Meine Wut rettet mich - Marlis Prinzing - E-Book

Meine Wut rettet mich E-Book

Marlis Prinzing

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Beschreibung

Was bedeutet Christsein heute? Was heißt Katholisch-Sein? Evangelisch-Sein? Inwiefern bietet der Glaube Orientierung, wie kann er Rückgrat sein in einer Zeit der Veränderungen, Ungewissheiten, Zerreißproben ?

Die Gesprächspartner/innen beziehen Position zu drängenden Fragen des Glaubens und der Gegenwart. Sie werden als Menschen sichtbar, die überraschende Wege einschlugen, die entschieden handeln, an deren Überzeugungen wir uns reiben können.

- Schwester Lea Ackermann: Ordensschwester, Vertrauensfrau, Auswegsucherin

- Kirsten Fehrs: Bischöfin, Brückenbauerin, Seelsorgerin

- Bruder Paulus Terwitte: Kapuziner, Männerfischer, Medienmeister

- Notker Wolf: Lehrmeister, Weltreisender, Oberster Benediktiner

- Friedrich Schorlemmer: Pfarrer, Prediger, Kämpfer

- Arnd Brummer: Chrismon-Chef, Konvertit, schreibender Protestant
Prominente der Kirchen: So glauben sie wirklich
Porträts und Interviews gewähren überraschende Einblicke
Konsequente Lebensentwürfe fordern heraus
Spannungsfelder, Brüche und Zweifel inbegriffen

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Seitenzahl: 430

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Marlis Prinzing

MEINE WUTRETTET MICH

Glaubensbekenntnisse prominenter Christen

Kösel

Copyright © 2012 Marlis Prinzing

Copyright © 2012 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlag: Monika Neuser, München

Fotos Umschlag: v.l.n.r. picture-alliance/dpa – KNA-Bild – Sven Paustian – picture-alliance/Sven Simon – picture alliance/dpa (2)

Autorinnenfoto: © privat

Fotos Innenteil: : Isa Steinhäuser, Simmern: Abb. 1, Abb. 2 – Cassian Jakobs, St. Ottilien: Abb. 1, Abb. 2 – Karin Berneburg, Frankfurt a.M.: Abb. 1, Abb. 2 – Lena Uphoff, Frankfurt a.M.: Abb. 1, Abb. 2 – Cornelia Kirsch, Lutherstadt Wittenberg: Abb. 1, Abb. 2 – Margret Witzke, Lübeck: Abb. 1, Abb. 2

ISBN 978-3-641-07283-4

Weitere Informationen zu diesem Buch und unserem gesamten lieferbaren Programm finden Sie unter

www.koesel.de

Einleitung

Die Tragödie des Menschen besteht nicht darin, dass er im Grunde immer weniger über den Sinn des eigenen Lebens weiß, sondern dass ihn das immer weniger beunruhigt. a

Václav Havel (1936–2011), tschechischer Schriftsteller und Politiker

Kirchenfrust und Glaubensdurst – Beginn einer Spurensuche

Am Nachmittag des zweiten Weihnachtstags 2010 fuhr ich aus dem weihnachtlich-beschaulichen Rom hinauf auf den Aventin, einen der sieben Hügel der Stadt. Wintersonne beschien den roten Stein des Klosters Sant’ Anselmo. Der berühmte Blick durch das Schlüsselloch des benachbarten Anwesens der Malteser schafft die direkte Sichtverbindung zum Petersdom. In Sant’Anselmo, dem Hauptsitz der Benediktiner der Welt, erwartete mich Abtprimas Notker Wolf. Ich war gespannt. In den vorausgegangenen Wochen und Monaten hatte ich recherchiert und Material gesammelt über die Mühe der christlichen Kirchen, sich in der Gegenwart zu verorten, aber auch über den anhaltenden Durst der Menschen nach Sinn und Orientierung und über ihre Sehnsucht, an etwas zu glauben. So brach ich auf zur Suche nach Antworten auf Fragen nach dem christlichen Glauben und seinen Gesichtern. Ich wollte hören, beobachten, nachhaken: Was bedeutet Christsein heute? Was heißt Katholisch-Sein? Was Evangelisch-Sein? Inwiefern bietet der Glaube Orientierung in der Gegenwart, wie kann er Rückgrat sein in einer Zeit der Veränderungen, Ungewissheiten, Zerreißproben?

In den vergangenen zwanzig Jahren verloren die beiden großen christlichen Volkskirchen in Deutschland rund acht Millionen Mitglieder. In Ostdeutschland bewirkten vor allem die Kommunisten, dass rund drei Viertel der Bevölkerung heute keiner Konfession angehören. Insgesamt sind in Deutschland im Jahr 2010 über 60 Prozent der deutschen Bevölkerung Mitglieder der evangelischen oder der katholischen Kirche, die katholische Kirche hat rund ein Zehntelprozent mehr Mitglieder als die evangelische. Je nach Umfrage hält allerdings gerade mal bloß jeder Fünfte seine eigene Institution für glaubwürdig, Katholiken in der Tendenz jeweils noch weniger als Protestanten. Die beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland büßen seit Jahrhunderten ständig an Bedeutung ein. Heute finden 39 Prozent der deutschen Bevölkerung sogar, der Einfluss der Kirche auf Politik und Gesellschaft sollte noch geringer sein, als dies gegenwärtig der Fall ist, darunter sind mehr Ostdeutsche als Westdeutsche; nur jeder Zehnte wünscht sich die Kirche einflussreicher.1

Die Institution Kirche in der Systemkrise: Zwischen Auslaufmodell und Aufbruch

Ein häufig genannter Kritikpunkt aus innerkirchlicher Perspektive sowie aus der Außensicht ist die Kirchenfinanzierung.2 Deutschland sei kein Kirchenstaat und eine Staatskirche im Grundgesetz nicht vorgesehen, argumentiert der Schweizer Journalist und Berlin-Korrespondent Ulrich Schmid. Es gebe keinen Grund, Kirchen oder andere religiöse oder weltanschauliche Gemeinschaften nach wie vor als Körperschaften öffentlichen Rechts zu privilegieren und sie aus Steuergeldern zu unterstützen. Der Staat könnte die sozialen Aufgaben, die die Kirche bislang übernimmt, genauso erfüllen. »Die Missbrauchsfälle wären ein guter Anlass, diesem Anachronismus ein Ende zu bereiten.«3 Auch in manchen Kreisen innerhalb der christlichen Volkskirchen stößt die Kirchensteuer auf Kritik. Sie erwecke leicht den Eindruck, die Kirche sei eine staatliche Einrichtung. Der staatliche Steuereinzug verfestige alte Kirchenstrukturen und eine wuchernde Bürokratie, er entmündige Gemeinden und die Subventionierung lähme innerkirchliche Aktivierungspotenziale.4 Gegenwärtig erhalten die christlichen Kirchen Mittel vor allem aus drei Töpfen: Steuer, Dotationen, Zuschüsse. Je nach Bundesland beträgt die Kirchensteuer acht oder neun Prozent der Lohnsteuer, im Jahr 2010 waren dies insgesamt 9,2 Milliarden Euro. Der Großteil des Geldes deckt laufende Kosten, nur ein geringer Teil fließt in soziale, karitative und Bildungs-Projekte. Die Kirchensteuer ist abzugsfähig, was einer Steuersubvention an Kirchenmitglieder gleichkommt. Die Bundesländer, Hamburg und Bremen ausgenommen, überweisen ferner sogenannte Dotationen, übrigens auch die neuen Länder, die nach der Wiedervereinigung zügig entsprechende Verträge schlossen – Gesamtsumme 2010: rund 470 Millionen Euro. Historisch begründet werden diese Zahlungen mit der Enteignung von Kirchengütern seit der Reformationszeit. Wohl der größte Fördertopf ist der für Zuschüsse vielfältiger Art: für Spitäler, Hochschulen, Schulen, Wallfahrten, aber auch für die Reisen der beiden zur Militärseelsorge berufenen Militärbischöfe sowie für Großereignisse wie beispielsweise den Ökumenischen Kirchentag. In der Phase der Wiedervereinigung zögerten vor allem ostdeutsche Kirchen, die westliche Subventionierungskultur anzunehmen. Zu ihnen gehörte der Pfarrer und Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer. Ihre finanzielle Unabhängigkeit vom Staat hatte die evangelischen Christen in der DDR letztlich erst so wichtig werden lassen für die Bürgerrechtler, ähnlich wie dies die Katholiken für die Solidarno´sc´ in Polen geworden waren. Trotz aller Zuwendungen steckt die Kirche in finanziellen Schwierigkeiten, und zwar aus vielerlei Gründen. Dazu gehören die teuer zu unterhaltenden Gebäude ebenso wie die hohe Zahl der Kirchenaustritte.

