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Kriminalromane der Sonderklasse - hart, actionreich und überraschend in der Auflösung. Ermittler auf den Spuren skrupelloser Verbrecher. Spannende Romane in einem Buch: Ideal als Urlaubslektüre. Mal provinziell, mal urban. Mal lokal-deutsch, mal amerikanisch. Und immer anders, als man zuerst denkt. Dieses Buch enthält folgende drei Krimis: Alfred Bekker: Grotjahn und die Bühne des Bösen Alfred Bekker: Tote Bullen Alfred Bekker: Der Legionär Alfred Bekker: Grausame Rache Alfred Bekker: Ein Fall für den Norden Alfred Bekker: Der Killer und sein Zeuge Alfred Bekker: Commissaire Marquanteur und der Aschenbecher-Mörder von Marseille Alfred Bekker: Commissaire Marquanteur und der Blitz von Marseile
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Seitenzahl: 1057
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Meine spannendsten 8 Krimis September 2025
Copyright
Grotjahn und die Bühne des Bösen
Tote Bullen
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Der Legionär
ERSTER TEIL
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ZWEITER TEIL
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Dritter Teil
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VIERTER TEIL
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Grausame Rache
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Ein Fall für den Norden
Der Killer und sein Zeuge
Commissaire Marquanteur und der Aschenbecher-Mörder von Marseille
Commissaire Marquanteur und der Blitz von Marseille
Titelseite
Cover
Inhaltsverzeichnis
Buchanfang
von Alfred Bekker
(999XE)
Kriminalromane der Sonderklasse - hart, actionreich und überraschend in der Auflösung. Ermittler auf den Spuren skrupelloser Verbrecher. Spannende Romane in einem Buch: Ideal als Urlaubslektüre. Mal provinziell, mal urban. Mal lokal-deutsch, mal amerikanisch. Und immer anders, als man zuerst denkt.
Dieses Buch enthält folgende drei Krimis:
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
© Roman by Author
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von ALFRED BEKKER
Grotjahn und die Bühne des Bösen – Hamburg Krimi von Alfred Bekker
Ein packender Kriminalroman aus der Hansestadt Hamburg: Als der berühmte Dirigent Viktor Salomon in der Elbphilharmonie tot aufgefunden wird, beginnt für das Ermittlerteam um Grotjahn und Dröhnkamp ein Wettlauf gegen die Zeit. Die Spuren führen tief in die Welt der Musik – und zu einem Serienmörder, der seine Taten nach den düsteren Motiven klassischer Kompositionen inszeniert. Während ganz Hamburg in Atem gehalten wird, geraten die Ermittler in ein Netz aus Intrigen, Geheimnissen und tödlicher Ideologie.
Alfred Bekker verbindet in diesem spannenden Hamburg-Krimi raffinierte Ermittlungsarbeit mit atmosphärischen Schauplätzen und einem einzigartigen musikalischen Rätsel. Perfekt für Fans von intelligenten Thrillern, Musikliebhaber und alle, die spannende Krimis aus Deutschland suchen.
Tauchen Sie ein in die dunklen Seiten der Musikstadt Hamburg – und erleben Sie, wie Grotjahn und sein Team dem Bösen auf der Bühne begegnen!
Fesselnder Kriminalroman aus HamburgFür Fans von Musik, Spannung und raffinierten ErmittlungenErfolgs-Autor Alfred BekkerJetzt als E-Book erhältlichJetzt bestellen und spannende Lesestunden sichern!
Grotjahn Erfahrener Ermittler beim BKA. Bekannt für seinen trockenen Humor und seine unkonventionellen Methoden.
Dröhnkamp (Charlotte) Sonderermittlerin beim BKA. Führt das Team mit klarem Kopf und Empathie.
Sarah Jäger Forensikerin, spezialisiert auf Spurenanalyse und Technik. Präzise und direkt.
Mario Spano Ermittler mit guten Kontakten in Hamburgs Kulturszene. Lebendig, humorvoll und schlagfertig.
Murat Özdiler IT-Experte und Datenanalyst des Teams. Schnell, clever und technikaffin.
Koopmann Leiter der Ermittlungsgruppe. Strategisch und erfahren.
Viktor Salomon Berühmter Dirigent und zentrale Figur des Falls.
Leiske Hauptkommissarin beim LKA Hamburg. Zuständig für Mordfälle.
Frau Waller Langjährige Haushälterin von Viktor Salomon.
Jana Sentowski („Senta“) Geheimnisvolle Frau mit Verbindung zur Musikszene und Chemie.
Karsten Riegel Bühnen- und Lichttechniker, Freelancer in Hamburger Konzerthäusern.
Linus Becker Hilfswissenschaftler (HiWi) und Technikassistent an der Musikhochschule.
Sebastian Cordes Organistenschüler und Assistent in St. Katharinen.
Prof. Dr. Dietmar Mertens („Pabst“) Musiktheorie-Professor mit Einfluss auf junge Musiker.
Elbphilharmonie („Elphi“) Hamburgs berühmtes Konzerthaus, zentraler Schauplatz des Romans.
Laeiszhalle Traditionsreicher Konzertsaal in Hamburg, Ort wichtiger Ereignisse.
Landungsbrücken Historische Anlegestellen an der Elbe, beliebter Treffpunkt und Schauplatz.
St. Katharinen Alte Hamburger Kirche, bekannt für musikalische Veranstaltungen.
Hauptbahnhof Hamburg Verkehrsknotenpunkt und Ort öffentlicher Begegnungen.
Ottensen Lebendiges Hamburger Viertel, Standort des Notendruckers „Cantus & Blei“.
Grindelhof Wohn- und Arbeitsviertel, hier lebt ein wichtiger Nebencharakter.
Oberhafen-Kantine Künstlerisches Wohnprojekt, Treffpunkt für Kreative und Musiker.
BKA (Bundeskriminalamt) Deutsche Bundesbehörde für Ermittlungen bei schweren Verbrechen.
LKA (Landeskriminalamt) Landesbehörde für Kriminalfälle, hier: Hamburg.
Rigging Bühnentechnik, insbesondere das Aufhängen von Seilen und Geräten.
Kolophonium Harz, das Musiker für Saiteninstrumente verwenden, spielt eine Rolle in der Spurensuche.
Stingray Technisches Gerät zur Überwachung von Mobilfunkgeräten.
IMEI Individuelle Gerätekennung für Mobiltelefone, wichtig für die Ermittlungen.
Toner Druckerzubehör, relevant für die Spurensicherung bei Notenblättern.
Metronom Musikalisches Zeitmessgerät, Symbol für Takt und Kontrolle.
Bonbon Im Roman ein wiederkehrendes Motiv – spielt in der Handlung eine besondere Rolle.
Spieluhr Mechanisches Musikinstrument, taucht als Symbol und Hinweis auf.
„Der Tod und das Mädchen“ / „Gretchen am Spinnrade“ / „Erlkönig“ / „Schwanengesang“ Berühmte Musikstücke von Franz Schubert, dienen als Motive und Hinweise im Fall.
Hamburg schläft nicht. Auch nicht, wenn der Wind von der Elbe her schneidend kalt über die HafenCity pfeift und das Glas der Elbphilharmonie wie Eis in den Himmel ragt. Die Stadt glitzert. Die Kälte beißt. Ein Licht nach dem anderen geht aus. Nur die Not-Ausgangs-Lämpchen in den Gängen der Elphi brennen noch wie kleine, grünliche Augen.
Der Mann bleibt stehen. Er hört. Es ist, als würde der Bau atmen. Ein tiefes Surren. Ein fernes Klacken. Schritte? Nein. Sein Herz.
Er blinzelt. Dann schiebt er die Seitentür auf, die zum Backstage-Flur führt. Keine Wache. Kein Laut.
Er kennt den Weg. Er braucht kein Licht. Einmal links. Geradeaus. An der hohen schwarzen Wand vorbei. Die Notenständer riechen nach kaltem Metall. Der Orchestergraben klafft wie ein dunkler, schlafender Mund. Darüber: der Saal, leer, mächtig, wie ein Meer ohne Wellen.
Die Leiche hängt schon. Aufrecht, aber hängend, an einem Seil, das jemand fachmännisch über die Träger geleitet hat. Nicht hoch. Nur so hoch, dass die Schuhe keine Verbindung mehr zum Boden haben. Die Augen offen. Der Mund … als singe er noch.
Er tritt näher.
„Guten Abend, Maestro“, flüstert er. Als wäre das nötig. Als wäre der Mann hier etwas anderes als eine ausgepresste Schale.
Er zieht Handschuhe an. Kein Latex, sondern ein dünnes, dunkelgraues Gewebe, das nicht knistert. Er fasst die kalte Hand an, hebt sie eine Spur, als wolle er sie zu einem letzten, höflichen Gruß bewegen. Dann schiebt er dem Toten etwas in die Innentasche des Jacketts. Ein gefaltetes Blatt. Er hat es sorgfältig vorbereitet. Ein Takt markiert. Ein Kreis mit rotem Buntstift. Zwei Buchstaben darunter: D–M.
Er tritt zurück. Zieht den Mantelkragen hoch. Wirft einen Blick nach oben: Die leeren Ränge. Der Saal sieht zu. Er dreht sich um, geht den Weg zurück. Kein Ton, bis auf das leise, regelmäßige Knacken des Seils. Als würde der Bau kauen.
Auf dem Weg nach draußen zieht er sein Handy, entsperrt es mit dem Daumen, tippt eine Nummer. Es klingelt. Einer hebt nicht ab. Er lächelt. „Nicht schlimm“, murmelt er. „Sie werden es finden.“
Sein Schatten verschwindet in der dunklen Flanke des Hauses. Draußen zieht der Wind. Ein flatterndes Programmheft klatscht über den Platz. Es bleibt an einem Geländer hängen. Auf der Rückseite: „Donnerstag: Schubert – Der Tod und das Mädchen.“
„Moin.“
Der Hausmeister ist fünfzig plus und hat Hände wie Schaufeln. Er hat den toten Mann gefunden. Jetzt steht er mit einer Rettungsfolie über den Schultern in der Seitenbühne, trinkt einen Kaffee aus dem Automaten und sieht aus, als stünde er seit Tagen hier und bekäme gleich noch zwei Winter um die Ohren geblasen.
„Moin“, sagt Grotjahn. „BKA.“
„Ist das jetzt so?“, fragt der Hausmeister und blinzelt Grotjahn und Dröhnkamp an, als müsse er die beiden erst scharf stellen.
