Meine Zen-Reise nach Innen und darüber hinaus - Bärbel Tewes-Heiseke - E-Book

Meine Zen-Reise nach Innen und darüber hinaus E-Book

Bärbel Tewes-Heiseke

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Beschreibung

Der Titel beschreibt die Zen-Reise nach Innen und darüber hinaus, die die Autorin beschreitet. Diese persönliche Reise beginnt die Autorin mit über 50 Jahren und mit der Kraft und Entschlossenheit, die die Reise erfordert. Nach dem Motto, das Rabbi Halil zugeschrieben wird: "Wenn nicht jetzt Wann dann? Wenn nicht ich Wer denn?"

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Seitenzahl: 323

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Inhaltsverzeichnis

ZEN

DER BUDDHA – DER ERWACHTE

DHARMA – DIE LEHRE

DHARMA-LEHRER – ‹SENSEI› – ZEN-LEHRERIN

ZEN-SPRACHE - EINE FREMD-SPRACHE?

KOANSCHULUNG

HERZ-SUTRA

BEDINGTES ENTSTEHEN

KINDER, ZEN UND DIE TAI CHI-ÜBUNG

DISZIPLIN

WENDEPUNKTE IM LEBEN

DER OFFENE RAUM

ALLEIN SEIN IM SEIN

STERBEN

DIE GLÜCKLICHEN

LIEBE

NACHWORT

ANHANG

LITERATUR

VORWORT

Mit diesem Buch möchte ich alle ansprechen, die sich fragen: «Wer bin ich, was ist meine Aufgabe im Leben und wie kann ich mir ein erfülltes Leben gestalten?»

Ich fange bei mir an: Ich bin Zen-Lehrerin und Dharma-Nachfolgerin von Christoph Rei Ho Hatlapa Roshi, dem 84. Nachfolger nach Buddha in der Hokoji-Rinzai-Zenlinie. Unser Mutterkloster ist in Japan, es heißt Hokoji. Mein buddhistischer Name ist Ho Shin, das bedeutet ungefähr: der Gipfel, das Gesetz des Herzgeistes. Ich habe mich bewusst für die Laien-Ordination entschieden, denn ich wollte nicht als Nonne in einem Kloster leben. Das war und ist mir wichtig, weil ich den Bezug zum täglichen Leben suchte. Ich könnte sonst kein Buch wie dieses schreiben. Es wäre ein theoretisches Buch, dem der Bezug zum Alltag fehlte. Nehmt mich somit als Beispiel für einen Menschen wie jeden anderen auch.

Unser aller Leben beginnt als Säugetier und endet, ohne bemerkenswerte körperliche Spuren zu hinterlassen, mit dem Tod. Wir nennen im Zen das Sterben: «Gehen in die große Verwandlung». Auch anerkannt erwachte Menschen wie der Buddha und seine Nachfolger sind und bleiben normale Menschen!

Was ist dann das Besondere an einem erwachten Menschen? Im täglichen Leben nichts, wäre da nicht das große Erkennen des wahren Seins. Das Erkennen ist sozusagen das Siegel und gilt für alle erwachten Menschen, ganz gleich welchen Glaubens, welcher Kultur oder welchen Alters sie sind und zu welcher Zeit sie leben: sie haben die Gnade erfahren, erwacht zu sein. Sie haben aus eigener Erfahrung erlebt, dass es für unser Bewusstsein keinerlei Grenzen gibt. Sie haben sich auf einen Weg des Übens gemacht, der ihnen dieses tiefe Wissen ermöglicht. Schließlich nach langer Übung haben sie auch erkannt, dass sie mit allem verbunden sind, ein Teil des Ganzen und kein bisschen mehr oder weniger. Das Eingebundensein in das Ganze entsteht und vergeht in jeder Sekunde, so auch am Ende des Lebens. Erwachte Menschen verstehen alle Wesen, respektieren sie, glauben an einen Schöpfergeist und begreifen die wunderbare Einmaligkeit in ihrem eigenen Leben.

Für mich als Dharma-Lehrerin war mein Zen-Weg ein großes Geschenk, welches ich als Zen-Übende erhalten habe. Dieses Geschenk möchte ich weitergeben an diejenigen, die auch den Zen-Weg gehen möchten oder die sich mit Hilfe meiner persönlichen Erfahrungen über den Weg informieren wollen.

