Meine Spielzüge - Volker Struth - E-Book
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Volker Struth

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Beschreibung

Spielerberater sind sagenumwobene Figuren des Profifußballs. Volker Struth ist einer von ihnen, und sein Leben ist eine Abenteuergeschichte mit märchenhaftem Ende: Aufgewachsen in der Arbeitersiedlung von Pulheim bei Köln, machte ihn sein Ideenreichtum zum erfolgreichen Unternehmer und zum größten Spielerberater Deutschlands. Nun gewährt er spannende Einblicke in die Betriebsgeheimnisse des Profifußballs: Wie er vom FC Bayern Millionen für Toni Kroos’ Wechsel zu Real Madrid raushandelte, wie er drei Tage vor dem WM-Finale 2014 dem Siegtorschützen Mut zusprach. Und welchen Preis er selbst für seine Arbeit zahlte. Ein Leben wie eine Achterbahnfahrt und ein Blick hinter die Kulissen von einem, der es wissen muss.»Grundsätzlich verhandelt man ungern mit Volker Struth, weil es für den Klub immer zu teuer wird. Dennoch zeichnet sich Volker Struth durch Gradlinigkeit und Fairness aus.« Oliver Mintzlaff  

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© Piper Verlag GmbH, München 2021Bildteilfotos: [12] © Jens Wenzel/Toni Kroos Stiftung; [13] © Alexander Hassenstein/Getty Images for UEFA; [14] © Nadine Rupp/Ruppografie; [18] © Nadine Rupp/Ruppografie; alle anderen: © privatCovergestaltung: FAVORITBUERO, MünchenCovermotiv: Robert EikelpothKonvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Prolog: Viva Colonia

1 Der Junge aus der Ford-Siedlung

2 Großmutter

3 Bofrost-Hero

4 Da simmer dabei

5 Die Nummer sieben müssen wir uns packen

6 Ernie und Bert

7 Die Schnellen fressen die Langsamen

8 Wir stellen ein: Toni-Kroos-Sonderbeauftragter

9 Familie Kroos

10 Keinen Blick für den Montblanc

11 Bitte nicht zu Bayern München

12 Superjeile Zick

13 Echte Freunde

14 Das Angebot

15 Alle lieben Toni Kroos (nur der FC Bayern etwas weniger)

16 13. Juli

17 Spaghetti Vongole

18 Das Herz

19 Ein Brief an Mario

20 Eigentlich gibt es nichts Neues

21 Hamburger Schlechtermach-Verein

22 Eine kurze Begegnung mit Marketingfuzzis

23 Ein etwas anderer Traumurlaub

24 Ein Rücktritt und ein Vereinswechsel, die es nie gab

25 Weiter, immer weiter. Oder?

26 Glück in Zeiten der Pandemie

Epilog: Das Leben, im Abendlicht von Taormina betrachtet

Danksagung

Bildteil

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Prolog: Viva Colonia

Ich war noch nie auf einer Klausurtagung, ich habe noch nie eine Power-Point-Präsentation erstellt, meine Geschäftsideen entwickelte ich einfach so, einmal auch beim Schunkeln auf dem Münchner Oktoberfest.

Es ging damit los, dass die Musikkapelle im Festzelt Viva Colonia anstimmte. Eine Kölner Hymne auf dem bayrischsten aller Feste, fragte ich mich verblüfft, doch die Leute schwenkten schon die Bierkrüge zur Musik, mehr oder weniger im Takt. Zwei Stunden später sang die Menge lauthals: Da simmer dabei, dat is prima, Viva Colonia! Obwohl die Musikkapelle eigentlich ein ganz anderes Lied intonieren wollte. Da war die Idee plötzlich da.

»Das mache ich in Köln.«

»Was?«, sagte meine Frau neben mir mit eher abwehrendem als neugierigem Gesichtsausdruck. Sie ahnte wohl, dass mich nun wieder einer dieser Geistesblitze durchzuckte.

»Ich richte ein Oktoberfest in Köln aus.«

Viiiiva Cohhhlooonia, grölte die Menge.

Wenn mich eine Idee trifft, lässt sie mich nicht mehr los, dann muss ich sie bis zum fertigen Geschäftsplan durchspielen. Auch wenn ich gerade beim Zähneputzen bin. Oder eben vier Leute ihren Maßkrug gegen meinen knallen. Körperlich war ich weiterhin anwesend im Schottenhamelzelt, ich prostete den anderen zu, ich lachte über die Scherze, ich kann mich in solchen Momenten verdoppeln, ich bin dann hier und da, im Leben und in meiner Idee.

Ein Oktoberfest in Köln: Mit bayrischer Tracht, Lederhosen und Dirndln, einer bayrischen Blaskapelle, die Kölner Hymnen spielte, und was würde ich mit dem Bier machen, bayrisches Helles ausschenken oder Kölsch in Maßkrügen, wäre das ein Sakrileg oder der Gag? Es wäre auf jeden Fall ein todsicherer Erfolg. Feiern in Köln ist immer ein Erfolg, Viva Colonia, wir lieben das Leben, die Liebe und die Lust. Applaus riss mich aus meinen Gedanken. Ich sah mich um und erkannte, auf einer Empore im Schottenhamel, Edmund Stoiber.

Der bayrische Ministerpräsident grüßte, Bierkrug in der Luft, das Volk von oben. Wir waren mit einer Delegation Kölner Geschäftsleute zum traditionellen Anstich des ersten Bierfasses im Schottenhamel geladen, es war der 18. September 2004. Meine Gedanken rasten jetzt.

Der Stoiber. Ich brauchte den Stoiber.

Ich bahnte mir den Weg an massigen Schultern und verschwitzten Rücken vorbei durch das Festzelt.

Wenn ich ein bayrisches Kulturgut wie das Oktoberfest nach Köln exportieren wollte, wäre die Fürsprache des bayrischen Ministerpräsidenten eine unschlagbare Hilfe.

Zwei Sicherheitsmänner versperrten den Aufgang zur Empore.

»Grüß Gott«, sagte ich. »Fritz Schramma mein Name. Ich bin der Oberbürgermeister von Köln. Ich würde meinem Parteifreund Edmund Stoiber gerne Guten Tag sagen.«

Einer der Sicherheitsmänner sah mich an. Ich trug ein rot-weiß kariertes Hemd zur Lederhose, die schwarzen Haare im Nacken lang. Ich war 38. Die meisten hätten mich wohl eher als jugendlich-schwungvoll beschrieben statt als klassischen Bürgermeister. Doch die Plätze im Schottenhamel waren zum Anstich nahezu ausschließlich an Honoratioren vergeben, die Lederhosen machten alle gleich, wie sollte sich ein Sicherheitsmann sicher sein, ob da ein Kölner Oberbürgermeister daherkam. Der Sicherheitsmann sprach etwas in sein Funkgerät.

Oben auf der Empore setzte sich ein anderer Aufpasser in Bewegung und ging auf die Gruppe mit Edmund Stoiber zu. Stoiber war gerade in ein Gespräch verwickelt, deshalb wandte sich der Mann vom Sicherheitsdienst an Frau Stoiber. Sie sah zu mir herunter. Ich blickte hinauf und deutete dabei ein Lächeln an. Frau Stoiber nickte.

Schwungvoll nahm ich die Treppen und schob mich in die Gruppe um den Ministerpräsidenten. Ich schlängelte mich um eine Schulter, ich drückte einen Arm sanft zur Seite und stand auf scheinbar ganz natürliche Art vor ihm.

»Herr Stoiber, ich soll ganz herzliche Grüße von einem guten Freund bestellen, Fritz Schramma.«

»Ah, der Fritz! Wie geht’s ihm denn?«

Danke, sehr gut, nahm ich an. Auf jeden Fall: »Herr Stoiber, hören Sie mal, mir kam da gerade so eine Idee. Hier läuft ja die ganze Zeit Viva Colonia, und da fragte ich mich, was halten Sie davon, wenn wir ein Oktoberfest auch in Köln abhalten würden? Als eine Art Botschaft bayrischer Alltagskultur.«

»Das ist eine ausgezeichnete Idee!«

»Ich würde das dann mit dem Fritz Schramma besprechen. Aber es wäre natürlich hilfreich, wenn ich dabei auf Ihre Unterstützung zählen könnte. Wenn der Fritz Sie anriefe, würden Sie ihm sagen, dass dieses Projekt in Ihrem Sinne sei?«

»Selbstverständlich.«

»Herr Stoiber. Ich bedanke mich.« Wir gaben uns die Hand. Ich blieb noch mindestens eine Viertelstunde auf der Empore, um mit Frau Stoiber zu plaudern.

»Sag mal, bist du irre, was hast du da oben beim Stoiber gemacht?«

»Ich glaube, ich sehe nicht richtig, da steht der Volker plötzlich beim bayrischen Ministerpräsidenten!«

Ich lachte mit den Kölner Freunden im Schottenhamel, unsere Maßkrüge krachten erneut gegeneinander, und ich erzählte ihnen, was geschehen war. Doch um vollends zu erklären, was ich beim bayrischen Ministerpräsidenten gemacht hatte, hätte ich ihnen auch das Folgende erzählen müssen.

