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Seit dem plötzlichen Tod ihrer Eltern fühlt sich die 18-jährige Skye verloren. Ihre Freunde führen ihr nur vor Augen, wie weit sie sich von ihrem alten Leben entfernt hat – doch dann trifft sie Asher. Asher mit den dunklen Augen, der sie nervt, provoziert und den sie kurzerhand Ashhole tauft. Doch hinter seiner Fassade verbirgt sich mehr, als sie ahnt. Als Asher sie zu einer spontanen Reise überredet, spürt Skye zum ersten Mal wieder so etwas wie Leben in sich. Doch während sie sich langsam aus der Dunkelheit herauskämpft, muss sie erkennen: Asher hat seine eigenen Dämonen. Und vielleicht ist sie für ihn nicht die Rettung, sondern das, was ihn endgültig zerstört...
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Liebesroman
Copyright © 2019 Alexandra Fischer
All rights reserved
Alexandra Fischer
c/o COCENTER
Koppoldstr. 1
86551 Aichach
www.wortfischerin.de
Coverdesign: © missuppercover.com | Andrea Janas
unter Verwendung mehrerer Motive von
Shutterstock.com: Raiden Pictures, Kavun Halyna
und ARTYuSTUDIO
Innendesign: Shutterstock.com: ©shooarts, ©G.roman, ©Juliana Brykova
1. Von blühenden Algen und vertrockneten Kakteen
2. Das Leben und seine Komplikationen
3. Die Stadt, der Park und ein Thunderbird
4. Frühstück für den Waschbären
5. Das Karussell in Santa Monica
6. Ein Geschenk für fünf Dollar
7. Unter der Sternenkuppel
8. Die Wurzeln unseres Lebens
9. Das Geisterhaus
10. Die Wüste ruft
11. Ein Schwarzes Loch für Asher
12. Schrei, wenn du musst
13. Die Sterne unter uns
14. Am Abgrund der Wahrheit
15. Zurück auf Anfang
16. New York und die Theorie des Abschieds
17. Meine Sterne in deiner Nacht
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Danksagung
Über die Autorin
»Wusstet ihr, dass es im Weltall einen Planeten gibt, der aus Diamanten besteht?« Ich rollte mich auf den Rücken und stieß dabei gegen meine Freundin Nell.
Sie lachte auf. »Oh Skye! Warum fliegt denn keiner da rauf und holt die Dinger?«
»Weil er zu weit entfernt ist. Das ist ein Exoplanet.«
»Irgendwann erstickst du noch an deiner Schlauheit.« Cara, die links von mir saß, reichte den Joint an Flint weiter und warf ein Holzscheit ins Feuer.
Ich gab nicht auf. »Exoplaneten liegen außerhalb der Gravität der Sonne. Wusstet ihr das?«
»Jetzt schon.« Flint inhalierte den Rauch und hielt den Atem an.
Ich grinste. »Exoplaneten gehören nicht mehr zu unserem Sonnensystem.«
»Halt die Klappe, Skye!« Nell warf Sand nach mir. »Warum erzählst du so tolle Dinge über Diamant-Planeten, wenn sie unerreichbar sind?«
»Weil ich es kann.«
»Wenn du Gras rauchst, wirst du unerträglich!« Cara sah auf. »Schaut mal aufs Wasser. Es geht los!«
Ich hob meinen Kopf. Er fühlte sich federleicht an. An diesem Abend hatte ich mit dem Stoff vielleicht etwas übertrieben. Ich versuchte, den Horizont zu fixieren. Endlich erkannte ich es. Auf den Wellen begann es zu leuchten. Das Naturschauspiel hatte begonnen und tauchte das Wasser vor der Mission Bay bei San Diego in ein unwirkliches blaues Licht.
»Ich gehe raus.« Flint erhob sich, reichte den Joint an seinen Kumpel Asher weiter und klemmte sich das Surfbrett unter den Arm.
»Nimm mich mit!« Cara kam torkelnd auf die Beine und folgte ihm giggelnd.
»Was ist mit dir?« Zuerst dachte ich, Nell meinte mich, doch dann rollte sie sich von mir weg und kam halb auf Asher zu liegen. Ich roch den intensiven Kokosduft ihrer Haare. Der Geruch vermischte sich unangenehm mit dem des Joints.
»Warum leuchtet das Meer gleich wieder?«, fragte Asher beiläufig.
»Das liegt an der Algenblüte«, erwiderte ich und sah, dass Nell sich an ihn kuschelte. »Wenn die Algen sich gegenseitig berühren, fangen sie an zu fluoreszieren.«
»Interessant. Skypedia hat auf alles eine Antwort.«
»Darauf kannst du wetten, Ashhole.«
Asher steckte Nell den Joint zwischen die Lippen und schob sie sanft von sich. »Ich geh auch raus«, sagte er, sprang auf und schnappte sich sein Surfbrett. Nell und ich blieben zurück.
»Musst du das immer machen?« Sie setzte sich auf und strich sich enttäuscht die blonden Haare aus dem Gesicht. »Du weißt, dass ich ihn mag.«
»Der Typ ist ein Vollpfosten. Ihm fehlt einfach das gewisse Alles«, stellte ich fest und beobachtete mit Erleichterung, wie er in der Dunkelheit verschwand. »Was ist Asher überhaupt für ein Name? Der ist wie gemacht dafür, dass man ihn verarscht.«
»Jeder weiß inzwischen, was du von ihm hältst. Du nennst ihn ständig Ashhole.«
Ich kicherte, nahm ihr den Joint aus der Hand und zog daran. »Eine Kombination aus Asher und Asshole ...«
»Ich weiß das!«, fuhr Nell mich an. »Es ist nicht witzig!«
Ich betrachtete ihr Profil. Nell war meine beste Freundin. Wir waren wie Yin und Yang. Ihre Haare waren so hell wie meine Augen, ihre Augen so dunkel wie meine Haare. Sie war klein, ich war groß, sie war vollbusig, ich so flach wie die Surfbretter, die vor uns im Sand lagen. Und doch gehörten wir zusammen. Unsere Mütter hatten sich kennengelernt, als sie mit uns schwanger gewesen waren. Ich war nur fünf Tage jünger als Nell und wir waren wie Schwestern aufgewachsen. Nell hatte noch einen älteren Bruder, Flint, ich dagegen war Einzelkind geblieben. Umso mehr hing ich an ihr. Ich wollte nicht, dass sie enttäuscht wurde. Ihr Hang zu Muskelmännern mit Erbsenhirnen war leider ziemlich ausgeprägt.
»Der Kerl ist ein Snob«, tat ich meine Meinung kund. »Seinem Vater gehört immerhin die größte Villa am Strand. Sieben Schlafzimmer, sechs Bäder, zwei Küchen und ein Infinity Pool. Dabei leben die nicht einmal hier. Was für eine Verschwendung!«
»Flint kann ihn gut leiden.«
»Flint kann selbst Spinnen leiden. Was sagt das über deinen Bruder aus?«
Nell nahm mir den Joint weg und warf ihn ins Feuer.
