Meine Sekretäre und ich - Hans Bentzien - E-Book

Meine Sekretäre und ich E-Book

Hans Bentzien

4,4

Beschreibung

Hans Bentzien ist auf verschiedene Weise mit den führenden Sekretären der SED auf seinem Lebensweg zusammengetroffen, von einer rührenden Begegnung mit Wilhelm Pieck bis in die jüngste Gegenwart. Sein Schicksal wird von allen Sekretären direkt oder indirekt berührt, sogar bestimmt; und er war selbst Sekretär in voller Funktion. Der Autor kennt sich also aus und ist befugt, seine Geschichte mit der des Landes zu verknüpfen. Bekanntes wird sachkundig erörtert, Unbekanntes hervorgebracht. Ein Menschenschicksal, Zeitgeschichte, Geschichte und Geschichten. Vorangestellt sind Geheimdokumente über die Vorgänge um den Film „Geschlossene Gesellschaft", in die der Autor verstrickt war.

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Impressum

Hans Bentzien

Meine Sekretäre und ich

ISBN 978-3-95655-479-7 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1995 im Verlag Neues Leben, Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2016 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

Originaldokumente zu dem Film „Geschlossene Gesellschaft“

Am Beispiel um die Vorgänge des Fernsehfilms »Geschlossene Gesellschaft«, über die ich in diesem Buch berichte, ist es für den Leser aufschlussreich, wie der allgegenwärtige Geheimdienst nach dem Brief des Vorsitzenden des Fernsehens der DDR, Heinz Adameck, der nach einer Vorführung des Rohschnittes Anfang September 1979 an Joachim Herrmann, Sekretär des ZK der SED, geschrieben wurde, eine Untersuchung einleitete.

IM Lorenz und IM Ruth waren Angestellte des Fernsehens aus dem Bereich, die am Ende der Dokumentation erwähnte, nicht namentlich genannte »inoffizielle Quelle« ist ein Mitunterzeichner des gegen die Ausbürgerung Biermanns gerichteten Papiers. Er besaß (und besitzt) das Vertrauen vieler Künstler, die seine kreative Mitarbeit sehr schätzten, genauso wie das Ministerium für Staatssicherheit.

Ich habe dem Verlag die Vollmacht für die Veröffentlichung erteilt. In den vom Original übernommenen Texten wurden keine Korrekturen vorgenommen.

Hans Bentzien

15.9.78

Werter Genosse Herrmann!

Nach der Voraufführung der Rohfassung des Fernsehfilms "Geschlossene Gesellschaft" habe ich veranlasst, dass die Endfertigung nicht freigegeben wird, weil darin die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR grob entstellt werden.

In einer Geschichte voller Aggressionen und Brutalitäten wird der Eindruck suggeriert, dass unsere Gesellschaft zwar wachsenden Wohlstand produziert, menschliches, familiäres Glück aber angeblich nicht gedeihen kann. Die Konflikte einer Ehe werden zurückgeführt auf die angeblich ständig steigende Hektik unseres Landes, auf die Isoliertheit des einzelnen Menschen, der mit seinen Problemen immer weniger fertig wird - und dies unabhängig von der Gesellschaftsordnung.

Autor des Filmes ist Klaus Poche, Regie führt Frank Beyer, die Hauptrollen spielen Armin Müller-Stahl und Jutta Hoffmann, Dramaturgen sind Eva und Heinz Nahke.

Die Bestätigung des Drehbuches erfolgte durch Genossen Hans Bentzien (Stellvertreter für Dramatische Kunst). Seine Begründung zur Aufnahme dieses Films in den Spielplan dramatischer Fernsehwerke und die mehrmalige Information während der Dreharbeiten, dass es sich um eine zwar zugespitzte, aber normale Ehegeschichte handele, entsprach nicht den Tatsachen.

Ich habe entschieden, dass dieser Film im DDR-Fernsehen nicht gesendet wird. Die begonnene Auseinandersetzung mit Genossen Bentzien und im Schöpferkollektiv des Films wird von uns zu Ende geführt.

Da es möglich ist, dass diese Angelegenheit von Klaus Poche oder Frank Beyer in die öffentliche Auseinandersetzung hineingebracht wird, halte ich es für notwendig, Dich zu informieren.

Mit sozialistischem Gruß

H. Adameck

Hauptabteilung XX     Berlin, 6. 10. 1978

Information

Durch den IM "Ruth" wurde zur Situation im Bereich Dramatische Kunst im Fernsehen der DDR folgendes erarbeitet:

Im ersten Halbjahr 1978 erfolgte die Produktion des Filmes "Geschlossene Gesellschaft". Autor: Klaus Poche, Regisseur: Frank Beyer, Hauptdarsteller: Jutta Hoffmann und Armin Müller-Stahl.

Bei den genannten Personen handelte es sich um Unterzeichner einer gegen die Ausbürgerung Biermanns gerichtete sogenannte Protesterklärung.

Am 28. 7. 1978 wurde im DDR-Fernsehen die Rohfassung des Filmes "Geschlossene Gesellschaft" vorgeführt. Daran nahmen neben dem Autor Klaus Poche und Regisseur Frank Beyer der Vorsitzende des Fernsehens der DDR, Heinz Adameck, der stellv. Leiter Abt. Agitation beim ZK der SED, Eberhard Fensch und der Parteisekretär des Fernsehens der DDR, Hans Schäfer, teil.

Laut Einschätzung der Leitung des Fernsehens der DDR ist der vorliegende Film gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR gerichtet und kann aufgrund seiner politisch-ideologischen Mängel im DDR-Fernsehen nicht gezeigt werden. Dem IM wurde bekannt, dass vor der Einschätzung der Leitung des Fernsehens der DDR Hans Bentzien sich gegenüber den Schöpfern zu dem Film bekannte und ihn als gut bezeichnete. Dieses ist auch aus der Einschätzung, die Bentzien am 2. 8. 1978 erarbeitet hat, ersichtlich. Bentzien ist darin bemüht, die negativen Seiten des Filmes abzuschwächen und bezeichnet ihn als ein humanistisches Werk mit einigen Übertreibungen.

Schon während der Entstehung des Filmes, wo im Szenarium einige Mängel und falsche Verhaltensweisen ersichtlich wurden, hat Bentzien darauf Einfluss genommen, um gewisse Veränderungen durch die Schöpfer des Filmes zu erreichen. Bentzien hat auch die Bereichsleitung über den Vorgang nicht informiert, sondern im Stillschweigen gehalten. Bentzien hat den IM ebenfalls nicht informiert.

Der Kameramann Strobel, Hartwig machte nach der Durcharbeitung des Szenariums den Regisseur Frank Beyer auf einige Szenen aufmerksam, die politisch-ideologisch falsch sind. Beyer erklärte, dass der Film zur Produktion freigeben ist und von der Leitung gebilligt wurde.

Aufgrund der politischen Fehleinschätzung des Bentzien zu dem Film fand mit ihm durch den Leiter der Abt. Agitation beim ZK der SED, Heinz Geggel, den Vorsitzenden der Fernsehens der DDR, Heinz Adameck, und den Parteisekretär des Fernsehens der DDR, Hanns Schäfer, eine Aussprache statt. Bentzien wurde seine falsche politisch- ideologische Führungslinie aufgezeigt und nachgewiesen. Dieses betrifft jedoch nicht nur den Film "Geschlossene Gesellschaft". Bentzien bezeichnet auch bei dieser Aussprache den Film als ein humanistisches Werk, der eine Ehegeschichte zeigt, wo der Entfremdungsprozess, der sich auch im Sozialismus zeigt, widerspiegelt wird.

Am 5. 10. 1978 wurde durch die Zentrale Parteileitung im Fernsehen der DDR nochmals mit Bentzien gesprochen. Bei dieser Beratung bezeichnete er den Film "Geschlossene Gesellschaft" als nicht sendefähig.

Durch das falsche politische Verhalten des Bentzien, in dem er Beyer nach der ersten Vorführung seine Zustimmung zu dem Film gegeben hat und ihn jetzt als nicht sendefähig bezeichnet, ist Beyer deutlich gemacht worden, dass die staatliche Leitung und die Partei den Film als nicht sendefähig bezeichnet. Bentzien erscheint also nach wie vor als der Mann, der eigentlich als Verbündeter von Poche und Beyer betrachtet werden kann, aber als Leiter an Weisungen gebunden ist. Er versucht nicht, die Schöpfer heranzuführen, er vertieft die Spaltung zwischen der Partei und ihnen.

In einem internen Gespräch sagte Bentzien zur Quelle, dass der Film "Geschlossene Gesellschaft" unsere Gesellschaft ist.

Der IM schätzt ein, dass Bentzien vor allem solche Autoren fördert, die ihm diese "kaputte Welt" zeigen.

Bentzien hat bekannte Autoren wie Helmut Sakowski, Benito Wogatzki, Karl-Georg Egel, die bislang die Fernsehkunst bestimmt haben und zu dem positiven Kern der Schriftsteller gehören, die Verträge gekündigt, um sie zu "zwingen", intensiver zu arbeiten und in kürzeren Zeitabständen produktionsreifere Stücke abzuliefern. Mit solchen Festlegungen kann man nach Meinung des IM keine tiefgründigeren Kunstwerke schaffen.

Die Quelle schätzt ein, dass Bentzien einige politische Unklarheiten besitzt. Er hat Zweifel an der Einheit unserer Wirtschafts- und Sozialpolitik. Er unterstützt Autoren, die ebenfalls solche Ansichten haben.

Hauptabteilung XX     Berlin, 9. 10. 1978

Information

über Hans Bentzien, stellvertretender Vorsitzender des Komitees für Fernsehen der DDR und Leiter des Bereiches Dramatische Kunst.

Inoffiziell wurden im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um den Fernsehfilm "Geschlossene Gesellschaft" folgende Aktivitäten und Verhaltensweisen des Bentzien bekannt:

Auf Veranlassung von Bentzien erfolgte im ersten Halbjahr 1978 die Produktion dieses Filmes, dessen Schöpfer und Hauptdarsteller die operativ bekannten Beyer, Frank - Regisseur, Poche, Klaus - Autor, Hoffmann, Jutta - Schauspielerin, Müller-Stahl, Armin - Schauspieler sind.

Der jetzt vorliegende Film ist laut Einschätzung der Leitung des DDR-Fernsehens gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR gerichtet und deshalb nicht sendefähig.

Während der Produktion hat Bentzien die inhaltlichen Probleme dieses Projektes vor den Mitgliedern des Komitees für Fernsehen und dem Leitungskollektiv des Bereiches Dramatische Kunst vorsätzlich verschwiegen.

Bedenken, die der Kameramann Hartwig Strobel zu politisch-ideologisch falschen Aussagen des Drehbuches gegenüber Frank Beyer äußerte, wurden unter Berufung auf die Entscheidung von Bentzien zurückgewiesen.