Ich wuchs ohne Eltern auf, viele Jahre alleine mit meiner Großmutter, in einer Kohlensiedlung vor den Toren Kölns. Wenn ich mit einem Freund oder gar einem Mädchen telefonierte, achtete meine Oma darauf, dass ich nach 11 Minuten und 59 Sekunden auflegte. Zwölf Minuten zum Ortstarif kosteten 23 Pfennig, eine Sekunde mehr, und es wären wieder 23 Pfennig fällig gewesen. »Wir haben kein Geld«, sagte meine Oma. Ideen zu haben und Leute zu überzeugen war meine einzige Währung gewesen.

»Karl-Heinz«, sagte ich in unserer Kölner Gruppe im Schottenhamel zu Karl-Heinz Merfeld, dem Geschäftsführer der Köln Tourismus GmbH, »du musst mir mal wieder einen Termin bei Fritz Schramma besorgen.«

Es dauerte nicht lange, und ich grüßte Fritz Schramma in seinem Dienstzimmer als Kölner Oberbürgermeister ganz herzlich von Edmund Stoiber. Zu dem Zeitpunkt handelte ich erfolgreich mit Büro- und Merchandisingartikeln, die Umsätze gingen bereits in die Millionen. In der Eventorganisation hatte ich keinerlei Erfahrung. Doch die Idee arbeitete und ratterte schon, in meinem Kopf wurden Festzeltstangen aufgestellt, Brauereien kontaktiert.

Einen Herbst später stand ich diskret neben einer Bühne. Auf dem Podium stach Fritz Schramma mit ein paar Hammerschlägen das erste Bierfass auf dem ersten Kölner Oktoberfest an. Kölner Musiker in bayrischer Tracht spielten Kölsche Lieder, der Kaufhof in der Hohen Straße richtete eine ganze Abteilung mit Lederhosen und Dirndln ein, das Festzelt war an allen Abenden mit jeweils 3000 Besuchern ausverkauft. Als Organisationspartner hatte ich noch im Schottenhamel, zurück von Stoibers Empore, drei Kölner Geschäftsfreunde aus unserer Reisegruppe gewonnen.

Das Kölner Oktoberfest wurde für viele Jahre ein riesiger Erfolg. Kölsch gab es aus Krügen, allerdings nur 0,3 Liter groß statt einer Maß, der Frevel wäre mir doch zu groß gewesen. In den ersten Jahren feierte ich an jedem einzelnen Abend mit, und wenn die Menge in meinem Festzelt Da simmer dabei, dat is prima schmetterte, fragten sich vielleicht einige, warum ich ausgerechnet in dem Moment so glücklich lachen musste.

Ich hatte ein paar solcher erfolgreichen Geschäftsideen. Einen konkreten Berufswunsch hatte ich allerdings nie. Ich wollte als Junge nur raus aus dem Leben, in dem ich zweimal im Jahr mit dem Kleidergutschein vom Sozialamt bei C&A Hosen und Pullover bekam. Ich gründete einen Büroartikelvertrieb, ich erfand Karnevalsschals, ich organisierte eine Zeltstadt für 5000 Helfer beim Weltjugendtag und startete etliche andere Unternehmungen. Spielerberatung im Profifußball schien zunächst nur eine weitere Idee, als ich damit 2007 begann. Nun bin ich seit über einem Jahrzehnt der erfolgreichste deutsche Spielerberater. Als Deutschland 2014 Weltmeister wurde, vertrat unsere damalige Agentur SportsTotal drei aus der siegreichen Elf, Toni Kroos, Mario Götze, Benedikt Höwedes; vier wären es gewesen, hätte sich Marco Reus nicht am letzten Abend vor der Abreise zur WM verletzt. Das amerikanische Magazin Forbes führt mich seit Jahren unter den zehn einflussreichsten Sportvermittlern weltweit.

Aber ich sehe mich nicht als klassischen Spielerberater. Ich verstehe mich als Unternehmer. Wenn ich eine romantische Phase habe – die ich natürlich habe, denn ich bin ja Kölner, wir lieben das Leben und das Pathos auch –, dann denke ich, dass mein Werdegang junge Menschen dazu anspornen könnte, ihre Ideen zu entwickeln, egal auf welchem Feld.

Meine Geschichte ist eine, wie wir Deutsche sie immer nur in Amerika vermuten. Ich habe nie Teller gewaschen, aber ich bin in der Realschule sitzen geblieben, ich fuhr Kühllaster, schleppte im Schlachthof Kübel voller Fleisch, gab mehr Geld aus, als ich hatte, und gründete mit 27 mein erstes Unternehmen. Ich wurde Millionär in Branchen mit extremer Konkurrenz wie dem Büroartikelvertrieb und Profifußball. Das geht nicht nur auf die romantische Art. Heute, mit 55, habe ich sieben Stents am Herzen. Erst durch die schweren medizinischen Eingriffe lernte ich, eine Balance zwischen harter Arbeit und Lebensgenuss zu finden. Ich möchte in diesem Buch nichts beschönigen, nichts glorifizieren, denn das war doch wieder so eine Idee von mir: dass ich in einer Autobiografie radikal offen von meinem Lebensweg erzähle. »Was?«, sagten manche Freunde und Geschäftspartner mit eher ablehnendem als neugierigem Gesichtsausdruck: Du kannst doch nicht die ganzen Geheimnisse deines Erfolgs, so viele gehütete Insider-Geschichten aus dem Profifußball offenlegen.

Fast alle meine großen Geschäftsideen basierten darauf, dass sie den anderen erst einmal undenkbar erschienen.

Gerade, was meine Arbeit als Spielerberater angeht, so ist es an der Zeit, dem Publikum einmal einen echten Einblick in unsere Arbeit zu geben. Denn in Deutschland ist die Figur des Beraters nicht mehr als ein Klischee; ein vermeintlicher Pate, der unsichtbar im Hintergrund die ihm hörigen Fußballer und die ach so armen Vereine an Marionettenschnüren tanzen lässt und fürs Fast-nichts-Tun Million um Million einstreicht. Ein Spielerberater wie Michael Becker, der Mann an der Seite von Michael Ballack, tat gewiss auch einiges dafür, um das Klischee über uns zu bestätigen. Er nannte deutsche Nationalspieler vor Journalisten eine »Schwulen-Combo«. In solchen Momenten fällt es schwer zu glauben, dass unser Geschäft etwas mit Anstand und Feingefühl zu tun hat. Es gibt miserable Berater – so wie es miserable Ärzte, Schreiner, Köche gibt. Und weil es auch hervorragende Ärzte, Schreiner, Köche gibt, sollte man auch Spielerberater nicht als Gruppe, sondern einzeln, nach ihrer Arbeit beurteilen.

Anders als in Europa sind die besten Berater in Amerika oft mythische Figuren, ob der legendäre Schauspielberater Sam Cohn, der die Karrieren von Paul Newman, Meryl Streep, Woody Allen und Hunderten mehr formte, der Literaturagent Andrew Wylie, genannt Der Schakal, oder Baseballberater Scott Boras, dem der New Yorker eine zehn Seiten lange Reportage widmete, mit der liebevollen Überschrift: »Der Erpresser«. Spiel des Lebens, der Hollywoodfilm über einen Spielerberater im American Football namens Jerry Maguire wurde für fünf Oscars nominiert. Wir Berater arbeiten hinter der Leinwand, hinter den Konzertbühnen, im Bauch der Fußballstadien, wo die Blicke des Publikums nicht hinreichen, und wenn ich den Vorhang zu dieser Welt nun auf den nächsten Seiten aufreiße, kann jeder bei der Lektüre selbst entscheiden, ob er unsere Arbeit beeindruckend, schillernd, dreist oder anstößig findet. Vielleicht ist sie aber auch mal beeindruckend, schillernd und mal dreist, anstößig? Denn welcher Mensch ist ohne Widersprüche? Nur die Personen in schlecht geschriebenen Büchern.

Eine Idee hatte ich nie: Spielerberater zu werden. Ich wehrte mich dagegen, als mir Reiner Calmund den Vorschlag machte. Bleich und massig saß Calli damals, im Sommer 2007, auf der Terrasse meines Ferienhauses auf Mallorca. Seine erfolgreiche Zeit im internationalen Profifußball als Sportdirektor von Bayer 04 Leverkusen lag schon hinter ihm, ich hatte ihn als Repräsentanten für einige meiner Unternehmungen verpflichtet und in kürzester Zeit einen Freund gewonnen. So hatte ich ihm auch einmal einen guten Bekannten vorgestellt, der in die Spielerberatung drängte, Dirk Hebel. Dirk erhoffte sich ein paar Tipps und Kontakte von Calli. Das Resultat unseres Treffens zu dritt war, dass ich Dirk unter das Dach meiner Firma holte, um seine Spielerberatung weiter aufzubauen. Drei Monate später, auf der Terrasse in Mallorca, meinte Calli, er hätte die Lösung, wie meine Firma bei der Spielerberatung richtig vorwärtskäme: Ich müsste persönlich aktiv werden.

