sich der Embryo im Zuge seiner voranschreitenden Entwicklung von innen oben an die Eierschale. Wenn die Position des Eis nach diesem Anheften verändert wird, zum Beispiel oben und unten vertauscht werden, kann der Embryo ersticken. Zudem ist es wichtig, die Eiertüten beim Transport nicht zu nahe an sich zu pressen, da unsere Körpertemperatur von 36 °C viel zu warm für die sich entwickelnden Embryonen ist. Also halten wir die Tüte mit ausgestreckten Armen seitlich vom Körper weg, um ein zu starkes Schwenken oder einen Sturz auf die Eier zu vermeiden. Man kann sich vielleicht vorstellen, dass das über mehrere Kilometer kein leichtes Unterfangen ist.

Wie schnell sich ein Embryo zu einer vollständigen Babyschildkröte entwickelt, hängt von der Sandtemperatur während der Inkubation ab. Wenn der Sand eher kühle 25 °C hat, weil das Nest zum Beispiel im Schatten liegt oder es längere Zeit regnet, kann die Inkubation 65 bis 75 Tage dauern. Wenn es hingegen in der direkten Sonne liegt und es selten regnet, entwickeln sich die Embryonen dank der höheren Temperaturen von bis zu 35 °C schneller und schlüpfen manchmal schon nach 45 Tagen. Interessanterweise sind Babys, die nach einer kürzeren Inkubationszeit schlüpfen, oft kleiner, dafür agiler, und Babys, die nach einer sehr langen Inkubationszeit schlüpfen, eher größer, aber auch schwerfälliger. Das hat damit zu tun, dass es eine Weile dauert, die einzelnen Bausteine, die vom Dottersack geliefert werden, in eine Schildkröte zu verwandeln: Kürzere Zeiten ermöglichen nur den Bau einer kleinen, dafür schnellen Schildkröte, längere Zeiten lassen einen langsameren, aber wahren Wonneproppen entstehen. Dabei ist zum Beispiel die Fähigkeit, sich selbst von der Rücken- wieder in die Bauchlage zu drehen, von äußerster Wichtigkeit. Sich innerhalb der ersten zwei Stunden nach dem Verlassen des Nestes aufrichten zu können, zu kriechen und dann schnell zu schwimmen erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass ein Baby die Transitzeit vom Nest bis zur Wasserlinie überlebt – und dann auch schneller außerhalb der Reichweite von aquatischen Fressfeinden ist.

Oliv-Bastardschildkröten legen zum Glück im Durchschnitt nur um die 100 Pingpongball-große Eier, die zusammen circa drei Kilogramm wiegen. Der Transport zur Inkubationsstation ist also nicht ganz so beschwerlich wie mit einem Lederschildkrötengelege. Generell legen kleinere Arten mehr und kleinere Eier, wodurch auch ihr Nachwuchs kleiner ist als der größerer Arten. Die Ausnahme bildet die Wallriffschildkröte, die bei einer dreimal geringeren Körpergröße fast genauso große Eier legt wie die Lederschildkröte. Die individuelle Größe des Weibchens hat dagegen interessanterweise wenig mit der Größe des Nachwuchses zu tun – stattlichere Weibchen legen zwar mehr Eier, aber nicht unbedingt größere.

Der Grund dafür ist, dass größere Eier und damit größere Nachkommen auf Kosten von weniger Nachkommen produziert werden. Evolutionstheoretisch wird die Tauglichkeit, fachsprachlich Darwin’sche Fitness, eines vererbbaren Merkmals danach bemessen, wie es sich auf die Anzahl der Nachkommen auswirkt: Eine Anpassung ist besser, wenn sie die Nachkommenzahl generell oder die Überlebenschancen der einzelnen Nachkommen steigert. Ein Individuum mit höherer Fitness hat also, unter exakt gleichen Umweltbedingungen, mehr überlebende Nachkommen als eines mit geringerer Fitness. Allerdings ist eine Anpassung nicht immer grundlegend besser als eine andere – wie auch im Fall der Meeresschildkröten. Mehr Eier bedeuten zwar mehr Nachkommen, aber größere Eier führen zu größeren Nachkommen mit einer höheren Überlebenschance. Der Punkt, an dem eine Balance zwischen diesen beiden wünschenswerten, aber sich ausschließenden Situationen erreicht wird, wird mit der Theorie der optimalen Eigröße erklärt: Die natürliche Selektion hat die Eigröße an dem Punkt optimiert, an dem eine erhöhte Darwin’sche Fitness in Verbindung mit einer erhöhten Eigröße der Verringerung der Fitness durch eine Verringerung der Nachkommenzahl gleichkommt. Oder einfacher gesagt: Das Ziel sind größtmögliche Eier bei möglichst vielen Nachkommen.