Ich bin mir bewusst, dass das Leben selbst, mit allen Problemen, die ich hatte, ebenso meine Lehrmeisterin war, wie meine spirituelle Schulung durch Buddha (den Lehrer), Dharma (Buddhas Lehre) und Sangha (die Gemeinschaft der Übenden).

Zen und auch Tai Chi sind meine Achtsamkeitsübungen und haben mein enges und verschlossenes Bewusstsein sanft geöffnet und ihm die Gelegenheit gegeben, sich darüber hinaus grenzen- und zeitlos zu öffnen.

Körperliche Verletzungen, Krankheiten und Unzulänglichkeiten sind weiterhin meine Prüfungen. Geistige Verwirrungen können mich weiterhin zutiefst verletzen. Seelische Probleme machen mich traurig und müde: so ist es und so bleibt es und nimmt natürlich auch für einen erwachten Menschen nicht ab. Alles Leiden im Leben bleibt bis auf eine Kleinigkeit bestehen. Ich erkenne es nun und bin dennoch innerlich und äußerlich eine freie, unabhängige und glückliche Frau.

Dank an alle, die mir dabei geholfen haben!

In diesem Buch versuche ich nun, den Prozess des Erwachens, die Zen-Übungen, sowie die Tai Chi-Übungen zu schildern. Ich möchte erzählen, nicht aufklären, nicht theoretisieren, nicht missionieren. Das Erzählte kann angehört werden, problematisiert werden, vergessen werden oder auch – bei einem Wort, einer Geschichte, einem persönlichen Beispiel – etwas im Herzen der Leser-Innen wachsen lassen.

Deshalb ist mir wichtig, dass ich die Zen-Sprache erkläre. Jedes Wort, jeder Begriff ist nämlich ein Fach-Begriff und kann somit ein Fremdwort für andere sein. Jedes Wort kann im alltäglichen Leben etwas ganz anderes bedeuten. Wenn wir etwas anders verstehen, dann wird unser Verhalten dementsprechend anders aussehen. Eine Fachsprache, die nicht verstanden wird, kann viel Freude und Glück verhindern und viel leidvolles Handeln erzeugen. Von ihr eingeengt unterdrücken wir unsere Kreativität und Intuition und verengen den Umgang mit anderen, die unsere Fachsprache nicht verstehen.

Es geht also darum, die Vieldeutigkeit von Sprache zu erkennen und sich zu trauen daraufhin auch anders als gewohnt zu handeln. Ein Wort ist nicht DAS Wort, es ist EIN Wort.

Ich wünsche uns grenzenloses Vertrauen zu grenzenlosem Handeln und ständiger Bereitschaft, Veränderungen im Leben auszuhalten und erfolgreich in unserem und aller Wesen Sinne zu akzeptieren.

Im erwachten Geist, Verstand, Körper und Herzen sollte uns nichts mehr fremd sein. Alles ist dann wahr, gut und auch schön.

Möge es mir gelingen, dieses am Beispiel meines gelebten Lebens deutlich werden zu lassen.

1. ZEN

Was ist ein Meditier?1

Der Frosch, der ist ein Meditier

Er sitzt und sitzt am Teiche hier

Wie einst der Buddha unter’m Baum

Er meditiert, man glaubt es kaum.

So sitzt der Frosch auf Blatteskissen

Die schöne Fliege sollt’ es wissen

Zu stör’n den Frosch in sein’m Bestreben

Das kostet dem Insekt das Leben.

Der Frosch, der ist ein Meditier

Ganz friedlich, grünlich sitzt er hier

Als könnt kein Wässerchen er trüben

Er ist ganz einfach nur am Üben.

Wie man so sitzt und gar nichts denkt.

Von keiner Fliege abgelenkt

Einfach nur sitzen hier am Tümpel

Vergisst sein seelisches Gerümpel

Der Frosch, der ist ein Meditier

Sitzt auf dem Lotusblättchen hier

Versunken wie ein Zen-Buddhist

Ein Meditier ist’s … was er ist.

WAS IST ZEN?

«Zen ist das im Menschen verwirklichte volle Bewusstwerden des Seins – selbst, die Verwirklichung der «heilen Welt» in uns selbst.