„So ist es“, sagt Dröhnkamp. Sie hebt die Marke. „Sonderermittlerin Dröhnkamp. Dies ist mein Kollege Grotjahn.“
„Dann viel Spaß.“ Der Hausmeister deutet mit dem Kaffeebecher in den Saal. „Is’ nix Schönes da drin.“
Grotjahn nickt dem uniformierten Kollegen zu, der am schwarzen Band steht, das den Zugang zum Orchestergraben absperrt. Der Kollege sieht aus, als würde er gern woanders sein. „Nicht runter“, sagt er. „Gerichtsmedizin will erst Bilder, dann runter.“
„Jaja“, sagt Grotjahn. Er sieht hinunter. Die Leiche schwebt einen knappen Fuß über dem Boden. Der Mann war einmal groß. Sechzig? Siebzig? Grau. Edler Schnitt. Schnürsenkel doppelt, italienische Schuhe. Grotjahn hebt den Blick: Über dem Toten schwingt das dünne Seil in einem Winkel, der wenig Spielraum für Zufall lässt.
„Name?“, fragt Dröhnkamp.
„Prof. Dr. Viktor Salomon“, sagt der Uniformierte. „Chefdirigent. Sie wissen schon.“
„Ich geh nicht zu Konzerten“, sagt Grotjahn. „Zu teuer.“
„Er hatte die Probe für nächste Woche angesetzt“, sagt jemand von der Seite. Eine junge Frau, zu dünn, zu blass, mit einem Clip am Ausweis: Management. „Eine Matinee für Förderer. Er war …“ Sie bricht ab. „Sie hätten ihn sehen sollen. Er hatte Hände …“ Sie ringt nach Luft. „Sind Sie vom BKA? Wieso BKA?“
„Weil wir uns für Theater interessieren“, sagt Grotjahn.
„Grotjahn“, zischelt Dröhnkamp. „Reiß dich zusammen.“
„Ich reiß mich immer zusammen“, sagt er.
Er beugt sich zum Uniformierten und deutet auf die Bühne. „Das Seil?“
„Rigging“, sagt der. „Hausanlage. Einen Knoten könnte mein Opa so binden. Wer sich auskennt, braucht keine fünf Minuten, um das zu bauen.“
Sarah Jäger kommt. Ganz in Weiß, mit Overalls, die knistern. Leicht, zielstrebig, Augen die alles sehen, was man nicht sehen will. „Na, ihr zwei Klangkörper“, sagt sie, als wäre sie in einem Labor und nicht an einem Ort, der nach kaltem Staub und teurem Parkett riecht. „Bitte heute mal keine Spuren zerstören.“
„Hab mir neue Schuhe gekauft“, sagt Grotjahn. „Mit Weichsohlen. Extra für dich.“
„Dann halt mal den Mund und hör zu“, sagt Sarah ohne aufzuschauen. „Seil ist aus dem Repertoire. Kein fremdes Nylon. Fingerabdrücke? Bei dem Lack auf den Relings könnt ihr eher beten. Aber ich nehme Abstriche. Und …“ Sie bleibt stehen. „Was haben wir denn da.“ Sie beugt sich unter den Toten, hält inne, dann nickt sie dem Kollegen zu: „Ich brauche eine Leiter. Und zwar gestern.“
„Was?“, fragt Dröhnkamp.
„Was der Mörder dem Maestro in die Tasche gesteckt hat“, sagt Sarah.
Später, wenn Dr. Heinz da war und „Wir schneiden“ sagte, wird das Blatt offiziell befreit. Jetzt hebt Sarah vorsichtig die Jackettkante, nur so weit es geht. Ein Hauch von Papier. Eine Kante. „Musik“, sagt sie. „Noten. Klassische. Handschrift? Nein. Laserausdruck. Roter Kreis um …“ Sie schielt. „… den Takt. Und darunter … D–M.“
„Der Tod und das Mädchen“, sagt die junge Managerin sofort. „Schubert. Viertes Lied. D-Moll, aber …“
„Bravo“, sagt Grotjahn. „Sie haben gewonnen. Eine Reise nach …“
„Grotjahn.“
„Ich hol mir einen Kaffee“, sagt er. Er geht zwei Schritte und kommt zurück. „Nein, doch nicht. Wir haben Arbeit.“
Der Hausmeister hebt den Kopf. „Ich hab‘ noch was gesehen“, sagt er.
„Nun“, sagt Dröhnkamp.
„Da stand eine Frau. Mit einem Cello-Koffer. Vor dem Hintereingang. Ich hab gedacht, die will rein, hab aber keinen Einlass gesehen. War kurz, fünf Minuten bevor ich …“ Er verstummt. „Bevor ich nach dem Maestro gucken wollte.“
„Warum wollten Sie nach ihm gucken?“, fragt Grotjahn.
„Weil die Putzkolonne rauf sollte“, sagt er. „Und wenn die rauf soll und ich weiß, der Herr Professor ist noch in seinem Büro, dann …“ Er sieht weg. „Ist doch egal.“
„Beschreiben Sie die Frau“, sagt Dröhnkamp. „Alter? Größe? Haare?“
Der Hausmeister fährt sich durch den Bart. „Jünger als ich. Klar. Schwarzhaarig. Groß. Der Koffer war … groß. Cello eben. Warf so’n Schatten. Hat nicht gesprochen. Hat mich angeschaut. Kalt. Dann war sie weg.“
„Weg?“, fragt Grotjahn. „In Luft?“
„Wenn ich klug reden will, ruf ich einen Philosophen an“, sagt der Hausmeister. „Ich bin Hausmeister.“
„Ich mag Sie“, sagt Grotjahn.
„Das ist schon was“, sagt der Mann und zieht die Rettungsfolie fester um die Schultern.
„Kameras?“, fragt Dröhnkamp die Managerin.
Die hebt die Hände. „Überall. Das wird Tage dauern.“
„Dann fangen Sie besser jetzt an“, sagt Dröhnkamp.
„Also hören Sie.“
Hauptkommissarin Leiske, LKA Hamburg, Bereich 11, Mord, gestikuliert mit einem Kuli und steht Grotjahn und Dröhnkamp vor der Brust wie eine Hauswand. „Das ist unsere Hütte. Unsere Leiche. Sie kommen mir hier nicht und machen den dicken …“
„Guten Abend“, sagt Dröhnkamp. „Der Chef Ihrer Chefs hat unseren Chef angerufen. Wir sind nicht hier, um Ihnen Arbeit wegzunehmen. Wir sind hier, weil das, was hier geschehen ist, möglicherweise über Hamburg hinausweist.“
„Ja, wenn Sie’s sagen“, presst Leiske zwischen den Zähnen hervor.
„Wir sagen’s“, sagt Grotjahn. „Wollen Sie uns jetzt den Zugang verwehren, damit wir später sagen können: Sie hätten fast geholfen, aber Sie haben zu lange geredet?“
Leiskes Kuli schnellt wie ein Zeigestock nach vorn. „Sie, Freundchen, halten jetzt mal die Füße still.“
„Er kann das nicht“, sagt Dröhnkamp. „Er ist genetisch dazu nicht in der Lage.“ Sie lächelt. Es ist dieses dünne, höfliche Lächeln, das Leute nur zeigen, wenn sie gleichzeitig nachdenken und jemanden um einen Gefallen bitten. „Glauben Sie mir, wir brauchen einander in diesem Fall.“
Leiske starrt, als müsse sie abklopfen, ob das Lächeln echt ist. Dann nur ein knappes Nicken. „Na schön. Aber Ihre Spürhunde bleiben draußen, wenn ich sage, sie bleiben draußen.“
„Deal“, sagt Grotjahn.
„Sie brauchen bessere Schuhe“, sagt Leiske. „Sie knarzen.“
„Ich weiß“, sagt Grotjahn.
Dröhnkamp neigt den Kopf leicht. „Was wissen wir über Viktor Salomon?“
„Welt“, sagt Leiske. „Dirigent. Preisen Sie Google, Sie werden alles finden, was er gekocht hat, wen er gelehrt, wen er beleidigt hat. Drei Ex-Frauen. Ein Sohn, der nicht mehr mit ihm spricht. Ein Stipendienfonds. Ein Haus an der Alster. Und keinen Feind. Wenn Sie seine PR-Leute fragen. Wenn Sie seinen Zweiten Geiger fragen, hat er Feinde in jedem Pult.“ Sie zeigt in den Graben. „Das hier war kein Zufall. Und es war kein Selbstmord.“
„Danke“, sagt Grotjahn.
„Dafür brauchen Sie nicht das BKA.“
„Wir brauchen Sie“, sagt Dröhnkamp. „Und Ihre Kameras. Und Ihre Leute, die die Telefone der Musiker auswerten.“
„Haben wir längst“, sagt Leiske. „Was wir noch nicht haben, ist das, was in seiner Innentasche steckt. Der Gerichtsmediziner ist auf dem Weg.“
„Die Musik“, sagt Sarah. „Ich habe Fotos. Sie können sich hinsetzen, wenn Sie möchten.“
„Nachher“, sagt Leiske. „Zuerst will ich wissen, wer die Cello-Frau ist.“
„Wenn es eine Frau war“, sagt Grotjahn. „Und wenn es ein Cello war.“
„Wollen Sie mich verarschen?“, fragt Leiske.
„Noch nicht“, sagt er.
„Genug“, sagt Dröhnkamp. „Lassen Sie uns arbeiten. Sie kriegen alles, was wir haben. Und wir kriegen alles, was Sie haben. So schwer ist das nicht.“
„Sie kennen den Laden nicht“, sagt Leiske. „Hier ist alles schwer.“
„Ich hab mir das Blatt angesehen.“ Murat Özdiler hat sich den Mantel noch nicht ausgezogen, als er sich über Sarahs Schulter beugt. „C-Dur wäre lustig gewesen. Ist es nicht. D-Moll. Der Tod und das Mädchen. Aber das Blatt ist nicht aus irgendeiner Notenbibliothek gezogen. Der Font ist speziell. Sieht aus wie LilyPond, aber mit einer modifizierten Serifensetzung. Und dieser rote Kreis …“
„Filzstift“, sagt Sarah. „Einer von denen, die Kinder benutzen. Billig. Kein Hersteller zu finden. Der Zettel selber … Standard 80-Gramm. Keine Wasserzeichen. Faseranalyse? Wir sind nicht in der Schweiz.“
„Es gibt Tintenstrahler, deren Düsen ein leichtes Rastern hinterlassen“, murmelt Murat, „das sich wie ein Fingerabdruck liest, wenn man es dick genug hat. Das hier ist Laser. Auch okay. Tonerpartikel sind netter. Wenn der Idiot sein Gerät nie geöffnet hat, finden wir vielleicht eine Spurenfamilie.“
„Ich nehme an, du hast gerade ‚Idiot‘ gesagt, um ihn zu provozieren“, sagt Sarah. „Halte ich für gewagt. Der hier ist einer, der überlegt.“
„Am Ende sind es die, die überlegt haben, die einen Fehler machen“, sagt Murat. „Immer.“
„Ihr zwei Romantiker“, sagt Mario Spano, der in die Zentrale schlendert, als sei dies ein Café und nicht ein abgeriegelter Keller unter einem IT-Unternehmen. „Ich komme von St. Pauli. Wenn ihr mal wieder echte Leute sehen wollt statt Noten, sagt Bescheid.“
„Du riechst nach verschüttetem Bier“, sagt Sarah.