Das Vertrauen in die Institution sinkt, nicht aber die prinzipielle Nachfrage nach den Inhalten. Immer mehr Menschen fühlen sich in einer Art moralischen Klemme und sind auf Sinnsuche. Sie spüren, dass sie im Materiellen nicht ihr ganzes Glück finden, und suchen weiter: in der Esoterik, in der Psychologie, bei Sekten. Etliche werden dort zumindest vorübergehend fündig, manche bleiben Suchende, andere finden wieder zurück zum traditionellen christlichen Glauben, wie ihn die Volkskirchen vertreten.

»An einen Gott« glauben fast 60 Prozent der Deutschen, mehr Frauen als Männer, und Westdeutsche häufiger als Ostdeutsche. Der Bezug zur politischen Orientierung ist deutlich: 78 Prozent der CDU/CSU-Wähler erklären, sie glauben an Gott, bei den FDP-Wählern sind es 69, bei den Grünen 58, bei der SPD 52 Prozent. Schlusslicht bildet die Linke (38). Übereinstimmend eindeutig ist das Bild, fragt man nach der Bedeutung christlicher Werte wie Nächstenliebe oder Barmherzigkeit: Neunzig Prozent halten diese Werte für wichtig oder für sehr wichtig.5

Es besteht kein Zweifel: Glauben ist weiterhin gefragt. Allerdings will man ihn zunehmend auf individuelle Bedürfnisse zugeschnitten, portioniert und serviceorientiert – der Glauben soll sich ans Leben anpassen, nicht das Leben an das, woran man glaubt. Viele unterschätzen auch, welche Antworten auf Fragen ihres Alltags sie im christlichen Glauben finden könnten. Denn das herauszufinden, erfordert eine gewisse Anstrengung. Man muss hinterfragen wollen: Wie abhängig machen uns Wohlstandsdrill, Boni oder ein zur Untätigkeit »verdammender« Sozialstaat? Woran richte ich mein Wertegerüst aus? Wie unterscheide ich, was man macht und was man besser unterlässt?

Medial sorgen Kirchen weiterhin für hohe Aufmerksamkeit, entweder über Personen wie Papst Benedikt XVI., dessen Deutschland-Besuch im September 2011 zum Medienevent wurde, oder wie die Ex-Bischöfin und ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands, Margot Käßmann, die seit ihrer Alkoholfahrt im Februar 2010 wohl öfter in Talkshows sitzt denn je. Die Empörung über die Fälle sexualisierter Gewalt im kirchlichen Raum, deren Vertuschen und Verschweigen kann man unter anderem auch als ein Indiz dafür sehen, dass es der Öffentlichkeit nicht egal ist, was in der Kirche passiert, sondern es offenbar besonders bestürzt, wenn ausgerechnet die Kirche Heimat solcher Täter war (und ist).

Zweifellos gilt auch: Christen erleben gegenwärtig eine Krise. Man muss dabei unbedingt trennen zwischen Glaubenskrise und Kirchenkrise. Die nachlassende Bindung vieler Menschen an Gottesgläubigkeit und Gottvertrauen ist ein überkonfessionelles Phänomen. Sie erklärt eben nicht die gegenwärtige institutionelle Krise vor allem der katholischen Kirche. Wer das annimmt, stößt in das alte Horn: Die Moderne ist schuld an allem; in der heutigen Welt mit ihren Vorstellungen von Selbstbestimmung, Gleichheit und Gerechtigkeit liegen alle Schwierigkeiten der Kirche begründet, sie selbst hat sich demnach also nicht zu ändern. Vor diesem Hintergrund mahnt die katholische Theologin Judith Könemann, die an der Universität Münster forscht, die Kleriker, endlich ihren Gläubigen zu vertrauen und ihnen Verantwortung zuzutrauen. Geschehe das nicht bald, schrumpfe die Kirche weiter und mit ihr auch ein großes Potenzial an sozialem Engagement für Arme und Schwächere. Als im Ruhrbistum kurz vor Weihnachten 2011 katholische Gläubige gegen ihren Bischof rebellierten, weil er eine große Zahl Kirchen entwidmen wollte, setzten sie genau an diesem Punkt ihre Kritik an: Mit den Kirchen würden auch Einrichtungen verschwinden, die das soziale Miteinander im Stadtteil strukturieren – Kindergärten, Treffpunkte für Junge und Alte, Müttertreffs, Suppenküchen. Die Gläubigen in Duisburg gingen auf die Barrikaden, läuteten aus Protest die Kirchenglocken, verabredeten sich über Facebook, sammelten Tausende von Unterschriften, verkauften auf Weihnachtsmärkten T-Shirts, die zur Kirchenrettung aufriefen, und zogen an einem Adventswochenende mit Schlafsäcken in die Sankt-Barbara-Kirche ein, eine der von den Schließungsplänen betroffenen Kirchen.

Die hier geplanten Kirchenschließungen sind nicht die ersten, weder im Ruhrgebiet noch anderswo in Deutschland; bundesweit werden Zahlen zwischen 700 und 2000 Kirchen genannt. Die Bischöfe wollten damit dem Priestermangel entgegentreten, der letztlich durch das Festhalten am Zölibat eklatant wurde. Kirchenaustritte und damit auch Geldfragen sind weitere Gründe. Auch die evangelischen Landeskirchen schließen Gotteshäuser.

Die Kirche als Institution steckt tief in einer Systemkrise. Das gilt für beide Volkskirchen in Deutschland, aber eben in besonderem Maße für die katholische Kirche. Ihre Reformbedürftigkeit erkannte bereits das Zweite Vatikanum, das vor nun 50 Jahren seine Türen öffnete und in den Jahren 1962 bis 1965 Pläne entwickelte, wie sich die Kirche »verheutigen« ließe. Doch die dort erarbeiteten Reformvorschläge versandeten überwiegend.

»Koma-Patient« mit »Kuschel-Gott«

Pallotinerpater und Professor Fritz Köster, sozusagen der geistliche Partner von Schwester Dr. Lea Ackermann, überschrieb 1989 seinen Buch-Appell »Der Mut zu einer ganz anderen« mit »Kirche im Koma?«.6 Die Kirche stehe sich vor allem selbst im Weg. Es gebe so viele, die gerne Christen sein wollten, aber an der Institution leiden. Er formulierte sechs Thesen für eine am Glauben orientierte, Einheit stiftende, sich im Alltag bewährende Kirche. »Was die Welt von heute und morgen braucht, sind nicht die unfehlbaren Moralprediger und die rechthaberischen Orthodoxen, sondern die Lebensbegleiter, die Diener der Einheit in der Verschiedenheit, die Ermöglicher der Gaben und Charismen Gottes im dauernden Suchen und Schaffen der Einheit und Brüderlichkeit (Geschwisterlichkeit) unter all denen, die sich ein Ge-Wissen bewahrt haben und menschliche Person-Würde für sich wie für andere erkämpfen.« Anders gesagt: Man wüsste längst, was zu tun wäre. Doch die, die an den entscheidenden Hebeln sitzen, wollen beharren. Ihre Absage an die Moderne brachte Arnd Brummer dazu, von der katholischen zur evangelischen Kirche zu wechseln. Den Ausschlag, so erzählt er, gab eine Rede von Joseph Ratzinger, noch als Kardinal, im Kölner Dom. Lea Ackermann begegnete der römischen Reaktion, indem sie ihren Nonnenschleier ablegte. Sie sieht dies als Protest gegen die Kleriker, die Frauen in ihrer Kirche nicht mitbestimmen lassen wollen, nicht aber als Auflehnung gegen ihren Glauben, den sie unbeirrbar pflegt in Form eines geerdeten, direkt Gott verbundenen Christentums.

Das Jahr 2011 war ein Jahr, in dem in der deutschen katholischen Kirche Aufbruchsbegehren offenkundig wurden, wie schon lange nicht mehr. Im Januar baten prominente katholische Politiker wie Bundestagspräsident Norbert Lammert, Bundesbildungsministerin Annette Schavan und die ehemaligen Ministerpräsidenten Dieter Althaus, Erwin Teufel und Bernhard Vogel in einem Brief die Bischöfe, sogenannte »bewährte Männer« (viri probati), also besonders ausgezeichnete Laien, zum Priesteramt zuzulassen.7 311 Professorinnen und Professoren der katholischen Theologie, zumeist aus dem deutschsprachigen Raum, veröffentlichten im Februar ein Memorandum8 für den Aufbruch. Darin forderten sie unter anderem die Kirche auf, auch Laien und Frauen Mitbestimmungsrechte einzuräumen. Frauen sollten Priesterinnen werden können und Priester verheiratet sein dürfen. Um Rechte geltend zu machen, sollte eine kirchliche Verwaltungsgerichtsbarkeit aufgebaut werden. Die katholische Bischofskonferenz ließ sich im März 2011 zumindest auf einen Dialogprozess ein: Man will sich innerhalb von vier Jahren nun mehrmals mit einer Gruppe aus Vertretern katholischer Verbände, Professoren und Laien treffen, um über die Zukunft der Kirche zu reden. Ein in den Medien verbreitetes Gerücht, die Abspaltung des reformorientierten Flügels der Katholiken in Deutschland stehe bevor und dazu gebe es im Vatikan ein inoffizielles Dossier, ließ sich nicht bestätigen. Der ehemalige Kurienkardinal Walter Kasper erläuterte, ein Schisma sei höchst unwahrscheinlich. Jeder, der das betreibe, wisse, dass er in einer Splitterkirche kaum noch Wirkungsmacht hätte. Kasper bestritt nicht, dass sich dringend etwas verändern müsse. Im Gegenteil: Er legte in einem Buch, dessen erste Auflage in wenigen Tagen ausverkauft war, seinen Vorschlag dar für eine dialogische, synodal strukturierte Kirche, die in manchem anknüpft an das Zweite Vatikanum.9