»Wann soll ich das denn noch machen?«, fragte ich Calli auf der Terrasse zurück. Ich spielte schon auf zu vielen Feldern, Büroartikel, Fanartikel, Events, meine Firmen hatten über 100 Mitarbeiter. Calli schrieb alle meine Geschäftsfelder säuberlich auf einen Notizblock. Dann strich er sie durch.

Und schrieb Spielerberatung daneben.

»Damit verdienst du mehr Geld als mit allem zusammen.« Mit meinen Talenten – Reden, Verkaufen, Machen – sei ich genau der Mann dafür; also, er sage mir das nur als Freund, aber er müsse mir das sagen: »Dat musst du mache, Jung.«

Ich kann mich nicht erinnern, nach wie vielen Stunden unter Callis Bombardement ich Ja sagte. Vielleicht sagte ich auch gar nicht Ja. Vielleicht gab ich einfach irgendwann nach, weil es einen gibt, der mir in Sachen Überredungskunst mindestens ebenbürtig ist: Reiner Calmund.

Wenn ich mich einmal entschieden habe, etwas zu machen, dann packt mich diese Begeisterung, vielleicht nennen es andere auch Besessenheit. Einen Monat nachdem ich Calli durch meine erschöpfte Zustimmung wieder von meiner Ferienterrasse herunterbekommen hatte, legte ich los. Ich wollte mit aller Macht ins Fußballgeschäft. Ich musste mich erst einmal über Vogelfutter unterhalten.

»Und da wird extra Magenkiesel hinzugefügt, um die Verdauung der Wellensittiche zu fördern, sagen Sie? Nein, wirklich, auch Kalzium für den Knochenbau? Die Vögel ernähren sich ja sorgfältiger als so mancher Mensch. Und das haben Sie alles im Kopf?«

Der Vater des ersten jungen Fußballers, den ich für unsere Agentur gewinnen wollte, arbeitete für Vitakraft Heimtierbedarf im Außendienst.

Marcel Risse hieß der Junge, ein 18-jähriger elanvoller Außenstürmer in der Jugendmannschaft von Bayer 04 Leverkusen. Ich hatte den Vater ins Pantanal Rodizio eingeladen, ein brasilianisches Restaurant in der Maybachstraße, in dem Berge von Fleisch serviert wurden.

»Ach, Kanarienvögel bevorzugen eine etwas andere Ernährung als Wellensittiche, sagen Sie? Honig und Sesam mögen die gerne? Tatsächlich!«

Ich hätte vermutlich mehr über Fußball zu sagen gehabt, aber es machte mir nichts aus, mit dem Vater ausführlichst über Vogelfutter zu sprechen. Ich hätte in dem Moment sogar Vogelfutter gegessen, wenn ich dafür das Mandat gewann, Marcel Risse vertreten zu dürfen.

Ich habe mich mehr als einmal gefragt, wo mein extremer Ehrgeiz herkommt; wie ich wurde, was ich bin. Manchmal, wenn diese Gedanken mich beschäftigen, setze ich mich ins Auto und fahre los, zurück nach Pulheim, wo ich groß wurde. In der Arbeitersiedlung parke ich das Auto. Ich gehe zu Fuß durch die Straßen, vorbei an den einfachen Wohnblocks, und sehe wieder den Jungen, der ich war.

1 Der Junge aus der Ford-Siedlung

Jeden Sommer, eine ganze Kindheit hindurch, graute es mir vor den Ferien. Die Sonne schien, die Tage waren wie gemacht, um ausgelassen zu spielen. Aber die Wiese hinter dem Wohnblock, die wir zu unserem Fußballfeld erklärt hatten, war verlassen.

Ich klingelte in der Görlitzer Straße 14 bei Millek. Niemand öffnete. Ich versuchte es bei Konstantin, bei Micky brauchte ich es gar nicht erst zu probieren, er hatte mir gesagt, dass sie nach Italien fuhren. Ich suchte mir eine Ecke in der Görlitzer Straße und schoss den Fußball gegen die Hauswand. Drei Stunden lang war es das einzige Geräusch, das ich in der Siedlung hörte, mein Ball, der gegen die Hauswand klatschte.

Verlassen stand der Kiosk an der Ecke Escher/Oppelner Straße. Die Werksbusse, die dort nach jedem Schichtende hielten, kamen nicht. Ford machte Betriebsferien. Alle machten Ferien.

Ich weiß nicht mehr, mit wie viel Jahren ich die Frage bei meinen Großeltern aufgegeben hatte: »Warum fahren wir nicht in den Urlaub?«

Der Gedanke an die Leere des Tages ergriff mich sofort, wenn ich in den Ferien morgens aufwachte, und ich wachte immer viel zu früh auf, wegen der verdammten Kanarienvögel meines Opas auf dem Balkon, direkt vor meinem Fenster. Was gab es da so ausgelassen zu zwitschern! Ich machte mir Hoffnung, ich ging hinaus mit dem Wunsch, dass da doch wenigstens einer sein musste, den ich gestern übersehen hatte, oder der Erste schon wieder aus dem Urlaub zurück war. An manchen Ferientagen jedoch merkte ich erst nach vier Stunden, dass ich doch nicht allein auf der Welt war. Wenn sich in der Görlitzer Straße ein Fenster öffnete und eine Frau herausschrie, ich solle endlich verschwinden mit meinem Scheißball, so ein Lärm!

An kalten, trüben Arbeitstagen kam mein Opa nach Feierabend oft zu mir, um Musik zu hören. Sein Plattenspieler stand im Kinderzimmer, damit die Musik meine Oma im Wohnzimmer nicht beim Fernsehen störte. Ich konnte mich still dazusetzen. Ohne es zu merken, lernte ich die Schlagertexte auswendig, Ein Bett im Kornfeld, das ist immer frei oder Einmal um die ganze Welt – und die Taschen voller Geld. Das waren die Momente, in denen ich spürte, dass mich mein Großvater mochte. Er sagte nichts, aber er ließ mich gewähren, mit ihm der Musik zu lauschen. Doch an sonnenhellen Ferientagen saß mein Opa nur stumm auf dem Balkon und hörte den Kanarienvögeln zu.

Opa arbeitete als Werkzeugmacher oder Maschinenschlosser beim Ford, ich habe mich nie um den Unterschied gekümmert. Alle Männer in der Siedlung schienen in den Siebzigerjahren Werkzeugmacher oder Maschinenschlosser beim Ford zu sein.

Die Wohnblöcke der Ford-Siedlung in Pulheim waren 1959 in Reih und Glied gebaut worden. Es sollte nach Ordnung und Sauberkeit aussehen. Ich konnte, selbst bei strahlender Sonne, nicht sagen, welche Farbe die Häuser hatten. Bräunliches Grau oder gräuliches Braun, ausgewaschen von der Witterung. Auf der anderen Straßenseite der Siedlung lag ein Schweinestall, rundherum waren Felder und Wiesen. Das Quartier für die Ford-Arbeiter war mitten in eine dörfliche Gegend gesetzt worden, hier war Platz. Zum Ford in Köln waren es mit den Werksbussen nur 20 Minuten.

Meine Oma ging zu Fuß zur Arbeit. Zur Spielzeugfabrik in Lövenich waren es sieben Kilometer über die Felder. Es fuhr kein Stadtbus. Sie stand um halb fünf auf, richtete mir zwei Brote zum Frühstück, eines mit Quark, eines mit Butter und Marmelade, und ging los, jeden Tag. Meiner Oma war es wichtig zu wissen, was sich gehörte. Sie trug auch im Sommer Mantel und Hut.

Mein Opa hatte ein Holzbein. Er schwang sich mit einer Krücke vorwärts. Ich wusste, dass er zwei Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft in Sibirien verbracht hatte. In den Fünfzigern waren meine Großeltern dann aus Oberschlesien geflüchtet und nach einer Odyssee in Köln gelandet. Doch was mit dem Bein meines Großvaters passiert war, erfuhr ich nicht. Es war naheliegend, dass er es im Krieg verloren hatte, und das musste dann genügen. Man sprach nicht groß über sich. Wer hatte denn für so etwas Zeit? Es ging darum, den Alltag zu bewältigen. So kam auch meine Mutter spätestens Ende der Siebzigerjahre, als ich zwölf, dreizehn war, nur noch ganz selten in unseren alltäglichen Gesprächen vor. Obwohl sie vermutlich nur ein paar Hundert Meter Luftlinie entfernt durch die Gegend streifte.

Ich wurde auf der Rückbank eines Ford 17M gezeugt.

Wäre ich eine Romanfigur, wäre das ein toller Einstiegssatz.

Im wirklichen Leben war dieses Schicksal leider nicht so einfach zu stemmen.