„Ich rieche nach Leben“, sagt Mario und zwinkert. „Chef schon da?“
„Natürlich“, sagt eine Stimme hinter ihm.
Koopmann steht in der Tür seines Glasbüros. Er sieht aus wie immer: glatt, wacher als man sein sollte, ohne dass man sagen kann, woran das liegt. „Ich hatte vor zehn Minuten eine Videokonferenz mit der Kultursenatorin“, sagt er. „Sie fragt, ob wir uns der Tragweite bewusst sind. Das bin ich. Und ich möchte nicht, dass ich es morgen der Bundeskanzlerin erklären muss, warum der Mörder des berühmtesten Dirigenten dieses Landes seinen nächsten Auftritt schon plant.“
„Die Kanzlerin hört keine Musik“, murmelt Grotjahn.
„Sie hört Politik“, sagt Koopmann. „Und Menschen, die aufhören, nachts durch Hamburg zu gehen, wenn sie Angst haben.“ Er deutet auf die Wand. „Setzen Sie sich. Briefing.“
Sie nehmen Platz. Sarah klappt das Foto der Noten auf. Murat spiegelt eine Karte über den Bildschirm: die Elbphilharmonie, die Nebenwege, die Kameras, die toten Winkel.
„Die Cello-Frau“, sagt Dröhnkamp.
„Kameras sind unterwegs“, sagt Murat. „Ich sauge mir die Streams von gestern zwischen zwei und vier Uhr. Es gibt Lücken. Ein technischer Reboot um zwei-null-neun. Jemand hat es nicht im System geloggt. Jemand hat die Sensoren auf ‚Wartung‘ gesetzt.“
„Insider“, sagt Mario.
„Oder jemand, der weiß, wie die Elektronik in so einem Haus funktioniert“, sagt Sarah.
„Oder jemand, der jemanden hatte“, sagt Grotjahn. „Eine Kreditkarte für die Bar in der Plaza, ein Lächeln, zwei Stücke Kuchen, und jemand gibt dir den Code für die Hintertür, wenn du ihn richtig fragst.“
„Grotjahn“, sagt Dröhnkamp. „Halten Sie sich an Fakten.“
„Ich halte mich immer an Fakten. Ich liebe sie.“
„Das haben wir morgen schriftlich“, sagt Mario und grinst.
Koopmann hebt die Hand. „Mario, Sie gehen zum Sohn.“
„Was?“, sagt Mario.
„Leonard Salomon“, sagt Koopmann. „Er wohnt in einem umgebauten Speicher in der Oberhafen-Kantine. Zusammen mit drei Videokünstlern und einem Hund. Er hasst seinen Vater. Das hat er in jeder zweiten Zeitung erzählt. Sie sind der Einzige, der ihn dazu bringt, die Tür zu öffnen.“
„Klar“, sagt Mario. „Künstler mögen mich. Ich bin einer von ihnen.“
„Das ist die schlimmste Drohung, die ich je gehört habe“, murmelt Sarah.
„Dröhnkamp, Grotjahn.“ Koopmanns Stimme wird noch eine Spur flacher. „Sie gehen ins Haus des Toten. Alster. Seine Haushälterin heißt Frau Waller. Sie ist seit acht Jahren bei ihm. Falls er Geheimnisse hatte, die nicht in den Feuilletons standen, dann liegen die in einer Schublade in diesem Haus.“
„Und ich?“, fragt Murat.
„Sie …“, sagt Koopmann, „… hören sich jeden Toner der Gegend an.“
Murat verzieht das Gesicht. „Ich rufe in der halben Stadt Druckereien an. Und ich rufe jemanden an, der jemand anderen kennt, der das Gerät wiedererkennt, an dem dieses Blatt gedruckt wurde. Das wird eklig.“
„Das ist es immer“, sagt Koopmann.
„Was ist mit der Frau mit dem Cello?“, fragt Sarah.
„Wir werden sie finden“, sagt Dröhnkamp. „Aber vielleicht ist sie kein Cello. Sondern nur ein Schatten.“
Das Haus an der Alster ist so weiß, dass es wehtut. Der Kies knirscht teurer. Der Butler – es gibt wirklich einen Butler – sieht sie an, als seien sie die Menschen, die das Wasser schmutzig machen, in dem er schwimmt.
„Frau Waller?“, fragt Dröhnkamp.
„Links. Küche. Man hört sie schimpfen, wenn sie nervös ist. Sie schimpft seit sechs Uhr.“
„Danke“, sagt Grotjahn. „Wenn Sie was zu tun brauchen, putzen Sie doch die Welt.“
„Ich tue nichts für Sie“, sagt der Butler, ohne die Miene zu verändern.
„Das ist in Ordnung“, sagt Dröhnkamp sanft.
Frau Waller ist klein, fest, hat eine Schürze, die wie ein Schild vor ihr hängt. Sie keucht, als sie sie sieht. „Sind Sie von der Polizei?“
„BKA“, sagt Dröhnkamp. „Darf ich …“
„Er hat nie geschlafen“, sagt Frau Waller. „Immer nachts. Immer noch einmal rauf. Immer noch eine Platte. Ich hab ihm gesagt, das Herz … Aber wer wäre ich, einem Mann wie ihm …“ Sie bricht ab. „Es tut mir leid.“
„Schon gut“, sagt Grotjahn. „Wir wissen, wie es ist.“
„Nein, das wissen Sie nicht“, sagt sie. „Er war ein Schwein. Und ein Engel. Er konnte jemanden fertig machen mit einem Blick. Und er hat einem andern das Leben gerettet. Er hat einem Mädchen aus Polen die Schule bezahlt. Er hat einem Hornisten die Wohnung gekauft, damit der nicht nach Bremen ziehen musste. Und er hat einer Frau die Stimme aus dem Hals geschrien.“
„Wo sind seine Sachen?“, fragt Dröhnkamp. „Arbeitszimmer? Noten? Computer?“
„Büro oben. Schrank rechts. Ordner. Er hat alles. Er hat Kopien von allem. Er hat sogar Kopien von seiner Liebe gemacht. Papiere. Bilder. Die Frauen waren alle anders. Aber im Schrank sind sie alle gleich.“
„Wir brauchen seine Geräte“, sagt Grotjahn. „Laptop. Drucker. Toner.“
„Hören Sie auf, mir den Tod zu klauen“, sagt Frau Waller plötzlich scharf. „Wenn Sie schon alles mitnehmen, lassen Sie mir seine Tasse. Er hat morgens nie Kaffee getrunken. Aber er hat sie immer in die Hand genommen. Warm. Damit die Finger warm sind. Bitte.“
„Die Tasse bleibt“, sagt Dröhnkamp.
„Danke“, sagt Frau Waller.
„Hatte er Angst?“, fragt Grotjahn. „In letzter Zeit?“
„Er hatte immer Angst“, sagt sie. „Das ist sein Motor gewesen. Und seine Strafe. Aber er hat nie weggesehen. Außer bei seinem Sohn.“
„Warum?“, fragt Dröhnkamp.
„Weil sein Sohn sein Spiegel war“, sagt sie. „Und kein Mensch erträgt sein Spiegelbild, wenn es nicht lächelt.“
„Wir nehmen sein Handy“, sagt Grotjahn. „Und alles, was nach einem Drucker aussieht.“
„Tun Sie, was Sie müssen“, sagt Frau Waller. „Und nehmen Sie die Bilder mit, in denen er lacht. Ich kann sie nicht sehen.“
„Wir nehmen nur, was wir brauchen“, sagt Dröhnkamp.
„Sie werden alles brauchen“, murmelt Frau Waller.
„Leonard Salomon ist nicht da“, sagt die blonde Videokünstlerin mit der Neonbrille. „Er ist mit dem Hund raus. Und sein Kopf ist auch weg.“
„Der Kopf geht selten Gassi“, sagt Mario und lächelt so, dass sie ihn nicht gleich auffrisst. „Ich warte.“
„Warten ist eine bürgerliche Kategorie“, sagt sie. „Hier wird nicht gewartet. Hier wird gearbeitet. Wir schneiden.“
„Mein Beileid“, sagt Mario. „Auch wenn Sie ihn gehasst haben.“
„Ich habe Ihren Job gehasst“, sagt sie. „Ich habe die Männer gehasst, die glauben, sie könnten mit zwei Handbewegungen aus der Luft Bedeutung schneiden. Leonard hat seinen Vater geliebt, wie man einen Sturm liebt: mit offenen Fenstern und nassen Füßen.“
„Sie sind Dichterin“, sagt Mario. „Ich bin vom BKA.“
„Leonard hasst BKA.“
„Er wird heute eine Ausnahme machen“, sagt Mario.
Leonard kommt. Er hat derart dunkle Augenringe, dass man darin wohnen könnte. Der Hund – eine Mischung aus allem, was jemals über St. Pauli gelaufen ist – legt sich zu Marios Füßen. Leonard sieht Mario an. „Sie sind ein Cop“, sagt er.
„Ich bin Mario“, sagt Mario.
„Sind Sie bewaffnet?“, fragt Leonard.
Mario hebt die Hände. „Nur mit Humor.“
„Der bringt ihn nicht zurück“, sagt Leonard. „Was wollen Sie?“
„Die Wahrheit.“
„Die Wahrheit ist: Er war groß und klein. Er war alles, was ich sein will. Und nichts, was ich sein darf.“
Mario nickt. „Er Feinde?“
„Natürlich“, sagt Leonard. „Aber seine Feinde sind fein. Sie tragen Frack. Sie tragen Gagenlisten. Sie tragen E-Mails, in denen sie den Tod der Musik beklagen und die Geburt des Geldes feiern. Sagen Sie mir, dass Sie die alle verhaften. Ich gebe Ihnen die Namen.“
„Geben Sie mir die Namen.“
Leonard holt ein zerknittertes Blatt aus der Tasche. Er hat die Namen schon vorher aufgeschrieben. Fünf Namen. Drei Agenten. Ein Intendant. Ein Solist, der nie wieder bei ihm spielen durfte.
„Und eine Frau“, sagt Leonard, als Mario das Blatt nimmt.
„Welche Frau?“
„Sie trägt ein Cello“, sagt Leonard. „Sie ist überall. Aber niemand kennt sie. Sie nennt sich Senta.“
„Opernfan“, sagt Mario. „Wagner.“
„Oder nur ein Name“, sagt Leonard. „Ich hab sie gesehen. Einmal. In Wien. Hinter der Bühne. Sie stand da, als wäre sie ein Schatten. Mein Vater hat sie angesehen. Und in diesem Blick war alles.“
„Alles?“
„Furcht. Und …“ Leonard bricht ab. „Egal. Ich weiß nichts. Ich weiß nur, dass ich nichts weiß. Und dass mein Hund sich jetzt wieder hinlegen will.“
„Das verstehe ich“, sagt Mario. Er beugt sich, streichelt das Tier. „Danke.“
„Gehen Sie“, sagt Leonard. „Bevor mein Hund Sie beißt.“
„Er mag mich.“
„Er mag jeden, der nicht nach meinem Vater riecht“, sagt Leonard. „Das ist sein Trick, zu überleben.“
„Ich wollte nur kurz anmerken, dass ich seit einer Stunde mit Druckereien telefoniere“, sagt Murat in die Runde. Er sieht aus, als hätte er sich mit einem Knoten im Nacken an den Schreibtisch gebunden. „Und mit Musikschulen. Und mit Copyshops. Und mit einem bekloppten Sammler, der behauptet, er hätte die Noten selbst gesetzt und der Maestro hätte ihn plagiiert. Den habe ich an die Staatsanwaltschaft weitergereicht, weil ich heute ein großer Junge bin.“
„Was bringt uns das?“, fragt Koopmann.