Am 28. 7. 1978 wurde von Beyer im DDR-Fernsehen eine Vorführung der Rohfassung des Filmes "Geschlossene Gesellschaft" organisiert. Daran nahmen u. a. Genosse Heinz Adameck - Vorsitzender des Komitees für Fernsehen der DDR, Genosse Eberhard Fensch - stellvertretender Leiter der Abt. Agitation beim ZK der SED, Hans Bentzien und die Schöpfer des Filmes teil.

Unmittelbar nach dieser Vorführung bekannte sich Bentzien im internen Gespräch gegenüber Beyer und Poche zur vorliegenden Fassung des Filmes und erklärte, dass er sich entsprechend seiner Funktion für die Aufführung des Filmes ausgesprochen hat.

Trotz der erfolgten Kritik durch die Genossen Adameck und Fensch sowie der erteilten Weisung an Bentzien, notwendige wesentliche Veränderungen am Film zu veranlassen, bezeichnete Bentzien in einer Beratung am 29. 7. 1978 mit den Filmschöpfern diesen Film als "ein humanistisches Anliegen, in dem lediglich einige Übertreibungen enthalten seien".

In dieser Beratung forderte Frank Beyer ultimativ die Aufführung des Filmes und zeigte zunächst keine Bereitschaft zur Änderung.

Nachdem Bentzien nur geringfügige Änderungen vorgeschlagen hatte, die sich lediglich auf die Szene bezogen, in der eine Frau von Kindern mit roter Farbe besudelt wurde, bat Frank Beyer um Bedenkzeit.

Bentzien beauftragte Eva Nahke, Dramaturgin, entsprechende Veränderungen am Drehbuch vorzunehmen, obwohl ihm bekannt war, dass Eva und Heinz Nahke, Dramaturg, in der politisch-ideologischen Bewertung des Filmes mit Beyer und Poche völlig übereinstimmten.

Nach der Aussprache mit Bentzien im ZK der SED fand am 5. 10. 1978 eine Beratung der Zentralen Parteileitung im DDR-Fernsehen statt, in der Bentzien offensichtlich unter dem Eindruck der ihm nachgewiesenen politisch schädlichen Leitungsmethoden erstmalig den Film "Geschlossene Gesellschaft" als nicht sendefähig bezeichnete.

Ebenfalls auf Veranlassung von Bentzien und mit Zustimmung von Jürgen Faschina, Chefdramaturg, wurde ein zweiter Filmstoff von Poche unter dem Titel "Sonderbare Tage" in den Plan 1978 aufgenommen. Die inhaltlichen Probleme und Aktivitäten dieses Vorhabens wurden von Bentzien gleichfalls verschwiegen. Die Mitglieder des Komitees für Fernsehen wurden erst darauf aufmerksam, als von Faschina für Poche eine Reise nach Westberlin zur Materialsammlung für diesen Film beantragt wurde.

Dieses Vorhaben mit seiner gesellschaftsschädigenden Aussage konnte deshalb noch rechtzeitig verhindert werden. Poche jedoch hatte Kenntnis davon, dass dieser Film, durch die Leitung des DDR-Fernsehens bestätigt, Bestandteil des Planes 1978 war.

Inoffiziell wurde eingeschätzt, dass Bentzien durch sein Verhalten eine politische Situation geschaffen hat, die die oppositionellen Kräfte wie Poche, Beyer u. a. in ihrer Haltung bestärkt, anstatt sie für eine gesellschaftlich nützliche Tätigkeit zu gewinnen.

Beyer, Poche u. a., die nur darauf warten, dass ihre Filme angegriffen werden, haben durch Bentzien Fakten in die Hand bekommen, die den progressiven Kräften eine Auseinandersetzung mit ihnen fast unmöglich machen.

Laut inoffizieller Einschätzung wurde durch das Verhalten Bentziens vor und während der Auseinandersetzung mit ihm sichtbar, dass er durch seine Selbstherrlichkeit und Spontanität in seinen Entscheidungen das Prinzip des demokratischen Zentralismus ständig verletzt. Er führt Entscheidungen aus, ohne sie im Leitungskollektiv zu beraten und den Mitgliedern des Komitees vorzuschlagen.

Das Wesen der von Bentzien "nicht erkannten oder absichtlich verfolgten" politisch schädigenden Linie besteht laut internen Hinweisen darin, dass Bentzien Zweifel an der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik unserer Partei hat, solche Autoren fördert, die diese Zweifel auch haben und deren dem Sozialismus fremde Kunst als "objektive Widerspiegelung unserer gesellschaftlichen Realität" verteidigt, progressive Autoren wie Helmut Sakowski, Benito Wogatzki und Karl-Georg Egel unter dem Vorwand Verträge kündigt, "sie zu zwingen, intensiver zu arbeiten" und ständig versucht, zu testen, wieweit er gehen kann in der "Kritik an der Gesellschaft im Sozialismus".

Nach vorliegenden internen Hinweisen ist nach den Auseinandersetzungen mit Bentzien für den Bereich Dramatische Kunst im DDR-Fernsehen eine komplizierte Situation entstanden. Progressive Kräfte befürchten, dass Bentzien "entweder ein sehr labiler Leiter wird oder einer, der nach allen Seiten um sich schlägt", um sich zu beweisen.

Aus intern bekannt gewordenen Äußerungen des Kameramannes Strobel geht hervor, dass die Personen um Poche und Beyer, die den Fernsehfilm "Geschlossene Gesellschaft" verteidigen, eine "nicht zu unterschätzende Konzentration darstellen und jetzt des Öfteren zusammentreffen". Zu Einzelheiten hat sich Strobel nicht geäußert.

Hauptabteilung XX     Berlin, 31.10.1978

Information

Fernsehfilm "Geschlossene Gesellschaft"

Während eines internen Gesprächs mit dem Vorsitzenden des Staatlichen Komitees für Fernsehen, Genossen Adameck, teilte dieser mit, dass die Entscheidung der Leitung des DDR-Fernsehens, den Fernsehfilm "Geschlossene Gesellschaft" zur Sendung freizugeben, keinesfalls als ein Nachgeben vor negativen Kräften bzw. als Kompromiss gegenüber den Schöpfern bezeichnet werden darf.

Genosse Adameck brachte während der Abnahme gegenüber Beyer und Poche deutlich zum Ausdruck, dass er sich mit den Grundpositionen, die in diesem Film eingenommen werden, nicht einverstanden erklären kann und die Diskussion dazu auf alle Fälle weitergehen muss. Die Festlegung, den Film zu senden, wurde aus der taktischen Erwägung heraus getroffen, um zu erwartende negative Reaktionen seitens der Schöpfer des Filmes und weiterer Kulturschaffenden zu verhindern. Der Film soll am 29.11.1978, 21.30 Uhr, im I. Programm gesendet werden.

Gleichzeitig mit dieser Entscheidung wurden konkrete Festlegungen getroffen, um zu verhindern, dass derartige negative Werke künftig im DDR-Fernsehen entstehen.

Durch die Leitung wird der Sendeplan des Bereichs Dramatische Kunst einer genauen Prüfung unterzogen, um Szenarium und Drehbücher mit zweideutiger Aussage zu beseitigen.

Genosse Adameck hat persönlich das Szenarium "Franziska Linkerhand“ gelesen, was von Frank Beyer als Nächstes verfilmt werden sollte. Er hat daraufhin die weitere Arbeit an diesem Vorhaben sofort gestoppt.

In seiner Aussage ist der geplante Fernsehfilm gegen das Wohnungsbauprogramm gerichtet. Die DDR-Wirklichkeit wird verzerrt dargestellt, es treten fast ausschließlich "gebrochene" Menschen auf. Die Hauptheldin sieht alle ihre Ideale durch die "Realität" des Lebens zunichtegemacht.

In einem kurzen Gespräch mit dem Minister für Kultur, Genossen Hoffmann, stellte Genosse Adameck fest, dass dieser die gleiche Auffassung zur "Franziska Linkerhand" hat. Genosse Hoffmann hatte die Aufführung des Schweriner Theaters in Berlin gesehen. Er will dafür sorgen, dass keine weiteren Bühnen in der DDR das Stück übernehmen.

In einer Beratung beim Mitglied des Politbüros, Genossen Joachim Hermann, wurde festgelegt, den Leiter des Bereiches Dramatische Kunst unter ständiger Kontrolle zu halten, da er als eine Potenz der negativen Kräfte im Fernsehen anzusehen ist.

Genosse Adameck konnte mehrfach feststellen, wie Genosse Bentzien versucht, sich nach wie vor aus der ideologischen Auseinandersetzung in seinem Bereich herauszuhalten. Vor allem gegenüber seiner Leitung versucht er, die festgestellten Mängel des Filmes "Geschlossene Gesellschaft" zu vertuschen. Er tritt den Schöpfern des Filmes auch nicht bei deren Versuchen entgegen, diesen Film noch weiter zu popularisieren.

Beyer und Poche wollten zum Beispiel eine Pressevorführung in einem Filmtheater durchführen. Die Leitung des DDR-Fernsehens will das nicht, Bentzien jedoch vertritt nicht die Meinung der Leitung, sondern verweist auf untergeordnete Funktionäre, die darüber zu befinden hätten.

Die Parteileitung und staatliche Leitung des DDR-Fernsehens wollen vor allem die Parteiwahlen zur ideologischen Stärkung des Bereichs Dramatische Kunst ausnutzen, indem offen über festgestellte ideologische Mängel in einzelnen Werken, wie zum Beispiel "Polizeiruf 110" und "Geschlossene Gesellschaft" gesprochen wird.

Genosse Adameck teilte mit, dass aufgrund der Hinweise unseres Organs und in Abstimmung mit Genossen Joachim Hermann die Fernsehansagerin Maria Moese kurzfristig abgelöst und mit einer anderen Aufgabe betraut werden soll.

Abteilung XX/7

Potsdam, 6. November

1978

ger-kn

Tonbandabschrift

Quelle: IMV "Lorenz"

Vorgänge im Fernsehen der DDR um die Produktion des Films "Geschlossene Gesellschaft", Autor: Klaus Poche, Regisseur: Frank Beyer

Schon bei der Abnahme des Szenariums "Geschlossene Gesellschaft", ein Stoff, der zuvor bei der DEFA in der Zentralen Parteileitung abgelehnt worden ist, kam es zu größeren Auseinandersetzungen innerhalb der Parteileitung der Dramatischen Kunst.

Die Produktion wurde nur unter bestimmten Vorbehalten und Auflagen freigegeben.

Diese Dekontrolle der Auflagen war insofern aber illusorisch, als die beiden für das Vorhaben verantwortlichen Mitarbeiter, die Dramaturgin Eva Nahke und der verantwortliche Chefdramaturg Heinz Nahke, in der Zeit der Produktion das Fernsehen verlassen haben. Der Rohschnitt wurde Ende Juni mehreren leitenden Gremien des Fernsehen vorgeführt. Wie schon dokumentiert, hat Frank Beyer mehr oder weniger die Leitung des Fernsehens erpresst, indem er den Antrag gestellt hat, mit seiner Frau eine vierwöchentliche Reise nach der Bundesrepublik und den Beneluxländern zu machen. Er hat keinen Hehl daraus gemacht, dass diese Reise der Autor Jurek Becker für ihn in Westgeld finanzieren würde, und dass er dafür die hier befindliche Familie Beckers finanziell unterstützt.