Meine Mutter war 16 gewesen, als sie von einem Musiker nach einem Konzert in dessen Auto schwanger wurde. Le Chevalier hieß die Band meines Vaters. Ein Bild von ihm ist mir im Kopf geblieben: Er trägt seine Instrumente aus unserer Wohnung, die Hände voll mit Gitarren, Trommeln und was weiß ich. Ich war wohl drei, als er aus meinem Leben verschwand.

Wenn der Kindergarten mittags schloss, holte mich meine Mutter zu sich auf die Arbeit bei der Rechtsanwältin von Löper auf der Neusser Straße. Ich stand im Büro neben dem Schreibtisch meiner Mutter und sah ihr zu. Sie trug Kopfhörer, und ihre Finger flogen über eine Schreibmaschine. Die Rechtsanwältin sprach Briefe in Diktiergeräte, und meine Mutter brachte sie zu Papier. »Phonotypistin«, sagte sie mir, »heißt mein Beruf.« Ich mochte den Ton und den schwindelerregenden Rhythmus der Typen, die auf das Papier schlugen, aber es wurde zu lang, drei Stunden neben ihr zu stehen, also ging ich raus, auf die Neusser Straße, eine breite Ausfallstraße, allein mit fünf Jahren. Ich sah der Straßenbahn zu. Abends wartete meine Mutter, bis ich eingeschlafen war. Dann ging sie aus. Sie war Anfang 20. Sie dachte, ich sei doch eingeschlafen. Aber Fünfjährige wachen halt nachts auch mal auf.

Nur Bruchstücke sind mir aus jenen Tagen in Erinnerung geblieben: Ich stehe nachts am Fenster, allein in der dunklen Wohnung, und schreie: »Mama, Mama!« Die Nachbarn rufen die Polizei. Die Tür wird aufgebrochen. Großmutter, die irgendwann, an einem anderen Tag, meine Mutter anfährt: Die Trinkerei müsse endlich aufhören!

Als ich acht war, wurde ein Abkommen getroffen. Ich sollte unter der Woche bei meinen Großeltern in der Ford-Siedlung wohnen. An den Wochenenden würde ich meine Mutter in der Johannisstraße besuchen.

Die Johannisstraße war nur zehn Minuten zu Fuß von der Ford-Siedlung entfernt, gleich hinter dem Betonwerk, am Ortseingang von Pulheim. Doch es fühlte sich wie eine andere, eine fremde Welt an. Ich kannte die Kinder auf dem Asphaltplatz vor dem Wohnhaus meiner Mutter nicht richtig. Der Vermieter, Herr Decker, schrie durch das Treppenhaus, die Miete sei noch nicht bezahlt worden, ja, genau, von deiner Mutter nicht! Nachts wachte ich auf, wenn der Schlüssel im Schloss der Wohnungstür kratzte, und ich bat still, mit geschlossenen Augen, dass meine Mutter alleine von ihrer Tour zurückkam.

Einmal ging meine Mutter mit mir in die Pizzeria in Pulheim. Such dir was zu essen aus, sagte sie, und in meiner Erinnerung lächelte sie mich danach an. Es blieb ein einmaliger Ausflug, aber es war solch eine Erleichterung, dass es immerhin einen solchen Abend gab. Als ich auch einmal hatte, was andere Kinder hatten.

Um 1976 zog der Kranfahrer aus der Betonfabrik bei meiner Mutter ein. Er hieß Pitschepuck. Natürlich nicht mit richtigem Namen, aber wir nannten ihn so, seine eigenen Kinder nannten ihn so, liebevoll.

Am Osterwochenende 1976 oder 77 schickte Pitschepuck mich hinüber in die Ford-Siedlung, um die Zwillingssöhne aus seiner geschiedenen Ehe abzuholen. Meine Mutter und er wollten mit uns Ostern feiern.

Den ganzen Weg zurück schob ich mein Fahrrad einen Meter vor den Zwillingen her, was sollten wir denn reden, wir kannten uns ja nicht, wir waren zehn. Ich hörte sie hinter mir tuscheln und blickte starr geradeaus, voll auf das Schieben meines Fahrrads konzentriert.

Irgendwann müssen wir uns aber doch unterhalten haben. Denn Micky, einer der Zwillinge, blieb mir als Freund, nachdem Pitschepuck schon wieder bei meiner Mutter ausgezogen war. Juppi, Mickys Zwillingsbruder, starb mit 15, bei einem Mopedunfall.

Micky und ich waren zusammen, auch wenn es nichts zu tun gab. Als wollten wir uns gegenseitig vor der Leere schützen.

»Komm, Micky, lass uns gehen, sonst kommen wir zu spät zum Anpfiff.«

»Ich hab keinen Bock.«

»Jetzt komm schon.«

»Es regnet doch.«

»Was willste denn sonst machen? Ist doch nichts los an einem Sonntag.«

»Na gut, dann komm ich halt.«

An Sonntagen in den Siebzigerjahren hatte es ruhig zu sein in der Siedlung. Kinder waren nicht draußen. Micky und ich machten Autostopp. Wir waren zwölf, dreizehn. Wir trampten zu Fußballpartien der dritten oder vierten Liga, Schwarz-Weiß Köln, Viktoria Köln, VfL Köln 99, wo gerade ein Heimspiel anstand. Micky wusste gar nicht, zu welchem Team er überhaupt halten sollte bei diesen Partien, die Vereine waren ihm so fremd wie die Akteure. Ich schleifte ihn halt mit. Ich fühlte mich heimisch auf diesen Amateursportplätzen. Die Aufregung des Spiels und die Wallungen der Zuschauer packten mich. Auch wenn die Partie 0:0 ausging und nur 200 Zuschauer vor Ort waren. Beim Fußball war was los, beim Fußball spielte das Leben oder zumindest eine Imitation davon.

Samstags ging ich mit Micky zum FC. Für fünf Mark gab es eine Schülerkarte, Bundesliga, Nordkurve, Stehplatz. In der Halbzeit machten wir uns auf den Weg zur Haupttribüne.

»Können Sie uns nicht hochlassen? In der Nordkurve haben wir Angst vor den gegnerischen Fans, da wollen wir nicht mehr stehen«, bettelte ich beim Ordner.

»Aber das hier ist die Haupttribüne, Junge. Da kostet die Karte 37 Mark.«

»Die Tribüne ist doch sowieso halb leer. Bitte. Wir wollen nur einmal im Leben auf der Haupttribüne sitzen.«

Micky schwört, ich hätte es jedes Mal geschafft, den Ordner zu überzeugen. Er hätte das nicht gekonnt, sagt Micky, mit zwölf so auf einen Erwachsenen einzureden. Mir erschien es ganz normal.

Die Ankunft des Kohlehändlers war jedes Mal das Signal, dass nach dem langen, öden Sommer das Leben in die Siedlung zurückkehrte. Die Leute bestellten den Kohlehändler gleich nach den Sommerferien. Die Heizperiode war noch weit entfernt, doch im August war der Brikettpreis wegen der geringen Nachfrage niedriger. Die Wohnungen der Ford-Siedlung wurden noch mit Kohleöfen beheizt, Ende der Siebzigerjahre. Für das Hinunterbringen der Kohle in den Keller verlangte der Händler 50 Pfennig mehr pro Sack. Wer wollte sich das schon leisten? Also schütteten der Kohlehändler und seine Helfer die Brickets vor den Kellereingängen auf die Bürgersteige. Überall bildeten sich Kohleberge. Ich spürte, wie die Aufregung in mir pochte. Mit meinen Freunden klingelten wir an den Wohnungen. Meistens war ich es, der redete. »Können wir Ihnen die Kohle in den Keller tragen?« Mal gaben die Nachbarn jedem von uns nach getaner Arbeit eine Mark, mal zwei.

Abends tobte meine Oma. Wie ich aussah, alles schwarz, und sie musste das wieder waschen, was glaubte ich, dass wir Geld hätten, Waschmittel zum Spaß zu kaufen? Aber ich war glücklich. Ich träumte, was ich mit den ganzen Münzen in der Tasche alles anstellen konnte. Die Badewanne, das hatte ich längst verinnerlicht, durfte ich nach dem Gesetz meiner Oma stets nur zu einem Drittel mit warmem Wasser füllen.

Wenn der Sommer zu Ende ging, waren nachmittags alle wieder auf der Wiese. Mit unseren Jacken steckten wir die Tore ab. Ich war am liebsten Klaus Fischer und beleidigt, wenn ein anderer schneller gesagt hatte, er sei Klaus Fischer. Dann war ich eben Heinz Flohe. Aber den, der sich die Klaus-Fischer-Rolle an jenem Tag gesichert hatte, foulte ich trotzdem mal, aus Prinzip.

Wenn Kaugummi kam, rannten wir. Keine Ahnung, warum wir den Hausmeister der Siedlung Kaugummi nannten. »Runter vom Rasen, ihr wisst es doch genau: Fußballspielen ist verboten!« Kaum war er weg, kehrten wir aus unseren Verstecken auf die Wiese zurück.