Der Weg dazu ist die Übung des Zazen, durch die unsere Existenz erweckt, «erleuchtet» wird. Das innere Gleichgewicht wird dabei verlagert. Aus dem ich-bezogenen Menschen, der in der Illusion lebt, wird ein anderer. Dem Nehmen wird absolutes Geben gegenübergesetzt, der zentripetalen Bewegung eine zentrifugale.»

Kosho Uchiyama

Das Wort Zen (Sammlung des Geistes) kannte ich bis zum 50. Lebensjahr gar nicht, obwohl ich 1990 bereits ein halbes Jahrhundert gelebt hatte. Nun sind schon wieder 23 Jahre meines Lebens verstrichen und erstaunlicherweise bin ich seit einigen Jahren Zen-Lehrerin. Wenn ich mir das so genau vergegenwärtige, frage ich mich: «Wie ist das möglich?»

Natürlich hatte ich früher eine vage Vorstellung von asiatischen Kulturen und Religionen, aber Zen gab es einfach nicht in meiner Umgebung.

Ich komme aus einem Elternhaus, in dem christlicher Glaube weder praktiziert wurde noch, außer an Weihnachten, eine Rolle spielte. Da kamen dann der Nikolaus am 6. Dezember und das Christkind am Heiligabend zu uns Kindern.

Meine Mutter war Münchnerin und mein Vater kam aus Kölleda in Thüringen. Wahrscheinlich konnten sie sich über Glaubensfragen nicht einigen und beschlossen, dass es Wichtigeres als ein religiöses oder spirituelles Leben gäbe. In der Diktatur des nationalsozialistischen Wahnsinns war dafür ohnehin kein Platz.

Wir drei Kinder, inzwischen war der 2. Weltkrieg gerade zu Ende, lebten mit meiner Mutter, ihrer verheirateten Schwester und deren vier Kindern und einem Hund in einem großen alten Bauernhaus. Mit uns zusammen lebten auch die Großmütter, meine Oma Fida (katholisch), kam aus München, und Oma Guste (evangelisch), die Mutter meines Onkels, entstammte einer niedersächsischen Bauernfamilie. Oma Guste machte köstliche Bratkartoffeln und störte uns Kinder nur, wenn wir in den Gärten Erdbeeren oder Erbsen stibitzten. Ihren Augen entging nichts, weil ihre Wohnung oben im Haus war und leider Fensterausblicke in alle Richtungen hatte.

In unserer frühen Kinderzeit wurde nicht darüber geredet, ob wir getauft werden wollten oder sollten, ob wir in die Kirche gehen oder am Religionsunterricht teilnehmen sollten. Wir beteten auch nicht morgens oder abends.

Über Politik, den Krieg, Religion und kulturelle Ereignisse wurde mit uns ebenfalls nicht geredet. Die Erwachsenen aßen im Esszimmer, wir Kinder mit dem Kindermädchen und der Köchin in der Küche. Wir lebten in einem kleinen Kinderuniversum mit wenig Pflichten und viel Freizeit, die wir draußen in Feld, Garten und Wald oder verbotenerweise im Ziegelwerk unseres Onkels verbrachten.

In dem Straßendorf, es heißt Wellie, gab es am Ende des Dorfes eine kleine evangelische Kapelle, die ich nie von innen gesehen habe, obwohl ich dort 20 Jahre lebte. Sie wurde meinem Wissen nach auch nur zum Erntedankfest aufgeschlossen. Wir wohnten 2 km entfernt am anderen Ende des Dorfes. Die einklassige Dorfschule lag in der Mitte. Nach der Grundschulzeit wurden wir Kinder auf Internate verteilt, weil die weiterführenden Schulen zu weit entfernt waren. Unsere jüngeren Geschwister gingen aber später in der Kreisstadt in die Oberschule und in die Realschule.

Religionsunterricht gab es auch nicht so richtig. Wenigstens nahmen wir nur teilweise daran teil, weil wir ja, aus mir nicht bekannten Gründen, entweder katholisch oder evangelisch oder gar nicht getauft wurden. Eine Entscheidung wurde dann aber doch irgendwie gefunden, die beide Omas zufrieden stellte.

Unsere Eltern waren an einer Auseinandersetzung über den Glauben nicht interessiert.