»Ist die Kirche noch zu retten?«, überschrieb der Schweizer Theologe Hans Küng seine Analyse10, die er mit dem Satz einleitete: »Lieber hätte ich dieses Buch nicht geschrieben.« Er fühle sich nicht wohl, schon wieder in der Rolle des Papstkritikers und Kirchenreformers zu stecken, sehe sich aber verpflichtet, weil nun alle Welt die Kirchenleitungskrise, auf die er seit Jahren aufmerksam mache, sehen könne. Er bediente sich eines medizinischen Wortschatzes und sieht die Kirche noch nicht, wie Fritz Köster, als Koma-Patienten, aber im Krankenbett: »Sie leidet unter dem römischen Herrschaftssystem, das sich im Lauf des zweiten Jahrtausends gegen alle Widerstände etabliert« habe. Als Symptome zählte Küng auf: Monopolansprüche auf Macht und Wahrheit, Klerikalismus, die Sexual- und Frauenfeindschaft sowie eine »geistliche-ungeistliche Gewaltanwendung«. Küng, der gemeinsam mit dem jetzigen Papst als jüngster offizieller Berater am Zweiten Vatikanischen Konzil teilgenommen hatte, wiederholte seine Vision von Kirche: gegenwartsorientiert, beide Geschlechter gleichwertig sehend, ökumenisch offen, universal tolerant, voller »Respekt vor der immer größeren Wahrheit«, bereit, von anderen Religionen zu lernen. So sieht für ihn eine gesunde, vitale Kirche aus, und diese würde von Christen wie von Nichtchristen akzeptiert und von Millionen Menschen erwartet.

Auch die evangelische Kirche hat Geldprobleme, auch hier müssen Kirchen entwidmet werden. Die kirchliche Landkarte wird aus Kostengründen strukturell in größere Einheiten zusammengefasst, beispielsweise in der nordelbischen Kirche, wo 2012 und 2013 die letzten Schritte im Umstrukturierungsprozess hin zu einer gemeinsamen Nordkirche erfolgen sollen. Ein Prozess, an dem Kirsten Fehrs bereits als Hauptpastorin in Hamburg mitwirkte und den sie nun als Bischöfin des Sprengels Hamburg und Lübeck weiter mitgestalten will. Ein Prozess zudem, der auch mit Enttäuschungen verbunden ist. Die Hansestadt Lübeck war stolz auf ihre jahrhundertelange Bischofstradition. Ursprünglich sollte Lübeck auch wegen seiner geografischen Lage das Zentrum der neuen Nordkirche werden. Nach Protesten in Kiel und Schwerin machte man diese Pläne rückgängig und beließ das Kirchenamt in Kiel; Sitz des voraussichtlich 2013 zu wählenden Landesbischofs der Nordkirche soll Schwerin sein. Lübeck wurde als Bischofssitz aufgegeben, und zwar zeitlich vorgezogen, weil die Amtsinhaberin Bärbel Wartenberg-Potter bereits 2008 in den Ruhestand ging, um, wie sie erklärte, Nachfolgern den Weg zur Neugestaltung frei zu machen.

Nicht nur die katholische, auch die evangelische Kirche hat Mühe, deutlich zu machen, weshalb unsere Gesellschaft sie heute noch braucht. Zwar sind durch die Reformation manche Hürden genommen, die der katholischen Kirche noch bevorstehen. Aber die Kritik wächst ebenfalls: Die Kirche wirke teils trocken, teils wie weichgespült und biedere sich vielen Moden an. Der evangelische Theologe Friedrich Wilhelm Graf plädierte in seiner ebenfalls 2011 erschienenen Schrift »Kirchendämmerung«11 für eine neue Volkskirche und attestierte den beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland sieben Kardinaluntugenden: Sprachlosigkeit, Bildungsferne, Moralismus, Demokratievergessenheit, Selbstherrlichkeit, Zukunftsverweigerung und Sozialpaternalismus. Graf richtete seine Kritik speziell an seine eigene Kirche. Graf geißelte Esoterik, liturgische Nächte, moralinsaure Dauerappelle und Gefühlsduselei. Die protestantische Kirche entwickle sich zu einer »Mutti-Kirche« rund um einen »Kuschel-Gott«. Ein Hauptgrund dafür sei der stark gewachsene Frauenanteil unter den Theologen und Pfarrern. Die Frauen, behauptet Graf, seien verantwortlich für »das Umstellen auf einen Psychojargon, in dem es permanent um das »Fühl dich wohl« geht und in dem elementare Spannungen und Widersprüche des Lebens kaum noch eine Rolle spielen«12.

Evelyn Finger, Kulturredakteurin der Zeit, widerspricht.13 Problem der evangelischen Kirchen seien nicht die Frauen, sondern all jene Personen, die entweder verstockt auftreten oder den Eindruck erwecken, man sei mehr ums Image besorgt als um die Inhalte. Die evangelische Kirche, so Fingers Diagnose, immunisiere sich oft gegen die großen Fragen, um ja nicht altmodisch zu klingen.

Auch innerhalb des Protestantismus bestehen Bedürfnisse und Initiativen14, sich zu modernisieren, aber große Unterschiede über die Vorstellungen von der Zukunft. Bärbel Wartenberg-Potter, die letzte Bischöfin von Lübeck, zugleich in Deutschland die dritte in diesem Amt, machte nicht nur als Architektin der Fusion zur Nordkirche Schlagzeilen, die Lob, aber auch Kritik verhießen. Die in der feministischen Theologie verwurzelte Intellektuelle eckte vor allem durch ihren Einsatz für die Initiative »Bibel in gerechter Sprache« an. Ein Team aus Übersetzerinnen und Übersetzern legte 2006 nach jahrelanger Arbeit eine Version der Bibel vor, in der Gott übersetzt wird mit »ErSie«, »die Lebendige« oder »die Ewige«, in der Jüngerinnen und Apostelinnen auftauchen, Jesus als »geliebtes Kind« und der Heilige Geist als »heilige Geistkraft« bezeichnet wird, was so zumindest im Original nicht zu lesen ist. Kirchlich-konservative Christen in Nordelbien forderten den Rücktritt der Bischöfin. Deren Vorwürfe reichten bis hin zur Häresie und zum Verrat am Evangelium. Angriffe kamen auch aus anderer Ecke. Elisabeth Moltmann-Wendel, und damit eine der bekanntesten Vertreterinnen der feministischen Theologie, unterstellte, diese Übersetzung sei teilweise das Werk der Töchter von Nazi-Tätern, die die jüdische Seite von Jesus überbetonten, um die dunklen Seiten ihrer Familiengeschichte auszubügeln.15 Die Interpretationen und Vorstellungen, wo und wie sich die evangelische Kirche verorten soll, könnten kaum weiter auseinandergehen.

Der Norden Deutschlands hätte fast in noch anderer Weise Kirchengeschichte geschrieben. Durch die Pensionierungen von Wartenberg-Potter in Lübeck und von ihrem Kollegen Hans Christian Knuth in Schleswig umfasste der neue Schleswiger Sprengel ab Oktober 2008 mehr als eine Million Protestanten. Für die Bischofswahl im Juli 2008 standen zwei Kandidaten bereit: Der damals 51-jährige Propst Horst Gorski, der offen zu seiner homosexuellen Orientierung steht, und der 57-jährige Gerhard Ulrich. Für manchen Protestanten war Gorskis Kandidatur schlicht ein Verrat am Glauben. Wer homosexuell sei, solle keusch leben. Weltweit gab es bislang keinen bekennenden schwulen protestantischen Bischof. Sowohl Gegenkandidat Ulrich als auch Synodenpräsident Hans-Peter Strenge verteidigten Gorskis Kandidatur im Namen der Toleranz. Kritiker wiesen auf weitere mögliche Konflikte hin: ein noch gespannteres Verhältnis zu den Katholiken, eine Spaltung im lutherischen Weltbund, wo bereits als schier unerträglich galt, dass die beiden Bischöfinnen Wartenberg-Potter und Käßmann geschieden waren. Die Kirchenparlamentarier wählten nicht den intellektuellen Stadtmenschen Gorski, sondern den als bedächtig geltenden Seelsorger Ulrich; er erlangte 77 von 136 Stimmen, sein Gegenkandidat 56. Ulrich hängte im November 2011 dann Kirsten Fehrs das Bischofskreuz um.