Zweimal die Woche war Training beim Pulheimer SC. Der Sportplatz lag zweieinhalb Kilometer entfernt, mit dem Fahrrad ging es über Feldwege, zwischen Wiesen hindurch, an den Tennisplätzen vorbei, die wie ein Beweis am Straßenrand lagen, dass es auch ein anderes Leben geben musste. Niemand, den ich kannte, spielte Tennis. Ich und ein paar andere aus meiner Clique durften beim Pulheimer SC in der ersten statt in der zweiten Jugendmannschaft spielen. Größere Auszeichnungen im Fußballleben schienen für uns nicht sichtbar.

Praktisch aus Gewohnheit war ich 1977 auf die Hauptschule geschickt worden. Meine Großeltern gingen offenbar davon aus, dass wir in unserer Familie da hingehörten, auf die Hauptschule. Nach dem Schuljahr bestellte die Klassenlehrerin meine Großeltern ein. Ich sei nicht der Fleißigste. Aber was meine Begabung anging, so würde sie mich eher auf der Realschule oder sogar dem Gymnasium sehen.

Dann ging ich fortan eben auf die Realschule.

Schule war gut, denn es bedeutete die Abwesenheit von Ferien, aber viel mehr interessierte sie mich nicht. Ich lebte für die Nachmittage. Wir hatten die Baumschule Janssen entdeckt, Richtung Orrer Wald und Pulheimer See. Am Wochenende, wenn die Baumschule für Kunden schloss, kletterten wir über den Zaun. Zwischen den Zuchtbäumen und Heckenpflanzen spielten wir wilde Verfolgungsjagden. Meistens ließen wir ein Bild der Verwüstung zurück, aufgerissene Torfsäcke, umgestürzte Pflanzen. Das schien den Spaß nachträglich noch einmal zu bestätigen.

Micky sagt heute, im Rückblick, ich sei einer von ihnen gewesen, einfach ein Junge wie alle damals in der Ford-Siedlung, ihr Anführer sogar, und aus seiner Sicht, aus Sicht der anderen, mag das auch stimmen. Aber ich habe das immer anders wahrgenommen. In meiner Wahrnehmung war ich ein Außenseiter, der ohne Eltern, ohne Geschwister lebte; der Junge, der jede Sommerferien wieder aufs Neue zurückblieb.

Ich erinnere mich eben nicht nur an das aufregende Trampen mit Micky zu drittklassigen Fußballspielen, sondern auch an den Tag, als wir von einer Schulfahrt zurückkamen, es mag in der vierten Klasse gewesen sein. Der Bus hielt in der Steinackerstraße. Die Eltern waren schon da, lachten und riefen fröhliche Worte der Begrüßung, als wir ausstiegen. Als die Eltern gefahren waren, stand ich immer noch am Bus. »Deine Mutter kommt sicher gleich«, sagte der Lehrer. Der leere Bus fuhr ab. Ich stand allein mit dem Lehrer auf dem Bürgersteig. Ich schämte mich, ich zitterte, wann kommt sie, bitte lass sie doch endlich kommen! Und dann kam sie. Ihr VW Käfer bog um die Ecke in die lange, gerade Straße ein. Ich war so erleichtert, mir wurde heiß vor Freude. Plötzlich erkannte ich, dass ihr VW Käfer auf der langen, geraden Straße Schlangenlinien fuhr. Er schrammte die Reihe geparkter Autos entlang.

Die Anrufe blieben keine Einzelfälle mehr. Deine Mutter hat einen Unfall gebaut. Deine Mutter liegt verletzt im Krankenhaus. Deine Mutter hat getrunken. »Ich will da nicht mehr hin«, sagte ich, trotzig wie ein Kind das sagt, und ich weiß nicht mehr, wie genau es zustande kam, dass ich mit zwölf, dreizehn tatsächlich nicht mehr zu meiner Mutter ging, ob das beschlossen wurde oder ob sie einfach entschwand, in ein Leben im Nebel.

Trotz allem glaube ich, dass mich meine Mutter geliebt hat. Ich erinnere mich doch an diesen einen Abend in der Pizzeria.

2 Großmutter

Auf den Wiesen nördlich der Ford-Siedlung wuchsen Kamillen. Mein Opa schickte mich hin, um die Blüten zu pflücken. So machten wir unseren Tee.

Mitte der Siebzigerjahre jedoch verschwanden die Wiesen.

Reihen- und Einfamilienhäuser entstanden, ein ganzes Neubaugebiet wuchs aus dem Boden. Es schien das Lebensziel der ganzen Ford-Siedlung: es auf die andere Seite von Pulheim zu schaffen, in eines der neuen Häuser. Das schien das Machbare im Leben.

Malerviertel nannten die Leute das Neubaugebiet. Das klang extravaganter, als es war. Die Straßen waren bloß nach berühmten Malern benannt, Emil Nolde, Arnold Böcklin, Paul Klee.

Für mich war diese Zeit wie dauerhafter Ferienbeginn: Ein Freund nach dem anderen verschwand aus der Siedlung, ins neue Viertel, und ich blieb zurück. Bis mir eines Tages meine Großeltern sagten, sie hätten ein Reihenhaus in der August-Macke-Straße gekauft.

Ich durfte das neue Haus, mein neues Zimmer nicht sehen, bis wir einzogen. Es sollte eine komplette Überraschung werden.

Die Tür öffnete sich an einem Tag im Jahr 1980, ich war 14. Ich schwebte die Treppen nach oben, dein Zimmer ist im Obergeschoss, sagten die Großeltern, August-Macke-Straße 12, das drittletzte von 14 absolut gleichen Häusern in Reihe. Ich öffnete die Zimmertür. Ich sah einen Raum mit einem billigen Schrank, einem billigen Bett und einem billigen Schreibtisch. Die Wände waren mit einer orangefarbenen Tapete beklebt. Was zählte, war, wir hatten es geschafft.

Mickys Familie hatte es schon früher geschafft, er wohnte schräg hinter unserem Reihenhaus, in der Albrecht-Dürer-Straße. Wir wünschten uns zu Weihnachten Walkie-Talkies, ich eines und Micky eines. Abends, wenn wir schlafen sollten, lagen wir im Bett und unterhielten uns über 100 Meter Luftlinie mit unseren Funkgeräten.

Ich war auf einer Geburtstagsfeier, abends, Geburtstage wurden mit 15 schon abends gefeiert, als meine Oma anrief. Ich müsse nach Hause kommen. Ich konnte es nicht glauben, ich war auf einer Party, es war noch keiner nach Hause gegangen. Meine Oma bestand darauf.

Als ich nach Hause kam, in die August-Macke-Straße, war mein Opa schon tot.

Er war 68 gewesen. Nach einem Gehirnschlag hatte er die letzten Monate nie mehr auf die Beine gefunden. Er hatte vielleicht ein Dreivierteljahr im neuen Haus gelebt.

Meine Großeltern waren in den Ersten Weltkrieg hineingeboren worden, sie hatten die Wirtschaftsdepression der Zwanzigerjahre, den Zweiten Weltkrieg und die Flucht durchgestanden. Sie hatten zwei ihrer drei Kinder früh an den Alkohol verloren. Sie hatten mich aufgenommen. Sie hatten dafür gesorgt, dass immer etwas zu essen auf den Tisch kam. Meine Oma war eine Heldin. Aber jetzt war ich alleine mit ihr.

Etwas wurde mir erst viele Jahre später bewusst: Ich habe nie gesehen, dass sich meine Großeltern küssten. Ich habe nie erlebt, dass sie sich oder sogar mich in den Arm nahmen.

Heute verstehe ich das. Die Härten des Lebens hatten sie hart gemacht. Es gab immer irgendetwas zu bewältigen. Und das hörte mit dem Tod meines Opas nicht auf, merkten wir schnell.

Wir hatten es doch nicht geschafft.

Die 160 000 Mark für das Reihenhaus hatten meine Großeltern größtenteils über einen Bankkredit finanziert. Nun fielen die Rente und die Kriegsversehrtenpension meines Großvaters weg. Der Kredit war an einen variablen Zinssatz geknüpft. Die Zinsen stiegen Anfang der Achtziger von rund fünf Prozent auf ein historisches Hoch von über elf Prozent.

Meine Oma setzte mich an den Küchentisch und rechnete mir alles vor. Ich habe verschiedene Zahlen in Erinnerung, 220 Mark oder 280 Mark, irgend so etwas war es, was uns nach Abzug der Fixkosten im Monat zum Leben blieb.

In der Schule trugen die coolen Jungs Wrangler- oder Levis-Jeans. Ich trug Palomino von C&A. Vielleicht bemerkte es niemand. Aber ich war mir sicher, dass es alle sahen.

Ich fühlte mich unter Druck, meine fehlende Coolness in Sachen Kleidung mit Witz und Chuzpe im Auftreten wettzumachen. Wir hatten einen Lehrer, der bei der Aussprache von »Z«-Lauten stets spuckte. Er sprach über das Werk des schottischen Dichters Robert Burns, »Robert …«, setzte er an, »… Shakespeare!«, rief ich. Alle lachten, aber ich hatte nur das Ausspucken bei »Burns« verhindern wollen. Ein anderes Mal spannte ich mitten im Unterricht einen Regenschirm als Schutzschild gegen sein Spucken auf.