Nach der Rohschnittabnahme wurde der Bereichsleiter Hans Bentzien vom Vorsitzenden des Komitees, Gen. Adameck, beauftragt, eine Stellungnahme zu machen, die ein klares Nein oder Ja enthalten sollte. Der Gen. Bentzien ist über 3 Monate jeglicher Stellungnahme zu diesem Film ausgewichen. Er hat mehrere Briefe an den Vorsitzenden geschrieben, in denen er nicht direkt Ja und Nein zu diesem Film gesagt hat, sondern in dem er Vorschläge gemacht hat, zu welcher Uhrzeit und wann dieser Film aufgeführt werden sollte im Fernsehen der DDR, außerdem hat er zunächst den Vorschlag gemacht, diesen Film mit der nötigen finanziellen Abgeltung an den Gen. Pehnert, Filmminister im Ministerium für Kultur, weiterzugeben, da Bentzien der Meinung sei, dies sei ein Kinofilm und kein Fernsehfilm und gehöre ohnehin ins Kino. Nachdem alle Versuche des Gen. Adameck gescheitert waren, seinen Bereichsleiter Hans Bentzien zu einer klaren Stellungnahme aufzufordern, begann vor etwa vier Wochen eine sehr ernste Auseinandersetzung zwischen Bentzien und Adameck. Diese Auseinandersetzung nahm nur die "Geschlossene Gesellschaft" zum Anlass, und es wurden dem Gen. Bentzien im Zusammenhang mit dem Plan 79 sehr harte Fragen gestellt, wie seine kulturpolit. Konzeption für die Dramatische Kunst aussehen würde. Im Laufe dieser Diskussion bestand innerhalb der Leitung des Fernsehen, also des Komitees, angefangen vom Gen. Adameck bis zu den einzelnen Bereichsleitern bis einschließlich auch der Abt. Agitation, vertreten vor allem in den Diskussionen von dem Gen. Fensch und Schäfer, eine eindeutige Haltung, diesen Film nicht im Fernsehen der DDR zu zeigen. Die Diskussionen mit dem Gen. Bentzien umspannten einen Zeitraum von 14 Tagen bis 3 Wochen und wurden zunächst vom Gen. Adameck sehr hart angegangen, unterstützt von der Abt. Im ZK von dem Gen. Fensch bzw. dem Gen. Geggel auch.

Dabei ging es vor allem darum zu gewährleisten, dass Heinz Adameck und Hans Bentzien sich auf eine gemeinsame Linie in der Kulturpolitik festlegten. Nach einer dieser Sitzungen mit dem Komitee stieg der Gen. Bentzien in seinen Dienstwagen und sagte zu seinem Fahrer: "Ich bin ein toter Mann." Diese Äußerung war natürlich am nächsten Tag sofort im ganzen Fernsehen bekannt. Aufgrund dieser sehr harten Auseinandersetzungen, zu denen man sagen muss, dass ein schwächerer Charakter als Bentzien sicher diese nicht überlebt hätte, war eigentlich für alle Beteiligten klar, dass der Film nicht gesendet würde. In diesem Zusammenhang sei auch noch einmal darauf hingewiesen, dass zur gleichen Zeit mit der Produktion dieses Films Klaus Poche einen Roman beim Mitteldeutschen Verlag geschrieben hat, bei dem das Resultat der Entwicklung dieses Stoffes in den Mittelpunkt der Handlung gesetzt wird, und das Resultat heißt, das Fernsehen der DDR wird diesen Film nicht senden. Als die Auseinandersetzungen zwischen dem Komitee und dem Gen. Bentzien ihren Höhepunkt erreicht hatten und der Gen. Bentzien ziemlich laut und eindeutig allen, die es hören wollten, sagte, er werde diese Funktion nicht weiter ausüben, ist es zu einem Gespräch zwischen den Gen. Hermann, Adameck und Bentzien gekommen. Wie weit Hans Schäfer, der Parteisekretär des Fernsehens, dabei war, ist mir nicht bekannt.

Bei diesem Gespräch hat wohl der Gen. Adameck stark zurückstecken müssen, und ihm ist klar gesagt worden, er könne sich nicht aus der Verantwortung entlasten, dass dieser Film beim Fernsehen der DDR produziert worden ist. Bentzien und Adameck wurden von dem Gen. Hermann sehr ernsthaft aufgefordert, eine gemeinsame Linie für ihr kulturpolit. Vorgehen zu finden. Nach diesem Gespräch beim Gen. Hermann ist es dann auch in mehreren Parteiveranstaltungen zu gemeinsamen Willenserklärungen von Bentzien und Adameck gekommen, Willenserklärungen von Bentzien, die sich auf eine Reihe von Richtigstellung bezogen über sein Vorgehen als Leiter. Der Gen. Bentzien, der noch vor einem Jahr bewährte Autoren wie Sakowski und Wogatzki sehr abfällig und abwertend behandelt hat, hat das revidiert, er hat auch wesentlich eindeutiger Stellung genommen zur kulturpolit. Grundaufgabe der Dramatischen Kunst. Außerdem war bis Anfang voriger Woche klar, dass alle entscheidenden Gremien und Leiter dagegen waren, den Film "Geschlossene Gesellschaft" im Fernsehen aufzuführen.

In der Zwischenzeit hat Frank Beyer den Film synchronisiert bzw. gemischt, sodass am Donnerstag vergangener Woche die Vorführung des nun fertigen Films stattgefunden hat. Es ist bekannt geworden, dass vor dieser Vorführung auch noch eine Extra-Vorführung im ZK stattgefunden hat. Bei dieser Endabnahme des Films am Donnerstag trat nun eine große Überraschung für die Genossen des Fernsehens ein. Der Film wurde zur Sendung bestätigt, und der Sendetermin wurde bekannt gegeben, es ist der 29.11.1978.

Diese Entscheidung hat, soweit sie schon bekannt ist, zu einer großen Aufregung im Fernsehen geführt. Sehr viele parteiverbundene Genossen wissen nun überhaupt nicht mehr, was sie denken sollen. Der Gen. Bentzien, und das ist vielleicht das Komplizierteste und das Gefährlichste an dieser Situation, nimmt die Stellung ein, dass er der Meinung ist, diese Entscheidung offensichtlich verantwortlich getroffen vom Gen. Hermann, diese Entscheidung nimmt er als einen persönlichen Erfolg seiner Politik im Fernsehen und einen Misserfolg der Idioten im Komitee, vor allem auch des Vorsitzenden, Adameck. Er drückt sich in dieser Frage erstaunlich direkt und bösartig aus, eine Frage, die über die politischen Dimensionen dieser Haltung hinausgeht, bis zum persönlichen Takt und bis zu der Frage, ob so ein Genosse mit einem anderen Genossen umgehen könnte.

Es besteht die große Gefahr, dass eine Reihe von Unterabteilungen des Bereichs Dramatische Kunst diese Entscheidung, den Film zu senden, so bewerten, dass sie vielleicht noch stärker als in der "Geschlossenen Gesellschaft" ein Zerrbild unserer Wirklichkeit über den Bildschirm bringen.

Zur "Geschlossenen Gesellschaft" muss gesagt werden, dass die Konzeption des Autors eindeutig und von ihm in keiner Weise verschleiert darauf hinausgeht, die Vereinzelung des Menschen, die Entfremdung des Menschen auch in unserem realen Sozialismus DDR groß auszustellen. Ja, es geht so weit, dass letzten Endes sozusagen dieses unser Land die Entfremdung erst richtig erfunden hat. Das wird natürlich alles in persönlichen Beziehungen vermittelt und sicher ist das Buch bzw. der Film zu als rein als Sendeabend auch mal zu verkraften, aber darum geht es ja gar nicht. Es geht ja gar nicht darum, ob dieser Film nun als ein Fernsehabend unter 350 des Jahres an der Wahrheit unseres Lebens vorbeigeht, sondern es geht einfach darum, dass eine Sendung dieses Films eine große Signalwirkung hat auf viele in unserem Leben gegenüber unzufriedenen Künstlern Gleiches zu tun, und wie das meist so ist, einen Film noch nach rechts zu überholen.

Innerhalb der Genossen des Fernsehens besteht über die Entscheidung, den Film aufzuführen, große Verwirrung, und niemand weiß so recht, wie er sich in Fragen neuer Stoffentwicklung usw. verhalten soll. Es ist zwar von der Zentralen Parteileitung und von dem Gen. Adameck für alle Parteimitglieder verbindlich, eine Argumentation diese Entscheidung betreffend ausgegeben worden, bei der gesagt wird, dieser Film ist nicht zu vereinbaren mit unserer Kulturpolitik, aber ihn nicht zu senden wäre das größere Übel, weil die Gefahr bestünde, dass man dadurch Frank Beyer verlieren würde.

Ein sehr guter Freund Frank Beyers hat im RIAS am Sonnabend die Katze aus dem Sack gelassen. Es ist Jurek Becker, mit dem Frank Beyer mehrere Filme gemacht hat.

Jurek Becker hat dort, befragt von einer Westberliner Schulklasse, offen gesagt, dass er so eine Art Privatkrieg mit unserer Parteiführung führe und seine sehr aggressive Art und Weise, mit der er die Genossen angehe, könne er sich aus der Schwäche und dem Mangel an Entscheidungsfreude unserer Parteiführung leisten. Das Interessante ist, dass Becker sogar durchblicken ließ, dass er zwar jetzt in WB z. Z. wohnend mit einem DDR-Pass ausgestattet, seine meiste Zeit, wie sagte, in Ostberlin - er verbesserte sich dann - in der Hauptstadt der DDR zubringe, um dort mit seinen Freunden zu sprechen.

Es besteht also eine kluge und durchaus sehr wirksame Gruppe von Provokateuren, denen es durch diese Entscheidung gelungen ist, bis ins Fernsehen der DDR zentral einzudringen. Es möge daran erinnert werden, dass das tschechische Fernsehen in der Zeit der revisionistischen Führung unter Dubschek eine entscheidende Rolle gespielt hat, dass es so etwas gewesen ist wie das politische Zünglein an der Waage, und das in dem Moment, als das Fernsehen zu den Revisionisten überging, die Würfel gefallen waren. Es soll hier kein Vergleich gezogen werden, aber irgendeinmal hat es ja in der Tschechoslowakei auch im Fernsehen angefangen. Und irgendeinmal ist es dem Gegner gelungen, seine Ideologie im tschechischen Fernsehen unterzubringen.

So wie es jetzt im Fernsehen der DDR am 29.11. eine Sendung geben wird, von der bis zu dieser Entscheidung alle Verantwortlichen des Fernsehens bis auf den Gen. Bentzien überzeugt waren, dass der von Beyer geschaffene Film dem Sozialismus feindlich ist.