Meeresschildkröten setzen in ihrer Fortpflanzungsstrategie generell auf Quantität und nicht auf Qualität. Statt einige wenige Jungtiere zu produzieren, um die sich die Mutter aufopferungsvoll kümmert, legen sie Hunderte von Eiern pro Saison in mehreren Nestern ab, die sie über verschiedene Strandabschnitte oder sogar über verschiedene Strände verstreuen. Eine Strategie, die auch anderen Reptilien zu eigen ist. Doch im Gegensatz zu zum Beispiel Krokodilmüttern, die ihre Nester bewachen und den frisch geschlüpften Jungtieren zum Wasser helfen, machen sich Meeresschildkröten direkt nach jedem Legeprozess aus dem Staub. Das führt natürlich dazu, dass viele Meeresschildkrötengelege es erst gar nicht bis zum Schlupf der Jungtiere schaffen, sondern von menschlichen oder tierischen Nesträubern geplündert oder vom Meer weggespült werden.

Aber dafür sind ja wir da. In der Station angekommen, graben wir ein Nest in der Form und mit den Dimensionen eines natürlichen Oliv-Bastardschildkrötennestes. Es muss ganz frisch sein, weil der Sand sonst austrocknet und trockener Sand schädlich für das Eimilieu und die darin heranwachsenden Embryonen ist. Da viel von der Inkubationstemperatur der Eier abhängt, sind außerdem die korrekte Tiefe des Nestes sowie die Ausmaße der Eikammer maßgeblich. Beides ist bedingt durch die Größe beziehungsweise Flossenlänge der verschiedenen Arten: Größere Arten buddeln tiefere Nester als kleinere. Da Oliv-Bastardschildkröten zu den kleinsten Meeresschildkrötenarten gehören, reichen ihre Nester nur knapp 45 Zentimeter in die Tiefe, wohingegen die riesige Lederschildkröte mit durchschnittlich 75 Zentimetern die tiefsten Nester gräbt. Diese sind auch die einzigen, die in ihrem Umriss an einen Stiefel erinnern, die der anderen Meeresschildkröten haben eher die Form einer umgedrehten Glühbirne. In allen Fällen entsteht unten die sogenannte Eikammer, welche groß genug sein muss, um alle Eier eines Geleges aufzunehmen. Das Weibchen verschließt den Zugang zur Eikammer zwar mit Sand, aber in der Kammer besteht noch genug Bewegungsfreiheit für den Gasaustausch und später für die frisch geschlüpften Babys.

Für das Filmprojekt ist die momentane Herausforderung, die Nester so zu graben, dass man über die Plexiglasscheiben einen direkten Einblick in die jeweiligen Eikammern hat. Aber auch das bekommen wir hin und können die Eier nun endlich eines nach dem anderen vorsichtig und mit behandschuhten Händen in die Eikammer legen. Zwischen die Eier platzieren wir noch einen Temperatursensor, der mit einem Thermometer verbunden ist, und danach schließen wir das Nest mit Sand, ähnlich wie die Schildkrötenmutter es gemacht hätte. In zwei Nächten schaffen wir es, die benötigten fünf Nester zusammenzusammeln und genau wie das erste Nest in die Inkubationsstation zu verlagern. Über die nächsten Wochen werden wir die brütenden Eier durch die Plexiglasscheiben beobachten und filmen sowie die Temperaturen im Nest über unsere Sensoren überwachen.