»Hey!«, protestierte ich.
»Asher hat das Zeug bezahlt. Wenn du ihn nicht leiden kannst, solltest du auch nichts davon rauchen.«
Ich seufzte resigniert. »Der Typ verbringt den Sommer hier, Nell. Dann ist er wieder weg. Und New York liegt nicht gerade ums Eck.«
»Die NYU hat mich angenommen. Ich werde nach New York gehen, Skye.«
Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. »Du willst weg aus San Diego? Wann?«
»In zwei Wochen.« Nell senkte den Kopf, die Haare fielen ihr vors Gesicht. »Es tut mir leid.«
Ich rutschte näher an sie heran und griff nach ihrem Arm. »Ich wusste nicht einmal, dass du dich an der Universität von New York beworben hast!«
»Ich träume schon so lange davon, an der Ostküste zu studieren. Wir haben die High School hinter uns, Skye. Es war doch klar, dass sich danach alles ändert.«
»Ach ja?«
»Ich habe Pläne für mein Leben. Ich möchte Media-Marketing studieren.«
»Seit wann? Früher wolltest du Delfine trainieren.«
»Da war ich ein Kind. Doch jetzt sind wir erwachsen. Zumindest beinahe. Ich habe das alles mit meinen Eltern besprochen und sie freuen sich sehr für mich.«
»Mit mir hast du nicht gesprochen.« Die Tatsache hinterließ einen bitteren Beigeschmack.
»Ich habe mich nicht getraut, es dir zu sagen. Ich meine, ich wollte, aber dann ...«
... sind deine Eltern gestorben, vervollständigte ich ihren Satz in Gedanken. Das, was sie nicht aussprach, hallte in meinem Inneren wieder wie ein Echo.
»Komm doch mit!« Hoffnungsvoll sah sie mich an.
Ich zog meine Hand zurück und schüttelte den Kopf. »Ich gehe eine Runde Schwimmen«, sagte ich stattdessen und stand auf. Es dauerte einige Sekunden, bis ich wagte loszulaufen. Das Hochgefühl, das der Joint hinterlassen hatte, wich Übelkeit. Ich ignorierte sie.
»Skye, warte!« Nell folgte mir, und ich bemühte mich, sie abzuschütteln. »Du solltest jetzt nicht ins Wasser gehen.«
Ich beschleunigte meine Schritte, zog mir während des Laufens T-Shirt und Shorts aus und ließ beides einfach im Sand liegen. Nur im Bikini bekleidet erreichte ich die auslaufenden Wellen. Das blaue Fluoreszieren der Algen wirkte unwirklich, so als befände man sich auf einem anderen Planeten. Wie oft hatte ich in den letzten Monaten davon geträumt, mich in eine fremde Welt beamen zu können. Weg von all dem Schmerz, den Erinnerungen und der Normalität, mit der alle um mich herum weiterlebten, während ich zersprungen war wie ein Glas, das zu Boden gefallen war. Ich existierte, aber ich bestand nur noch aus Rissen und Sprüngen.
»Skye!« Nell fand sich an meiner Seite ein. »Es tut mir wirklich leid.«
»Das muss es nicht.« Meine Stimme klang kratzig. »Du träumst davon, an der Ostküste zu studieren. Mach dein Ding. Es ist okay.«
»Das ist es nicht. Du weißt, dass ich ohne dich nur ein halber Mensch bin.«
»Irgendwann müssen wir uns trennen.«
»Du sagst das, als wären wir in einer Beziehung. Aber wir haben viel mehr als das. Wir bleiben beste Freundinnen, selbst wenn ich in New York lebe.«
Ihre Worte waren ehrlich gemeint, dabei ahnten wir beide, dass das schwierig werden würde. Manchmal wünschte man sich Dinge, doch dann kam es anders, als man dachte. Niemand wusste das besser als ich.
»Es wird alles gut«, sagte ich, selbst wenn der Gedanke, Nell auch noch zu verlieren, mich völlig verrückt machte.
»Meinst du?«
»Klar, wir haben schon Schlimmeres überstanden.« Ich watete ins Wasser. Das fluoreszierende Blau verschluckte meine Füße.
»Ist wirklich alles okay, Skye?«
Ich nickte und hechtete kopfüber in die Fluten. Das dunkle Meer, durch das sich schillernde Leuchtschlieren zogen, war zu verlockend. Ich tauchte wieder auf und schwamm hinaus in das schwarze Nichts. Nell folgte mir nicht. Irgendwo hörte ich die Stimmen von Flint und Cara, doch die Strömung trieb mich von ihnen weg. Ich ließ es geschehen. Um mich herum funkelte es, als befände ich mich in einem Sternennebel. Der samtene Himmel verschmolz mit dem Meer. Ich ging unter, genoss die Schwerelosigkeit und das Schimmern der Algen. Unter Wasser wirkte das Naturphänomen noch fantastischer. Ich verlor mich in dem Flimmern, sank tiefer und fühlte die Ruhe, die sich in mir breitmachte. So musste es im Weltall sein. Mein Vater war besessen von den Sternen gewesen. Er saß oft stundenlang auf unserer Terrasse und beobachtete das Universum durch sein Teleskop hindurch. Ich stellte mir oft vor, dass er und meine Mutter jetzt dort oben lebten. Irgendwo zwischen der Andromedagalaxie und der Milchstraße. Es war ein kindischer Gedanke, doch in diesem Moment fühlte ich mich ihnen ganz nahe. Es war, als wenn sie mich umarmten und mit sich nahmen. Ich ließ es geschehen.
Ein plötzlicher Ruck riss mich zurück an die Wasseroberfläche. Jemand zerrte an mir. Ich tauchte auf und stieß mir den Kopf an etwas Hartem. Vor Schreck begann ich zu husten und rang nach Luft, dann wurde ich auf ein Surfbrett gehievt.
»Fuck! Was soll das?«, rief ich heiser.
»Bei der Wahl deiner Schimpfwörter bist du längst nicht so elitär wie bei der Weitergabe deines Wissens über das Universum«, hörte ich eine Stimme.
»Ashhole.« Ich schlug nach ihm. »Lass mich los! Was soll der Scheiß?«
»Keine Ahnung. Sag du’s mir.« Er schwamm in Richtung Strand und zog das Surfbrett neben sich her. Die Wellen hoben uns hoch und ließen uns wieder herabfallen. Das blaue Licht enthüllte sein verbissenes Gesicht.
Ich bekam nur schwer Luft. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich länger unter Wasser gewesen war, als ich es hätte sein dürfen. Mein Kopf dröhnte und ich merkte, dass ich blutete.
»Ich bin verletzt«, sagte ich vorwurfsvoll.
Er hielt inne und sah mich an. »Das muss die Finne gewesen sein. Tut es weh?«
»Geht schon.« Ich wollte vom Brett gleiten, doch er ließ es nicht zu.
»Ich sehe mir das an«, erklärte er und schwamm weiter.