So wurden meine Noten nicht besser. Ich hatte wegen des Wechsels von der Haupt- in die Realschule bereits die fünfte Klasse wiederholen müssen, und als das siebte Schuljahr zu Ende ging, sagte ich zu meiner Oma: »Dieses Jahr haben wir die Zeugnisse noch nicht gekriegt. Da gab es irgendein Problem im Sekretariat, ich glaube, die Sekretärin ist schlimm krank. Deswegen gibt es das Zeugnis diesmal ausnahmsweise erst nach den Sommerferien, zum Schulanfang.«

Offenbar glaubte mir meine Oma das tatsächlich. Sie fiel aus allen Wolken, als ich nach den Ferien vom ersten Schultag nach Hause kam. »Oma, ich bin übrigens immer noch in der siebten. Ich bin sitzen geblieben.«

Meine Oma ließ sich einen Termin beim Direktor geben. Das ging nicht, der Junge musste in die achte Klasse, der musste die Schule fertig machen, sie konnte ihn nicht noch ein weiteres Jahr durchbringen, sie war alleine, sie hatte das Geld nicht!

Ich weiß nicht, wie der Direktor ihr vermittelte, dass Versetzungen nach Schulleistungen und nicht nach wirtschaftlichen Nöten erfolgten.

Auf jeden Fall war ich fortan mit zwei Jahre jüngeren Jugendlichen in der Klasse. Und meine Oma ging jedes halbe Jahr zum Lehrergespräch, um ja nicht noch einmal etwas zu verpassen.

Die Spitzen meiner Fußballschuhe hielt ich mit schwarzem Klebeband zusammen, damit die Risse und Löcher nicht größer wurden. Schmischke, unser Jugendtrainer, trommelte die, die da waren, in den letzten Wochen der Sommerferien jeden Morgen zusammen. Wir nannten es Trainingslager. Wir absolvierten unsere Übungen auf einer Lichtung im Wäldchen hinter dem Sportplatz. In dem Sommer war ich glücklich. Das Gefühl, etwas Besonderes zu erleben, war allgegenwärtig. Schmischke hatte sogar Wasser für die Trinkpausen organisiert.

Die älteste Juniorenmannschaft des Pulheimer SC, die A-Jugend, spielte Verbandsliga. Das war in den Achtzigern die höchste Spielklasse im deutschen Jugendfußball. Wir waren in einer Liga mit dem FC und Bayer 04 Leverkusen. Wir hatten naturgemäß keine Chance. Doch wir durften zweimal im Jahr, in diesen beiden Partien, den Rasenplatz statt des Aschenplatzes benutzen.

Einmal kam ich nicht zum Training. Ich sagte dem Trainer Bescheid: Ich war krank.

»Krank, haha«, sagte einer der Jungs, Michael, dem Trainer, oder er sagte es zumindest so laut, dass es der Trainer hörte, ich weiß es nicht, ich war ja nicht da. »Von wegen krank. Der Struth trifft ’n Mädchen.«

Beim nächsten Training musste ich Sprints absolvieren. 40 Minuten lang. Die anderen spielten Fußball, und ich sprintete die Seitenlinie entlang, bis mich jede Kraft verließ. Die Wut wuchs von Lauf zu Lauf, wie kam der dazu, mich zu verpetzen, die Wut wurde düsterer, das war doch das Allerletzte, was hatte der davon, die Wut wurde heißer.

Ja, ich weiß, was ich dann tat, war nicht so nett, und es tut mir auch leid. Doch wenn ich mich als junger Mann ungerecht behandelt fühlte, gab es kein Halten mehr.

Nach den Sprints, allein in der Umkleidekabine, pinkelte ich Michael in den Schuh.

Ich brauchte Geld. Der Gedanke wurde spätestens 1981, mit 15, ein ständiger Begleiter.

Meine Oma verlangte nicht, dass ich etwas zu unseren Alltagsausgaben beisteuerte. Wollte ich allerdings etwas über das Quarkbrot und die Palomino-Hose hinaus, musste ich es mir selbst verdienen.

Die Spätschicht in der Wellpappenfabrik begann um 14 Uhr. Wenn ich mich nach der Schule beeilte, hastig zu Mittag aß, konnte ich es schaffen.

Meine Aufgabe bestand darin, die gefalteten Pappkartons aus der Stanzmaschine zu hieven und zu stapeln. Fünf Kartons in der Minute, das machte in einer Stunde 300-mal einen Karton heben und zur Seite legen. Die Spätschicht ging bis 22 Uhr, acht Stunden.

Ich arbeitete an den Tagen, an denen kein Fußballtraining anstand. Schule, essen, Wellpappenfabrik. Beim Fußballtraining spielte ich mit langen Ärmeln, obwohl es warm war. Ich wollte nicht, dass jemand die tiefen Schnitte in meinen Unterarmen sah. Die Kanten der Kartons schlitzten meine Haut wie Seidenpapier auf.

Ich wollte nicht, dass jemand sah, dass ich die unterste Arbeit machte.

»Du hast doch gestern gesagt, dass du zu deiner Tante gehst«, sagte eines Abends einer der Jungs beim Fußballtraining zu mir.

»Ja, wieso?«

»Mein Bruder hat dich bei der Wellpappenfabrik gesehen. Arbeitest du jetzt da?«

Für 150 Mark kaufte ich einem der Jungs aus dem Fußballverein sein altes Mofa ab, als er von seinen Eltern das nächste geschenkt bekam. Für ähnlich viel Geld kaufte ich eine Zugfahrkarte, Pulheim – Rimini und zurück.

Der Zug brauchte 19 Stunden. Dann ging es mit dem Bus weiter nach Riccione. Wir waren zu viert oder fünft. Thomas Witt, mit dem ich in der Jugend wahrscheinlich die meiste Zeit verbrachte, hatte uns von einem Campingplatz erzählt, auf dem er oft mit seinen Eltern in den Ferien gewesen war. Also fuhren wir dorthin. Wir kannten ja sonst nichts.

Der Campingplatz Fontanelle lag direkt hinter dem Adriastrand. Wir bauten unser Zelt auf und blieben drei Wochen. Schwammen im Meer, spielten Karten, gingen in die Diskothek und sahen Deutschland im WM-Finale 1982 gegen Italien verlieren. Ich war, mit 16, zum ersten Mal im Urlaub.

Wie aus dem Nichts erwähnte Oma eines Tages meinen Vater. »Dein Vater sollte dir mehr Unterhalt zahlen.« Wir würden nicht wirklich versuchen, mehr Geld von ihm zu erhalten. Es war nur eine laute Klage meiner Oma, dass uns niemand half. Aber schlagartig drang es in jenem Moment in mein Bewusstsein: Ich hatte ja einen Vater. Ich hätte ja einen Vater gehabt.

Er lebte offenbar die ganze Zeit in unserer Nähe, vielleicht fünf Minuten mit dem Rad entfernt. Er arbeitete in einer leitenden Stelle bei Ford, hörte ich.

In Gedanken redete ich manchmal mit ihm. Ich sah ihn höchstens zwei-, dreimal im Leben.

Mit 18 zog ich aus. Ich war immer noch Schüler, zehnte Klasse, Realschule, zwei Jahre hintendran. Gleichzeitig führte ich ein erwachsenes Leben. In Esch, einem Nachbardorf, fand ich ein kleines Apartment. Streng genommen war es eine Doppelgarage. Sie war zur Einliegerwohnung umgebaut worden. In der kleinen Neubausiedlung gab es keine Geschäfte, keine Geräusche des Lebens außer morgens und abends kurz das Motorgrollen der wegfahrenden und heimkehrenden Autos vor den Einfamilienhäusern und Doppelgaragen. Ringsherum Felder.

Das Geld für die Miete verdiente ich in der Wellpappenfabrik, mittlerweile – welch ein Aufstieg – durfte ich die Stanzmaschine bedienen. Ich hielt mich handwerklich für grenzenlos unbegabt, aber was ich konnte, war schuften. An den Wochenenden, wenn die Wellpappenfabrik stillstand, half ich beim Estrichlegen, beim Dachdecken, beim Doppelgaragebauen, ich schnappte auf, wo in Pulheim ein Hilfsarbeiter gebraucht wurde, ich quatschte mich in jeden Job rein. Ich schleppte Eimer, ich trug Dachziegel. Einmal nahm ich Micky mit. Beim Bruder einer Freundin konnten wir beim Dachbau helfen. Micky erzählt heute noch von dem Muskelkater, der ihn danach drei Tage lang bewegungsunfähig machte. Doch ich stellte nie infrage, dass ich die harte Arbeit machen musste. Es schien meine Rolle zu sein. Ein wenig mehr Geld zu haben, ein wenig besser zu leben, ging für mich nur über Leiden, hatte ich verinnerlicht.