Im Nationalsozialismus bekannte sich ja in unserer Gegend kaum jemand als eifriger Kirchgänger. Da mein Vater noch vor dem Krieg im Nachbardorf Liebenau, in dem er Landarzt war, die Ortsgruppe der nationalsozialistischen Partei mitgegründet hatte, war das Thema Religion für ihn sowieso kein Thema. (Ich erzähle darüber mehr in Kapitel 10). Wir drei Kinder wurden in Liebenau auch geboren. Nach dem Krieg ließen sich meine Eltern scheiden, und so zog meine Mutter mit uns drei Kindern zu ihrer Schwester in den Nachbarort Wellie und dort lebten wir bis zu meinem 20. Lebensjahr als Großfamilie in einem Bauernhaus zusammen.

Ich kann mich aber daran erinnern, dass es eines Tages hieß: «Vreni, meine ältere Schwester, Bärbel, das war ich, und Lilo, das war meine jüngere Cousine, werden am Sonntag katholisch getauft und feiern Kommunion.» Wir hatten feierliche Kleider an, das fand ich toll. Irgendwie haben wir auch so etwas wie einige Stunden Vorbereitungsunterricht gehabt, aber alles ist absolut spurlos an mir vorbeigegangen. Ich glaube, ich war ungefähr neun Jahre alt.

Da unsere Eltern schon lange nicht mehr leben, habe ich leider keine Gelegenheit gehabt, um noch mehr über ihre Gründe zu erfahren. Ich war zu jung und merkte außerdem, dass die Erwachsenen in ihrer eigenen Welt lebten. Fragen zu stellen, die «uns nichts angingen», wurden nicht beantwortet. Das galt auch für die Religion.

Trotzdem beschloss ich mit zwölf Jahren, dass ich in ein Nonnenkloster gehen wollte, und war überzeugt davon, dass ein Leben in Ruhe und Einfachheit das Richtige für mich sei. Das glaubte ich als Nonne zu finden.

Und das kam so: Mit elf Jahren kam ich mit meiner Schwester in das Internat Schloss Elzhof in Berg am Starnberger See. Dort fand ich es schrecklich, weil da reiche und berühmte Leute ihre Kinder ‹abgegeben› hatten. Außerdem waren wir ‹Preußen› und nicht ganz so reich wie die anderen, also irgendwie Außenseiter. Im Internat war sonst eigentlich alles in Ordnung, aber mir fehlte etwas, von dem ich nicht wusste, was es war.

In der Schule war ich abgelenkt und nur am Sport interessiert. Die Mädchen- und Jungen-Spiele fand ich widerlich und schminken wollte ich mich auch nicht. Eigentlich fühlte sich alles falsch an. Natürlich bekam ich Ärger mit der Schulleitung.

Meine Mutter war meine Rettung. Sie begriff, dass ich unglücklich war, und fragte mich: «In welche Schule möchtest du?» Ich höre mich heute noch sagen: «Ich brauche Ruhe. Ich möchte ins Kloster und will Nonne werden.» Den letzten Teil meines Wunsches wollte sie mit mir nicht diskutieren. Meine Mutter war eine emanzipierte, tatkräftige, pragmatische und intelligente Frau mit dem Herzen auf dem rechten Fleck. Und so organisierte sie zum Erstaunen aller erwachsenen Familienmitglieder einen Platz für mich im Ursulinenkloster St. Angela in Osnabrück-Haste.

Natürlich war das Kloster auch eine Internatsschule. Wir Schülerinnen bekamen vom Leben der Nonnen, die ja in Klausur lebten, nichts mit. Das Klosterleben der Nonnen war aber genau das, was mich interessierte. Klar, ich lernte zu beten, wir hatten geregelte Gottesdienste, natürlich Religionsunterricht und sahen nur Nonnen. Klar, das Kloster war alt, ruhig, schön und umgeben von einem alten herrlichen Park. Es gab sogar ein kleines Schwimmbad. Da wir aber als Sportkleidung Pluderhosen mit Röckchen darüber anziehen mussten, regte mich das schon wieder auf, weil es unbequem war.

Wir internen Schülerinnen schliefen in riesigen Schlafsälen. Es gab auch externe Schülerinnen, die wohnten in der Umgebung. Viele von uns beneideten sie heftig. Wir hatten eine kleine Zelle in einem riesigen weiß gestrichenen Schlafsaal, die auch «Zelle» hieß. Die Zellen bestanden aus drei weißen Holzwänden, die 2 Meter hoch und so lang wie ein Bett waren, das an einer der Holzwände stand. Und so breit wie eine kleine Kommode, die an einer anderen Wand stand. Unser Kleiderschrank war am Ende des Saales in einer riesigen Schrankwand. Eine weiße Gardine schloss unsere Zelle vom Flurgang her blickdicht ab.