Erst jetzt merkte ich, dass ich unser Lagerfeuer gar nicht mehr erkennen konnte. Dafür sah ich die Lichter von Ashers Villa vor uns aufflackern wie das Signal eines Leuchtturms.
»Bring mich zurück zu den anderen«, forderte ich. »Ich will nach Hause!«
»Ich fahre dich nach Hause, nachdem ich mir deine Wunde angesehen habe.«
»Die ist nicht schlimm«, beharrte ich. »Außerdem dreht Nell durch, wenn sie nicht weiß, wo ich bin. Sie wird die gesamte Küstenwache verständigen, um mich suchen zu lassen.«
»Ich ruf sie an.« Er klang genervt. Mit einer letzten Welle glitten wir an den Strand und ich strauchelte voran.
»Geht’s?« Er warf das Brett in den Sand und griff unter meinen Arm, um mich zu stützen.
»Lass das!«, wehrte ich ihn ab. »Was soll das überhaupt? Willst du mich abschleppen oder was?«
Er hob die Hand, als hätte er sich verbrannt. »Gott bewahre«, murmelte er. »Alles bloß das nicht.«
Ich folgte ihm zur Villa, die derart beleuchtet war, als würde darin ein Staatsempfang stattfinden.
»Schon mal was von Energiesparen gehört?«, fragte ich und trat hinter ihm durch das gesicherte Tor, welches das weitläufige Grundstück vom Strand trennte.
Er ging wortlos ins Haus. Ich hörte das Rauschen des Meeres und Stimmen, die zu mir ins Freie wehten. Es waren Wortfetzen, sie klangen aufgebracht. Ich reckte meinen Hals, um etwas erkennen zu können, doch dann wurde es still. Ich blieb am Pool stehen, der ebenso blau schimmerte wie die Algen im Meer. Er wurde von Palmen umrahmt, die ihn wie eine Lagune wirken ließen, und ich fragte mich, wofür man einen riesigen Pool brauchte, wenn doch der Ozean direkt vor der Haustür lag. Trotzdem konnte ich nicht anders, als meine große Zehe durch das Wasser gleiten zu lassen. Es war kühl und ich wollte am liebsten hineinspringen.
»Willst du schon wieder untergehen?« Asher kam mit einem Handtuch und einem Verbandskasten zurück. »Setz dich.« Er deutete auf eine der Holzliegen, die den Pool flankierten. Offenbar hatte er sich umgezogen, denn anstatt seiner Badehose trug er nun ein weißes T-Shirt und Hawaii-Shorts.
»Hast du Nell angerufen?«
Er nickte. Zum ersten Mal stand ich ihm so nah gegenüber. Mir fiel auf, dass er einer der wenigen Jungen war, dem ich auf Augenhöhe begegnete. Alle anderen überragte ich um mindestens einen halben Kopf. Ich nahm das Handtuch entgegen, das er mir reichte, wickelte mich darin ein und ließ mich auf die Liege plumpsen. Dann beobachtete ich misstrauisch, wie er vor mir auf die Knie ging. »Ich bin nicht untergegangen«, erklärte ich. »Ich bin abgetaucht.«
»Und nicht wieder auf.« Er strich mir die Haare aus der Stirn, um sich meine Wunde anzusehen, und ich wich automatisch zurück. Asher verharrte in der Bewegung. Wir sahen uns an. Seine Augen waren so schwarz wie die Nacht um uns herum, und ich schätzte, dass sie es deshalb waren, damit man nicht in sein Inneres schauen konnte und der Illusion beraubt wurde, die er nach außen bot. Er war groß, durchtrainiert und die meiste Zeit charmant. Doch manchmal kippte seine Stimmung und ließ erahnen, dass da etwas Dunkles in ihm lauerte, das noch keiner von uns zu Gesicht bekommen hatte.
»Wie soll ich dich verarzten, wenn ich dich nicht anfassen darf?«
»Mein Freund bricht dir die Nase, wenn deine Hände tiefer wandern«, log ich. Ich hatte keinen Freund. Der letzte hatte sich von mir getrennt kurz nachdem meine Eltern ums Leben gekommen waren.
Asher verzog den Mund. »Ich habe einen Hamster«, sagte er.
»Häh?«
»Hm, ich dachte, wir reden gerade von uninteressanten Dingen.« Er bewegte seine Hand in meine Richtung. »Darf ich?«
Ich ließ es zu und presste die Zähne zusammen. Die Finne seines Surfbretts hatte mir einen ziemlichen Riss in der Kopfhaut zugefügt. Ich spürte, wie er ihn freilegte.
»Aua!«
»Heul nicht rum und sei froh, dass du noch atmest.« Er nahm ein Fläschchen Desinfektionsmittel aus dem Verbandskasten und tropfte etwas davon auf ein Wattepad, das er mir auf die Wunde drückte. Es brannte wie Hölle.
Als er die Hand wieder senkte, bemerkte ich einen goldenen Siegelring an seinem kleinen Finger. Das Siegel sah aus wie ein Familienwappen. Vier Diamant-Sterne flankierten einen mächtigen Vogel.
»Ist das ein Adler?«, fragte ich.
»Ein Kondor.«
»Noch nie gehört.«
Er sah mich ungläubig an. »Gibt es tatsächlich etwas, das Skypedia nicht weiß?«
Ich schnaubte und verkniff mir eine Antwort. Bereits bei unserem ersten Treffen lagen Asher und ich uns in den Haaren. Flint hatte ihn zu Beginn des Sommers mit an den Strand gebracht und wir waren alle verwundert gewesen zu erfahren, dass er im Taj Mahal wohnte. So nannten wir die Villa, weil sie sich so weiß und majestätisch über die Mission Bay erhob wie der indische Königspalast. Jahrelang war sie im Besitz eines älteren Millionärsehepaars aus San Diego gewesen, doch dann war sie verkauft worden. Seitdem rätselten wir, wer die neuen Eigentümer waren. Nell hatte darauf gewettet, dass es eine alternde Schauspielerin war, die sich nach ihren Schönheitsoperationen in der Villa verschanzte, bis sie wieder vorzeigbar war. Ich hatte auf einen Filmmogul gesetzt, der sich hier mit seinen Geliebten traf, und Flint und Cara waren der festen Überzeugung, dass die Villa einer einflussreichen Mafiafamilie gehörte, die San Diego unter ihre Kontrolle bringen wollte. Die Wahrheit hatte uns alle ein wenig ernüchtert. Asher war der Sohn eines New Yorker Brokers und verbrachte den Sommer allein hier. Das war nicht die glamouröse Geschichte, die wir uns erhofft hatten. Noch dazu war er ziemlich herablassend und keiner von uns verstand, warum er sich ausgerechnet mit Flint angefreundet hatte. Wir schienen alle weit unter seinem Niveau zu sein, aber offensichtlich trieb ihn die Einsamkeit in unsere Gesellschaft. Zumindest war das Nells Theorie.
Kaum dachte ich an sie, schon stand sie vor dem gesicherten Tor.
»Hey!«, rief sie und wedelte mit den Armen.