Vor mir selbst hielt ich die ehrenwerte Ansicht aufrecht, ich sei ausgezogen, um meiner Oma nicht mehr zur Last zu fallen. Das war auch die Wahrheit. Die halbe zumindest. Der andere Teil der Wahrheit bestand darin, dass ein 18-Jähriger wahnsinnig wird, wenn er mit einer alten Dame zusammenlebt, deren Welt zwangsweise vor allem aus Butterpreisen und Hosenflicken besteht.

Nur am 25. September war bei meiner Oma jedes Jahr alles anders. Da feierte sie Geburtstag. Und zwar im großen Stil. Bereits Tage zuvor fing sie an, Kuchen zu backen. Wenn die Onkel, Tanten, Cousins am 25. eintrafen, sahen sie nichts mehr vom Wohnzimmertisch vor lauter Kuchen und Torten, acht mindestens. Abends gab es Würstchen mit Brot und Senf. Aber welche Vielfalt an Würsten! Krakauer, Frankfurter, Oppelner …

Mit 13 hatte ich angefangen, meiner Oma zum Geburtstag eine Blume zu schenken, immer dieselbe Sorte, ein lilafarbenes Alpenveilchen aus der Gärtnerei auf der Sinnersdorfer Straße. Am 25. September schien unser Reihenhaus zu summen und zu brummen. Ich aß noch eine Frankfurter, obwohl ich schon längst satt war, und dann noch eine.

Ich hoffte sehnsüchtig, dass etwas Besonderes aus mir werden würde, und begann eine Lehre als Maurer. Den Widerspruch sah ich nicht. Mit 18, nach der Schule, haben womöglich die meisten das Gefühl, dass die Welt ihnen offensteht und schon bald auch gehört. Auch wenn sie in der Realität jeden Morgen um sechs Uhr aufstehen, um Zementsäcke zu schleppen und Mauersteine weiterzureichen.

Ich hatte nach der Schule mit den Bewerbungen so lange gezögert, bis all die üblichen Ausbildungsplätze, als Werkzeugmacher bei Ford oder Tiefbauer bei Rheinenergie, vergeben waren. Meine Oma aber bestand darauf, dass ich sofort eine Ausbildung begann, egal welche, Hauptsache, eine anständige Ausbildung. Ich fand auf die Schnelle nur eine. Philipp Holzmann suchte noch Maurerlehrlinge.

Das Problem war nicht, dass ich um 6.30 Uhr auf dem Bau sein musste, das Problem war auch nicht, dass die Kälte in die Nieren drückte, wobei das natürlich schon Probleme waren, aber das wirkliche, das richtige Problem war: Die Arbeit war einfach nichts für mich.

Um zehn sah ich auf die Uhr und war entsetzt: Was, erst so wenig Zeit vergangen?

Nach einigen Monaten schlugen mir die Vorgesetzten eine Umwandlung meiner Lehre vor. Ich könnte bei ihnen auch die Ausbildung zum Zimmermann einschlagen, die bereits absolvierten Monate würden angerechnet.

Zimmermann klang besser als Maurer. Ich war jedoch weiterhin auf denselben Baustellen zugange, bei derselben Arbeit. Wir richteten große Holzwände auf und gossen Beton in den Zwischenraum der Holzkonstruktion. So entstanden Betonwände.

Morgens um sieben, wenn wir schon angefangen hatten, kamen die Gefangenen. Philipp Holzmann beschäftigte Straftäter mit guter Führung als Hilfsarbeiter. Nachmittags um 16 Uhr kehrten sie ins Gefängnis zurück. Auf der Baustelle gab es schon mal Stress, die Türken mit den Italienern, die Griechen mit den Gefangenen. Ich verstand mich mit allen.

Ich hieß Toni auf dem Bau. Volker konnten viele der Ausländer nicht aussprechen.

Ich versteckte dem einen Bauarbeiter den Hammer, ich goss dem anderen heimlich Wasser in die Bierflasche. So unterhielt ich die Kolonne. Ich träumte von einem guten, erfolgreichen Leben, und die Tage vergingen mit der monotonen Arbeit auf dem Bau. Einmal stellte ich den Kasten Bier der Kollegen in die pralle Sonne. Das war wohl etwas zu viel der Scherze gewesen. Sie packten mich und hängten mich mit dem Sicherheitsgurt an den Kran. Der Kranführer zog das Kranseil an und schleuderte mich ein paarmal durch die Luft. Einen Meter über der Erde ließ er mich am Seil zappeln. Die Kollegen traten heran. Einer, der das warme Bier schon im Mund gehabt hatte, holte mit aller Kraft aus. Mit der flachen Seite der Schippe schlug er auf meinen Hintern ein, sodass ich alleine von der Wucht ein paar Zentimeter vor und zurück schwankte.

3 Bofrost-Hero

Am Montag einer ganz normalen Woche, in der nicht vorgesehen war, dass sich mein Leben für immer verändern sollte, stürzte ich rückwärts aus sechs Metern Höhe vom Baugerüst.

Wir bauten im Sommer 1986 die Pulheimer Stadthalle, ich war dabei, irgendeine Holzplatte zur Einschalung anzunageln, als ich mich mit dem Rücken an die Gerüststange hinter mir lehnte. Die Stange war nicht richtig eingerastet.

Ich hatte keine Zeit zu reagieren. Ich fiel einfach, Rücken voraus. Ich war 20.

Ich hätte auf den Asphalt der Straße aufschlagen können, ich hätte auf eine unserer Betonmischmaschinen prallen können. Aber ich landete im Sandhaufen. Ich glaube, es war der einzige Sandhaufen, der weit und breit auf unserer Baustelle lag.

Unter Schock schleppte ich mich zum Arzt. Er schrieb mich für eine Woche krank. Ein paar Prellungen, mehr sei doch nicht. Offenbar war ich auf dem Hintern gelandet.

 

Einen Montag später dachte ich: Jetzt stehst du tatsächlich schon wieder hier auf dem Gerüst. Nicht einmal richtig lange krankschreiben klappt. Ich war bereits ein, zwei Stunden mit Hammer und Nägeln zugange, als ich mich umdrehte, um irgendetwas zu holen. Ich sah hinunter, und die Welt begann sich zu drehen.

Ich musste mich festhalten. Der Schwindel schien meinen ganzen Körper zu ergreifen. Alles zitterte, alles wackelte. Alles drehte sich. Mit kleinen, tapsigen Schritten, einen Fuß vor den anderen, die Hände immer am Geländer, schaffte ich es herunter. Alle Kraft und jegliches Gleichgewicht schienen aus meinem Körper entwichen. Ich war nur noch eine wacklige Hülle.

Der Polier glaubte, ich wolle ihn verarschen. Ich würde eine Show abziehen, um blauzumachen.

Vielleicht glaubte er das auch noch, als er Tage später die Nachricht erhielt, ich würde nie mehr auf den Bau zurückkehren. Denn Höhenangst ist für einen Zimmermann eher weniger geeignet.

Höhenangst entsteht nicht selten durch einen traumatischen Sturz, erklärte mir der Arzt. Ich hatte meine Facharbeiterausbildung zum Zimmermann bei Philipp Holzmann gerade abgeschlossen, ich wartete nur noch auf die Ergebnisse der Abschlussprüfung und war auf einen Schlag für den Beruf nicht mehr geeignet, den ich erlernt hatte. Ich fand es nicht wirklich dramatisch. Ich war froh, mit gutem Grund das Baugewerbe hinter mir zu lassen.

 

Wie nicht wenige 20-Jährige machte ich mir um die Zukunft keine Sorgen. Ich war vollauf damit beschäftigt zu leben. In Pulheim gab es eine Diskothek, das Treppchen, rund herum ein paar Kneipen und Parkplätze, dort konnte man sich zeigen. Ich hatte Freundinnen, gelegentlich auch Mädchen, die irgendwie nicht ganz Freundinnen waren, so ganz klar musste man das mit 20 nicht definieren.

Ich würde doch nicht gleich die nächste Lehre machen. Ich würde einfach irgendwie genug Geld zum Leben verdienen, am besten richtig viel Geld. Ich ging wieder in die Wellpappenfabrik. Nachmittags und abends, nach der Frühschicht, klapperte ich Hochhäuser ab. Ich hatte schon während der Ausbildung bei Philipp Holzmann nebenbei als Versicherungsvertreter gearbeitet. Jemand, den jemand kannte, den ich kannte, machte das. Ich hatte ihn angequatscht, ob da nicht auch für mich Platz wäre.

Ich arbeitete rein auf Provision, Geld gab es nur, wenn ich eine Versicherung verkaufte. Ich ging davon aus, das sei so üblich. Ich glaube, das war auch üblich.

Hochhäuser waren besser als Reihenhaussiedlungen. Du konntest schneller eine Masse Leute abklappern.

An den Wohnungstüren verwandelte ich mich in eine Jukebox. In mir hatte ich so viele verschiedene Schallplatten, und wenn der Herr oder die Dame ihre Wohnungstür öffneten, dann wusste ich nach wenigen Sekunden instinktiv, welche Knöpfe der Jukebox ich drücken musste, E4, F1 oder A7, damit genau die richtige Schallplatte aufgelegt wurde, um den Mann oder die Frau anzusprechen.