Vor allem muss noch einmal betont werden, welche Rolle jetzt der Gen. Bentzien spielt, der diese Entscheidung, den Film aufzuführen, über seine ihm unterstellten Leiter sofort und mit allen Mitteln publik werden zu lassen, ohne auf eine entsprechende Argumentation, von wegen kleinerem Übel oder so, Wert zu legen.

Für einen durchschnittlichen Fernsehmitarbeiter muss es zwangsläufig so aussehen, dass Bentzien persönlich eine Schlacht gewonnen hat, und der Gen. Adameck persönlich eine Schlacht verloren hat.

Ich halte das für eine ungeheur gefährliche Angelegenheit, da es sich nicht um irgendein Kulturinstitut handelt, sondern um das entscheidende Massenmedium unseres Landes, welche auch bisher in seiner zentralistischen Praxis in einer klaren Weisungspraxis, gearbeitet hat und diese jetzt durch den Gen. Bentzien im Laufe seiner Tätigkeit immer mehr unterwandert worden ist.

Dabei spielt überhaupt keine Rolle, wie weit subjektive Ehrlichkeit oder nicht bei ihm vorhanden ist und wie weit er noch glaubt, dieselbe Linie der Partei zu vertreten wie der Gen. Adameck.

Sicher kann man über die Entscheidung, "Geschlossene Gesellschaft" zu senden oder nicht, geteilter Meinung sein. Über eines gibt es für meine Begriffe nur ein klares Nein: Es darf nicht herauskommen, dass dieser unserer Ideologie nicht entsprechende Filme sozusagen durch die erfolgreiche Tätigkeit des Gen. Bentzien gegenüber Dogmatikern und Hohlköpfen durchgesetzt worden ist.

gez. "Lorenz"

Abteilung XX/7

Potsdam, 5. Dezember

1978

gern-kn

Tonbandabschrift

Quelle: IMV "Lorenz" 4.12.178

Zur Situation im Fernsehen der DDR

Freitagmorgen wurde zunächst den Mitgliedern der Bereichsleitung, d. h. den Chefdramaturgen der einzelnen Abteilungen sowie für die Regisseure zuständigen künstlerischen Direktoren und dem Ersten Stellvertreter Bentzien, Krecek, mitgeteilt, dass vom 1. Dezember an der Gen. Bentzien wegen grober politischer Fehler als Bereichsleiter des Bereichs Dramatische Kunst abgesetzt worden ist.

Diese Entscheidung wurde begründet - das war aber auch alles, was den Genossen vor dem Sekretariatsbeschluss bekannt gegeben wurde. Es fiel auch kein selbstkritisches Wort des Gen. Adameck. Es wurde auch wenig zur Begründung dieses Beschlusses, was Bentzien betrifft, gesagt. Weiterhin wurde den Genossen mitgeteilt, dass der bisherige Leiter der Aktuellen Kamera, Erich Selbmann, ab Montag, den 4.12., den Bereich Dramatische Kunst übernimmt. Bei dieser Bekanntgabe war kein Vertreter der Abt. Agitation im ZK anwesend. Bei der folgenden Diskussion übten 2 Genossen Selbstkritik, und zwar der Gen. Krecek und der Gen. Nehring.

Der Gen. Krecek erklärte, dass er sich für die Filme "Ursula" und vor allem "Geschlossene Gesellschaft" verantwortlich fühlen würde. Es hätte ja nicht an Kritikern, vor allem des Buches "Geschlossene Gesellschaft", innerhalb des Bereichs Dramatische Kunst gefehlt. Er hat mit diesen Kritikern gesprochen und wusste die Argumente, die sich jetzt offenbart haben und zu dieser doch sehr unangenehmen politischen Situation geführt haben. Ich glaube, dass diese Selbstkritik von Krecek ehrlich gemeint ist, und dass er durchaus sich für das, was da geschehen ist, auf eine Weise, wie es sich für einen Genossen gehört, verantwortlich fühlt. Gen. Nehring übte Selbstkritik für "Ursula", die ja in seiner Chefdramaturgie entstanden ist und bei der er vor allem die geistige Position erst spät, praktisch nach der Sendung, die die Schöpfer eingenommen haben, verstanden hat. Die Selbstkritik beider wurde verhältnismäßig freundlich aufgenommen, und niemand hat davon gesprochen, dass das Verhalten beider Genossen irgendwelche disziplinarische Maßnahmen der Partei nach sich ziehen würde. Dem o. g. Kreis hat sich der Gen. Adameck in einer Form gestellt, als ob er mit der ganzen Sache nichts zu tun habe, und als ob es nicht an seiner Verantwortlichkeit gelegen hätte, dass diese politischen Missgriffe passiert sind. Die Diskussion war praktisch damit erschöpft und die eigentliche Diskussion über das Ausscheiden des Gen. Bentzien hat dann am Nachmittag in einer kurzfristig einberufenen erweiterten Parteileitungssitzung des Bereichs Dramatische Kunst stattgefunden. Erweitert war sie insofern, als an ihr alle gewählten Funktionäre des Bereichs, also auch Parteigruppenorganisatoren und gewählte Leitungsmitglieder einzelner Bereiche neu gegründeter APOs teilnahmen. Auch hier war kein Vertreter der Abt. Agitation anwesend, außerdem haben der Gen. Adameck, Vorsitzender des Komitees und der Gen. Schäfer, Sekretär des ganzen Fernsehens, nur z. T. daran teilgenommen.

Als Vertreter einer übergeordneten Leitung war einzig und allein ein Vertreter der KL Treptow anwesend, der nur einmal zu der ganzen Sache Stellung nahm, als die Genossen fragten, welche Konsequenzen denn das Ganze für Frank Beyer habe. Auf diese Frage hin erklärte er, man solle doch sehr vorsichtig vorgehen, denn man könne sich vor dem 30. Jahrestag keinen Skandal leisten.

Über diese Frage später noch mehr. Hier wurde von dem Beschluss des Sekretariats nur die Tatsache bekannt gegeben, dass der Gen. Bentzien wegen schwerer politischer Fehler seiner Funktion als Bereichsleiter enthoben sei. Auch hier wurde von der Leitung in keiner Weise die Rolle des Vorsitzenden, des Gen. Adameck, in der Frage der Verantwortlichkeit sowohl für das Senden dieser Filme, wie die Entwicklung dieser Filme, wie auch für die politische Linie Bentziens erwähnt. Dieser Umstand führte zu einer Reihe von Fragen und Reaktionen der einzelnen Genossen, die hochinteressant sind: zunächst einmal muss grundsätzlich gesagt werden, dass niemand in diesem Kreis von etwa 15 Genossen bedauert hat, dass Bentzien seiner Funktion enthoben wurde. Es gab niemanden, der es nicht verstanden hat, dass diese Maßnahme notwendig gewesen sei. Doch wurden im Anschluss daran eine Reihe von entscheidenden Fragen gestellt, die im folgenden aufgeführt werden sollen:

Ganz am Anfang sprach der Gen. Adameck, der sich nur auf polit. Fehler Bentziens bezog und seine Person völlig aus der Sache heraushielt. Er erklärte z. B., dass die Vernachlässigung von Autoren wie Wogatzki und Sakowski von Bentzien als bewusste Politik zu betrachten sei. Er habe diese Autoren regelrecht diffamiert.

Weiterhin erklärte er, dass die zunehmenden Nacktszenen in den Produktionen der Dramatischen Kunst von Bentzien direkt gefördert worden wären. Weiterhin erklärte er, dass Bentzien eine besondere Vorliebe für Künstler wie Frank Beyer, wie Klaus Poche u. a. entwickelt habe und mit ihnen neben der generellen Sendepolitik eine eigene Linie machen wollte. Er bezog sich auf einzelne Aussprüche Bentziens, wie z. B. dass er gesagt hat, dass Filme unseres Fernsehens die Zuschauer betroffen machen müssten, und damit sei jetzt endgültig Schluss. Er bezog sich auch auf die Entwicklung und Adaption des Romans "Franziska Linkerhand" von der verstorbenen Brigitte Reimann und sagte in diesem Zusammenhang, mit welchem Buch auch immer, dieser Roman wird bei mir nicht über den Sender kommen.

Der Gen. Adameck weiß sehr wohl, dass von dem Projekt "Franziska Linkerhand" zwei sehr verschiedene Drehbücher vorliegen, eines vom Fernsehen der DDR, welches von Bentzien, so wie es war, ganz akzeptiert wurde, und das schwerwiegende politische Fehler enthielt, wie auch ein Szenarium von der DEFA, was sowohl von dem Parteisekretär Fritz Schulz als auch von Schäfer gelesen worden war und als ein möglicher Weg angesehen worden war. Diese lapidare Art, wie der Gen. Adameck jetzt sozusagen das Steuer herumreißen wollte, in sehr untaktischer und politisch gefährlicher Weise jetzt die Konsequenzen ziehen will, erregte unter den Genossen Widerspruch. Dieser Widerspruch führte zu einer Reihe von Fragen, die allerdings z. T. dann gestellt wurden, als der Gen. Adameck schon diese erweiterte Parteileitungs-Sitzung verlassen hatte.

Die erste Frage wurde gestellt von den Gen. Hübner, Veth, und Jörn und betraf die Frage der Verantwortlichkeit. Der Gen. Jörn fragte, wer denn nun für das ganze Fernsehen und für die DDR schmerzlichen Selbsttore, wie er es nannte, verantwortlich sei. Er erklärte, man könne doch die Sache nicht so hinstellen, als ob das allein in Bentziens Verantwortung gelegen hätte. Er erwähnte in dem Zusammenhang auch die Aussagen Bentziens auf der gerade 4 Tage vergangenen APO-Wahlversammlung. In diesem Kreise war natürlich klar, dass der Gen. Bentzien zwar diese falsche revisionistische kulturpolitische Position mit Kräften vorwärtsgetrieben hat, dass aber natürlich die Verantwortlichkeit in der Kontrolle nicht vom Gen. Adameck zu lösen ist. Zu dieser Frage noch im Beisein des Gen. Adameck hat der Gen. Adameck nicht Stellung genommen.

Eine weitere Frage, die in diesem Zusammenhang kam, war die Frage nach den politischen Konsequenzen, die die ganzen Vorgänge im Fernsehen für den Gen. Frank Beyer haben werden. Die Genossen waren sich darüber einig, dass er die führende Figur in einer Fraktion sei, die unserem Fernsehen schwer geschadet hat und die auf einen offenen Antikurs gegen den sozialistischen Realismus und die Prinzipien unserer Kulturpolitik gerichtet sind. Sie waren sich darüber einig, dass es nicht anginge, dass eine personelle Veränderung, nämlich den Austausch des Gen. Bentzien mit dem Gen. Selbmann, schon etwas Entscheidendes ändern würde.