„Eine Spur nach Ottensen“, sagt Murat. „Es gibt dort einen kleinen, sehr edlen Notendrucker, ‚Cantus & Blei‘, die alten Bleisatz imitieren. Der Toner, der Bindestaub, die Feinstaubmischung … Kommt hin. Ich fahre da hin.“
„Ich fahre da hin!“, sagt Sarah. „Nichts für ungut. Aber du siehst aus, als würdest du den ersten, den du triffst, adoptieren.“
„Ich adoptiere nur Katzen“, sagt Murat.
„Die du dann in der Zentrale aussetzt“, sagt Sarah. „Wir treffen uns in Ottensen. Und wenn der Mann vom Laden mich anlügt, werde ich wissen, wie er lügt.“
„Sie lügen alle“, sagt Koopmann. „Gehen Sie.“
„Und wir?“, fragt Grotjahn.
„Sie fahren zurück in die Elbphilharmonie“, sagt Koopmann. „Frau Leiske hat eine Kamera gefunden, die die Wartung überlebt hat.“
„Ach“, sagt Grotjahn. „Ein Wunder.“
„Eher ein Zufall“, sagt Koopmann. „Aber manchmal sind die beiden Brüder.“
Die Kamera zeigt den Hintereingang. Den Hausmeister. Einen Lieferwagen. Und dann: Eine lange, schmale Person mit einem schwarzen Kasten auf dem Rücken. Dezent. Kein Koffer, mehr ein Schalenkoffer der neueren Art. Ein Cello passt hinein. Oder etwas, das aussieht wie ein Cello.
Die Person bleibt im Schatten. Ein Profil ist da, dann weg. Die Zeit: 01:57. Danach: Nichts. Die Person ist in einem Zwischengang verschwunden, der in die Logistik führt. Und dann: 02:09 – das System ist in Wartung. 02:21 – zurück. Die Person ist nicht zu sehen. Als hätte sie sich aufgelöst.
„Wir ziehen die Metadaten“, sagt Murat über die Leitung. „Der Umschaltzeitpunkt ist fern gesteuert. Nicht im Haus. Außer jemand hat vom Haus-direkten Terminal aus RDP genutzt. Ich sehe keinen lokalen Login. Ich sehe eine IP aus einem Netz, das …“ Er tippt. „… zu einer Agentur am Rödingsmarkt gehört. Eventagentur. Organisieren Filmmusikabende. Nennen sich ‚Senta Live‘.“
„Da haben wir’s“, sagt Mario. „Ich liebe es, wenn die Namen direkt vom Himmel fallen.“
„Zu einfach“, sagt Dröhnkamp. „Es ist nie so einfach.“
„Vielleicht will jemand, dass es einfach aussieht“, sagt Grotjahn. „Weil er uns was zeigen will. Oder weil er uns wohin schubsen will.“
„Ich lasse sie in der Nacht nicht allein“, sagt Koopmann leise. „Keiner von Ihnen geht allein irgendwohin. Nicht nach Rödingsmarkt. Nicht nach Ottensen. Nicht nach St. Pauli. Immer zu zweit. Immer.“
„Chef“, sagt Sarah. „Wir sind keine Kinder.“
„Sie sind mir lieb genug, um Sie zu behandeln, als wären Sie’s“, sagt Koopmann.
Das Telefon an seiner Hand vibriert. Er sieht drauf. „Gerichtsmedizin“, sagt er. Er hört zu. Er nickt. „Danke. Schreiben Sie’s mir.“
„Und?“, fragt Dröhnkamp.
„Tod durch Strangulation“, sagt Koopmann. „Kein Kampf. Leichte Hämatome an der linken Schulter. Als hätte jemand festgehalten. Eine ältere, vernarbte Schnittverletzung am rechten Unterarm. Nicht wichtig. In der Innentasche: das Notenblatt. An den Händen: Kolophoniumspuren. Er hat kurz vorher ein Bogenhaar angefasst. Woher auch immer.“
„Was?“, fragt Sarah. „Er spielt nicht. Er dirigiert.“
„Vielleicht hat er jemanden berührt, der spielt“, sagt Grotjahn.
„Oder jemand hat ihm etwas in die Hand gedrückt“, murmelt Dröhnkamp. „Etwas, was mit Kolophonium zu tun hat. Ein Bogen. Ein …“
„Oder der Täter wollte uns glauben machen, dass ein Musiker in der Nähe war“, sagt Mario.
„Oder eine Musikerin“, sagt Grotjahn. „Mit einem Cello.“
„Halten Sie die Klappe“, sagt Dröhnkamp. „Nur für zehn Sekunden.“
„Zähle ich schnell oder langsam?“, fragt er.
„Gar nicht“, sagt sie. „Wir fahren nach Ottensen. Murat, Sarah – wir treffen uns in ‚Cantus & Blei‘. Und Mario …“
„Ich rufe die Eventagentur an“, sagt Mario. „Senta Live. Ich tue so, als wolle ich Tickets.“
„Sie kriegen zwei“, sagt Koopmann. „Eine für den Tod. Und eine für das Mädchen.“
‚Cantus & Blei‘ ist ein Laden, der riecht nach 1900: Papier, Metall, alte Schubladen, die schwerer sind, als sie aussehen. Der Mann hinter dem Tresen trägt Hosenträger und einen Blick, der sagt: Ich habe schon mehr Druckfehler begraben als Sie Freunde.
„Wir sind vom BKA“, sagt Sarah. „Ich mochte Ihren Instagram-Account.“
„Das freut mich“, sagt er und lächelt so minimal, dass man es als Zucken durchgehen lassen könnte. „Was kann ich für den Staat tun?“
„Wir wollen, dass Sie die Stadt retten“, sagt Murat. „Kennen Sie dieses Blatt?“ Er legt ein Foto hin. Er legt das echte Blatt nicht hin. Sarah hätte ihn erschossen.
Der Mann nimmt das Foto. Er zieht eine Lupe. Er legt die Lupe weg. „Ja“, sagt er. „Das ist meine Arbeit.“
„Wusste ich’s doch“, sagt Murat.
„Für wen?“, fragt Sarah.
„Kundenschutz“, sagt er.
„Die Stadt brennt“, sagt Sarah. „Kundenschutz ist, wenn wir Flyer für eine Frittenbude drucken. Hier ist jemand gestorben.“
Er schaut auf. Er sieht Sarah an. Er legt den Kopf minimal schräg. „Viktor?“, fragt er. „Ich hab’s im Radio gehört. Er …“ Er schließt kurz die Augen. „Ich kann … ich … er hat hier drucken lassen. Fast alles. Er hat mir vertraut.“
„Dann vertrauen Sie jetzt mir“, sagt Sarah leise.
Ein kurzer Kampf auf seinem Gesicht. Zwischen Pflicht und Not. Am Ende gewinnt etwas, das älter ist als beide. „Er hat vor drei Tagen bestellt. Zwanzig Sätze Schubert-Lieder. Sonderformat. Mit Rand. Und …“ Er tippt auf die Ecke des Fotos. „Mit einem winzigen Druckfehler in der dritten Zeile der Fußnote. Den mache nur ich.“
„Wer hat abgeholt?“, fragt Murat.
„Nicht er“, sagt der Mann. „Eine Frau. Schwarz. Groß. Ruhig. Sie trug den Kasten, als wäre er schwer. Sie hat gesagt, er ließe grüßen.“
„Hat sie einen Namen hinterlassen?“, fragt Sarah.
„Senta“, sagt er. „Nur den.“
„Kameras?“, fragt Murat. „Bitte sagen Sie, dass Sie Kameras haben.“
„Nein“, sagt der Mann. „Ich bin alt.“
„Quittung?“, fragt Sarah.
„Bar“, sagt er. „Er hat nie bar bezahlt. Es war …“ Er schluckt. „Es war komisch. Aber ich habe nicht …“
„Alles gut“, sagt Sarah.
„Nein, ist es nicht“, sagt er. „Nichts ist gut, seitdem wir glauben, dass alles druckbar ist.“
„Sie sind alt“, sagt Murat. „Aber Sie haben recht.“
„Können Sie mir nachzeichnen, wie die Frau aussah?“, fragt Sarah.
„Ich kann ihre Hände zeichnen“, sagt er. „Aber ich fürchte, das hilft Ihnen nicht.“
„Vielleicht doch“, sagt Sarah.
„Senta Live macht keine Senta“, sagt Mario ins Telefon, während er vor der Agentur steht, die hinter einer Glasfront olivfarbene Couchen hat und Coffee-Table-Books. „Die machen Blockbuster-Filmmusik. Das Plakat an der Wand zeigt Laserschwerter. Der Name ist Marketing. Die Frau an der Theke sagt, sie weiß nicht, warum sie gestern Nacht einen Remote-Login in der Elphi hatten. Sie sagt, sie war es nicht. Sie sagt, ihr Admin war es nicht. Sie sagt, sie ist es leid, Anrufe von Männern zu bekommen, die denken, dass Senta und sie eins wären.“
„Und?“, fragt Koopmann.
„Ich glaube ihr nicht“, sagt Mario. „Aber ich glaube auch mir nicht.“
„Halten Sie die Augen auf“, sagt Koopmann.
„Ich halte sie so offen, dass ich bald doppelt sehe“, sagt Mario. „Rufen Sie mich an, wenn Sie mich brauchen. Ich trinke inzwischen schlechtes Wasser.“
„Trinken Sie einen Kaffee“, sagt Koopmann.
„Der hilft nicht gegen Wagner“, sagt Mario. „Nur gegen Männer.“
„Dann trinken Sie zwei“, sagt Koopmann.
Es ist spät, als es klingelt. Keiner ist schon nach Hause. Der Kaffee ist alt. Der Neon summt. Und doch ist da ein Klingen, das anders ist. Kein Telefon. Ein alter Ton. Ein mechanischer.
„Was ist das?“, fragt Grotjahn.
Sarah hält den Kopf schief. „Eine Spieluhr“, sagt sie. „Jemand hat uns eine Spieluhr geschickt.“
„Von wem?“, fragt Dröhnkamp.
„Von niemandem“, sagt Sarah. „Vom Tod.“
„Paket“, ruft einer der Männer vom Empfang über die Gegensprechanlage. „Ohne Absender.“
„Nicht aufmachen“, sagt Koopmann.