Asher ignorierte ihr Rufen und befestigte zwei Klammerpflaster oberhalb meiner Stirn. Ich bemühte mich, nicht zu jammern, und war froh, dass meine Freundin endlich da war. Mit Asher allein zu sein, verursachte mir ein unangenehmes Gefühl.
»Ich mache auf«, sagte ich, kaum dass er mich losließ, und sprang auf.
Ich öffnete die Tür und Nell umflatterte mich wie ein Schmetterling seine Lieblingsblume. »Was ist denn nur passiert?« Ihr Blick heftete sich auf meine Wunde. »Ach, du Scheiße! Soll ich dich zum Arzt bringen?«
»Halb so schlimm.« Ich winkte ab und schielte zu Asher. »Er hat mich mit der Finne erwischt.«
»Was?« Sie stemmte die Hände in die Hüften und sah ihn ebenfalls an.
Asher erhob sich und kam auf uns zu. Mir rutschte das Herz in die Hose. Was würde er Nell erzählen?
»Es war ein Unfall.« Er nickte mir zu. »War doch so, Skye?«
»Ja, ein dummer Unfall«, bestätigte ich.
»Ich hab dir gesagt, du sollst nicht schwimmen gehen!« Nell umarmte mich. »Es tut mir so leid! Ich will keine Geheimnisse mehr vor dir haben.«
»Alles okay.« Ich hielt sie fest und war froh über die Wirkung des Joints, der meine wahren Gefühle unter einem rosa Nebel begrub.
Asher beobachtete uns und drehte den Kopf weg, als ich ihn direkt ansah. »Soll ich euch heimfahren?«, fragte er.
Nell ließ mich los. »Sehr gerne. Flint und Cara bleiben vermutlich die halbe Nacht am Strand, aber ich denke, Skye sollte nach Hause.«
Ich mochte es nicht, wenn sie über mich redete, als sei ich gar nicht da, andererseits hatte ich auch keine Lust, noch länger hierzubleiben. Nell gab mir meine Klamotten, die ich im Sand liegengelassen hatte, und spazierte am Pool entlang.
»Es ist so cool hier!« Sie lugte ins beleuchtete Wohnzimmer. Bodenlange, weiße Vorhänge wehten in der Meeresbrise und enthüllten den Blick auf schimmerndes Palisanderparkett, cremefarbene Sofas und weißgekalkte Zierbalken. Die Kissen, Lampen und Teppiche waren in Sand-, Braun- und Grautönen gehalten und verliehen dem Haus ein maritimes Ambiente, das durch Dekoobjekte in Rot, Blau und Silber sowie riesige Leinwandgemälde mit Strandmotiven betont wurde. Vermutlich hatte ein Innenarchitekt damit ein halbes Vermögen verdient.
»Du wohnst hier tatsächlich völlig allein?« Nell schien es nicht glauben zu können. Obwohl Asher nun schon seit ganzen vier Wochen mit uns abhing, hatte er uns noch nie zu sich eingeladen oder hatte von seiner Familie erzählt.
»Können wir gehen?«, fragte ich gereizt. Es gefiel mir nicht, wie beeindruckt Nell von dem Anwesen war. Das führte nur dazu, dass sie Asher noch mehr anhimmelte.
»Amana begleitet mich.« Der Satz ließ mich aufhorchen, und auch Nell hielt inne.
»Amana?«, hakte sie misstrauisch nach.
»Sie ist eine Angestellte meines Vaters. Sie kocht und putzt für mich.«
»Sie kocht und putzt für dich?«, wiederholte ich ungläubig. »Macht sie dir auch den Popo sauber, wenn du auf dem Klo warst, und lässt dich nach dem Essen Bäuerchen machen?«
Sowohl Asher als auch Nell warfen mir einen giftigen Blick zu.
»Ich hole das Auto.« Er drehte sich um und verschwand.
»Du hast es wieder getan!« Nell schüttelte den Kopf. »Was stimmt nicht mit dir, Skye? Gönnst du mir keine Liebe, nur weil du ...« Sie verstummte. »Tut mir leid.«
»Du hast dich heute schon oft genug entschuldigt.« Ich starrte auf das blaue Wasser des Pools. »Am besten, ich spreche auch gleich eine Generalentschuldigung für jeden weiteren Satz gegen Ashhole aus.«
»Warum musst du immer so zynisch sein?«
»Ich bin nicht zynisch, sondern sarkastisch.«
»Wo ist da bitte der Unterschied?«
»Zynismus ist eine Haltung, die sich gegen unsere Normen richtet. Sarkasmus ist einfach nur Spott.«
Nell grinste. »Du bist vor allem besserwisserisch.«
Das hatte ich von meinem Vater. Ich schwieg.
»Seid ihr soweit?« Asher winkte uns zu sich heran, und Nell lief ihm freudig entgegen. In mir entstand das Bild eines Hundes, der sich schwanzwedelnd auf ihn stürzte, doch weil Nell mir etwas bedeutete, verkniff ich mir einen Kommentar und zog mir meine Klamotten an. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich eine Gestalt hinter den Vorhängen im Haus. Ich erstarrte. Es war eine Frau mit graumelierten Haaren. Sie sah mich so unbewegt an, dass ich blinzeln musste. Für einige Sekunden ruhte ihr Blick auf mir, dann zog sie sich lautlos zurück. Amana, vermutete ich, und beeilte mich, Asher und Nell zu folgen.
Kurz vor der Treppe, die neben der Terrasse ins Erdgeschoss führte, holte ich sie ein. Asher öffnete eine Tür und ließ uns eintreten. Es war die Garage. Oder sollte ich sagen: der Ausstellungsraum? Nell fiel der Unterkiefer runter und ich hob eine Augenbraue. Der Boden bestand aus schwarzem Marmor, über dem sich eine Konstruktion aus geschwärzten Stahlträgern wölbte. In die Wand eingelassene Lichtelemente zauberten eine indirekte Beleuchtung und setzten die Ansammlung der Fahrzeuge gekonnt in Szene. Die fünf Sportwagen, die hier standen, waren vom feinsten: Porsche, Ferrari, Lamborghini, Maserati, Bugatti. Alle auf Hochglanz poliert und derart platziert, als warteten sie auf ein Fotoshooting.
»Die gehören meinem Vater.« Unbeeindruckt passierte Asher die Autos und drückte einen Knopf an der Wand. Im hinteren Bereich der Garage öffnete sich eines der drei weißen Kassettentore. Ich hörte eine Sicherheitsverriegelung aufheulen. »Das ist meiner.«
»Oh.« Nells Begeisterung klang eher gedämpft. Ich lugte über ihre Schulter und lächelte, als ich den türkisfarbenen Oldtimer mit dem geöffneten Verdeck sah.
»Ein 66er Ford Thunderbird«, erklärte Asher und sprang auf den Fahrersitz. Dann rutschte er rüber und öffnete uns die Beifahrertür.