Sie waren sich darüber einig, dass es sicher richtig gewesen wäre, während der Vorgänge um Biermann Frank Beyer schon die Frage zu stellen, ob er überhaupt noch Mitglied der Partei sein könnte oder nicht. Es müsse diese Frage unbedingt wiederholt werden. Damals hat man ihm eine Chance gegeben, wieder auf die Linie der Partei zu kommen, doch er hat - und das wissen in diesem Kreis alle Genossen - mit erpresserischen Mitteln bis zum Gen. Hermann hin diese revisionistische Linie weitergeführt, und er wurde zum Sprachführer einer Reihe von Genossen und Kollegen, die man durchaus im Bereich Dramatische Kunst als eine Fraktion betrachten kann. Zu diesen Genossen oder Kollegen gehört erst einmal Klaus Poche, es bestehen auch enge Verbindungen zwischen Frank Beyer und Egon Günther und seiner Frau Helga Schütz, die eine ganz konkrete Konzeption bei "Ursula" verfolgt hat. Auch darüber wurde in dieser Parteileitungs-Sitzung gesprochen. Der Gen. Feth erwähnte, dass hier natürlich auch mangelnde marxistisch-ästhetische Bildung mit im Spiele sei, denn selbst ein so umstrittener Mann, wie Lukacz, habe sich klar über "Ursula" geäußert, es ist das einzige reaktionäre Werk, welches Gottfried Keller geschrieben hat. Es wurden also hier ganz klare Verantwortlichkeiten hergestellt, und der Gen. Nehring übte in diesem Zusammenhang noch einmal Selbstkritik.

Die Genn. Demuth, Dramaturgin im Bereich Dramatische Kunst, spitzte die Frage Frank Beyer so zu, dass sie erklärte, für sie ist das Kriterium der Glaubwürdigkeit einer neuen Politik, eines neuen politischen Anfangs im Fernsehen der DDR, ob Frank Beyer aus der ganzen Sache ohne jede Kritik und ungeschoren als Genosse herauskäme oder nicht. Dieser Meinung schlossen sich alle Genossen an, und in individuellen Gesprächen wurde immer wieder betont, sie werden sich nicht vergattern lassen, Frank Beyer etwa außerhalb der Diskussion zu halten, weil es bedeuten würde, dass die Ursache des Ganzen, nämlich die Erpressungspolitik Frank Beyers gegenüber hohen und höchsten Funktionären unserer Partei weiterginge, und wer einmal erpresst würde, würde weiter erpresst werden.

Die Genossen waren sich darüber einig, dass Ausgangspunkt und Endpunkt der Vorgänge um die "Geschlossene Gesellschaft" zweifellos die Tätigkeit Frank Beyers ist und war. Das hat überhaupt nichts damit zu tun, ihm die Möglichkeiten zu nehmen, am Fernsehen der DDR zu inszenieren, aber es wurde ganz klar auseinandergehalten, dass ein Genosse sein Statut einzuhalten habe, und wer das nicht tut, nicht mehr zur Partei gehöre. In diesem Zusammenhang erinnerte der Gen. Hübner daran, dass der Frank Beyer nach den Biermann-Ereignissen die Frage Auge in Auge in einer Parteileitungssitzung gestellt habe und ihm gesagt habe, wenn du nicht eindeutig Stellung nimmst zu deinem Fehler, den Biermann-Brief unterschrieben zu haben, gehörst du nicht mehr in die Partei. Damals hat Frank Beyer zu dieser Frage geschwiegen. Gen. Hübner ist der Meinung, man müsse ihm die Frage neu stellen, und man müsse den Zusammenhang zwischen seinem damaligen Verhalten und dem heutigen herstellen.

Der Genosse von der KL warnte in diesem Zusammenhang davor, diese Frage zu stellen, weil es nur neue Huddelei mit Frank Beyer dann geben würde vor dem 30. Jahrestag.

Das wurde von der Mehrheit der Genossen nicht akzeptiert.

Die Frage, den Gen. Erich Selbmann diese Funktion übernehmen zu lassen, wurde von den Genossen mit großem Ernst aufgenommen. Sie sind der Meinung, dass damit der Beweis erbracht wird, wie ernst es die Parteiführung mit dem Fernsehen und dem Bereich Dramatische Kunst nimmt. Es gab auch vor allem nach der erweiterten Parteileitungs-Sitzung einige Vorbehalte gegenüber dem Gen. Erich Selbmann, die allein mit den menschlichen Möglichkeiten, die für ihn im Bereich Dramatische Kunst ja ganz neu sind. Es sind sicher andere Strukturen als in der Aktuellen Kamera, alles ist dort wesentlich differenzierter und zeitlich wie geldlich aufwendiger.

Mit Recht wurde vor allem von dem Gen. Schäfer gefordert, dass die Genossen alle überhaupt mögliche Unterstützung für Erich Selbmann geben müssen. Nun gibt es im Nachhinein in den Diskussionen der Genossen über die Frage des Ersten Stellvertreters für Erich Selbmann eine Reihe von Diskussionen. Vor allem wurde es abgelehnt bzw. wurde befürchtet, dass der Gen. Jürgen Faschina diese Erste-Stellvertreter-Funktion übernimmt. Es muss in diesem Zusammenhang auf Faschina eingegangen werden. Es ist nicht zufällig, dass nach dem Weggang der Eva Nahke, die als Chefdramaturg bzw. als Stoff führender Dramaturg, den Stoff "Geschlossene Gesellschaft" entwickelt hat. Es steht in allen Plandokumenten des Fernsehens der DDR. Er hat genauso wenig wie Krecek gemerkt, was es mit diesem Stoff auf sich hat. Er hat keine Selbstkritik in diesem Zusammenhang geübt und will heute nichts mehr davon wissen, dass er die Verantwortung für die Entwicklung des Stoffes zumindest im Stadium der Produktion übernommen hatte. Viele Genossen sind der Meinung, dass Faschina erst einmal ausprobieren wollte, nach welcher Richtung hin sich die Waage neigt und dass er sozusagen mit zwei Rucksäcken auf die Wanderschaft gegangen ist. Die Genossen befürchten, dass ein Mann wie Faschina, der sich eine steile Karriere im Fernsehen erhofft, jetzt unter der neuen Leitung Gefahr laufen wird, eine Zensurstelle zu werden, die jedwede Freiheit im Sinne unserer Kulturpolitik einengt. In diesem Zusammenhang soll darauf hingewiesen werden, dass etwa 2 Tage nach "Ursula" im ganzen Fernsehen eine große Unsicherheit dadurch eingetreten ist, dass die einzelnen Komiteemitglieder in ihren Bereichen, wie vor allem in der Jugend, in der Unterhaltung sich bemühen, jeden tief ausgeschnittenen Busen aus den kommenden Programmbeiträgen zu entfernen. Das führt in den Schneideräumen - meistens mit parteilosen Frauen besetzt - zu großer Verwirrung und Gelächter. Überhaupt ist natürlich die Befürchtung laut geworden, dass in der nächsten Zeit das Pendel ins Gegenteil umschlägt, und dass Kleinigkeitenkrämerei wieder losgeht, wie sie niemand erhofft hat, da sie seit dem VIII. Parteitag im Fernsehen verschwunden ist. Man ist der Meinung, dass viele Augen mehr sehen können und dass jetzt viele mit größerer kritischer Aufmerksamkeit das Programm und auch die Bücher zum Programm lesen. Doch darf das nicht zu einem Gegenschlag führen, der die schöpferischen Möglichkeiten zerstört. Zu dieser Frage spielt auch etwas eine Rolle: Es wäre falsch, in der Dramatischen Kunst bis zu Strukturerwägungen wieder da anzufangen, wo man vor Bentzien war.

Eine Struktur wieder herzustellen würde vieles, was sich in der Zwischenzeit trotz Bentzien entwickelt hat, zerstören.

Eine Hauptfrage und auch eine gewisse Ratlosigkeit besteht darin, wie man dem Gen. Erich Selbmann helfen kann, dass er diesen Bereich möglichst schnell in den Griff bekommt. Notwendig sei, die Frage der ersten Stellvertretung schnell zu lösen. Ich würde nach Kenntnis des Gen. Krecek sagen, dass er durchaus in der Lage ist, diese Funktion zu übernehmen, und dass der Gen. Faschina als Chefdramaturg der gesamten Gegenwartsliteratur durchaus fähig ist, hier zu einer Wende zu kommen, wenn er genügend kontrolliert wird.

In diesem Zusammenhang habe ich mehreren Genossen gegenüber eine Frage bzw. einen Vorschlag gemacht, der sehr wichtig ist.

Es gibt einen sehr bewährten ehemaligen Leiter des Bereichs Dramatische Kunst, der aber aus Gesundheitsgründen nicht mehr in der Lage ist, diesen Bereich wieder zu leiten. Das ist der Gen. Werner Fehlig. Werner Fehlig hat in den Anfängen der Dramatischen Kunst etwa vor 7 Jahren den Bereich ausgezeichnet geleitet, er wurde für die Entwicklung der Gegenwartsliteratur in diesem Bereich auch mit dem Nationalpreis ausgezeichnet. Ihm ist es zu verdanken, dass das Fernsehen Autoren, wie z. B. den Genossen Sakowski vom Förster zum namhaften Autor entwickelt. Ich habe den Vorschlag gemacht, den Gen. Fehlig, der jetzt eine Prognosegruppe im Fernsehen der DDR leitet und der auch oft mit Sonderaufträgen vom Gen. Adameck betraut wurde, für ihn Bücher zu analysieren, dieser Gen. beratend bei der Einarbeitung des Gen. Selbmann mitwirkt. Es hätte dies einen Vorteil, dass er absolut frei ist von allen Verbindungen und Verbindlichkeiten, die Bentzien in den letzten Jahren mit seinen Mitarbeitern eingegangen ist, und dass hier ein erfahrener Mann, der die Produktion der Dramatischen innen und außen bis in alle Einzelheiten kennt, doch ein echter Berater für Erich Selbmann werden könnte. Im Zusammenhang mit diesen Ereignissen wurden immer wieder Fragen gestellt, wie es denn überhaupt zu dieser ganzen Entwicklung gekommen ist. Und immer wieder wurde natürlich eine Frage angesprochen:

Ob nicht Politbüromitglieder, wie der Gen. Hermann und der für Kultur zuständige Gen. Hager eine Reihe von echten Gefahrenmomenten, die nun schon seit 2 Jahren die Genossen beschäftigen, verschlafen. In diesem Zusammenhang erklärte der Gen. Fritz Schulz, ob nicht die seit der Biermann-Affäre zugenommene Erpressungstätigkeit einzelner Künstler einmal und so schnell wie möglich zu Ende zu bringen sei. Es wurde in diesem Zusammenhang auch darauf hingewiesen, dass erst in jüngster Zeit der Sohn Erwin Geschonneks, Matti Geschonnek, der wegen seines Eintretens für Biermann aus der Fakultät der Sowjetischen Filmhochschule entfernt worden ist, ein Geliebter der hinlänglich bekannten Eva-Maria Hagen ist, dass dieser Matti G. jetzt für 2 Jahre ein Ausreisevisum nach Hamburg bekommen hat. Diese Praxis, die also Leute, wie den Hauptdrahtzieher für die ganzen Dinge um Frank Beyer, Jurek Becker, betrifft, weil er ja auch noch einen Pass unseres Landes besitzt, wird diese Praktik nicht im Laufe der Zeit dazu führen, dass immer mehr Künstler unsere Staats- und Parteiführung in diesem Sinne erpressen können. Bei Frank Beyer lässt sich in dem letzten Jahr ganz eindeutig nachweisen, dass bis zum Gen. Hermann hin alle Instanzen einschl. der Leitung des Fernsehens und der Leitung der DEFA unter Druck setzten wollte und unter Druck setzen konnte. Es sei in diesem Zusammenhang nur an den offenen Brief erinnert, in dem er seinen Werdegang in den letzten 10 Jahren so darstellt, als ob es ein einziger Leidensweg wäre, und wo er ja damit gedroht hat, diesen offenen Brief in der Westpresse zu veröffentlichen. Nicht, dass man ihn einfach und strikt aus der Partei geworfen hat, hat man immer wieder freundlich mit ihm diskutiert. Und das ist allen Genossen im Fernsehen, wie auch vielen Genossen in der DEFA bekannt, denn Frank Beyer hat ja daraus keinen Hehl gemache, dass er so erpresserisch arbeitet. Dann hat er, als der Film "Geschlossene Gesellschaft" fertig war, einen Antrag zu laufen gehabt, nach WD, in die Beneluxländer zu fahren, und hat den Antrag sozusagen als Brechstange dazu genutzt, um "Geschlossene Gesellschaft" zur Sendung zu bringen. Sie ist gesendet worden. Damit ist er, ob nun mit Kritik, die heute einsetzt, oder auch nicht, doch erst einmal der Sieger in dieser Erpressungsaktion gewesen.

In diesem Zusammenhang wurden auch bestimmte Leitungsmethoden des Gen. Adameck immer wieder erwähnt, der einen großen Unterschied macht zu einzelnen Spitzenleuten, die bei ihm alles machen können und die bei ihm hinfahren können, wo sie wollen, und die auch in finanzieller Hinsicht ganz anders behandelt werden, als normale Künstler. Die Genossen sind der Meinung, dass zumindest in der Partei-Organisation mit solchen Unterschieden Schluss gemacht werden muss, und dass jeder Genosse zunächst einmal vor dem Parteistatut gleich ist. Ohne Zweifel ist dieser elitäre Zug in der Leitungstätigkeit des Gen. Adameck außerordentlich gefährlich und muss korrigiert werden.

Erste Reaktionen auf die Künstler der DEFA sind unterschiedlich. Eine Reihe von Künstlern, selbst welche, die in Berlin wohnen, wussten überhaupt am 4.12. noch nicht, dass Bentzien abgesetzt worden ist. Christel Gräf, Dramaturgin der DEFA, die uns während der Biermann-Ausbürgerung manchen Kummer gemacht hat, weil sie erst nach umfangreichen Diskussionen dazu bereit war, eine Stellungnahme in unserem Sinne abzugeben, hat versucht, die "Geschlossene Gesellschaft" mit allen Mitteln herunterzuspielen und allein mit ästhetischen Maßstäben an die Sache heranzugehen. Sie erklärte mir, für sie sei die ganze Sache zu literarisch gewesen und das hätte zu dieser negativen Wirkung auf breiteste Kreise der Öffentlichkeit geführt. Ihr Mann schließt sich dieser Meinung an und versucht, sowohl Poches wie Beyers künstlerische Fähigkeiten, diesen Stoff in den Griff zu bekommen, infrage zu stellen. Wie ich von Christel Gräfe hörte, ist auch Lothar Warnecke dieser Meinung und glaubt, die Frage sei nicht politisch, sondern mit künstlerischer Meisterschaft zu lösen. Im Gegensatz dazu, und da ist einfach aus zeitlichen Gründen eine größere Anzahl von Stimmen mir zugänglich geworden, gibt es eine sehr eindeutige Meinung, was den Film "Ursula" betrifft.

Der Film "Ursula" wird von allen Künstlern, mit denen ich gesprochen habe, wegen seiner Unklarheiten und seiner bis zur Unverständlichkeit gehenden Konzeptionslosigkeit abgelehnt. Dass dahinter trotzdem eine uns feindliche Konzeption steht, wird nur von wenigen erkannt. Die meisten meinen, das sei eben ein Spaß mit Keller gewesen und meinen eine politische Bedeutung, geben allerdings zu, dass ja eine Koproduktion mit einem neutralen Land doch etwas mehr geistige Substanz haben müsste, als es diese "Ursula" hat. Die Absetzung Bentziens betreffend hüllt man sich, wie z. B. Fam. Gräf, in Schweigen. Man erklärt, man kenne die internen Vorgänge nicht und würde sich da kein Urteil erlauben.

Allerdings muss in diesem Zusammenhang erwähnt werden, dass es vor einem Jahr noch eine breite Front für Bentzien auch in der DEFA gegeben hat, die der Meinung war, Bentzien würde eine neue und für unser Land bedeutende Politik in der Dramatischen Kunst des Fernsehens machen und ihr eigener Generaldirektor, Dieter Mäde, wurde im Gegensatz dazu als ein Dogmatiker und primitiver Leiter diffamiert. Im Zusammenhang mit dem Film "Ursula" wird es natürlich umso unverständlicher, dass sozusagen der Gen. Hager dem Ehepaar Schütz / Egon Günther eine einjährige Ausreise nach der Schweiz bzw. BRD genehmigte gegen allen Protest der Leitung des Studios für Spielfilme, der Parteileitung des Studios für Spielfilme und gegen den Protest der zuständigen Abt. im Kulturministerium. In diesem Zusammenhang werden Stimmen laut, die erklären, der Gen. Hager sei sich wohl gar nicht über die Tragweite solcher Entschlüsse im klaren und überlasse es der sehr mächtigen Mitarbeiterin in seinem Sekretariat, der Genn. Hinkel, in solchen schwerwiegenden Entscheidungen allein zu entscheiden. In diesem Zusammenhang werden auch Stimmen laut, dass für die Genn. Hinkel der Genosse erst bei Egon Günther oder einem Akademiemitglied beginnt. Dass diese Leute gerade die Leute sind, die ständig bei der Genn. Hinkel verkehrt haben in den letzten 2 Jahren und nichts weiter getan haben, als diffamieren, ist vielen Genossen bekannt. Die ehrlichen Genossen tragen sich - wie alle anderen auch - mit dem Gedanken, Werke zu schaffen, die breiteste Kreise unserer Bevölkerung interessieren und die internationalen Charakter haben, denen wird es jedoch nicht einfallen, wegen jeder kleinsten Lappalie zur Genn. Hinkel zu rennen. Bei einigen Genossen hat sich gerade in dem letzten halben Jahr, bevor es zu diesem Eklat gekommen ist, die Meinung breitgemacht, man würde hier ja nur noch ernst genommen werden von der Parteiführung, wenn man Werke schafft, die unseren real existierenden Soz. und unser Land diffamieren. So hat sich mir gegenüber z. B. der Gen. Erich Neutsch geäußert. Auch den Gen. Göhrlich habe ich vor einem viertel Jahr etwa mit großer Bitterkeit sprechen hören, wie er meinte, er habe nun wirklich seit der Biermann-Affäre so viel an politischer Arbeit investiert und oft seien ihm irgendwelche Leute bei Kurt Hager in den Rücken gefallen, ohne dass er direkt meinte, dass nun Kurt Hager selbst die Verantwortung dafür zuzuschreiben sei, aber weiß denn jemand, wie viel und wie gefiltert die Informationen auf seinem Tisch landen durch solche Leute wie die Genn. Hinkel.

Gez. "Lorenz"

Abteilung XX/7     Potsdam, 6. Dezember 1978

Vorschlag

zur Prämierung des IMV "Lorenz", IV/577/70

"Lorenz" hat in direkter Auseinandersetzung mit politisch-negativen Kräften bzw. Opportunistischen im Bereich der Dramatischen Kunst des Fernsehens, unter den Schriftstellern und im Spielfilmstudio operativ bedeutsame Informationen erarbeitet, die geeignet waren, Maßnahmen in diesen Bereichen einzuleiten, die der weiteren Durchsetzung der staatlichen Kulturpolitik dienen. Bei seinem Einsatz bewies sich "Lorenz" erneut als politisch zuverlässig. Die Erledigung der ihm übertragenen Aufgaben erfolgte schöpferisch und mit hohem persönlichen Einsatz. Seine Berichterstattung war präzise.

Wegen seiner hervorragenden Leistungen wird vorgeschlagen, ihn mit einer Prämie von 300,- M auszuzeichnen.

Leiter der Abteilung

gez. Unrath, Oberstleutnant

gez. Gericke, Hauptmann

Hauptabteilung XX/7     Berlin, 29.5.1979

Information

Am 26. 5. 1979 fand auf dem Grundstück des Regisseurs Beyer, Frank, geb. Am: 26. 5. 1932 in Nobitz, wh.: 1017 Berlin, Strausberger Platz 1, Regisseur im Fernsehen der DDR, in Neureichenwalde anlässlich seines Geburtstages eine Feier statt.

Am Nachmittag besuchte eine zuverlässige, inoffizielle Quelle den Beyer auf dessen Wochenendgrundstück. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich folgende Personen bei ihm:

Stefan Heym - Schriftsteller, und seine Ehefrau Inge Heym

Klaus Poche - Schriftsteller, und seine Ehefrau Helga Lappe, Dramaturgin im Fernsehen der DDR; Armin Müller-Stahl - Schauspieler, und seine Ehefrau Gabriele.

Die gegenwärtige Situation unter Kulturschaffenden bzw. die staatlichen Maßnahmen gegen Westjournalisten spielten in den Unterhaltungen der Anwesenden nur eine untergeordnete Rolle. Stefan Heym und Klaus Poche äußerten sich dahingehend, dass sie den Brief des Schriftstellers Dieter Noll an den Genossen Honecker als "hinterhältig" und "Denunziation" betrachten. Poche brachte zum Ausdruck, dass er sich mit diesem "Machwerk" nicht abfindet und an Noll bereits einen entsprechenden Brief verfasst hätte. Diesen Brief wollte er aber noch mit Stefan Heym absprechen.

Auf die gegenwärtige Situation eingehend, gab Heym nur einen kurzen Kommentar und sagte, dass er wieder recht behalten habe, denn wenn man in der DDR die Wahrheit sage und Recht hat, wird man bestraft.

Von der Quelle wird eingeschätzt, dass Stefan Heym einen etwas deprimierten Eindruck macht und vor den gegenwärtigen Problemen etwas resigniert.