Verglichen mit der katholischen Kirche spielt im Protestantismus die Individualität eine weit größere Rolle. Dies ist auch im Priestertum aller Gläubigen begründet. Das kann durchaus heißen, dass der eine eher intellektuell, der andere eher emotional orientiert auftritt. Und das ist nicht zwingend eine Frage des Geschlechts.

Man findet große Vielfalt und viele Sonderwege. Christian Wolff, Pfarrer an der Leipziger Thomaskirche und einer von jenen, die Friedrich Schorlemmer zu den Hoffnungsträgern für seine Kirche zählt, segnet beispielsweise homosexuelle Paare, obwohl es darüber unter den Protestanten keine Einigkeit gibt. Er wirbt nicht dafür, er mache es, wie er sagt, einfach, weil er von diesen Menschen darum gebeten werde.

Aufgaben für Christenmenschen heute … –

Es gibt viele Aufgaben, zu deren Bewältigung die Kirche beitragen könnte. In eigener Sache ebenso wie in globaler. Die eigene Sache meint nicht nur die eigene Konfession und allenfalls noch die Ökumene. Die Kirche müsste beispielsweise protestieren, wenn irgendwo auf dieser Welt Christen verfolgt werden, ob vom Staat oder von religiösen Eiferern. Der Irak ist ein Beispiel: Dort reduzierte sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 bis 2010 die Zahl der Christen durch massive Verfolgung auf weniger als die Hälfte. Bislang hält sich in solchen Fällen die Solidarität sehr in Grenzen, trotz des Arguments, dass dort Menschen verfolgt werden, die von einem ähnlichen Weltbild geprägt sind.

Die Kirche könnte zu vielen Themen im Land und in der Welt Zweifel anmelden, zur Reflexion mahnen und Einhalt gebieten. Und sie muss die ethischen Erwartungen formulieren, die sie an eine Gesellschaft stellt. Wer aus Angst vor leeren Kirchenbänken nur noch auf Anpassung oder Unterhaltung schielt, hat nichts begriffen. Die Kirchen, besonders ihre führenden Kräfte, müssen sich selbst vergewissern. Sie müssen wissen, was sie wollen und wofür sie in der Gegenwart stehen. Die Wege können vielfältig sein, sie können auch Brüche haben und es werden Hindernisse zu nehmen sein.

Das alles wollen die in diesem Buch nebeneinandergestellten Lebenswege und Glaubensstandpunkte deutlich machen. Sie sollen eine im Christentum verhaftete Wertigkeit und Sinnhaftigkeit nahebringen.

Sechs Persönlichkeiten, ihre Glaubensstandpunkte und Lebenswege

Zu Wort kommen der Benediktiner Dr. Notker Wolf, der Kapuziner Paulus Terwitte, die Missionsschwester des Ordens »Unserer Lieben Frau von Afrika« Dr. Lea Ackermann, der evangelische Publizist und Konvertit zum Protestantismus Arnd Brummer, der evangelische Theologe und Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer, die nordelbische Bischöfin Kirsten Fehrs. Sie alle sind Menschen, die ihren Glauben vielfältig zur Alltagspraxis machen: Christen, die ihre Haltung stärkten, indem sie neue Wege gingen und indem sie auf ihrem Weg unbeirrbar vorangehen. Ihre Positionen, ihre Handlungen und Meinungen sind verbunden mit dem Bild, das in mir über sie entstand. Die Portäts ergänzen für den Lesenden die in den Gesprächen entwickelten Positionen der Person. Denn ihr Handeln ist stets durch ihre Persönlichkeit geprägt. Die Weg leitenden Bilder, die in den Porträts entwickelt werden, sind verschieden wie die Charaktere. Gemeinsam ist allen, dass sie streitbare Geister sind oder zumindest streiterprobte, und zutiefst überzeugt, dass die Kirche sich aktiv einmischen muss. Gemeinsam ist ihnen auch, dass sie für sich selbst unendlich viel aus ihrem Christsein schöpfen, und gemeinsam ist ihnen schließlich, dass sie klar reflektieren und tolerant sind. Sie erzwingen nichts, sie bieten einfach jedem an, der sich öffnen möchte, dem zu folgen, dem sie folgen: Christus.

Lea, Notker, Paulus – alle drei spürten früh ihre Berufung, alle drei erzählen von diesem Brennen, dem Entflammen für Jesus, von ihrer Überzeugung, Lebensfülle nur in einem Gott gewidmeten Leben zu erfahren, und von ihrem Bedürfnis, den Glauben zu leben, indem sie anderen Menschen helfen. Alle drei sind in Familien aufgewachsen, in denen katholische Rituale und Lebenshaltungen großgeschrieben wurden. Alle schildern, dass sie eine gelassene, eine fröhliche Frömmigkeit erlebten, keinen strafenden Gott. Dennoch: Der Weg ins Kloster war keinem von ihnen durch das Elternhaus vorgezeichnet.

Im Gegenteil. Bernd Terwitte sollte Gemüsehändler werden, wollte aber das Abitur machen. Gegen den Willen des Vaters. Und wurde zum Paulus. Lea Ackermann wäre gerne Lehrerin geworden, doch ihrem Vater waren Akademiker suspekt, und so landete sie in einer Banklehre, trat bald danach ihrem Orden bei, wurde Leontia und dann wieder Lea. Werner Wolf, der sich als Benediktiner den Namen Notker wünschte, wollte ebenfalls Lehrer werden, vor allem aber Missionar. Beides wurde ihm lange nicht erfüllt, sein Orden hatte anderes für ihn ausersehen. Heute sagt er, durch diesen Gehorsam sei ihm ein Leben eröffnet worden, das er sich niemals hätte erträumen können, ein Reichtum an Erfahrungen und Erlebtem, der unvorstellbar gewesen wäre, wenn er sich damals durchgesetzt hätte. Und letztlich wurde er, was er einst wollte, Lehrer und Missionar, aber in ganz andersartigen Dimensionen.

Lea Ackermann wusste als 12-Jährige, dass sie Nonne werden wollte, schlechte Erfahrungen mit »Pseudo-Christen«, wie sie sie nannte, bestärkten sie: Sie wollte das Christentum wirklich leben. Ihre Offenbarung an ihrem zwölften Geburtstag erzeugte bei ihrem Vater einen Wutanfall. Sie schwieg, verlor aber ihr Ziel nicht aus den Augen, schob es nur etwas hinaus – elf Jahre noch, bis sie dann, 23-jährig, die Eltern vor vollendete Tatsachen stellte. Für Werner Wolf wurde zum Schlüsselerlebnis, dass er irgendwann im Winter 1954/55 auf dem Dachboden in der Juli-Ausgabe der »Missionsblätter« die Geschichte des Südseemissionars Pierre Chanel las, den Papst Pius XII. gerade heiliggesprochen hatte. Missionar sein – das wollte er auch. Werner Wolf war felsenfest überzeugt: Als Missionar hatte sein Leben einen Sinn. Nach den Osterferien 1955, mit fast 15 Jahren, zog er, dem Rat des Pfarrers folgend, nach Sankt Ottilien zu den Benediktinern um – unter Tränen, aber voller Überzeugung. Bernd Terwitte erlebte mit 17 Jahren bei einer Jugendfreizeit eine Gotteserfahrung, die ihm zeigte, dass für ihn Jesus in seinem Herzen den ersten Platz einnahm, und zog kurz nach dem Abitur in ein Kapuzinerkloster.

Lea schloss sich einem Missionsorden an, weil sie hinaus in die Welt wollte, am liebsten nach Afrika, und weil sie nicht die Kontemplation suchte, sondern die tätige Nächstenliebe. Ähnlich wie Paulus. Auch er wollte mitten im Leben und mitten in der Welt wirken. Für beide ist der eigene Glaube der Motor zu helfen. Hilfe ist für sie an keine Bedingung gebunden und schon gar nicht an die Religionszugehörigkeit.

Lea nennt den heiligen Franziskus ihren »Lieblingsheiligen« und beschreibt ihn als »Umstürzler mit Charme. Ein Revolutionär der Sprach-, Macht- und Mittellosen, obwohl reich von Geburt. Er wechselte die Seiten. Er machte es sich freiwillig schwer«16. Solwodi, ihre Hilfsorganisation unter anderem für Zwangsprostituierte, sei für sie auch »ein Versuch, diesen Seitenwechsel des Franziskus selbst aktuell nachzuvollziehen«. Auf Franziskus geht im Ursprung auch der Kapuzinerorden zurück, dem sich Paulus angeschlossen hat; die Kapuziner legen die Lehren des Franziskus aber konsequenter aus als die Franziskaner.