Jüngere Menschen kennen vermutlich gar keine Jukebox mehr. Die müssten sich mich als Spotify-Musikstreamingdienst vorstellen: Die Wohnungstür geht auf, ich sehe den Mann, seine seit Tagen nicht mehr gewaschenen, aber akkurat gescheitelten Haare, ein verblichenes, aber ordentlich in die Hose gestecktes Hemd, und ich spüre sofort, welches Lied er gerne von mir hören will.

»Guten Tag, Volker Struth mein Name. Ich habe eine Frage: Ist Ihnen die Sicherheit Ihrer Familie eine Mark wert?«

»Wie?«

»Wir haben eine Unfallversicherung entworfen, die Sie nur eine Mark am Tag kostet. Nur eine Mark! Wie schnell ist eine Mark ausgegeben, für fünf Zigaretten oder eine Tafel Schokolade, eine Mark am Tag, das würden Sie gar nicht spüren, und Ihre Familie wäre abgesichert.«

An der nächsten Tür öffnete ein Mann mit Schalk in den Augen, und die Platte wechselte sofort. »Jetzt mal unter uns, wie schnell ist eine Mark am Kiosk ausgegeben. Investieren Sie die Mark mal für etwas Gutes, in diese Versicherung, dann schimpft auch Ihre Frau nicht mehr so, wenn Sie sich mal ein Bier am Kiosk gönnen.«

Selbstverständlich gab es Hochhäuser, wo ich an 36 Türen klingelte, 36-mal die richtige Platte in der Jukebox fand und trotzdem keine einzige Versicherung verkaufte. Das gehörte zu dem Job.

Die Zurückweisung traf mich genauso wie jeden anderen. Es schmerzte. Bloß überwand ich mich jedes Mal weiterzumachen. Ich klingelte beim 37., und die Jukebox ging schon wieder an.

Ich glaube, diese Fähigkeit haben nicht allzu viele Menschen: sich von ständiger Ablehnung nicht entmutigen lassen. Ich frage mich, ob ich mir diese Hartnäckigkeit unbewusst in meiner Kindheit angeeignet habe. Als ich ständig Ablehnung erfuhr.

»Nur eine Mark am Tag, Sie werden das nicht bereuen.« Das Gefühl, wenn der Herr an der 37. Tür im Hochhaus den Vertrag zur Unfallversicherung unterschrieb, war sagenhaft. Eine Explosion von Glück, das meinen ganzen Körper pochen ließ. Ich hatte es geschafft. Ich hatte irgendetwas geschafft.

Nach zwei, drei Jahren verkaufte ich so viele Unfall- und Lebensversicherungen, dass ich glaubte, ich sei wer. Hier kam der Struth! Ich kaufte mir einen Ford Escort, natürlich einen Ford, aber ein Cabriolet. Den parkte ich samstagnachts, so nah es ging, vor dem Treppchen. 1989 meldete ich mein eigenes Gewerbe an. Ich machte mich als Versicherungsvertreter selbstständig, mit 23. Ich warb bei allen möglichen Bekannten, sie sollten ihren Bekannten meine Versicherungen verkaufen, bei der Provision würde ich nicht kleinlich sein. Das System schien bequemer als die Kaltakquise. Trotzdem klapperte ich unverändert auch selbst die Hochhäuser ab. Fleiß und Ehrgeiz kamen bei mir zusammen: Ich wollte mehr.

Das Fußballtraining verpasste ich immer öfter, weil ich stets noch irgendeinen Job erledigen musste. Ich wechselte von einem Amateurverein zum anderen, ich dachte, du musst auch da höher hinaus, und drückte die Traurigkeit weg, wenn ich wegen der Arbeit wieder nicht zum Training kam.

Genauso verdrängte ich es zunächst auch, wenn die Leute an der Tür sagten: »Unfallversicherung, Jung, da muss ich dir mal was erzähln.« Die Erzählung endete immer damit, dass sie jemanden kannten, der jemanden kannte, der eine solche Versicherung abgeschlossen und nach einem Arbeitsunfall doch nicht seine Prämie erhalten hatte. Ich dachte, das ist mir doch egal. Ich glaubte an die Versicherungen, das mit der Unfallversicherung für eine Mark – nur eine Mark! – war doch eine tolle Sache. Aber nach und nach verschlissen diese Erzählungen der Mieter meinen Elan für den Versicherungsverkauf. Als ich wenig später in einer Zeitungsannonce las, der Tiefkühldienst Bofrost suche Fahrer, dachte ich, Mensch, wenn du so einen Job hättest, von 8 bis 16 Uhr, dann könntest du auch wieder regelmäßig zum Fußballtraining gehen. Und so schloss ich meinen Versicherungsvertrieb Knall auf Fall und heuerte bei Bofrost an. Ob ich Tiefkühlerbsen und gefrorenen Fisch statt Unfallversicherungen verkaufte, schien mir keinen großen Unterschied zu machen.

 

Ich trieb durch das Leben. Angetrieben wurde ich nur vom diffusen Gefühl, »es schaffen« zu wollen. Was genau, wusste ich nicht.

Morgens füllte ich den Kühllaster im Lieferzentrum Dormagen-Hackenbroich. Die selten gefragte Ware ganz nach hinten, die Renner davor, damit ich sie schnell zur Hand hatte. Eiscreme Vanille-Bourbon war der Hit, Bestellnummer 022. Ich kann die Bestellnummern 30 Jahre später in der Mehrzahl noch auswendig, Rahmspinat Nummer 752, Apfelrotkohl 753. Die Gemüseprodukte bildeten die 700er Reihe, die Kartoffelprodukte die 600er.

Der Kölner Norden war mein Revier. Ich lieferte den Fisch und die Tiefkühlerbsen an die bestehenden Kunden und klingelte stets bei den Nachbarn.

Damals in den Achtzigern lief oft ein Lied im Radio, Jukebox Hero von Foreigner. Ich war der Bofrost-Hero.

Ich zog mehr Kunden an Land als die meisten Vertreter.

»Guten Tag, Volker Struth mein Name. Von Bofrost. Ich habe dem Herrn Lindemann von nebenan gerade seinen Fisch gebracht, und da dachte ich spontan, ich tue Ihnen auch etwas Gutes. Wollen Sie mal unser Vanille-Bourbon-Eis probieren?«

Vielleicht übersah die Neukundin in dem Moment tatsächlich, dass sie, nicht ich, für das Eis bezahlte.

 

Samstags nahm ich Micky mit auf meine Tour. Wir waren bald Mitte 20 und noch immer gerne einfach so zusammen wie mit zwölf, als ich beim FC zur zweiten Halbzeit einen Platz auf der Haupttribüne Oberrang für uns erbettelt hatte.

»Wenn du mitkommst, lade ich dich heute Nachmittag zum FC ein«, sagte ich nun samstagsmorgens. Micky musste mir auf der Bofrost-Tour nicht helfen. Es genügte, wenn er dabei war. Nach der Arbeit kaufte ich uns zwei Karten für das Bundesligaspiel des FC, Haupttribüne Oberrang.

Wenn der FC spielte, Bodo Illgner, Pierre Littbarski, Thomas Häßler, dann schlug mein Herz, dann spürte ich alles intensiver, die Freude, das Glück, das Leid. Dann fühlte ich: Hier gehörte ich dazu.

 

Eines Morgens war ich in Worringen, ganz im Norden von Köln, als ich den Bofrost-Laster herumriss. Ich fuhr zurück ins Lieferzentrum nach Dormagen. Es war gegen elf am Morgen, ich hatte noch zehn, zwanzig Kunden vor mir. Ich sah den Blick des Chefs, als ich in die Zentrale kam: Was machen Sie denn hier?

»Ich bin raus«, sagte ich. »Ich hör auf.«

Die meisten hätten wohl die Kündigungsfrist eingehalten oder wären zumindest die Tagestour noch zu Ende gefahren. Bei mir jedoch war es oft so: Ein Entschluss arbeitete in mir, er brauchte Zeit zu reifen, es dauerte, bis ich die Sache klar sah; dann aber traf ich die Entscheidung jäh und setzte sie auch augenblicklich um.

»Passen Sie auf, ich will da jetzt nicht groß drüber reden«, sagte ich dem Chef. »Aber ich hab ein Angebot.« Ich legte den Autoschlüssel auf seinen Tisch und ging durch die Tür.

Ich hatte kein Angebot. Mir war nur auf einmal klar geworden, dass ich nicht mein ganzes Leben lang den Leuten was Gutes, was richtig Gutes, mit Vanille-Bourbon-Eis tun wollte.

Das Arbeitsamt vermittelte mir eine Umschulung vom Zimmermann zum Industriekaufmann. Man musste doch was Ordentliches lernen. Die Überzeugung meiner Oma hatte sich unbewusst in meinem Hinterkopf eingenistet, auch wenn ich glaubte, gegen den Lebensstil meiner Oma zu rebellieren. Ich besuchte sie Anfang der Neunziger, mit 24, noch immer regelmäßig.