Nell klappte die Rückenlehne nach vorne und ich kletterte auf den Rücksitz. Es war das erste Mal, dass Asher mich überraschte. Um ihm den Triumph nicht zu gönnen, sagte ich nichts. Meine Fingerspitzen fuhren über das glatte, cremefarbene Leder. Der Wagen war komplett restauriert. Überall glänzte und blitzte das Chrom. Ich war beeindruckt.
Asher startete den Motor und wir rollten aus der Garage. Hinter uns schloss sich das Tor wieder. Wir passierten den Springbrunnen vor dem Haus und fuhren auf das nächste Tor zu. Es war aus massivem Eisen, öffnete sich zur Seite und gab den Weg zur Straße frei. Asher bog nach links ab und gab Gas. Der V8-Motor blubberte und ich legte den Kopf in den Nacken, um in den Nachthimmel emporzuschauen. Das war der Traum meines Vaters gewesen. Er wollte sich immer ein Oldtimer-Cabrio mieten und mit uns in die Wüste Arizonas fahren. Ich hatte ihn oft davon reden gehört, dass er dort sein Teleskop aufstellen und die Sterne beobachten wollte. Doch wir hatten den Urlaub so lange aufgeschoben, bis es zu spät war. Ich schluckte die Tränen hinunter und spürte den quälenden Hunger, der mich jedes Mal überkam, wenn ich Hasch rauchte.
Als ich mich wieder auf die Straße konzentrierte, stellte ich fest, dass Asher bereits auf der Friars Road in Richtung Valley fuhr. Ich konnte mich nicht erinnern, dass Nell ihm gesagt hatte, wo ich wohnte. Nells Familie lebte im Stadtteil Bay Park. Es wäre einfacher gewesen, sie zuerst abzusetzen.
Fasziniert beobachtete ich, wie Asher bei der Mobil Tankstelle von der Friars Road abfuhr, rechts abbog und den Thunderbird an der ersten Ampel links in den Mission Center Court steuerte. Nach einigen Metern hielt er am Straßenrand.
»Wir sind da«, sagte Nell überflüssigerweise und stand auf, um mich aussteigen zu lassen.
»Danke fürs Heimfahren«, rief ich laut, bevor ich mich zu Asher vorbeugte und leise hinzufügte: »Du scheinst ziemlich genau zu wissen, wo ich wohne.«
Ich kletterte hinaus, umarmte Nell und wartete, bis sie zurück auf den Beifahrersitz glitt. Dann hob ich die Hand. »Viel Spaß noch«, wünschte ich ihr und wäre an dem Satz beinahe erstickt. Der Thunderbird fuhr an und ich behielt die roten Rücklichter im Blick, bis sie hinter der nächsten Kurve verschwanden. Der Gedanke, was Asher und Nell nun gemeinsam anstellen würden, behagte mir nicht.
Asher mochte mir geholfen haben, aber ich konnte ihn trotzdem nicht leiden. Er war ein Mysterium. Keiner wusste, warum er allein hier war. Keiner wusste irgendetwas über ihn, außer das, was Nell im Internet entdeckt hatte. Asher Vincente Perez, Sohn eines New Yorker Multimillionärs, Eltern geschieden, Vater wieder verheiratet. Mit einem russischen Model, Jalina, wie wir herausfanden. Mit ihr hatte Ashers Vater drei weitere Kinder. Nell und ich hatten Jalina in den sozialen Medien aufgespürt und ihre Urlaube der letzten Jahre mitverfolgt. Fidschi, Jungferninseln, Hamptons, französische Riviera, spanische Balearen, Italien. Nell kam aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus. Jalina präsentierte am liebsten Selfies oder Bikinibilder von sich, manchmal sah man auch ihren Mann und ihre Kinder, doch Asher tauchte nie auf den Fotos auf. Er schien nicht zu existieren, hatte keinen eigenen Account. Zumindest fanden wir ihn nicht. Und dieses Phantom fuhr jetzt meine beste Freundin nach Hause. Ich atmete tief durch, überquerte die Straße und zog den Haustürschlüssel aus der Hosentasche. Im Flur brannte noch Licht. Ich warf den Schlüssel auf das Schuhkästchen und blickte prüfend in den Spiegel darüber. Meine Pupillen waren so geweitet wie die einer Katze auf der Jagd. Verdammt.
Tante May kam um die Ecke, eine Tasse heißer Schokolade in der Hand. Das war nichts Ungewöhnliches. May war eine Nachteule und ging selten vor zwei Uhr ins Bett.
»Möchtest du auch?«, fragte sie und ich nickte dankbar, ohne sie direkt anzusehen.
Seit dem Tod meiner Eltern lebte ich bei Tante May in ihrer überschaubaren Mietwohnung. Als ältere Schwester war sie meiner Mutter sehr nahegestanden, und obwohl in Mays Wohnung nicht viel Platz war, hatte sie nicht eine Sekunde gezögert, mich aufzunehmen. May verdiente ihr Geld als Künstlerin an der Bravo School of Art, wo sie Erwachsenen Malkurse gab. Sie war damit eine angenehmere Gesellschaft als mein Onkel Buzz, der Bruder von May und meiner Mutter. Er war gemeinsam mit meinen Großeltern zur Beerdigung und Testamentseröffnung erschienen, bevor sie alle in seinem alten GMC Royale wieder davongefahren waren. Onkel Buzz lebte ›on the road‹, wie er selbst sagte. Wenn er nicht unterwegs war, kampierte er bei meinen Großeltern in einer Hippie-Kommune am Mount Shasta in Nordkalifornien und bastelte dort Traumfänger. Das alternative Künstler-Gen hatte auf der Seite meiner Mutter voll durchgeschlagen. Sie selbst war Tänzerin gewesen. Zuerst im Ballett, später im Ausdruckstanz. Sie gab Kurse in Tanztherapie und Bewegungsmeditation. Wenn ihre tanzenden Irren, wie mein Vater sie liebevoll nannte, bei uns im Garten eingefallen waren, dann war es nicht selten vorgekommen, dass neu hinzugezogene Nachbarn die Polizei gerufen hatten. Sie glaubten, bei uns würde eine Sekte ihre gottlosen Rituale abhalten. Meine Mutter hatte nur darüber gelacht und ihre Schamanentrommeln das nächste Mal noch lauter geschlagen.
Mein Vater dagegen war anders gewesen. In seinen konservativen azurblauen Jacketts wirkte er wie ein großer, blauer Farbklecks inmitten des bunten Wahnsinns meiner Mutter. Er war Dozent der Philosophie an der Universität von San Diego. Ihm ging es darum, die essentiellen Fragen der Menschheit zu beantworten. Existierte Gott? Gab es eine Seele? Was war Identität? Was die Unendlichkeit? Niemand konnte ihm wirklich folgen, wenn er anfing, darüber nachzudenken. Doch wenn er redete und meine Mutter tanzte, dann war mein Leben in Ordnung. Man mochte uns für Freaks halten, aber wir waren eine Familie. Eine ganz wunderbare Familie.