„Zündschnur?“, fragt Mario.
„Halt die Klappe“, sagt Sarah. Sie geht zum Panzerschrank, holt einen Sensor, zieht Handschuhe an, legt das Paket auf den Tisch unter der Absaugung. „Keine Strahlung. Keine Wärme. Keine Drähte.“
„Und die Spieluhr?“, fragt Grotjahn.
„Klingt durch den Karton“, sagt Sarah.
„Aufmachen“, sagt Koopmann. „Langsam.“
Sarah schneidet. Sie hebt den Deckel.
Innen liegt Stroh. Auf dem Stroh: eine kleine Metall-Spieluhr. Daneben: ein Notenblatt. Oben steht: „Gretchen am Spinnrade“. Unten: der rote Kreis. Zwei Buchstaben: F–A.
„Faust“, sagt Grotjahn. „Goethe.“
„Schubert“, sagt Sarah. „Wir sind in einem Zyklus. Der Tod spielt mit uns.“
„Oder er will uns sagen, wo er als nächstes schlägt“, sagt Dröhnkamp. „Gretchen am Spinnrade. Wer ist Gretchen? Wer spinnt? Wer …“
„Wer sitzt in einer Drehung fest, die er nicht verlassen kann“, sagt Murat. „Ich hab da was, was Sie nicht hören wollen.“
„Sag es“, sagt Koopmann.
„Eine Straßenmusikerin, die an der Binnenalster immer ‚Gretchen‘ singt, ist vor einer Stunde ins UKE eingeliefert worden“, sagt Murat. „Plötzlicher Kollaps. Keine Drogen. Kein Alkohol. Sie ist …“ Er liest. „… tot.“
„Wie?“, fragt Sarah.
„Arzt sagt: Herzstillstand. Aber die Schwestern sagen: Sie hat vorher gekrampft. Und es hat nach Bittermandeln gerochen.“
„Zyanid“, sagt Sarah. „Wenn es so ist, haben wir keine Zeit.“
„Wer hat uns das Paket geschickt?“, fragt Koopmann.
„Jemand, der weiß, wo wir sind“, sagt Dröhnkamp.
„Jemand, der uns jetzt vorführt“, sagt Grotjahn. „Jemand, der sagt: Ihr seid die Musik. Ich dirigiere.“
„Nicht heute“, sagt Koopmann. „Nicht, solange ich atme.“
„Sie schlafen nie“, sagt Sarah.
„Das ist der Job“, sagt Koopmann. „Mario? Du gehst ins UKE. Nimm Spuren, wo immer es noch möglich ist. Rede mit jedem, der eine Silbe gesehen hat. Murat? Zieh die Kameras an der Alster. Alle. Auch die privaten. Dröhnkamp, Grotjahn? Elphi, Alster, Rödingsmarkt. Wir tanzen dreigleisig. Und wenn der uns die nächste Partitur schickt, will ich sie lesen, bevor die erste Note erklingt.“
„Jawohl, Chef“, sagt Grotjahn. „Und hören Sie auf, so heroisch zu klingen. Sonst muss ich weinen.“
„Tun Sie das nicht“, sagt Dröhnkamp. „Ich habe kein Taschentuch.“
„Ich schon“, sagt Sarah und hält ihm eins hin. „Für den Fall der Fälle.“
„Danke“, sagt Grotjahn. „Ich brauche es, wenn ich in der Elphi bin. Da zieht‘s immer so.“
„Geh“, sagt Koopmann.
„Schon weg“, sagt Grotjahn.
Draußen ist die Stadt, wie sie immer ist, wenn man glaubt, sie zu kennen: anders. Die Lichter machen Striche in die Luft. Der Wind ist ein Messer. Die Elbe riecht nach Metall. Am Rödingsmarkt steht ein Lieferwagen mit einem Logo, das man nicht erinnert, wenn man nicht danach sucht.
Die Frau mit dem Cello geht vorbei. Oder nicht. Grotjahn sieht sie einen Moment lang spiegelt sich in einer Scheibe und ist dann wieder weg.
„Haben Sie sie gesehen?“, fragt er.
„Wen?“, fragt Dröhnkamp.
„Niemand“, sagt er. „Ich träume. Ich sollte schlafen.“
„Nicht heute“, sagt sie.
„Nein“, sagt er. „Heute nicht.“
Der Motor heult auf. Sie tauchen in die Stadt. Hinter ihnen atmet der Bau aus Glas. Vor ihnen, irgendwo, spielt jemand eine Spieluhr. Sehr leise. Eine Melodie, die jeder kennt. Eine, die so bekannt ist, dass sie niemand mehr hört.
„Gretchen“, sagt Dröhnkamp. „Und dann?“
„Am Ende immer dasselbe“, sagt Grotjahn. „Tod.“
„Nicht, wenn wir schneller sind“, sagt sie.
„Dann tanzen Sie vor“, sagt er.
„Tun wir“, sagt sie. „Und wenn wir uns den Fuß brechen.“
„Ich tanze schlecht“, sagt er.
„Ich weiß“, sagt sie.
„Danke“, sagt er.
„Gern“, sagt sie.
Und die Stadt macht sich bereit für den nächsten Satz. Und irgendwer steht im Schatten und lächelt. Und irgendwo dreht sich ein Schlüssel. Und irgendwo liegt schon ein neues Blatt. Mit einem Kreis. Mit zwei Buchstaben. Die man versteht, wenn man weiß, was sie meinen. Und wenn nicht, dann lernt man es. Schnell. Oder nie.
UKE, Notaufnahme. Mario schiebt sich an zwei Sanitätern vorbei, hält kurz seine Marke hoch, nickt einem Pfleger zu, der ihn schon kennt. „Wieder du“, sagt der. „Wenigstens bringst du diesmal nicht den Kaffee mit.“
„Der ist eh schlecht“, sagt Mario. „Wo liegt sie?“
„Totensaal“, sagt der Pfleger. „Die haben sie runtergebracht. War keine richtige Reanimation mehr. Zu schnell.“
„Bittermandel?“, fragt Mario.
„Ich wette, wenn du mich bezahlen würdest“, sagt der Pfleger. „Aber ich hab nur eine Nase. Ja. Es riecht. Verdammt. Die Kollegin auf der Inneren meinte, vielleicht Cyanid. Aber das ist was für eure Leute.“
Mario zieht Handschuhe an, folgt dem Pfleger durch eine Tür, die zu schwer ist für den dünnen Lärm draußen. Die junge Frau liegt da, als wäre sie eingeschlafen. Kein Make-up. Eine aufgesprungene Lippe. Fingernägel kurz. Eine Stimme, die eben noch gesungen hat.
„Name?“, fragt Mario.
„Niemand“, sagt der Pfleger. „So stehen die meisten hier in unseren Listen. Es kommt noch.“
„Sie war bekannt“, sagt Mario. „Die am Jungfernstieg nennen sie Gretchen. Weil sie immer … na ja. Du weißt schon. Der Klassiker.“
„Ich höre nicht zu“, sagt der Pfleger. „Nicht mehr.“
„Wer hat sie gefunden?“, fragt Mario.
„Keiner. Sie ist einfach umgekippt. Die Leute haben erst gedacht, es gehört dazu. Show. Dann haben sie gemerkt, dass sie blass wird und nicht mehr atmet. Einer hat die 112 gewählt. Als wir ankamen, war sie …“ Er zuckt die Schultern.
Mario beugt sich, sieht die Hände, die Streifen an den Fingerspitzen. „Kolophonium“, murmelt er. „Oder Kreide.“
„Ich hole euch einen Arzt“, sagt der Pfleger. „Der sagt dir das mit richtigen Wörtern.“
„Hol mir die Frau, die sie reingefahren hat“, sagt Mario. „Und den, der die 112 gerufen hat, wenn er noch da ist. Und sieh nach, ob sie was bei sich hatte: Flasche, Becher, ein Geschenk.“
„Spieluhr?“, fragt der Pfleger und grinst nicht.
„Wenn irgendwo eine ist, will ich sie sehen“, sagt Mario. „Und falls jemand ihr heute etwas in den Hut gelegt hat, was kein Geld war, sag Bescheid.“
„Hüte haben wir viele“, sagt der Pfleger. „Aber ich gucke.“
„Danke“, sagt Mario. Er bleibt noch einen Moment länger. „Tut mir leid“, sagt er zu der Toten. „Wir rennen. Vielleicht sind wir irgendwann mal rechtzeitig.“
Er greift zum Telefon. „Chef? Ich bin im UKE. Es riecht nach Cyanid. Ich lasse Blut toxen, aber das dauert. Und …“ Er hört kurz zu. „Ja. Ich weiß. Ich finde euch noch die, die daneben stand und nicht wegsah.“
„Der Drucker in Ottensen bestätigt die Abholung auf ‚Senta‘“, sagt Sarah über Lautsprecher in der Zentrale. „Keine Kamera. Aber der Mann hat ihre Hände gezeichnet.“
„Du verarschst mich“, sagt Murat.
„Mach die Präsentation an“, sagt Sarah. Ihre Stimme ist seltsam weich geworden. „Er ist alt. Aber er sieht. Die Hände … schmal. Fingerkuppe der linken mittleren phalanx etwas breiter, als würde jemand viel auf einer Saite liegen. Harter Hornhautrand am Daumenballen. Das bekommst du, wenn du lange Bögen drehst, aber nicht immer ein Instrument in der Hand hast. Und einen kleinen Schnitt, frisch, an der dem Zeigefinger gegenüberliegenden Falte. Ein Papier- oder Metallkanten-Schnitt. Vielleicht am Kasten.“
„Das hilft uns nicht vor Gericht“, sagt Murat.
„Aber vor der Tür“, sagt Sarah. „Wir wissen, wonach wir gucken. Und der Mann hat sie ‚ruhig‘ genannt. Ich mag das nicht.“
„Ich auch nicht“, sagt Dröhnkamp. „Murat, was ist mit Rödingsmarkt?“
„Ich hab die Admin-Logs der Eventagentur nochmal angesehen“, sagt Murat. „Jemand hat mit einem legitimen Token aus einem Backup den Remote-Zugang genutzt. Das Token gehört einem Freelancer, der seit zwei Wochen unterwegs ist. Spezialgebiet: Licht- und Bühnentechnik in Konzerthäusern. Er heißt Darius Mielke.“
„D–M“, sagt Grotjahn.
„Oder einfach Zufall“, sagt Murat. „Aber die IP ist sauber. Wenn du mich fragst, hat jemand ihre Infrastruktur benutzt, um uns auf sie zu hetzen. Der Freelancer hat einen Lieferwagen. Er hat in letzter Zeit an drei Häusern gearbeitet: Elbphilharmonie, Laeiszhalle, Staatsoper. Und im UKE hat er letzte Woche eine Gala ausgeleuchtet.“
„Gala?“, fragt Mario. „Hier im UKE?“
„Fundraiser“, sagt Murat. „‚Musik heilt‘. Salomon war Schirmherr. Du kannst es dir nicht ausdenken.“
„Adresse von Mielke?“, fragt Koopmann.