Auch die drei anderen Gesprächspartner wurden von Kind auf ans Christentum herangeführt: Kirsten Fehrs durch ihre Großmutter, Friedrich Schorlemmer durch seinen Vater, einen Pfarrer. Und Arnd Brummer galt als so fromm, dass man in ihm schon als Junge einen katholischen Priester sah. Alle fanden ihre Berufung im Christentum. Brummer betont, er habe nicht den Glauben gewechselt, sondern die Kirche, indem er zum Protestantismus konvertierte. Er kritisiert, dass viele katholische Würdenträger die Moderne verweigern, eine eigene Meinung sei nicht gefragt, stattdessen gebe es Vorschriften, die er nicht einsehe. Das habe er nie ertragen. Weder in der Kirche noch in der Schule noch im Beruf.

Reformator Martin Luther ist für Brummer, Fehrs und Schorlemmer eine zentrale Persönlichkeit, aber auch eine ambivalente. Friedrich Schorlemmer wurde 1978 als Pfarrer an dessen Wirkungsstätte Wittenberg berufen und kam zunächst mit großer Skepsis. Er fühlte sich aber schon vom Studium an zumindest den Ansichten des jungen Luthers nahe. »Die Zeit zu schweigen ist vergangen und die Zeit zu reden ist gekommen«, eine Kernaussage aus Luthers Schrift von 1520 »An den christlichen Adel deutscher Nation«, stellte Schorlemmer 1988 über die 20 Thesen zur Umgestaltung der DDR. Und am 4. November 1989 rief er einer Million Bürger auf dem Alexanderplatz in Berlin den Luther-Satz zu: »Lasset die Geister aufeinanderprallen, aber die Fäuste haltet still.« Der Satz steht für Schorlemmers Appelle, bei den Demonstrationen keine Gewalt anzuwenden, und er spiegelt seine Überzeugung von der Machbarkeit des Friedens. Arnd Brummer zitiert dieses Luther-Wort ebenfalls – als Argument für die Streitbarkeit. Kirsten Fehrs stellt einen anderen Luther-Satz in den Mittelpunkt, weil er für sie die Lebensfreude betont: »An Christus glauben ist die Kunst, dass wir aus dem Haus in die Sonne springen!« Das sei ein solch ermutigendes Glaubenswort, weil es gerade auch moderne Menschen animiere, aus Gedankengebäuden zu springen, die man sich baue, obwohl eigentlich klar sei, dass kein Mensch die wirkliche Existenz je erklären kann.

Politik spielt in der Vita von Brummer, vor allem aber in der von Friedrich Schorlemmer eine besondere Rolle. Den Bürgerrechtler und Friedensaktivist Schorlemmer macht bis heute kaum etwas so wütend wie politische Gleichgültigkeit. Er verlangt von jedem Bürger, gerade in einer Demokratie, sich einzumischen, jeder müsse sich für ein zivilgesellschaftliches Projekt engagieren. Bischöfin Kirsten Fehrs ist in politischer Umgebung, in einem Bürgermeisterhaushalt, aufgewachsen. Sie sieht Kirche nicht nur als Zufluchtsort, sondern auch als gesellschaftliche Stimme jener, die sich so nicht selbst äußern können. Kirche müsse aktiv werden, wo die Würde des Menschen angetastet sei. Das könne bedeuten, diakonisch und seelsorgerisch aktiv zu werden, aber eben auch politisch.

Alle sechs befassen sich mit vergleichbaren Fragen, haben aber verschiedene Zugänge. Zum Beispiel zum Machtbegriff. Kirsten Fehrs ist als Bischöfin eine exponierte Führungsperson, Notker Wolf als Abtprimas. Für sie ist Macht positiv besetzt, für ihn negativ. Der Abtprimas spricht lieber von Autorität. Wer eine Funktion übernimmt, erhalte damit oft spezielle Autorität. Er habe aber auch nie Autorität angestrebt, sondern sei einfach bereit, Verantwortung zu übernehmen, weil bestimmte Aufgaben eben gemacht werden müssen. Macht auszuüben widerspräche seinem Glaubensbild: »Mein Auftrag ist zu dienen.« Für die Bischöfin bedeutet Macht zu haben, dass ihr Funktionen und Aufgaben übertragen sind sowie eine Kraft geschenkt ist, die ihr ermöglicht, diese Aufgaben zu erfüllen und etwas gestalten zu können.

Alle sechs sprechen klare Worte, keine verquasten Sätze. Sie sind weltzugewandt und nutzen die Medien bewusst, um breiten Öffentlichkeiten ihre Positionen nahezubringen. Notker Wolf ist nach Kilometern mit Abstand der am weitesten und häufigsten Reisende. Er ist fast unentwegt unterwegs in beinahe allen Ländern der Welt. Lea Ackermann hat vor allen Dingen Afrika im Blick und seit Längerem zunehmend auch osteuropäische Länder. Paulus Terwitte war viel auf Achse in Deutschland und Österreich. Kirsten Fehrs ist die Frau des Nordens, Friedrich Schorlemmer der Mann für Mitteldeutschland. Arnd Brummer stammt aus dem Süden Deutschlands, arbeitete lange in Hamburg, fühlt sich aber ganz besonders Italien verbunden.

Alle sechs erzählen aus behüteten Kindheiten. Sie flohen nicht vor dem Leben, auch die drei unter ihnen nicht, die den Weg ins Kloster einschlugen. Und alle pflegen die Kultur: Tanzmusik verführt Lea, auch mal einen Vortrag einfach liegen zu lassen, rockige Klänge locken Notker an die Querflöte; er ist sicher der einzige Abtprimas, der eine eigene Band hat und mit »Deep Purple« auf der Bühne rockte. Kirsten Fehrs mag Jazz und Bach und singt auch gerne selbst. Arnd Brummer und Friedrich Schorlemmer tauchen mit Lust in Büchermeere ein, Paulus würde dem Predigernachwuchs am liebsten Opern, Theater- und Ausstellungsbesuche sowie die Lektüre von Gedichten und Romanen verordnen, wie sich selbst.

Schließlich: Alle bieten vielfältige Argumente und Ideen, wie sich die beiden Volkskirchen, insbesondere in Deutschland, vitalisieren lassen und erneuern könnten. Sie überschreiten Grenzen, bauen Brücken, wecken Widerspruch – und packen zu, und dies in erster Linie für den Glauben. Mit den Worten von Paulus Terwitte: »Ich werbe für den Glauben, nicht für die Kirche.«

Ich danke ganz herzlich meinen sechs Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern, dass sie sich eingelassen haben auf diese Auseinandersetzung mit sich, mit ihrem Glauben und mit mir.

Und ich danke meiner Agentin Suzanne de Roche von der Liepman Literary Agency Zürich sowie Claudia Lueg und Nicole Hackenberger vom Kösel-Verlag und ganz besonders meinem Mann, Roger Blum.

Köln, im Januar 2012

Isa Steinhäuser, Simmern

Lea Ackermann – »Meine Wut rettet mich«

PORTRÄT

Die Ordensschwester, die nicht wegschaut

»Um Gottes willen, Lea«, seufzte die Mutter, als ihre Tochter am 30. Mai 1960 mitteilte, sie habe soeben, zehn Minuten vor Feierabend, ihren Job als Bankkauffrau gekündigt und trete in den Orden »Unserer lieben Frau« ein. »Ich wollte das Evangelium leben, etwas von der Welt sehen und unterrichten«, erzählt Schwester Lea Ackermann, »zur Bank bin ich nur auf Vaters Rat.« Er war Bauunternehmer im Saarland, seine Frau half ihm bei der Buchhaltung. Sie erzogen ihre Tochter sehr religiös, ließen ihr aber auch viele Freiheiten und waren mächtig stolz, weil sie als Bankerin so gut war, dass sie sogar beim Aufbau einer Filiale in Paris helfen durfte. Und nun das. Die Mutter weinte, der Vater tröstete sich, sie würde schon nicht durchhalten.

Ihr war anfangs in ihrer Ordensausbildung manchmal wirklich zum Davonlaufen. Sie empfand die Atmosphäre als kalt und unpersönlich, wurde nur »Schwester« gerufen, ohne Namen. Zwischen Klostermauern eingesperrt zu sein, war ihr fast unerträglich. Sie kniete, wie ihre Mitschwestern, stundenlang in der Kapelle und betete, doch eher pflichtschuldig. Mit der meditativen Form des Betens, der sich manche Nonne mit Begeisterung hingibt, freundete sie sich nie an, sondern pflegt das Gebet als Zwiesprache mit Gott, in der sie ihn um Beistand für ihre Arbeit bittet. Sie hielt durch, beharrte – und glaubt, das sei ihr zum Teil in die Wiege gelegt worden: vom Vater die Sturheit und von der Mutter die Frömmigkeit.