Am späten Nachmittag gingen die Anwesenden den ehemaligen Leiter des Bereiches Dramatische Kunst im Fernsehen der DDR, Hans Bentzien, besuchen, der ebenfalls ein Grundstück in Neureichenwalde besitzt.

Der Hinweis von Heym, den Bentzien durch einen solchen Besuch doch nicht noch mehr zu kompromittieren und in Schwierigkeiten zu bringen, wurde von den übrigen Anwesenden nicht beachtet. Gegen 16.00 Uhr besuchten die Genannten gemeinsam Hans Bentzien in seinem Wochenendhaus.

Während der Gespräche ließen Poche und Müller-Stahl erkennen, dass sie Hans Bentzien wegen seiner gezeigten "aufrichtigen" Haltung Achtung entgegenbringen. Andererseits zeigte Heym eine gewisse Distanz zu ihm.

Als Gast wurde noch der Schriftsteller Jurek Becker aus Westberlin erwartet, der nach 17.30 Uhr bei Beyer eintraf.

Ende und Anfang

Die Sonne meinte es gut in diesem Sommer 1945. Große Teile der deutschen Kriegsmarine lagen am Strand von Fehmarn, genossen den Frieden und hungerten. Die Engländer hatten alle Boote zerschossen, damit kein Gefangener ans Festland kam. So war alle Hoffnung auf eine Flucht umsonst, es blieben nur die ewigen Gerüchte: Würden wir an der Seite der Engländer und Amerikaner doch noch gegen den Iwan ziehen? Die straffe militärische Organisation der Gefangenschaft mit den alten hierarchischen Rängen und einer eigenen Militärpolizei, Verwaltung und Gerichtsbarkeit in unserer Inselgesellschaft sprachen dafür, die mangelnde Verpflegung dagegen; denn mit einer Dose Sauerkrautsuppe, in deren noch ein paar Kohlenfäden schwammen, Fettaugen aber nicht zu sehen waren, und drei eisenharten Schiffszwiebäcken am Tag schwanden unsere Kräfte mehr und mehr. Dazu kamen meine quälenden Gedanken an das Elternhaus. Wie würde es der Mutter gehen? Sie war noch zum Schippen zwangsverpflichtet worden und sollte den Ostwall in Hinterpommern stärken. Vater war mit seinen 50 Jahren noch eingezogen worden und schob in einem Lager bei Ludwigslust Wache. Er umkreiste einen Stacheldrahtzaun, der wiederum Ersatzteile schützte, die zu Schiffen gehörten, die längst untergegangen waren.

Es musste etwas geschehen. Als ausgebildeter Volksschullehrer mit Notprüfung, die als 1. Lehrerprüfung galt, musste doch auf Fehmarn etwas zu finden sein. So machte ich mich beim ständigen Wandergang mit Nahrungssuche auf den Weg in die Nähe des Schulhauses von Burg. Der Unterricht war im Frühsommer noch nicht wieder in Gang gekommen, doch ein alter Lehrer werkte kleinen Schulgebäude. Ich kam gerade dazu, als seine Frau das Frühstück brachte. Als ich mich vorstellte und fragte, ob er etwas für mich zu tun hätte, sagte er: "Setz dich und hilft mir, beim Frühstücken und beim Arbeiten." Das erste war kein Problem, die Sirupstulle hätte auch ohne den wunderbar heißen Muckefuck gemundet, das zweite war eine Auszeichnung. Ich durfte die verstaubten Schulbänke schrubben und abziehen, die Tintenflecke saßen dennoch zu tief, um sie ganz zu beseitigen.

Die anfangs stupid scheinende Arbeit erwies sich jedoch als außerordentlich interessant. Der alte Lehrer sehnte den Tag des Schulbeginns herbei und war dennoch unglücklich darüber. Er hatte seit 1937 keine Klasse mehr betreten. Als der Druck auf den ehemaligen Sozialdemokraten, in die Nazipartei einzutreten, zu groß wurde, ging er lieber mit 55 Jahren in einen anderen Beruf, als mit den Braunen zu paktieren. Aber die englische Besatzungsmacht hatte die Öffnung der Schule noch nicht erlaubt, jede Kleinigkeit musste genehmigt werden.

Die Gespräche mit dem Alten wurden immer interessanter, erfuhr ich doch zum ersten Mal etwas von der sozialistischen Weltanschauung eines aufrechten Mannes, der für sie eingestanden war. Er pries sich glücklich, dass er mit einem Nazileiter gemeinsam zur Schule gegangen war, was später dazu beigetragen hatte, dass er nicht »im Moor landete«, wie er die KZ-Haft nannte. Nunmehr wollte er sich für ihn einsetzen, der, von allen Ämtern entfernt, als Unperson galt.

Aber auch ich hatte etwas zu berichten. In unserer kleinen Eineinhalb-Zimmer-Wohnung in Greifswald übernachteten in den Jahren der Naziherrschaft öfter Arbeitskollegen meines Vaters, von denen mir gesagt wurde, dass sie in Peenemünde Arbeit bekämen, jedoch noch kein Quartier hätten. Das wurde wohl bald gefunden, denn die Leute verschwanden stillschweigend wieder, und Mutter machte ein erleichtertes Gesicht. Auch mir ging es dann wieder besser, denn ich konnte wieder auf dem Sofa schlafen, anstatt mich in den Betten der Eltern auf der Besuchsritze zu drücken. Wenn der Gast abends mit meinem Vater ein Bier trank, geschah das bei zugezogener Gardine, und das Gespräch wurde in gedämpftem Tonfall geführt, als ob sie vor mir und auch vor Mutter etwas zu verbergen hätten. »Wer weiß, was das bei euch für Gäste waren«, meinte der Lehrer, »man sprach nicht über alles mit jedem, und wenn dein Vater ein Geheimnis hatte, durfte er es dir doch nicht eröffnen. Er wird es dir wohl noch sagen.« Vielleicht, aber täuschte er sich.

Obwohl ich ein Gefangener war, galt ich doch als reich. Mein Reichtum bestand in einem Seesack mit Pfeifentabak, den ich noch am 9. Mai 1945, als wir in Kiel von Bord unseres Z 6, des Zerstörers »Theodor Riedel«, gingen, bis an den Rand vollgepackt hatte. Während die anderen auf dem Marsch nach Fehmarn ihre Winterunterhosen und schweren Seestiefel zur Freude der Einwohner nach rechts und links in den Straßengraben warfen, schritt ich mit meiner leichten Last unentwegt bis zum Ziel. Es war nur gut, dass ich niemandem von meinem Schatz berichtete, so konnte ich den Sack unversehrt in die Obhut der Lehrersfrau geben. Tabak war die neue Währung, und die gute Frau richtete es ein, dass ich bei einer Bauernfamilie für ein Päckchen Tabak eine Woche lang täglich eine Portion Bratkartoffeln und Kirschsuppe bekam. Erfreulich dabei war, dass sich ein rechtes Bratkartoffelverhältnis mit der Tochter anbahnte, die mir meistens die Portion brachte und sitzen blieb und zusah, wie es mir schmeckte. Manchmal legte sie auch ein Stück Fleisch dazu, aber das durfte niemand außer uns sehen.

Diese für einen jungen Mann von 18 Jahren höchst erfreuliche Verbindung entwickelte sich zu einer Jugendliebe, und die Gefangenschaft nahm erfreuliche Konturen an. Die geistige Seite der Verbindung mit dem alten Lehrer, dessen Name mir leider entfallen ist, nahm ebenfalls ihren Weg. Eines Tages brachte er aus seiner Wohnung einige Broschüren mit, die er mir zum Lesen empfahl. Es handelte sich um »Lohn, Preis, Profit«, »Lohnarbeit und Kapital« und um das »Kommunistische Manifest«. Er meinte nur: »Ihr Besitz konnte Kopf und Kragen kosten, ich hab’ sie unter den Dielen verstaut.« Man sah es den Exemplaren aus dem Dietzverlag an, die waren bestimmt über 20 Jahre alt.

Eine neue Welt tat sich mir auf - während sich die Matrosen am Strand aalten - als ich zuerst im Manifest las und zu unterscheiden lernte, dass Sozialismus, von dem der Lehrer als erstrebenswertem Gesellschaftszustand sprach, durchaus nicht einheitlich aussah. Ja, es zeigte sich, dass sich seit 100 Jahren und mehr soziale Strömungen herausgebildet hatten, die sich alle sozialistisch nannten. Sogar einen feudalistischen Sozialismus gab es, und in ihm wieder einen pfäffischen. Der kleinbürgerliche Sozialismus, gar der deutsche, der sich wahr nannte, unterschied sich vom konservativen, und dieser vom kritisch-utopischen und vom Kommunismus. Da ich die vielen Namen und Beziehungen zwischen den Strömen nicht kannte, wandte ich mich verwirrt an meinen erfahrenen Freund. Auch er zeigte sich nicht auf der Höhe, verwies mich aber auf die wichtigste Erkenntnis, die ich vor allem verstehen müsste: Dass es Bourgeois und Proletarier gäbe. Dort lägen die Quellen für alle Kämpfe, dort müsse erneut angesetzt werden. Die deutsche Bourgeoisie sei schuld am Krieg und an allem Elend, sie müsse entmachtet werden. »Das wird bei euch in der Ostzone wohl geschehen, hier bei uns hackt die englische Krähe der deutschen Krähe kein Auge aus, bei euch hat der Pieck das Sagen, der ist Kommunist.« Ein Kommunist hatte in der russischen Zone das Sagen? Ich dachte, dass Kommunisten international wirkten, stand es so nicht im Manifest? Beim erneuten Lesen kam ich an die Stelle, wo von der Entschiedenheit und treibenden Kraft der Kommunisten die Rede war. Sie zeigten sich überzeugt, dass sie die Herrschenden entmachten könnten. Abschaffung des Privateigentums, jeder darf nur das Eigentum besitzen, dass er selbst erarbeitet hat. Lohnarbeit schafft Kapital, darf aber nicht mitbestimmen. »Das ist nicht gerecht«, sagte mein Lehrer, »aber heute sieht alles noch verzwickter aus. In Preußen hat eine Regierung bestanden, die für die Kapitalisten gut regiert hat.« Das alles verstand ich nicht, so tröstete er mich damit, dass es vorbei sein müsse mit der Machtlosigkeit der einfachen Menschen. Daran sei nur die Spaltung der Arbeiterbewegung schuld, wenn sie überwunden sei, spiele es keine Rolle mehr, ob man von den Sozialdemokraten oder von den Kommunisten abstammte.

Wenn er doch nur recht behalten hätte.

Mit den anderen Broschüren hatte ich noch mehr Schwierigkeiten. Die darin gestellten Fragen verstand ich kaum, die Sprache war anspruchsvoll, die Beweisführung abstrakt. Und doch spürte ich in meiner geistigen Not, dass hier der Ansatz für weitere Überlegungen liegen müsste.