Wehe wir schauten auf dem Bett stehend zu den Nachbarinnen und schwätzten mit ihnen. Das wusste unsere Mater Thadäa zu verhindern.

Sie war für uns als Gruppenschwester zuständig, war alt, äußerst streng und sichtlich überfordert mit mehr als 30 jungen 12- bis 13-jährigen Mädchen. In anderen Gruppen ging es lockerer zu. Uns war alles verboten und die dicken Mauern, die das Kloster umschlossen, verhinderten auch, dass wir aus dem Kloster in die Umgebung gehen konnten. Ausgang gab es nie für Eine allein und dann auch nur aus triftigem Grund mit Bescheinigung und Zeitvorgabe.

Meine Freundin Emmy und ich machten uns leider innerhalb eines Jahres sehr unbeliebt bei der Schwester. Wir bekamen öfter Strafeinsätze, wie abtrocknen oder Speisesaal aufräumen, keine Butter, keinen Nachtisch … Bei einem der Strafeinsätze sangen wir das Volkslied: «Du, du liegst mir am Herzen …» und zwar so renitent, dass das natürlich Folgen hatte.

Unsere Eltern wurden zum Gespräch gebeten und wir sollten uns schuldig fühlen und Buße leisten. Für mich war das einfach nicht möglich. Ich fühlte mich so verletzt und eingesperrt, dass ich nichts mehr ertragen wollte. Emmy, die Arme, hatte sehr gläubige Eltern und sollte und konnte in der Schule bleiben. Wir haben nie darüber geredet, warum sie dort bleiben konnte. Sie schloss die Schule mit dem Abitur ab. Unsere Freundschaft blieb aber jahrelang fest bestehen.

Auch dieses Mal wurde ich von meiner Mutter gefragt: «Was willst du machen?» Ich antwortete: «Das Kloster ist nicht mein Platz. Ich habe nichts gefühlt als Unfreiheit und Strafe. Ich bin unglücklich. Ich kann und will nicht mehr Nonne werden.» Mittlerweile war ich 14 Jahre alt.

Und wieder packten wir meine Sachen und ich wechselte in die Mädchenoberschule in unsere Kreisstadt Nienburg. Nach dieser Erfahrung war Religion für mich endgültig kein vorstellbarer Lebensinhalt mehr.

Bis zu meinem 50. Lebensjahr hatte ich überhaupt keinen Kontakt mehr mit dem christlichen Glauben. Mit meiner Freundin Emmy sprach ich auch danach nicht mehr über Glaubensfragen und Kirche. Aber ich weiß, dass sie bis zu ihrem Tod vor einem Jahr sehr gläubig gewesen war und auch ihren eigenen Weg gefunden hat, diesen Glauben zu leben. Das hat mich froh gemacht.

WIE KAM ICH NUN ZUM ZEN?

Obwohl ich ein aufregendes, erfolgreiches Leben bis zu meinem 50. Lebensjahr gelebt hatte, fehlte mir etwas. Alles, was ich mir vorgenommen hatte, konnte ich auch realisieren. Ich war eine gute Lehrerin und Schulleiterin, hatte Erfolg in der Politik und mein Körper war so gesund und sportlich, wie man es sich nur wünschen konnte. Ich hatte Familie, Kinder und Beruf unter einen Hut gebracht. Ich war meinem dringenden Bedürfnis näher gekommen, Frieden, Gerechtigkeit, Demokratie und Gleichberechtigung lebbar zu machen, dort wo ich dicht am Menschen war: in der Schule mit den Schülerinnen und Schülern und deren Eltern und dem Kollegium, in der Parteipolitik, in der Kommunalpolitik, als Ehefrau und Mutter und schließlich als Abgeordnete im niedersächsischen Landtag.