»Ich hatte in meinem Leben unheimlich viel Glück und tausend Chancen«, sagt Lea Ackermann. Die schlanke Ordensfrau trägt das leicht graue Haar kurz, spricht mit ruhiger Stimme, lacht gerne, doch nicht zu oft. Sie wirkt ausgeglichen, präsent – und kein bisschen heilig. Sie bereute den Weg nie, in den sie damals einbog, sondern fand ihre Berufung. Und sie erhielt höchste Anerkennung für ihre Schul- und Bildungsarbeit in Ruanda und für ihre Organisation »Solwodi« (Solidarity with Women in Distress – Solidarität mit Frauen in Not), die seit 1985 gegen Sextourismus, Heirats- und Menschenhandel aktiv ist. 2005 wurde sie als eine der deutschen Vertreterinnen in die Bewegung »1000 Frauen für den Friedensnobelpreis« berufen. Diese zeigte, wo und wie Frauen weltweit vorangehen – hin zu mehr Frieden und Menschlichkeit. Solche Initiativen helfen zu bewegen: »Unsere Welt ist noch immer viel zu patriarchalisch«, behauptet Schwester Lea. Für die Kirchenwelt gelte das ganz besonders.

Solwodi finanziert sich zu einem großen Teil aus Spenden sowie durch die Lea-Ackermann-Stiftung, die eine Mäzenin 1999 ins Leben rief. Entscheidend, um Gelder und Gewicht zu bekommen, ist der Grad der Öffentlichkeit. »War ich gerade im Fernsehen zu sehen und sitze anderntags auf einer Behörde, hat dort mein Anliegen größere Chancen.« Weitere Aufmerksamkeit erwirkt sie durch Vorträge, Artikel und Bücher.17 Auch Preise wirken unterstützend. Lea Ackermann wurde unter anderem 1998 zur »Frau Europas« ernannt, 2008 mit dem Romano-Guardini-Preis und der Ehrendoktorwürde der Theologischen Fakultät der Universität Luzern ausgezeichnet. Der Nobelpreis wäre der einzige gewesen, der bedeutsam dotiert ist. »Wir Frauen werden meist auch ehrenamtlich geehrt«, merkt sie an.

»Die endgültige Entscheidung fürs Kloster fiel nach einer durchtanzten Nacht bei einem Betriebsausflug der Bank nach Trier. Ich wusste längst, ich wollte kein Leben mit Papieren führen, sondern in die Entwicklungshilfe. Und mich reizte das Abenteuer«, erzählt sie. Adressen von Klöstern und Missionsgemeinschaften hatte sie sich längst beschafft. Vom Orden »Unserer lieben Frau« hatte sie eine Einladung für den Sonntag nach dem Ausflug. »Das Ordenshaus war auch in Trier. Welch ein Zufall, dachte ich.« Sie stöckelte, noch im Tanzkleid, an die Klosterpforte, um bei der Schwester Oberin vorzusprechen. Die »Missionsschwestern Unserer lieben Frau von Afrika« (Sœurs Missionnaires de Notre-Dame d’Afrique, SMNDA) nennt man wegen ihres Ordenskleids auch die Weißen Schwestern. Der katholische Missionsorden wurde 1869 von Kardinal Charles Lavigerie in Algerien gegründet und versteht sich ausschließlich als missionarisch im Dienste der Evangelisierung Afrikas. Der Generalrat sitzt in Rom, ein deutsches Schwesternhaus besteht in Köln-Delbrück, in Trier sitzt die Regionalleitung. Die heute rund tausend Schwestern leben meist in Wohngemeinschaften und arbeiten in 16 Ländern Afrikas; gut die Hälfte der jüngeren sind Afrikanerinnen. Bei einem solchen Orden konnte sie sicher sein, dass sie im Ausland arbeiten würde, Afrika war ihr großes Ziel. »In Deutschland wirkten die Menschen auf mich viel zu satt.« Das Gespräch mit der Oberin lief gut. Diese Tür stand nun für sie offen. Der Orden nahm nur zweimal im Jahr Novizinnen auf. Durch die Kündigungsfrist bei der Bank drängte die Entscheidung. Die damals 23-Jährige spürte, dass nun die Zeit reif war für eine Veränderung, und handelte: »Ich wollte darüber mit niemandem diskutieren.«

Von der Profess-Feier 1962 an hieß sie »Leontia«. Den Namen nahm sie in Kauf, den Schleier hingegen trug sie begeistert. Sie zitiert Gertrud von Le Fort, eine Konvertitin: »Der Schleier ist das Symbol des Metaphysischen auf Erden. Er ist aber auch das Symbol des Weiblichen – alle großen Formen des Frauenlebens zeigen die Gestalt der Frau verhüllt.« Als das Zweite Vatikanische Konzil 1965 zu Ende ging, war beides nicht mehr nötig: Ordensleute durften ihren Taufnamen wieder annehmen und sie wurden nicht mehr zum Habit gezwungen. Lea Ackermanns Ordensgemeinschaft gehörte zu den ersten, die ihren Mitgliedern die Entscheidung freistellte. Sie nahm zunächst nur ihren alten Namen wieder an. Den Schleier legte sie erst ab, als Johannes Paul II. Papst geworden war – aus Protest: Als er den Schleier pries, deutete sie dies als Zeichen, dass ihm das Zweite Vatikanum zu fortschrittlich war, und war erbost.

Sieben Jahre dauerte die Vorbereitung im Kloster; sechs Mal legte sie jeweils für ein Jahr das Gelübde ab, danach die ewige Profess. »Das Keuschheitsgelübde war für mich kein Problem, ich war ja nicht verliebt. Die Entscheidung für das Klosterleben bewahrte mich vor dem Ruf, eine alte Jungfer zu sein.« Ein Riesenproblem für sie war allerdings, dass sie 1963, nach ihrem einjährigen Theologiestudium bei den Dominikanern in Toulouse, nicht mit ihren Mitschwestern an ihr Traumziel, nach Afrika, durfte. Die Oberin in Trier hatte vergessen, sie auf die Liste zu setzen. »Eine göttliche Fügung«, sagt Schwester Lea heute. Denn die Oberin bot ihr an, sie dürfe dafür in München bei den Armen Schulschwestern Lehramt studieren. Lea hatte damit ihren Traumberuf, sie war die Sorge los, in Afrika vielleicht einfach als Sekretärin oder als Küchenhilfe bei einem Bischof arbeiten zu müssen – und sie konnte sich an Pfingsten 1964 am Sterbebett ihres Vaters von ihm verabschieden.

1967 schickte der Missionsorden sie nach Ruanda. Sie las, was es auf Deutsch und Französisch über das Land zu lesen gab, und bestand darauf, in Kigali als Vorbereitung auf ihre Arbeit die Landessprache zu lernen, Kinyarwanda. Ruanda galt wegen der Spannungen zwischen Hutu und Tutsi als Krisengebiet. Lea schreckte dies nicht. »Ich wollte Exotik, anderen helfen, sie unterrichten und ihnen Jesus nahebringen durch gelebte Nächstenliebe.«

Sie landete in Nyanza, einem Marktflecken im Landesinneren mit Krankenhaus, Post und vier Schulen. Ruanda war großteils christianisiert und formal eine demokratische Republik. Doch die Bevölkerung handelte oft noch nach dem Feudal-Kodex, die Strukturen aus der Kolonialzeit bestanden weitgehend noch. Die einstigen Eroberer hatten den Afrikanern einfach ihr Schulsystem übergestülpt: Die Kinder sagten die Flüsse und Städte Belgiens auf, lasen »Unsere Vorfahren, die Gallier«, erfuhren aber nichts, was ihnen nutzte. Die Bildungsunterschiede waren immens, der größte Teil der Bevölkerung war nahezu ohne einen Bildungszugang, nur jeder Zehnte konnte damals lesen und schreiben.

Das erste Jahr nutzte Schwester Lea, um selbst zu lernen, wie das Schulsystem funktionierte. Dann reformierte sie es. Zu Hilfe kam ihr dabei, dass sie rasch an entscheidenden Hebeln saß. Sie übernahm die Leitung der Schule als Urlaubsvertretung und bald darauf dann im Hauptamt, denn die bisherige Direktorin erkrankte während ihres Heimaturlaubs und kam nicht zurück. Lea verdoppelte die Ausbildungszeit der Nachwuchslehrer auf vier Jahre und brachte den Lebensalltag in die Schule: Jedes Mädchen musste in der Klinik einer Geburt beiwohnen, um ungefähr zu wissen, worauf es ankam. »Es war ja üblich, dass viele Mädchen ihrer Mutter bei der Entbindung eines Geschwisterkindes halfen.« Schwester Lea lehrte ihre Schülerinnen ernährungsbewusstes Kochen – aber auf einer Feuerstelle mit drei Steinen. »So war es doch bei vielen zu Hause. Was half es ihnen, wenn sie einen Kochofen bedienen konnten?« Schwester Lea erneuerte und sie beharrte trotz mancher Widerstände: Sie unterrichtete und schulte das Lehrpersonal für die 200 Schülerinnen des Internats, das in der Trägerschaft ihres Ordens war. Und wo nur möglich, widersetzte sie sich der traditionellen Frauenfeindlichkeit der ruandischen Gesellschaft, in der Männer eine intelligente Frau als Provokation empfanden. Sie beharrte – für sich selbst, aber auch als eine Art Anwältin ihrer Schülerinnen.