„Barmbek, eine Halle in einem Hinterhof. Ich schicke sie euch“, sagt Murat. „Aber geht nicht rein, ohne dass ich euch die Pläne ziehe. Der Mann hat Licht gemacht. Der sieht im Dunkeln.“
„Wir gehen zu zweit“, sagt Dröhnkamp.
„Zuerst fahren wir zur Alster“, sagt Grotjahn. „Mario braucht …“
„Ich brauche gar nichts“, sagt Mario. „Ich habe eine Schwester, die auf Intensiv arbeitet. Ich weiß, wie das läuft. Ich bleibe hier. Ich will sehen, ob sie was gegessen hat, getrunken, ob jemand ihr vorher einen Bonbon gegeben hat.“
„Und wenn“, sagt Sarah, „dann war er bitter.“
„Wie mein Humor“, sagt Mario.
„Du hast Humor?“, fragt Sarah.
„Fragen Sie Charlotte“, sagt Mario.
„Sie heiß Charlotte, wenn ich wütend bin“, sagt Dröhnkamp.
„Wir sind alle wütend“, sagt Mario. „Also gehen wir arbeiten.“
Barmbek, Hinterhof. Ein graues Tor. Grauer Himmel. Ein Schild, das einmal etwas bedeutete. „Lichtwerk Mielke“. An der Seite des Tores: ein Nebeneingang. Eine Klingel. Ein Finger, der drückt.
„Niemand da“, sagt Grotjahn.
„Wir gehen nicht rein, wenn …“, sagt Dröhnkamp.
„… wir nicht rein gehen“, sagt Grotjahn und hebt die Karte, die ihm die Tür öffnet. Zumindest bei Behörden. Türen von Lichtmenschen mögen andere Karten. Er sieht die Kamera oben links. „Er sieht uns.“
„Soll er“, sagt Dröhnkamp. „Wir sind hübsch.“
„Sie“, sagt Grotjahn.
„Halten Sie die Klappe“, sagt sie.
Der Nebeneingang klickt plötzlich. Er geht auf. Drinnen riecht es nach Staub und Kabeln. Es ist sauber, fast zu sauber. Jemand, der Ordnung liebt. Jemand, der die Dinge da liegen lässt, wo sie liegen sollen. Jemand, der weiß, dass Unordnung tödlich sein kann.
„BKA“, ruft Dröhnkamp. „Herr Mielke?“
Keine Antwort. Nur das leise Summen eines Kühlschranks irgendwo hinten. Und die Stille, die in Werkstätten klingt, als atmete jemand flach.
Sie gehen. Langsam. Zwischen Cases, die aufgerollten Kabeln, leeren Lampenhalterungen. Auf dem Tisch: Kleinteilekoffer, fein sortierte Fächer, Etiketten in sauberer Schrift. D–M steht auf jedem. In einer Ecke: ein Cello-Kasten. Kein Logo. Schwarz. Zu neu, um alt zu sein.
„Nicht anfassen“, sagt Dröhnkamp, als Grotjahn den Kopf schief legt. Sie zieht einen Handschuh, öffnet den Kasten einen Spalt. Kein Instrument. Ein innen mit Schaumstoff ausgekleideter Koffer mit Auslassungen, die die Form von … Werkzeugen haben.
„Rigging“, sagt Grotjahn. „Seile. Karabiner. Schleifen. Und hier …“ Er zeigt auf einen länglichen Schlitz. „Sieht aus wie …“
„Präzisions-Spannratschen“, sagt eine Stimme hinter ihnen.
Sie drehen sich, als hätte ihnen jemand die Rollen darunter weggezogen. Der Mann in der Tür ist Mitte dreißig, drahtig, blond, kurzer Bart. Eine Brille, die Arbeit mag. Keine Waffe in der Hand. Nur ein Schlüsselbund.
„Darius Mielke?“, fragt Dröhnkamp.
„Kommt drauf an“, sagt er. „Wer fragt?“
„BKA“, sagt sie. „Dröhnkamp. Grotjahn.“
„Ah“, sagt er. Er legt die Hände hoch, als übte er eine Geste. „Ich geb’s zu: Ich mache Licht. Aber was immer sie jetzt suchen … ist nicht hier.“
„Zu sauber“, sagt Grotjahn.
„Danke“, sagt Mielke. „Ich liebe es, wenn jemand meine Arbeit zu schätzen weiß.“
„Sie hatten einen Remote-Login auf die Systeme der Elbphilharmonie“, sagt Dröhnkamp. „Zur fraglichen Zeit.“
„Mein Token war im Backup“, sagt Mielke. „Hacker, Baby. Ich kann’s nicht beweisen. Aber ich war in einer anderen Stadt. Leipzig. Ich leuchte aus. Fragebogen? Ich hab alles parat.“ Er zeigt auf eine Mappe. „Rechnungen, E-Mails, der ganze Scheiß.“
„Kamera?“, fragt Grotjahn und deutet auf die Ecke.
„Läuft mit Bewegung“, sagt Mielke. „Und mit einer Cloud, die sich gerade nicht verbinden will. Jemand hat an meinen DNS geschraubt. Irre, oder?“
„Wer?“, fragt Dröhnkamp.
„Der, der bei euch die Elphi gemacht hat“, sagt Mielke. „Oder einer von euch. Oder keiner von uns. Ist immer derselbe in diesen Geschichten.“
„Sie kennen ‚Senta Live‘?“, fragt Grotjahn.
„Wir arbeiten manchmal zusammen“, sagt Mielke. „Die zahlen pünktlich. Reicht das?“
„Sie kennen eine Frau mit Cello?“, fragt Dröhnkamp.
„Ich kenne hundert“, sagt Mielke. „Cellistinnen sind die neuen Gitarristen. Sie tragen Koffer, in denen alles drin ist, was man braucht, um ein Leben zu beginnen oder zu beenden.“
„Sie finden sich witzig“, sagt Grotjahn.
„Ich finde mich müde“, sagt Mielke. „Wenn ihr vorhabt, mir die Halle zu zerpflücken, sagt’s gleich. Dann hole ich mir einen Kaffee. Und einen Anwalt.“
„Wir nehmen den Kasten mit“, sagt Dröhnkamp. „Und wir nehmen Ihren Rechner.“
„Viel Spaß“, sagt Mielke. „Er ist sauberer als mein Klo. Und das ist sauber.“
„Wissen Sie, dass Viktor Salomon tot ist?“, fragt Grotjahn unvermittelt.
Etwas huscht über Mielkes Gesicht. Kein Schmerz. Eher das Abgleichen von Informationen. „Ja“, sagt er. „Radio. War ein großer. Ich kenne Leute, die viel mit ihm gemacht haben. Sehr präzise. Hat die Leute geschliffen. Wie meine Cases. Nicht jeder mag das.“
„Und die, die es nicht mögen, hängen ihn auf?“, fragt Grotjahn.
„Ich mache Licht“, sagt Mielke. „Ich hänge Dinge. Aber nicht Männer.“
„Dann beweisen Sie’s“, sagt Dröhnkamp. „Kommen Sie mit.“
„Die Toxikologen bestätigen den Verdacht“, sagt Mario, als sie zurück in der Zentrale sind. „Cyanid. Orale Aufnahme. Kein Injektionszeichen. Das Zeug war in einem Bonbon. Zuckerkruste, innen Flüssigkeit. Jemand hat ihr das Ding in den Hut geworfen. Oder in die Hand gedrückt.“
„Wer?“, fragt Koopmann.
„Es gibt jemand, der ihr oft Geld gegeben hat“, sagt Mario. „Ein alter Mann. Bei uns im System als Zivilex-Professor, ehemals Lehre für … Literatur. Goethe, Welt. Ich war bei ihm. Er ist der Meinung, dass sie die einzige ist, die ‚Gretchen‘ so singt, wie man es singen muss. Er hat ihr manchmal Schokolade gebracht. ‚Für die Stimme‘, sagt er.“
„Und?“, fragt Sarah.
„Er hat geheult, als ich ihn gefragt habe, ob die Schokolade von ihm war. Er hat mir seine Tafel gezeigt. Bitter. Ohne Füllung. Er ist sauber. Ich glaube ihm. Er hat die größte Schuld, die ein Unschuldiger haben kann: Er fühlt sich schuldig.“
„Jemand hat unser Spiel aufgegriffen und beschleunigt“, sagt Dröhnkamp. „Er hat uns das Paket geschickt, während er schon den zweiten Ton spielte.“
„Oder er hat es vorher geschickt“, sagt Murat. „Die Uhr ist nicht unsere. Die war in Bewegung, bevor wir sie gehört haben.“
„Wo sind wir angreifbar?“, fragt Koopmann.
„Überall, wo Musik öffentlich ist“, sagt Sarah. „Überall, wo man Menschen im Offenen trifft. Überall, wo jemand mit einer Geschichte einem anderen ein Bonbon geben kann.“
„Das ist die ganze Stadt“, sagt Mario.
„Nicht heute“, sagt Koopmann. „Wir können Muster lesen. Schubert. ‚Der Tod und das Mädchen‘. Dann ‚Gretchen am Spinnrade‘. Was ist logisch als nächstes?“
„Erlkönig“, sagt Grotjahn. „Vater, Kind, Nacht, Pferd. Oder ‚Die Forelle‘. Wegen Hamburg. Wegen Wasser. Oder ‚Der Leiermann‘. Winterreise. Straßenmusiker. Aber es ist warm.“
„Er ist nicht allegorisch, er ist konkret“, sagt Sarah. „Er liefert D–M, dann F–A. Anfangsbuchstaben der literarischen Vorlage. D–M: Der Tod und das Mädchen. F–A: Faust. Wenn er so weitermacht, ist das nächste E–K. Erlkönig.“
„Kinder“, sagt Koopmann.
„Kinderchor“, sagt Mario. „Oder ein Lehrer. Oder ein Vater mit Kind. Oder …“ Er bricht ab. „Scheiße.“
„Wir informieren die zuständigen Dienststellen“, sagt Dröhnkamp. „Und wir nehmen ihm das Thema. Wir gehen zum nächsten öffentlich angekündigten Kinderkonzert. Heute. Morgen. Alle. Wir setzen Dinge ab. Und wir sind da, bevor er da ist.“
„Ich habe eine Liste“, sagt Murat. „Kindertheater in Altona, Kitas mit Musikfrühstücken in Eimsbüttel, ein Kinderliederfestival in der Laeiszhalle in zwei Tagen. Und heute Abend: ‚Liederabend für Kinder‘ in einer Kirche nahe der Osterstraße. Eine Sopranistin singt Schubert für Kinder. ‚Erlkönig‘ ist auf dem Programm.“
„Das ist er“, sagt Sarah.
„Wie schnell können wir in der Kirche sein?“, fragt Koopmann.
„Zwanzig Minuten“, sagt Dröhnkamp.