Ich folgte May in die Küche und setzte mich an ihren mit winzigen Mosaiksteinchen besetzten Tisch. Stühle in unterschiedlicher Ausführung und diversen Farben umrahmten ihn. Statt Gardinen hingen bunte Batikschals vor den Fenstern und May rührte in ihre Sojamilch auch kein gekauftes Kakaopulver, sondern nur selbst geriebene Bitterschokolade aus dem Bioladen. Geschmacklich war ihr Essen meist nicht der Kracher, aber vermutlich würden wir dadurch mindestens hundert Jahre alt werden.
Sie reichte mir den dampfenden Becher. »Du hast Gras geraucht«, stellte sie unumwunden fest und setzte sich mir gegenüber. »Und du bist verletzt.«
Ihr weit fließendes Hauskleid war knallbunt und die ergrauten Locken fielen ihr ungezähmt über die Schultern. In Momenten wie diesen erinnerte sie mich schmerzlich an meine Mutter.
»Die Verletzung ist nicht schlimm. Und ja, ich habe Gras geraucht«, gab ich zu, ohne mich zu entschuldigen. Meine Großeltern mütterlicherseits waren Hippies und ich kannte die Ansichten meiner Verwandten zu dem Thema. Wenn man Onkel Buzz’ Camper betrat, war man geneigt zu glauben, das Marihuana wüchse bei ihm auf der Toilette. Zumindest roch es dort so.
»Celeste hätte das nicht gut gefunden«, sagte May und nippte an ihrer Tasse.
»Mum hätte es verstanden.«
»Sag mir nicht immer, dass sie alles verstanden hätte. Celeste hatte sehr genaue Vorstellungen, was deine Erziehung anging.«
»Wir hatten nur ein wenig Spaß am Strand. Die Algenblüte sieht mit einem Joint gleich viel hübscher aus«, versuchte ich zu scherzen.
May beugte sich vor und ergriff meine Hand. Ihre Finger legten sich um die meinen. »Tu das nicht, um deine Trauer zu unterdrücken. Sie muss raus, Skye, das weißt du.«
Ich wusste Bescheid. May lebte strikt nach den vier Phasen der Trauer. Die Schockphase hatten wir inzwischen überwunden. Es folgte die Phase des Gefühlschaos, in der wir weinten, schrien, uns verzweifelt zusammenrollten und wütend auf das Universum waren, das uns zwei Menschen genommen hatte. Momentan befanden wir uns in der Phase des Suchens und Sich-Trennens, in der wir Zwiegespräche mit den Verstorbenen führten. May erzählte mir ständig davon, was sie und Mum im Laufe des Tages alles besprochen hatten.
»Dad hat gesagt, es sei okay«, erwiderte ich, und Mays Händedruck verstärkte sich.
»Was hast du ihm noch erzählt?«, hakte sie nach.
»Dass deine Schokolade echt fies schmeckt.«
»Hör auf damit, Skye! Dein Sarkasmus kann dich nicht immer schützen. Er ist eine Rüstung, aber du musst dich stellen. Rede mit deinen Eltern! Sie wollen hören, was du ihnen zu sagen hast.«
Das waren die Momente, in denen ich Mum und Dad wirklich übelnahm, dass sie mich mit meiner verrückten Tante alleingelassen hatten. »Ich habe ihnen gesagt, dass ich mir um Nell Sorgen mache«, log ich. »Sie hängt nur noch mit diesem Jungen ab, Asher. Ich hab dir von ihm erzählt.«
May nickte mir aufmunternd zu. »Ich erinnere mich.«
»Ich weiß nicht, was da zwischen den beiden läuft, aber Nell geht plötzlich zum Studieren nach New York. Ich hoffe, das liegt nicht an ihm.«
»Und was hat Celeste geantwortet?«
»Ich ...« Ich hatte keine Ahnung. Meine Eltern sprachen nicht zu mir. Ich hätte es auch etwas merkwürdig gefunden, hätten sie es getan. Sie waren tot. Die Tatsache schmerzte mehr als alles andere, besonders weil ich unsere Gespräche wirklich vermisste. Meine Eltern waren nicht einfach nur Eltern gewesen, sondern Freunde. Sonderbare, herrliche, durchgeknallte Freunde wie es sie nur einmal auf der Welt gab.
»Du musst genau hinhören«, flüsterte May und schloss die Augen. »Sie sind hier. Spürst du es nicht?«
Ich trank die bittere Schokolade und fragte mich, ob es nicht vielleicht doch die Rinde eines halluzinogenen Baumes war, die Tante May da jeden Abend in ihre Sojamilch rieb.
»Ich spüre es«, murmelte ich, um sie nicht zu enttäuschen, auch wenn ich keinerlei Präsenz spürte. Im Gegensatz zum Meer in dieser Nacht ... Ich erschrak, als ich darüber nachdachte, was wohl geschehen wäre, hätte Asher mich nicht aus dem Wasser gezogen.
»Ich werde es ihr sagen.« May öffnete die Augen wieder.
»Was?« Argwöhnisch sah ich sie an.
»Deine Mutter ist dankbar, dass Asher da ist.«
Das war unheimlich. »Ist Dad das auch? Er mochte meine Freunde nämlich nie«, versuchte ich abzulenken, bevor mir einfiel, dass Asher alles andere als mein Freund war. Ich hoffte, May hatte das überhört.
Sie lächelte. »Dein Vater ist nicht so gesprächig, wie du weißt.«
»Stimmt.« Ich trank die Schokolade aus und ging zum Kühlschrank, um mir einen Mitternachtssnack zu machen. »Haben wir noch Räuchertofu?«, fragte ich.
Tante May stand auf, um mir zu helfen. Sie fischte eine Avocado und eine Tomate aus dem Gemüsefach und steckte zwei Scheiben Vollkornbrot in den Toaster. Dann holte sie sich eine Schüssel, kratzte das Fruchtfleisch aus der Avocado und vermengte es mit Zitronensaft, Salz und Pfeffer. Ich schnitt mir derweil etwas vom Räuchertofu herunter und machte Öl in der Pfanne heiß. Nachdem ich den Tofu gebraten hatte, bettete ich ihn zu der aufgeschnittenen Tomate und der Avocadomasse auf die Toastscheibe und legte die andere darüber. Fertig war mein veganes Sandwich.
»Lass es dir schmecken.« Tante May strich mir übers Haar. »Musst du morgen arbeiten?«
Ich biss in das Sandwich und nickte. »Du brauchst mir kein Frühstück zu machen, ich esse was im Park«, erwiderte ich mit vollem Mund. Den Sommer über jobbte ich an der Kasse des Nat, wie man das Natural History Museum im Balboa Park von San Diego nannte. Es war ein cooler Job. Die Arbeitszeiten von 10 bis 17 Uhr erlaubten einem lange auszuschlafen und anschließend an den Strand zu gehen. Außerdem gab es im dortigen Café die besten Spiegeleier mit Speck, die man sich vorstellen konnte. Veganes Essen war nicht meine bevorzugte Ernährungsweise. Doch an diesem Abend hätte ich sogar Tante Mays berühmtes Blumenkohl-Steak verdrückt.