Weil sie Ruanda auch in seiner Widersprüchlichkeit sehr gut kennt, wollte man von ihr oft wissen, wie sie sich denn erkläre, dass es 1994 zu einem Genozid kommen konnte. Geschätzt mindestens eine halbe Million Menschen wurde damals ermordet. Innerhalb von vier Monaten, zwischen April und Juli, töteten Hutu 75 Prozent der Tutsi-Bevölkerung. Die Ordensfrau schüttelt den Kopf. Einzig mögliche Erklärung sei, dass alle Menschen anfällig sind für Hass. Hinzu komme: Schwelende Konflikte seien stets ein Pulverfass und genau das traf für dieses Land schon seit Jahrzehnten zu. 1962 waren die ehedem zu »Ruanda-Urundi« zwangsvereinigten Regionen Ruanda und Burundi wieder in zwei Staaten getrennt worden. In Ruanda regierte die Hutu-Mehrheit, in Burundi die Tutsi-Minderheit. Eine Hutu-Rebellion in Burundi im Frühjahr 1972 diente dem Tutsi-Regime als Vorwand, um Tausende Hutu verschwinden zu lassen oder zu ermorden. Der Konflikt blieb. Er eskalierte 22 Jahre später in Ruanda zum Genozid.

Im Krisenjahr 1972 setzte sich Lea, nach fünf Jahren im Land, in ein Flugzeug nach Deutschland. Eigentlich wollte sie nur Urlaub machen und sie wollte Schulbücher kaufen. Weil sich die Chance bot zu einem Aufbaustudium, blieb sie. Und als sie erfuhr, dass eine Promotion in ähnlicher Zeit zu bewältigen war, stand ihr Ziel fest sowie das Thema der Doktorarbeit, die sie 1977 an der Universität in München einreichte: »Erziehung und Bildung in Ruanda. Probleme und Möglichkeiten eines eigenständigen Weges«. Sie musste dazu nur ihre reichen Erfahrungen auswerten und profitierte selbst, indem sie Raum fand für die wissenschaftliche Reflexion ihres Tuns. Die frisch promovierte Pädagogin vertiefte durch weitere Theologiekurse in Toulouse ihr Wissen, arbeitete danach als Bildungsreferentin für das internationale katholische Missionswerk Missio und unterrichtete an der Universität Eichstätt.

Dreizehn Jahre nach der ungeplanten Rückkehr aus Ruanda, 1985, schickte ihr Orden sie wieder nach Afrika, nun nach Kenia. In Mombasa sollte sie helfen, Lehrpersonal für den Religionsunterricht auszubilden.

Ehe sie dort vorsprach, besuchte sie die Weltfrauenkonferenz in Nairobi. Die Leitidee des Kongresses – Frauen gehört die Hälfte des Himmels und die Hälfte der Erde – sprach ihr aus der Seele. Genau so sah sie das auch: Die Kirche muss endlich ihre Ämter auch Frauen öffnen. Das Tagungsthema »Gewalt gegen Frauen« gab den letzten Anstoß für ein Vorhaben, mit dem sie seit Längerem schwanger ging. Sie wollte unbedingt den Opfern des Sextourismus helfen. »Ich ahnte durch meine Reisen nach Thailand und auf die Philippinen, was ablief.« Und nicht nur dort, sondern auch in Afrika, wohin sie ihr Orden entsendet hatte. »Ich konnte nicht einfach wegschauen. Das konnte ich nie. Ich war ins Kloster gegangen, um mich um ausgegrenzte Kinder Gottes zu kümmern«, erläutert sie und man spürt in ihrer Stimme deutlich ihre Empörung über das Milieu des Sexgewerbes. »Beim Menschenhandel verlieren immer die Kinder und die Frauen, Prostituierte ganz besonders; bei den Konzernen landet der Profit.«

Wieder bot sich eine Chance: »Die Schwestern in Kenia sagten, sie brauchten mich nicht unbedingt für die Lehrerausbildung. Und die Provinzialoberin traute mir zu, mein Projekt auf den Weg zu bringen.« Das Okay war aber auch schon die ganze Unterstützung. Es gab kein Geld, nicht einmal eine Schreibmaschine, nur eine baufällige Lagerhalle. »Einem Mann hätte man bestimmt einen Etat gegeben. Bei Frauen geht man davon aus, dass sie das auch so hinkriegen«, vermutet Schwester Lea. Sie lieferte den Beweis. In der Not, aus der Not helfen zu wollen, tat sie, was sie nie zuvor gemacht hatte: Sie schrieb 100 Briefe an Bekannte und erbat Spenden für Solwodi. Mit Erfolg. Sie wandte sich vor allem an ihre saarländische Heimatgemeinde Klarenthal. Von dort kam öfter Hilfe, aber bis dahin keine sozusagen erbettelte. Als ihre Mutter 1968 gemeinsam mit dem Pfarrer zur Feier ihrer Ewigen Profess nach Ruanda kam, brachte sie als Geschenk einen neuen VW-Käfer mit, für den die Klarenthaler gesammelt hatten: das erste Auto der Schule.

Lea bereitete sich vor, indem sie vier Wochen lang Kisuaheli lernte. Mit Sprachkenntnissen würde sie Solwodi in Kenia besser an den Start bringen. Und weil sie Zivilkleidung trug, beugte sie dem gespaltenen Frauenbild von der Heiligen und der Hure vor und verschaffte sich rasch Zugang zu den Herzen der Frauen.

Solwodi half der Nonne zudem aus einer persönlichen Krise, in die sie um ihr fünfzigstes Lebensjahr herum geraten war. »Mich durchfuhr, ich konnte ja niemals eigene Kinder bekommen, und empfand plötzlich ganz stark das Gefühl, etwas verpasst zu haben.« Das Menschenhandels-Projekt wuchs zu ihrem »Baby«, dem sie fast ihre ganze Energie und Zuwendung schenkte. Die Kenia-Initiative verwurzelte sich schnell. Als Lea 1987 nach Deutschland zurückgerufen wurde, gründete sie in München einen überkonfessionell und gemeinnützig ausgerichteten Solwodi-Verein, der ein Jahr später nach Boppard-Hirzenach ins Pfarrhaus des Pallotiner-Paters Fritz Köster umzog. Solwodi versteht sich als Brücke zwischen Herkunftsland und »Ziel«-Land der betroffenen Frauen. Der Verein will ausländische Ehefrauen, illegal Beschäftigte und ausländische Prostituierte rechtlich und gesellschaftlich besser schützen und ihnen helfen, wenn sie Gewalt ausgesetzt sind.

Geschätzt eine halbe Million Frauen werden jährlich als Zwangsprostituierte in die EU-Mitgliedsstaaten eingeschleust. Deutschland liegt an der Schnittstelle zwischen westlichen sowie mittel- und osteuropäischen Ländern und ist dadurch Zielland dieses Milliardengeschäftes. Mit Entführung und Verkauf von Frauen werden laut Schätzung des Bundeskriminalamts zurzeit eine Milliarde Euro im Jahr umgesetzt. Die Behörde ermittelte für 2009 in Deutschland 777 Tatverdächtige und 710 Menschenhandelsopfer. Jedes zehnte Opfer gab an, gewaltsam zur Prostitution gezwungen worden zu sein, jedes vierte behauptet, es sei uber die Art der Tätigkeit im Ausland getäuscht worden. Die große Mehrheit der Opfer des Menschenhandels ist weiblich, die Hälfte stammt aus Osteuropa, jeder dritte Betroffene war unter 21 Jahre alt, jeder fünfte minderjährig. Man geht von einer hohen Dunkelziffer aus und schätzt, dass gegenwärtig zwischen 10.000 und 30.000 Personen pro Jahr nach Deutschland in die Prostitution verkauft werden. Die Frauen werden oft in Verstecken gehalten und mit dem Hinweis auf ihren illegalen Aufenthaltsstatus erpresst. Solwodi arbeitet eng mit Behörden zusammen, erhofft sich aber noch mehr Verständnis bei Richtern und Staatsanwälten. Denn noch immer würden Frauen bei Razzien aufgegriffen und dann ausgewiesen. Dabei wären ihre Aussagen vor Gericht wichtig, um Täter zu ermitteln und zu bestrafen.

Die Ordensschwester packt selbst an. Sie hat vor allem die Rolle der Botschafterin. Weltweit wirbt sie für die Anliegen von Solwodi und um Spenden. Sie treibt die Vernetzung mit anderen Initiativen voran und lässt los, sobald sie das Gefühl hat, es läuft. In Kenia agiert Solwodi seit 1997 eigenständig als Nichtregierungsorganisation, die Beratungsstelle, Ausbildungsvermittlung und Werkstatt zugleich ist, und unterhielt dort 2011 zehn Beratungsstellen. In Mombasa startete 2002 flankierend das Projekt »Solgidi« (Solidarity with girls in distress – Solidarität mit Mädchen in Not), das besonders Töchtern von Prostituierten Schutz und Hilfe bietet, in Kigali (Ruanda) ein weiteres Projekt für Witwen und Waisen. 2010 wurde ein erstes Solwodi-Beratungszentrum in Rumänien eröffnet.