„Ich rufe die Kirche an“, sagt Koopmann. „Sie lassen niemanden mehr rein, der einen Koffer trägt, der nicht geöffnet wird. Und es gibt kein Bonbon vor der Tür.“
„Das halten Sie nicht auf“, sagt Mario. „Aber es ist besser als nichts.“
„Gehen Sie“, sagt Koopmann. „Und wenn Sie ihn sehen: Schießen Sie nicht, wenn um ihn herum Kinder stehen. Ich will heute niemanden begraben, den ich noch nicht mal kenne.“
„Verstanden“, sagt Dröhnkamp.
„Grotjahn?“, sagt Koopmann, als der sich schon umdreht.
„Ja, Chef?“
„Passen Sie auf“, sagt Koopmann.
„Immer“, sagt Grotjahn. „Nur nicht immer rechtzeitig.“
„Heute sind Sie rechtzeitig“, sagt Koopmann. „Ich will es glauben.“
Die Kirche an der Osterstraße hat eine offene Tür und einen Geruch, der nach Holz und alten Decken riecht. Der Pfarrer ist ein Mann mit roten Backen und zu viel Schwung in den Händen. „Nein, wir wollen den Kindern doch nicht die Freude nehmen“, sagt er. „Diese Stadt ist schon voll genug mit Angst. Wir können …“
„Wir können nicht nicht“, sagt Dröhnkamp. „Ich verspreche Ihnen, niemand merkt etwas. Wir streuen uns im Raum. Unsere Leute sind in Zivil. Wenn Sie uns helfen, gewinnen wir alle.“
„Sagen Sie mir, was ich tun kann“, sagt der Pfarrer.
„Kein Bonbon an der Tür“, sagt Mario, der sich dazustellen ist, als sei er immer schon da gewesen. „Kein Wasser in offenen Bechern. Keine Geschenke aus dem Publikum. Die Sängerin bekommt ihre Flasche von Ihnen. Versiegelt. Wir öffnen sie.“
„Das klingt nach Krieg“, sagt der Pfarrer leise.
„Das ist einer“, sagt Mario. „Einer mit leisen Waffen.“
Die Sopranistin ist Mitte dreißig, schlank, konzentriert, der Blick, den Musiker haben, wenn sie gleich anfangen. „Ich habe Angst“, sagt sie. „Und ich schäme mich dafür.“
„Sie müssen sich nur schämen, wenn Sie nicht singen“, sagt Mario. „Singen Sie. Wir sorgen dafür, dass keiner Ihrer Töne der letzte ist.“
„Wenn ich erhängt werde, machen Sie daraus bitte etwas mit Geschmack“, sagt sie trocken. Mario mag sie.
Die Kirche füllt sich. Eltern, Kinder, Kinderwagen, ein Summen, das die Luft belegt. Die ersten Töne gehen durch die Bankreihen – Aufwärmen. Ein kleiner Junge in der ersten Reihe zerrt an der Hand des Vaters. „Papa, ich will nicht den Erlkönig“, sagt er. „Der ist doof.“
„Der ist großartig“, sagt der Vater gedankenverloren und hält das Programm, als lese er die Bundesliga-Ergebnisse.
Grotjahn ist hinten, rechts, neben dem Seiteneingang. Dröhnkamp ist links, zwei Reihen hinter dem Pfarrer. Mario steht an der Tür. Zwei Kollegen vom MEK sind ohne Westen, aber mit Augen da. Sarah sitzt direkt hinter dem Mann am Mischpult, der die beiden Mikrofone führt. Murat ist außerhalb, fängt die WLANs, die an ihm vorbeifliegen, fängt verschlüsselte Streams, fängt die Hintertüren der Handys, die vielleicht nicht wissen, dass sie uns gehört werden.
„Ich habe eine MAC-Adresse, die gestern an der Elphi war“, sagt Murat leise über den Kanal. „Sie ist hier. Jemand ist hier, der gestern Nacht an der Elphi war.“
„Wer?“, fragt Dröhnkamp.
„Konsole 3“, sagt Murat. „Kirchen-WLAN. Login ‚Gast‘. Aber das Gerät kennt die Netze von ‚Senta Live‘. Und ‚Lichtwerk Mielke‘. Ich kann euch nur sagen: Er ist hier.“
„Wo?“, fragt Grotjahn.
„Signalstärke … vorne rechts“, sagt Murat. „Eingang Kanzel. Oder Orgelbank. Oder …“
„Ich hab ihn“, sagt Sarah.
Der Mann am Mischpult? Nein. Der sitzt da, wo er sitzen soll. Eine andere Figur, auf der Orgelempore, halb verdeckt. Jemand, der nicht spielt. Jemand, der nur zusieht. Jemand, der einen langen, schlanken Kasten neben sich hat. Kein Cello. Eine Geigenform. Zu klein für ein Cello. Zu groß für eine Geige. Ein Köcher? Oder ein Stativ?
„Nicht bewegen“, sagt Dröhnkamp. „Wir wollen keine Panik.“
„Die Sängerin trinkt“, sagt Mario.
„Nicht die Flasche“, zischt Sarah, ist schon auf dem Weg, eine Hand, die wie zufällig die Flasche der Frau anfasst, eine andere, die die Folie prüft. „Alles gut. Weiter.“
Der Mann auf der Empore rührt sich nicht. Er hat diese Ruhe, die ansteckend ist. Er weiß, dass er gesehen werden kann, wenn er gesehen werden soll. Er weiß, dass er verschwinden kann, wenn er verschwinden muss. Er weiß, dass er hier ist, um zuzusehen, wie ein Stück Welt seinen Lauf nimmt.
„Erlkönig“, sagt der Pfarrer ins Mikro, freundlich, hell. „Wir haben heute ein Lied für euch, das eigentlich …“
„Scheiße“, sagt Mario. „Ich hasse es, wenn er recht hat.“
Die Sopranistin nickt dem Pianisten zu. Die ersten gebrochenen Akkorde. Der Rhythmus, der rennt. Der Atem, der schneller geht. Der Junge in der ersten Reihe verkriecht sein Gesicht.
„Ich zähle drei“, sagt Dröhnkamp, ganz leise. „Dann geht Grotjahn die Treppe rechts hoch. Mario bleibt an der Tür. Sarah, wenn er am Köcher …“
„Es ist kein Köcher“, sagt Sarah. „Es ist ein Stativrohr. Ein ausziehbares. Und darin …“ Sie hält den Atem an. „Gott.“
„Was?“, fragt Grotjahn.
„Eine Spieluhr“, sagt Sarah. „Er will uns etwas vorspielen. Während sie singt.“
„Nicht heute“, sagt Dröhnkamp. „Eins. Zwei. Drei.“
Grotjahn ist der, der rennt. Seine Schuhe knarzen nicht. Er hat sie eingeölt. Der Mann auf der Empore dreht den Kopf. Ihre Blicke treffen sich. Kein Erkennen, kein Schreck. Nur das Interesse einer Feldstudie: Aha, so sehen die aus, wenn sie kommen.
„BKA“, sagt Grotjahn, ohne zu schreien. Es reicht, dass es die hört, die es hören müssen.
Der Mann zieht keine Waffe. Er lächelt. Er macht mit zwei Fingern eine minimale Geste, als ziehe er einen imaginären Takt. Dann kippt er das Rohr. Es schlägt gegen das Geländer, rollt. Grotjahn springt. Das Rohr rutscht. Sarah fängt es. Es klirrt nicht. Es ist nur Metall.
Der Mann dreht sich, schlüpft durch eine Tür, die man auf dem Plan nicht sieht.
„Hinterher!“, ruft Dröhnkamp.
„Ich hab ihn!“, ruft jemand vom MEK. „Er geht aufs Dach!“
„Nicht schießen!“, ruft Koopmann in ihr Ohr. Mario steht mittlerweile mitten im Gang, hat eine Hand gehoben, in der anderen das Programmheft: „Alles gut!“, ruft er freundlich. „Alles gut. Es ist eine kleine technische Sache. Wir machen weiter. Wir alle atmen. Tief!“
Die Sopranistin singt. Gott allein weiß wie. Ihr Gesicht ist weißer, aber die Stimme hält. Und draußen, über dem Turm, läuft ein Mann, der eine Stadt in Atem hält, und lacht vielleicht oder auch nicht. Und Grotjahn rennt. Und Sarah hat das Rohr und prüft es und sagt: „Es ist leer.“
„Was?“, fragt Dröhnkamp.
„Er hat uns gar nichts spielen wollen“, sagt Sarah. „Er hat uns nur zeigen wollen, dass er spielen könnte.“
„Er will führen“, sagt Mario. „Er ist der Dirigent.“
„Nicht heute“, sagt Dröhnkamp. „Grotjahn?“
„Auf dem Dach“, keucht er. „Er ist … verdammt.“
Ein Schatten, der an der Regenrinne abtaucht. Ein Sprung auf ein Nebendach, das man von unten nicht sieht. Eine Bewegung, wie sie nur jemand macht, der Leinen in den Händen hatte, seit er laufen kann. Grotjahn springt hinterher, rutscht, krallt sich, rollt ab. Er verliert ihn nicht. Noch nicht. Ein Hof. Eine Katze fährt hoch. Eine Frau schreit. Eine Tür fällt zu. Ein Lieferwagen, der viel zu zufällig da steht, kommt hinaus, rückwärts, hart, fast gegen Grotjahn. Der springt. Ein Kennzeichen. „MÜ-K …“, sieht er. Der Rest ist Dreck.
„Er ist raus“, sagt er. „Scheiße.“
„Spuren?“, fragt Dröhnkamp.
„Er hat Handschuhe getragen“, sagt Grotjahn. „Aber er hat einen Moment lang …“ Er hält inne. Er sieht auf seine Finger. Sie kleben. Mit etwas, das nach Apfel riecht. Süß. „Er war an Bonbons“, sagt er.
„Ich krieg das Kennzeichen in der Video-Schleife“, sagt Murat. „Gib mir eine Minute. Zwei.“
„Wir singen weiter“, sagt Mario in den Kanal, hört sich selbst lachen ohne Freude. „Die Kinder lieben den Leiermann.“
„Kennzeichen gefunden“, sagt Murat. „MÜ-KR 2471. Kein echt. Gestohlen in München vor vier Wochen. Der Wagen selbst …“ Man hört ihn tippen. „… ist auf eine Firma in Kiel zugelassen. Containerschlosserei. Er wurde angeblich gestern an einen Subunternehmer verliehen. Name: D. Mielke.“
„Das ist zu sauber“, sagt Dröhnkamp.
„Er will uns Mielke auf den Hals hetzen“, sagt Sarah. „Und Mielke will vielleicht, dass wir denken, dass …“
„Mielke sitzt bei uns im Flur und trinkt schlechten Kaffee“, sagt Koopmann, der sich zur Abwechslung mal aus seinem Büro bewegt hat. „Und er wirkt glaubwürdig empört. Das heißt nichts. Aber ich sehe viele Leute, die Schuld annehmen, die vielleicht nicht ihre ist.“
„Ich war im Garten“, sagt Mario. „Ich habe die Kinderpizza probiert. Kein Gift. Ich habe die Spieluhr im Rohr untersucht. Kein Mechanismus. Nur ein Platz, der leer ist. Er wollte uns nur triggern.“
„Er will das Tempo bestimmen“, sagt Dröhnkamp.