Ich schlang das Sandwich hinunter und spülte mit einem Glas Wasser nach. »Gute Nacht.« Ich gab May einen Kuss auf die Wange und schlenderte ins Bad, um mir die Zähne zu putzen. Anschließend ging ich auf mein Zimmer. Kaum schloss ich die Tür hinter mir, schon spürte ich, wie mein Hals ganz eng wurde. Ich fiel aufs Bett und rang nach Luft. Ich mochte May und ich war ihr dankbar, dass sie mich bei sich wohnen ließ, aber es war nicht mein Zuhause. Ich vermisste unser Haus im Celeste Way, wo meine Mutter immer gescherzt hatte, dass man die Straße nur nach ihr benannt hatte. Ich sah das Grün des Parks vor mir, der sich hinter unserem Haus erstreckte, und sehnte mich nach dem Eukalyptusbaum in unserem Garten. Der Geruch seiner Blätter bedeutete für mich Heimat. Ich sah mich dort als Kind schaukeln und als Jugendliche in den Ästen herumklettern. In seine Rinde waren unsere Initialen geritzt. ACS. Alexander, Celeste, Skye. Würden die neuen Eigentümer überhaupt wissen, welche Menschen sich hinter den Buchstaben verbargen? Ich schluckte und blickte mich im vollgestellten Raum um. Zwischen Bügelbrett, abgedeckten Staffeleien und Schränken voller Farbtuben und Mischbrettern stand das Klappbett, das ich benutzte. Daneben stapelten sich die Umzugskartons mit meinen Sachen und denen meiner Eltern, die ich nicht übers Herz brachte zu verkaufen oder der Wohlfahrt zu spenden. Dads Teleskop war zwischen Bett und Fenster gequetscht und wartete darauf, dass man es mal wieder benutzte. Doch ich konnte es nicht. Daneben stand ein Topf mit vertrockneten Wüstenkakteen. Sie hatten Mum gehört und ich hatte in meiner Trauer der ersten Monate vergessen, sie zu gießen. Ich vermute, es war schwer, Kakteen umzubringen, aber ich hatte es geschafft. Trotzdem behielt ich sie. Sie waren wie ein Mahnmal für mich und zeigten mir die Vergänglichkeit auf. Selbst wenn man es sich nicht vorstellen konnte, war es möglich, dass sich das Leben von einem Moment auf den anderen vollkommen und für alle Zeit änderte. Ich hatte es noch nicht wirklich begriffen, doch mit jedem Tag verankerte sich die Erkenntnis tiefer in meinem Inneren. Meine Eltern waren für immer gegangen.
Traurig löschte ich das Licht, legte mich hin und starrte an die Decke. Dann begann ich zu weinen. Das tat ich jeden Abend. Seit sieben Monaten, zwei Wochen und vier Tagen.
»Skye!« Ich sah auf und erblickte Nell, die gemeinsam mit Asher an die Kasse drängte.
»Was gibt’s?« Ich sortierte Kleingeld und bemerkte, dass Flint und Cara ebenfalls dabei waren. »Hey!«
Die Vier bezogen Stellung vor meinem Fenster und Cara hauchte gegen das Glas und malte ein Herz in ihren kondensierten Atem. Sie trug eine schwarz-rot karierte Hose und ein giftgrünes Top. Ihre pastellrosa gefärbten Haare waren in einem perfekten Pixie-Cut gestylt. Der Pony fiel ihr frech über die blauen Augen.
»Wir dachten, wir stürmen heute mal die Rooftop Bar. Bist du dabei?«
Ich sah auf die Uhr. Es war Viertel vor fünf und meine Schicht war gleich zu Ende. Jeden Donnerstag und Freitag hatte das Nat bis 22 Uhr geöffnet und der Eintritt kostete ab 17 Uhr nur noch die Hälfte. Das war auch die Zeit, in der auf dem Dach die Rooftop Bar öffnete. Dort bekam man neben Drinks und Essen den besten Blick über den gesamten Balboa Park geboten.
»Ich bin dabei«, erwiderte ich, und Nell trommelte mit den Fingern auf die Theke.
»Kriegen wir schon Tickets?«
Ich blickte mich unauffällig um. Meine Chefin war nirgends zu sehen und ich erlaubte mir, die ermäßigten Tickets auszustellen. Asher schob mir seine Kreditkarte rüber und ich runzelte die Stirn.
»Bist du in Gönnerlaune, Ashhole?«
»Nell meinte, man müsse einmal auf dem Dach des Nat gewesen sein. Dort gibt es kühle Getränke und leckeres Essen.« Sein Mundwinkel hob sich, doch durch die verspiegelte Sonnenbrille konnte ich seine Augen nicht erkennen. »Und Skyepedia erzählt einem ungefragt alles über die Ausstellungen, die gerade laufen.«
Ich zog seine Karte durch das Lesegerät und forderte ihn auf, die Geheimnummer einzugeben.
»Viel Spaß«, sagte ich förmlich. »Seht euch die Insektenausstellung an, bevor ihr aufs Dach geht. Da könnt ihr ein paar von Ashers Verwandten sehen, die größten Kakerlaken des Planeten.«
Er nahm die Kreditkarte wieder an sich. Unsere Finger berührten sich dabei und ich zog sie eilig zurück.
»Danke für den Tipp«, antwortete er und zog gemeinsam mit Nell ab.
»Bis gleich, Skye!« Flint küsste Cara, schnappte sich die Tickets und zwinkerte mir zu.
Ich seufzte. Das fünfte Rad am Wagen zu sein, war schon immer mein Traum gewesen. Dieser Sommer war ein einziger Fluch. Dabei hatte ich die Sommerferien stets geliebt. Es war ein großes Glück, in einer Stadt wie San Diego aufzuwachsen, wo fast das gesamte Jahr hindurch Strandwetter herrschte. Doch seit Anfang Januar war mein Leben an seinem Tiefpunkt angekommen und es sah nicht so aus, als würde sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern. Vor allem nicht seit ich wusste, dass dies mein letzter Monat mit Nell war.
Ich bediente die nächsten Kunden und setzte mein freundliches Gesicht wieder auf. Der Job im Nat war Tante Mays Idee gewesen. Sie war der Meinung, ich müsste arbeiten und unter Menschen sein, um nicht ständig nachzudenken. Inzwischen sah ich ein, dass sie recht hatte. Nicht nur wegen der Ablenkung, sondern auch wegen des Geldes.
Dad hatte an der Universität nicht schlecht verdient, doch unser Haus war nicht abbezahlt und Mums Job war mehr oder weniger brotlos gewesen. Da meine Eltern kein Testament hinterlassen hatten, wurde ich Alleinerbin all ihrer Verpflichtungen. May war zunächst mein Vormund und wir entschieden gemeinsam, das Haus zu verkaufen, um die Schulden zu tilgen. Am Ende blieb nicht viel übrig. Seit zwei Monaten war ich 18 und brauchte keinen Vormund mehr. Doch meine Perspektiven waren so trostlos wie noch nie.