Wenn man doch nur von dieser Insel käme. Vielleicht war die Möglichkeit, in einer ehemaligen Marinekapelle, die auf Tanz- und Unterhaltungsmusik zeitgemäß umgesattelt hatte, als Gitarrist oder Bassist mitzuspielen, aussichtsreich; vielleicht käme sie zu Konzerten aufs Festland. So heuerte ich dort an. Als Lehrer für Musik war ich gut ausgebildet und spielte manches Instrument, wenn auch nicht jedes besonders eindrucksvoll. »Caprifischer« hieß der Hit dieses Friedenssommers, immer wieder »Bella Marie«. Eines Tages bat uns der Wirt des Lokals, in dessen Saal wir probten, etwas früher zu schließen, »die mit dem Winkel« hatten eine Versammlung angemeldet. Sie kamen etwas früher und hörten erstaunt zu. Die öffentliche Versammlung diente der Verabschiedung von der Insel. Sie luden uns ein, und ich blieb zur Veranstaltung da.

Zum ersten Mal erfuhr ich etwas von den KZ-Häftlingen des Lagers Neuengamme. Die Überlebenden der noch auf die »Kap Arkona« transportierten und von englischen Jagdbombern angegriffenen und versenkten Schiffe in der Lübecker Bucht waren zu einem Teil auch auf Fehmarn untergebracht worden. Nachdem sie zu Kräften gekommen waren, fuhren sie nun in ihre Heimat. Etwa fünfzig Personen saßen im Saal; einige kurze Reden, ein Dank an die Gemeinde Burg, dann zum Abschluss das »Lied der Moorsoldaten« von allen gesungen. Die Sache ging mir nicht aus dem Kopf. Wer waren diese Männer, wie kamen sie hierher, wieso wären sie beinahe ertrunken, wieso wurden die Schiffe, auf die sie verladen, mit denen sie versenkt werden sollten, von englischen Flugzeugen angegriffen? Die kurze Versammlung gab keine befriedigende Auskunft. Danach wurde ein Essen aufgetragen. Wir fünf von der Kapelle, die geblieben waren, fragten, ob wir Tafelmusik machen sollten, natürlich mit dem Hintergedanken, auch eine Mahlzeit zu bekommen. Aber der Sprecher lehnte dankend ab, Musik wäre nicht angemessen, sie wollten sich noch einmal unterhalten. So zogen wir fünf Musiker ab.

Zwei Zufälle brachten etwas Licht in meine Ratlosigkeit. Unerwartet spazierte ein schönes Mädchen am Strand entlang, begafft und sehnsuchtsvoll bestaunt von den Lords. Es war, ich traute meinen Augen nicht, Edith Kracht aus der heimatlichen Hermann-Lietz-Straße in Greifswald. Ich eilte auf sie zu, sie erkannte mich, da wir jahrelang zusammen gespielt hatten, und von ihr, die mit einem Flüchtlingstransport hier angekommen war, erfuhr ich zum ersten Mal wieder von meiner Mutter. Sie sei als Hilfsschwester in der zu einem Militärlazarett umgewandelten Augenklinik tätig, und als sie aus Angst vor den Russen Mitte April abgezogen sei, habe sie Mutter, gesund und voller Sorge um Vater und mich, gesprochen. Wir redeten noch über vieles, sie wusste viel mehr von den zivilen Verhältnissen als ich, vor allem blieb haften, dass sie sich mit der Absicht trug, nach Hause zurückzukehren. Sie wusste nur noch nicht, wie sie über die streng bewachte Zonengrenze kommen sollte. Eines Tages war sie aus ihrem Dorf verschwunden. Sie würde Mutter bestimmt von unserer Begegnung berichten.

Als unsere Kapelle eines schönen Abends in Ostermarkelsdorf auftrat, spielte ich vor dem Konzert zur Einführung mit dem Pianisten und dem Klarinettisten. Da ich den großen Bass zupfte, übersah ich zunächst die Reihen erwartungsvoller Männer. Und dann erblickte ich in einer der vorderen Reihen meinen Vater. Auch er erkannte mich in diesem Moment, und wir stürzten aufeinander zu unter dem Hurra der Zuschauer, als sie merkten, was sich abspielte. Vater war auf dem Weg nach Hause, er musste nur noch einen Lehrgang leiten, denn als qualifizierter Maurerpolier hatte er für seine Unterkunft, einen ehemaligen Rinderstall, angesichts der bald anbrechenden kalten Jahreszeit aus alten Ziegeln und Lehm einen funktionierenden Ofen gebaut. Der Verwaltung erschien das als Rettung vor dem Winter, und so hatte sie für Holstein bereits einen Kursus organisiert. Es sollte aufs Festland gehen. »Ich nehme dich mit als Handlanger.« Und so kam es, im Dezember setzten wir auf einem von englischen Soldaten begleiteten Kutter mit Passierschein auf das Festland über. In Neustadt/Holstein meldete sich Vater zur Entlassung, und da er über fünfzig war, durfte er mit dem ersten Zug in die sowjetische Besatzungszone. Ich aber blieb im Lager, wurde mehrfach von Werbern bedrängt, die Personal für die unter englischem Kommando fahrenden Minensuchboote brauchten, aber das wäre nur die Fortsetzung des Krieges unter etwas besseren Bedingungen für mich gewesen. Als ich aber dann erfuhr, dass man sich, sofern man in den Gebieten östlich der Oder zu Hause war, in die westlichen Zonen zur Entlassung melden konnte, ließ ich meinen Wehrpass in der unergründlichen Latrine verschwinden und gab an, in Köslin gewohnt zu haben. Das klappte, und als ich die Tage bis zur Entlassung in einer zugigen Baracke untergekommen war, lag ich neben einem älteren Mann, der sich vor Schmerzen krümmte. Er hatte einen gewaltigen Durchfall, sein Zustand besserte sich nicht, weil er die selbst für einen Gesunden erbärmliche Verpflegung ausgehungert hinunterschlang. Ich nahm ihm eines Tages die Portion weg und tauschte sie gegen harten Zwieback, den ich ihm mit Kräutertee einflößte. Bei dieser Art von Nachbarschaft erfuhr ich, dass er aus Wieck bei Greifswald stammte und Nachbar hieß. Dort hießen fast alle Fischer Nachbar und wurden daher mit Zahlen unterschieden. Ich glaube, er hieß Nachbar 11. Als er nun meinen Namen hörte, fragte er mit Nachdruck, ob ich der Sohn von Albert sei.

So erfuhr ich auf einer harten Pritsche in einem Lager bei Neustadt, dass er die bei uns logierenden Gäste, die mein Vater ihm nachts brachte, heimlich mit auf See nahm und sie bei Bornholm dänischen oder schwedischen Fischern übergab. Mit Kriegsbeginn schlief diese Art von Hilfe für Widerstandskämpfer und Verfolgte ein, da mein Vater kriegsverpflichtet in Peenemünde am Bau der Heeresversuchsanstalt für Raketen, »Hitlers Wunderwaffen«, arbeiten musste. Nachbar hat uns nach seiner Rückkehr das Überleben leichter gemacht: jede Woche erhielten wir von ihm, trotz strenger russischer Hafenkontrolle, einen halben Sack Hering, den Mutter in allen Varianten zuzubereiten wusste.

Jetzt aber trennten wir uns, da ich mich nach Neumünster abmeldete, um mich dort zum Zimmermann umschulen zu lassen, und er, nunmehr mit halbwegs geheiltem Magen und Darm, ins heimatliche Wieck durfte.

Bei gelegentlichen Zusammenkünften habe ich später meinen Vater und auch Fischer Nachbar gefragt, warum sie dennoch die Gefahr auf sich nahmen. Außer einem »de Lüd wir’n doch in Not« habe ich nichts erfahren, mein Vater sagte nur auf dem Heimweg, ich solle das Fragen lassen, über so etwas gehöre sich nicht zu reden, das sei selbstverständlich gewesen. Er starb kurz nach der Wende; hätte er die heutigen Diskussionen der selbst ernannten Widerstandskämpfer in den Nischen der DDR gehört, er hätte die Welt nicht mehr verstanden.

Als ich Anfang des Jahres 1946 schwarz über die grüne Grenze zu Hause ankam, war gerade mein Großvater gestorben. Der alte Kirchenmaurer hatte seinem Enkel zeitgemäß am Morgen noch einen Kaninchenstall gebaut und sich dann zum Sterben gelegt. Auf dem Weg ins Trauerhaus, Großvater lebte bei seiner Tochter, meiner Tante, ging Vater mit mir am Bankgebäude vorbei, in dem jetzt die KPD ihren Sitz hatte. Ich holte mir ein Anmeldeformular. Auch mein Vater war am Tag nach seiner Ankunft in die KPD eingetreten. Vor 1933 war er zwar aktiver Gewerkschafter, aber parteilos gewesen, obwohl er kommunistisch dachte, nunmehr gehörte es sich für ihn, dass er in die entschiedenste Partei eintrat.

Großvater lag auf seinem Sterbebett, ruhig und friedlich seine Züge. Er hatte zwei Kriege, die Inflation, die Weltwirtschaftskrise durchgemacht, seinen kleinen Baubetrieb verloren, aber er kroch noch in hohem Alter in den Greifswalder Kirchen herum und nahm mich als Kind mit. Ihm verdanke ich eine Grunderkenntnis für mein Leben. Als ich in St. Marien an dem großen Glockenrad stand und in den verwirrenden Balkenkonstruktionen Ordnung zu erkennen suchte, fragte ich ihn: »Opa, wo wohnt denn nun Gott?« In der Kirche müsste er doch wohnen. Ruhig entgegnete er: »Dort, siehst du, dort hinten auf dem Balken! Siehst du nichts?« Ich sah nichts. Und er fuhr in seiner einfachen Belehrung fort: »Viele behaupten, sie hätten ihn gesehen, aber das stimmt nicht, niemand weiß Genaues.« Ich bin weiter mit ihm in den Kirchen umhergeklettert, kenne St. Marien, St. Nikolai und St. Jacobi besser als die dort tätigen Pfarrer, aber wir sind nie wieder auf das Grundthema zu sprechen gekommen. Er schleppte mich, gegen den Willen meines Vaters, in den Konfirmandenunterricht, es könnte doch sein, ich würde etwas erfahren. Doch als ich merkte, dass der Pfarrer auch nichts darüber sagen konnte, sprang ich aus dem Fenster und verschwand. Trotzdem wurde ich konfirmiert, Großvater regelte das. Jetzt aber hätte ich mich gern noch einmal mit ihm unterhalten, ihm erzählt, welches Elend, wie viel tote Christen ich gesehen habe, die unter dem Segen der Priester mit gesegneten Waffen ins eigene Verderben und das ihrer überfallenen Gegner gezogen waren. Ich nehme an, es wäre nach seinem Sinn, dass ich nach dem letzten Besuch bei ihm zum Standesamt gehen würde und meinen Kirchenaustritt erklärte. Auch das gehörte zu der Konsequenz, die ich zu ziehen gewillt war.