„Dann nehmen wir ihm das Tempo“, sagt Koopmann. „Wir gehen dorthin, wo er noch nicht ist. Murat, was ist mit der Laeiszhalle? Wer hat dort die Sicherheits-Software-Wartung?“
„Zwei Firmen“, sagt Murat. „Eine aus Lübeck, eine aus Hamburg. Und ratet mal, wer ihr Freelancer ist.“
„Mielke“, sagen drei Stimmen gleichzeitig.
„Und wer ist der Projektleiter?“, fragt Koopmann.
„Ein gewisser …“ Murat hält inne. „… Karsten Riegel.“
„K–R“, sagt Grotjahn. „Wie das Kennzeichen?“
„Hör auf“, sagt Mario. „Wir sehen Gespenster.“
„Wir jagen welche“, sagt Dröhnkamp.
„Ich hab noch was“, sagt Murat. „Der Account ‚Pabst‘ aus diesem Musikforum, den ich neulich hatte, schreibt seit Monaten kleine, genervte Kommentare unter Videos von Straßenmusikerinnen, die Schubert singen. Meistens landet er bei denen, die zu schnell sind. Oder zu süß. Er ist ein Purist. Er hasst, dass die Leute hören, ohne zu wissen. Und er benutzt in einem Post eine Formulierung, die altmodisch ist: ‚erhängen‘ statt ‚aufhängen‘. Der Dirigent …“ Er stockt. „Komm, Murat. Du erzählst Geschichten.“
„Erzähl sie weiter“, sagt Sarah.
„Der ‚Pabst‘ hat vor zwei Jahren einen Thread gestartet: ‚Über den Geist der Aufführung‘. Darin prügelt er auf alles ein, was modern ist. Und er zitiert einen Professor: ‚Die Note steht da, weil sie da stehen muss, nicht, weil man sie spürt.‘“
„Das könnte jeder sagen“, sagt Mario.
„Ja“, sagt Murat. „Aber nicht jeder hat in seinem Profil ein Foto eines alten Metronoms mit einer Kerbe an der rechten Kante.“
„Die Kerbe …“, sagt Sarah langsam. „Ich habe so ein Metronom gesehen. Im Haus von Salomon. Auf dem Flügel. Kerbe rechts.“
„Er liest uns zu“, sagt Koopmann.
„Er kennt uns“, sagt Dröhnkamp. „Oder er kannte ihn.“
„Jemand aus dem Kreis“, sagt Mario. „Jemand, der die Musik so ernst nimmt, dass er bereit ist, Menschen dafür zu töten.“
„Jemand, der denkt, er rettet die Musik“, sagt Sarah.
„Die retten wir anders“, sagt Koopmann. „Wir nehmen ihn.“
„Wie?“, fragt Grotjahn. „Er ist schneller. Er ist immer da, bevor wir …“
Ein Ping. Murats Finger bleiben stehen. „Er hat wieder geschrieben“, sagt er. „Account ‚Pabst‘, Forum ‚Cantus‘. Er schreibt: ‚Wenn sie den König nicht retten, holt ihn der Wind. F–A, D–M, E–K, und dann … L–M. Wo knattert die Kurbel heute?‘“
„Leiermann“, sagt Sarah. „Der Leiermann. Er wird heute noch einmal zuschlagen.“
„Wo?“, fragt Dröhnkamp.
„Winterreise“, sagt Mario. „Ende. Straßenmusiker. Einer, der draußen steht, wenn alle drin sitzen. Und wo knattert in Hamburg die Kurbel? Am Fischmarkt. Morgens. Oder am Bahnhof. Oder …“ Er hält inne. „Am Rathausmarkt. Da steht seit Wochen einer. Alt. Dünn. Mit einer Kurbelorgel. Er gehört fast zur Stadtdekoration.“
„Wir teilen uns auf“, sagt Koopmann. „Mario, Rathausmarkt. Dröhnkamp, Bahnhof. Grotjahn, Fischmarkt. Sarah bleibt in der Zentrale. Murat hält das Netz. Und ich bete, dass wir ihm einmal zuvorkommen.“
„Wenn er uns da hinlenkt, ist er schon woanders“, sagt Grotjahn.
„Dann müssen wir dorthin, wo er nicht denkt, dass wir denken, dass er …“, sagt Mario.
„Halt die Klappe und fahr“, sagt Dröhnkamp.
„Endlich sagt’s mal jemand“, sagt Koopmann.
Sie rennen.
Die Stadt ist die Stadt. Das Licht ist das Licht. Die Spieluhr tickt in Köpfen weiter. Und irgendwo nimmt jemand eine kleine Flasche aus einer Tasche. Und überall sitzen Menschen und glauben, dass Musik nur Musik ist. Und sie haben recht. Und sie irren. Und irgendwo lächelt jemand, der sich selbst für sauber hält.
Grotjahn steht am Fischmarkt in der Kälte, die am Wasser immer anders ist. Ein Mann kurbelt. Ein kleiner Junge lacht. Eine Frau streut Münzen in den Hut. Der Mann nickt. Eine Hand, die nicht zu ihm gehört, legt etwas anderes in den Hut. Ein Bonbon? Grotjahn bewegt sich, als wäre er Musik.
„Nicht!“, ruft er, springt, kippt den Hut, Münzen rollen, der Mann mit der Kurbel flucht, der Junge weint. Grotjahn hat den Bonbon zwischen zwei Fingern. Er klebt. Er riecht. Bittermandel. Sein Magen dreht sich.
„Ich hasse Musik“, sagt er und lächelt dem Mann zu. „Heute jedenfalls.“ Er hält den Bonbon in die Tüte, die Sarah ihm gestern gegeben hat. „Für den Fall, dass du was findest, was nach Leben riecht“, hatte sie gesagt.
„Ich liebe dich“, murmelt Grotjahn. „Berufsbedingt.“
„Ich hab’s gesehen“, sagt Murat. „Ich habe eine Kamera, die dich hat, wie du den Hut kippst. Du wirst uns hassen. Aber du bist schön.“
„Halt den Mund“, sagt Grotjahn. Er sieht sich um. Ein Schatten in einer Seitengasse. Eine Bewegung zu leicht, um zufällig zu sein. Er rennt. Das Meer atmet. Die Stadt atmet. Er atmet. Und zum ersten Mal seit zwei Tagen hat er das Gefühl, dass er vielleicht eine Note vor dem Mann ist, der die Partitur hält.
Fischmarkt, Seitengasse. Pflaster. Algenfilm. Ein Schatten, der zweimal abbiegt, ohne langsamer zu werden. Grotjahn läuft, als hätte er noch nie etwas anderes getan. Die Luft brennt in der Lunge. Seine Finger kleben süß.
„Rechts!“, bellt Murat ins Ohr. „Da ist eine Sackgasse. Aber links …“
Zu spät. Der Schatten nimmt rechts. Eine Mauer, ein abgeblättertes Werbeplakat für eine Fischauktionsnacht, die es so nicht mehr gibt. Hinter den Müllcontainern riecht es nach alt. Nichts. Der Schatten ist weg. Kein Tor, kein Loch.
„Der kann nicht verschwunden sein“, keucht Grotjahn.
„Er ist oben“, sagt Sarah ruhig.
Grotjahn hebt den Blick. Eine Regenrinne, blank poliert von Händen. Ein Sims, der eigentlich keiner ist. Und darunter: Ein winziger, goldener Punkt, der in einer Fuge klemmt. Grotjahn streckt sich, pflückt ihn heraus.
„Was ist das?“, fragt Murat.
„Ein Metronom-Gewicht“, sagt Grotjahn. Der kleine, keilförmige Schieber, mit einer Kerbe an der rechten Kante.
„Der Mann treibt es auf die Spitze“, sagt Sarah. „Er lässt uns seine Signatur wie Brotkrumen fallen.“
„Oder er hat es verloren“, sagt Grotjahn.
„Der verliert nichts“, sagt Dröhnkamp. „Du bringst den Bonbon direkt zu Sarah. Und was immer das da ist.“
„Schon unterwegs“, sagt Grotjahn wider Willen und schaut noch einmal an der Mauer hoch. Der Wind vom Wasser fährt ihm unter die Jacke. Der Schatten ist weg. Nur der Geruch von Apfel und Bittermandel bleibt.
„Isomalt-Kruste, innen eine dünnwandige Glaskapsel“, sagt Sarah und schiebt das Foto über den Tisch. „Cyanwasserstoff in geringer Dosis, genug, um bei einer jungen Frau mit wenig Körpermasse und hohem Puls binnen Minuten einen Atemstillstand auszulösen. Der Apfelgeruch ist das Benzaldehyd, das mitkommt, wenn man Bittersubstanzen emulsiert. Amateur ist das nicht. Das ist sauber.“
„Apotheker?“, fragt Mario.
„Oder Chemielaborant. Oder jemand mit Zeit und Internet“, sagt Sarah. „Aber die Kapsel stammt nicht aus dem Bastelladen. Die Glaswandstärke ist gleichmäßig, wie bei Ampullen. Ich habe Bruchkanten gesichert. Vielleicht kriege ich Serienmerkmale.“
„Und das Gewicht?“, fragt Dröhnkamp.
„Alt“, sagt Sarah. „Messing, Patina, die Kerbe ist alt, nicht gestern gefeilt. Ich habe Fotos von Salomons Metronom angeschaut. Genau dieselbe Kerbe. Vielleicht haben viele Metronome die. Aber …“ Sie lässt den Satz in der Luft hängen.
„Jemand, der an Salomons Flügel stand“, sagt Murat. „Jemand, der alte Dinge zu schätzen weiß. Der Pabst, der Purist.“
„Ich habe versucht, den Account ‚Pabst‘ zu knacken“, sagt Murat. „Tor, VPN, Tails. Nichts. Aber vor einem Monat hat er sich einmal von einem normalen Netz eingeloggt. Wollte wahrscheinlich nur schnell was posten. Die IP gehört zu einer Hochschule. Hamburger Hochschule für Musik und Theater.“
„Natürlich“, murmelt Mario. „Wo sonst leben Puristen, die glauben, dass man Menschen verbessern kann, indem man sie bricht.“
„Vorsicht, Zynismus“, sagt Dröhnkamp. „Wir reden mit dem Rektor.“
„Und mit dem Professor, der diese Sätze gesagt hat“, sagt Murat. „Ich habe die Zitatquelle: Ein Aufsatz in einem Jahrbuch. Autor: Prof. Dr. Dietmar Mertens. Lehrstuhl für Musiktheorie. Er ist alt genug, um eine Kerbe zu haben. Und seine Initialen sind …“
„D–M“, sagt Grotjahn. „Ich liebe es, wenn Buchstaben passen. Und ich hasse es.“