Der große Zeiger der Uhr, die schräg neben mir an der Wand hing, sprang auf 12. Schon ging die Tür auf und meine Kollegin trat ein. Wir lächelten uns an, tauschten den Platz und ich übergab ihr die Schlüssel zur Kasse.
»Viel Spaß«, wünschte ich ihr und verdrückte mich eilig. Beinahe sieben Stunden Sitzen war ich nicht gewohnt. Ich war immer ein aktiver Mensch gewesen. Mum brachte mir das Tanzen und Surfen bei, Dad alles über die Sterne. An den Sonntagen waren wir oft die Küste entlang gefahren. Nach Torrey Pines, Del Mar oder Solana Beach. Manchmal auch in den Border Field State Park an der Grenze zu Mexiko. Dort badeten wir, surften, machten Picknick und tanzten. Es war mir immer unangenehm, wenn meine Eltern am Strand vor allen Leuten ihre Version des Mambos zum Besten gaben, aber inzwischen erinnerte ich mich gerne daran. Dad war kein besonders begnadeter Tänzer gewesen. Viel zu steif in der Hüfte, hatte Mum gesagt. Doch was ihm an Talent fehlte, machte sie mit ihren eleganten Bewegungen wett. In ihrer Art zu tanzen erinnerten mich meine Eltern oft an den Äskulapstab – eine Schlange, die sich um einen steifen Stock wand. Dafür war Dad im Vorteil, wenn er nachts sein Teleskop am Strand aufbaute und uns in die Welt der Sterne mitnahm. Ich blinzelte die Tränen fort und verließ die Angestelltenräume.
Das Nat war voll an diesem Abend, doch es dauerte nicht lange, bis ich die anderen auf dem Dach aufstöberte.
»Na, Handshake mit den Kakerlaken gemacht?«, fragte ich und lehnte mich an die Brüstung der Dachterrasse.
»Die Dinger sind ja riesig!« Nell verzog angeekelt den Mund. »Da brauchten wir gleich ein Bier.«
Asher reichte mir einen Becher und ich pfiff verwundert durch die Zähne. »Wie habt ihr’s geschafft, ein Bier zu bekommen?«
»Ich bin über 21«, erklärte er.
»Das hätten wir eher wissen sollen, oder?« Flint stieß mit mir an und kippte das Bier runter.
Ich blickte mich unauffällig um. Die meisten Angestellten kannten mich. Wenn sie bemerkten, dass ich Alkohol trank, konnte mich das den Job kosten. Ich schüttelte den Kopf und gab Asher den Becher zurück.
»Was ist los?« Nell sah mich verständnislos an. »Lass uns unseren letzten gemeinsamen Sommer feiern, Skye!«
»Wenn ich gewusst hätte, dass ihr euch hier betrinken wollt, wäre ich nicht gekommen.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust.
»Sei nicht so eine Spielverderberin!« Sie hängte sich an Ashers Arm und zog einen Schmollmund.
»Ich brauche diesen Job«, erinnerte ich sie.
»Es sieht dich doch keiner.« Nell klimperte mit den Wimpern.
»Lass sie.« Asher drückte Flint meinen Becher in die Hand. »Es gibt genug andere, die sich darüber freuen.«
Flint heulte wie ein Wolf und Cara stieß ihn in die Seite. »Hör schon auf, Blödmann, es muss ja nicht jeder wissen, dass wir’s krachen lassen.«
Ich schüttelte den Kopf und drehte mich um. Unter uns erstreckte sich der Balboa Park in seiner ganzen Pracht. Ich lauschte dem Schreien der Flamingos im benachbarten Zoo und heftete meinen Blick auf ein paar bunte Luftballons, die direkt vor mir aufstiegen. Ein Kind musste sie aus Versehen losgelassen haben. In meinem Rücken hörte ich meine Freunde miteinander lachen und scherzen.
»Kommst du wenigstens mit in den Escape Room?« Nach einiger Zeit gesellte sich Nell zu mir.
Manchmal wusste ich nicht, ob sie wirklich derart gedankenlos war oder sich nur vor Asher so benahm. »Ich kenne die Rätsel des Escape Room«, stellte ich klar. »Hab vor zwei Wochen da mal jemanden vertreten. Erinnerst du dich nicht?«
»Ach ja.« Nell zwirbelte eine Haarsträhne um ihren Finger. »Aber ihr seid dabei, oder?« Sie drehte sich um und ich blickte über meine Schulter.
»Logisch!« Flint und Cara gaben ihr das Victoryzeichen.
»Hast du reserviert?«, wollte ich wissen.
Nell schüttelte den Kopf. »Das hat Asher übernommen.« Sie strahlte ihn an. »Wir sind gleich dran.«
Noch mehr Geheimnisse. Allmählich kam ich mir verschaukelt vor. Erst ließen die Vier es so aussehen, als seien sie ganz zufällig hier aufgetaucht und dann stellte sich raus, dass sie eine Reservierung für den Escape Room hatten.
»Wartest du hier auf uns?« Nell warf mir im Fortgehen eine Kusshand zu. »Wir sind in einer Stunde zurück.«
Klar, ich warte hier wie ein Hund, den man vor einem Geschäft angebunden hat, schoss es mir durch Kopf. Ich grinste säuerlich und starrte wieder auf den Park. Meine Enttäuschung wuchs. Und mit ihr schlich die Trauer heran. Das hatte mir jetzt gerade noch gefehlt! Ich schluckte hart und versuchte, den Tränen Herr zu werden. Es gab gute Tage und schlechte Tage. Dieser hier zählte eindeutig zu den schlechten.
»Hier, nimm!« Ein Becher schob sich in meinen verschleierten Blick. Ich blinzelte hektisch.
»Warum bist du nicht im Escape Room mit den anderen?«, fragte ich heiser und trank eilig, damit Asher nicht merkte, in welcher Verfassung ich war. Zu meinem Erstaunen hatte er mir eine Limonade gekauft.
»Platzangst.« Er stützte die Ellbogen auf dem Geländer ab.
Ich glaubte ihm kein Wort. »Du reservierst das Ganze und kneifst dann?«
»Ich wusste nicht, dass es da drin so eng ist.«
»Wer kann’s dir verübeln? Wenn man im Taj Mahal lebt, kommen einem normale Räume sicher sehr klein vor.«
»Es stört dich, dass ich dort wohne, nicht wahr?« Ich spürte, dass er mich ansah, und blickte stur geradeaus.
»Es stört mich kein bisschen. Ich frage mich nur, was ein reicher Schnösel wie du von Leuten wie uns will.«
»Vielleicht mag ich euch einfach.«
Ich lachte auf. »Du kennst uns gar nicht. Ebenso wenig wie wir dich kennen.«
»Was willst du denn von mir wissen?«
Ich drehte mich zur Seite und war mir sicher, dass er mir hinter seiner verspiegelten Brille einen herausfordernden Blick zuwarf.
»Warum bist du allein hier?