In Deutschland betrieb Solwodi im Jahr 2011 insgesamt 15 Beratungsstellen und sieben Schutzwohnungen. Dort arbeiteten 52 Sozialarbeiterinnen und Beraterinnen, unter ihnen sind 17 Ordensschwestern aus 13 verschiedenen Gemeinschaften.

Mehr als 1400 Frauen suchen jährlich die Unterstützung der Hilfsorganisation, schildert die Ordensschwester.

Wer zu Solwodi oder Solgidi gelangt, wird psychisch und sozial betreut; in Deutschland werden die Betroffenen auch als Zeuginnen in Gerichtsverfahren begleitet. Will eine Frau in ihr Heimatland zurückkehren, wird ihr nahegelegt, sich zuvor durch eine Ausbildung zu qualifizieren, um vor Ort bessere Chancen zu haben, sich eine Existenz aufzubauen. Finanziell wird den Frauen durch Mikrokredite geholfen, Fuß zu fassen. Sie werden zu 70 Prozent als zinslose Darlehen gegeben. Solwodi finanziert sich aus Spenden sowie aus Zuschüssen von Regierungen und Kirche. Der Verein übernimmt eine zugleich humanitäre und politische Aufgabe. Denn viele der betroffenen Frauen sehen als Ausweg aus ihrer absoluten Armut und Verelendung tatsächlich nur, sich zu prostituieren, einen reichen Ausländer zu heiraten oder zeitweise im Ausland zu arbeiten. Sie landen dabei oft und teils zunächst ahnungslos in den Händen von Menschenhändlern, Schleppern oder Ehemännern, die sie körperlich und seelisch ausbeuten.

Der erste Schritt, den Schwester Lea und ihre Mitstreiterinnen mit Frauen gehen, die bei ihnen anklopfen, ist im Grunde immer derselbe: Als Erstes muss das Selbstwertgefühl dieser Frauen aufgerichtet werden, sie müssen wieder Perspektiven sehen. Die Ordensfrau erzählt mit viel Begeisterung von den Erfolgen. Eine Frau schaffte das Abitur. Eine, die sich mit Mühe zu einem Praktikum bewegen ließ, strahlte nach zwei Wochen übers ganze Gesicht: »Die mögen mich ja.« Das gab ihr Auftrieb und sie blieb. Lea erzählt aber auch die anderen Geschichten. Manche brechen ab, lernen nicht, fallen in alte Verhaltensmuster zurück, geben kurz vor dem Ziel auf. Für die Nonne, die bei »ihren« Frauen auch »Mama Lea« oder »Schwester Courage« heißt, ist das kein Grund zu resignieren. Wieso auch, findet sie: »Ich hatte viele Chancen und nutzte etliche überhaupt nicht. Diese Frauen haben oft nur eine Chance, keiner kann erwarten, dass sie diese bedingungslos ergreifen.«

Weit schwerer zu ertragen ist für sie zuweilen das Ausmaß des Elends, das sie sieht. Die Kraft, daran nicht zu verzweifeln, gaben ihr Menschen, die durch Lauterkeit überzeugten. Sie nennt vor allem den Pater und Professor Fritz Köster. Er arbeitete ebenfalls in Afrika und für Missio, mit ihm lebt sie in Boppard-Hirzenach in einem Pfarrhaus, das in einer barocken Propstei, einem früheren Männerkloster, untergebracht ist. Köster zog 1988 hierher, weil ihn sein Orden an die nahe theologische Hochschule in Vallendar berufen hatte, und Schwester Lea war dankbar, dass im Pfarrhaus noch Platz war für sie und ihre Solwodi-Frauen. Raum, den Köster ihr gerne anbot. Die beiden Ordensleute hatten sich 1974 beim Studium in München kennengelernt. In dem beschaulichen 300-Seelen-Weindorf Hirzenach, mitten im zum Weltkulturerbe erklärten Mittleren Rheintal, wurden der Mönch und die Nonne dann sozusagen soziale Eltern. Sie zogen zwei, zeitweise vier Kinder von in Notlagen geratenen Müttern auf. »Fritz predigt den Glauben nicht, er lebt ihn«, sagt Lea Ackermann. Sie orientiere sich an dieser Haltung. So gelang ihr, dass es sie nicht lähmte, wenn Menschenhändler und Diktatoren ihr drohten. Genau diese Risikobereitschaft rühmt Köster an ihr. Was Schwester Lea mit Solwodi geschafft habe, sei Beispiel für einen Satz der ehemaligen polnischen Premierministerin Hanna Suchocka: »In schwierigen Lagen soll man keine Sündenböcke suchen, sondern Auswege.« Lea Ackermanns Trumpf ist ein Wesenszug, den sie früher mal mehr, mal weniger an sich mochte. Sie hat ihn zu einer Tugend gemacht: Wut.

Als Mädchen und junge Frau ließ sie sich mitunter übermannen von Wut: Wenn einer beim Spielen mogelte oder Jungs sie ausschlossen oder der Pfarrer ihrer Meinung nach Jesus nicht beim Wort nahm oder wenn die Kusine, die sich reich verheiratet hatte, mit Opfergeld knauserte, obwohl das für hungernde Kinder gedacht war, dann wurde sie fast zur Furie. Auch deshalb nannte der Vater sie »Hexen-Bärbel«. Längst lässt sie sich von ihrer Wut nicht mehr beherrschen, sondern sie beherrscht sie. Mehr noch: »Meine Wut rettet mich«, sagt Schwester Lea. »Und ich bete: ›Lieber Gott, ich kümmere mich um Deine Leute, lass Du mich dabei nun nicht im Stich.‹« Gerade, wenn es besonders schlimm ist. »Ich denk mir: Um Himmels willen, Lea, das kann nicht sein, das darf nicht sein, da kann ich nicht wegschauen.«

GESPRÄCH

»Was die katholische Kirche mit den Frauen macht, ist Diskriminierung.«

Isa Steinhäuser, Simmern

Ihr Frauen! Sexismus liegt in der Luft. Wir wollen uns vereinigen und das tun, von dem viele denken, wir könnten es nicht schaffen. Ich sage euch: Wir können es schaffen!b

Aus einem Gedicht von Rosbella, einer Mitarbeiterin von Schwester Lea18

Sie sind Schwester des Missionsordens »Unserer lieben Frau von Afrika«. Mission bedeutet Sendung und Verbreitung des christlichen Glaubens. Das haben Sie hier, im Pfarrhaus in Boppard-Hirzenach in ungewöhnlicher Weise betrieben, indem Sie gemeinsam mit dem Pallotiner-Pater Fritz Köster19, zwei Kinder großgezogen haben, fast wie eigene: einen Jungen und ein Mädchen.

Zunächst waren es sogar vier Kinder, zwei sind mit ihren Müttern weitergezogen, zwei sind geblieben. Ihre Mütter waren auch in der Nähe. Eine arbeitete als Köchin, die andere als Serviererin, sie konnten beide abends nicht zu Hause bleiben. Die Kinder, Anna und Peter, sind beide heute 22 Jahre alt.20

Wie haben Sie den Glauben an die Kinder weitergegeben?

Mir war wichtig, den Kindern zu sagen: »Ihr seid wertvoll. Ihr seid Geschöpfe Gottes. Und ihr habt Kräfte und Fähigkeiten.«

„ Mir war wichtig, den Kindern zu sagen: Ihr seid wertvoll. Ihr seid Geschöpfe Gottes. Und ihr habt Kräfte und Fähigkeiten.”

Und wie haben Sie die Kinder an die Kirche herangeführt?

Wir haben ihnen den Glauben vorgelebt. Wir haben beim Frühstück, beim Mittagessen und beim Abendessen gebetet, und wenn die Kinder ins Bett gingen, gab es dazu noch eine Gutenachtgeschichte. Die Kinder sollten spüren: Es gibt eine höhere geistige Kraft, die auch im Alltag wichtig ist. Für mich und die Kinder war klar, dass wir am Sonntag in die Kirche gehen. Und da kamen dann schon Fragen auf. Einfache Fragen nach Gott, Schutzengeln und so weiter. An mich und an Pater Köster. Diese Fragen wurden nicht provoziert, aber auch nicht verhindert, sie kamen teilweise auch durch die Schule. Als Peter erfuhr, dass er Buddhist war, wollte er mal unbedingt, dass Pater Köster so betet, wie er sich vorstellte, dass Buddhisten beten: schweigend, die Hände anders gefaltet, im Lotussitz, die Augen geschlossen. So musste er verharren, streng beobachtet von dem Jungen – oder anders gesagt: Die Kinder sind frei aufgewachsen.

„ Die Kinder sind frei aufgewachsen.”

Welche Rolle spielte die Herkunftsfamilie?