Ich war eine unabhängige Frau geworden und verdiente genug, um auch im Alter unabhängig zu sein. Das war nach dem Schicksal meiner Müttergeneration ein dringender Wunsch von mir. Ich bin heute noch überzeugt davon, dass sich auch meine Mutter ihr Leben anders gewünscht hätte, als sie es führen musste. Sie lebte bis zu ihrem Tode als geschiedene Frau in großer finanzieller Abhängigkeit und persönlicher Unfreiheit. Als ich 25 Jahre alt war, starb sie. Für mich war das viel zu früh. Ich konnte sie gar nicht richtig kennen lernen. Ich konnte sie nicht einmal fragen, ob sie glücklich war. So war das eben damals. Bald starb auch mein Vater, ohne mit uns über sein Leben, die Scheidung, seinen Beruf oder gar seine Tätigkeit als Lagerarzt im Arbeitserziehungslager der Nazis gesprochen zu haben. Zeit meines Lebens habe ich mich wurzellos gefühlt. Vor mir gab es irgendwie nichts, was mir Mut hätte machen können, freudig zu leben.

So blieb mir nur die eine Möglichkeit: Ich selbst musste einen Anfang wagen. Mein Mantra lautete: «Ich will nie wieder abhängig sein, immer selbst für mich sorgen und auch im Alter für mich sorgen können.»

Als Frau war das damals nicht einfach. Ich sollte ja nicht einmal Ärztin werden, hatte mein Vater entschieden, das wäre etwas für meinen jüngeren Bruder. Also gab es dafür keine Unterstützung. Hotelfach, das ist doch was. So einfach entschieden sich im und nach dem Krieg Lebensschicksale.

Mit 50 Jahren hatte ich es geschafft. Ich konnte zufrieden auf mein bisheriges Leben zurückblicken. Ich war es auch, aber es fehlte etwas Wesentliches! Das ahnte und fühlte ich. Ich lebte all meine wunderbaren Fähigkeiten nur im Kopf. Meinen Körper hatte ich vergessen, mein Herz war gestresst, der Sinn meines Lebens war ganz eindeutig nicht erfüllt. Mich dürstete immer noch nach Ruhe im Herzen, Ruhe in meiner Gefühlswelt, Ruhe im Verstand, wie schon früher als 14-jähriges Mädchen. Leider wusste ich nicht, was mir noch fehlte? Es gab eine unerfüllte, von mir noch nicht erkannte Sehnsucht nach einem spirituellen Zugang zum Leben. Der Zugang war mir aber in meiner Vorstellungskraft komplett vernagelt. Hier traf der weise Spruch zu: «Das, was du suchst, ist das, was sucht».

VERBLENDUNG

Jetzt möchte ich mir den ersten Zen-Begriff <Verblendung› näher anschauen.

50 Jahre habe ich «erfolgreich» so gelebt, wie es in unserer Gesellschaft üblich ist: 50 Jahre leistungsorientiert, 50 Jahre Ellenbogengesellschaft, 50 Jahre Konkurrenzkampf und Abgrenzung. Natürlich brannte ich von der Vorstellung, so ist das richtig. Du musst nur immer ein bisschen besser, schneller und fleißiger sein als die Anderen, dann schaffst du alles und keiner kann dir Schaden zufügen.

Ich war ebenso verblendet von dem äußeren Leben, wie alle anderen Menschen, die mich umgaben. Es gab keinen Zweifel. Ausgeblendet waren Träume, Visionen, Kreativität ohne Zielvorgabe, Herzenswärme, Mitgefühl, Mitfreude, Liebe, Humor und Lust. Achtsamkeit nur dann, wenn es etwas bringt; Gesundheit, wenn die Zeit es hergibt; Zeit für Freundschaften gab es einfach nicht. Toleranz, wenn es angebracht war, Ruhe, wenn der Akku leer war und so könnte ich die Beschreibung meiner damaligen Lebensauffassung endlos fortsetzen. Selbst «Liebe» beschäftigte nur meinen Kopf, erwärmte aber nicht mein Herz. Wie kommt man, wie kam ich aus diesem verblendeten Dasein heraus? Wo war die Triebfeder? Wo das Wissen, wie man das macht? Wo die Vorbilder zum Befragen und Nachahmen?

«MIR PLATZT DIE BIRNE, WIE KANN ICH RUHE IN MEIN GEHIRN BEKOMMEN?»

In meinem Wahlkreis gab es glücklicherweise zwei Rettungsanker: Die Evangelische Akademie Loccum und den Lebensgarten in Steyerberg.

MEIN 1. RETTUNGSANKER – DIE EVANGELISCHE AKADEMIE LOCCUM

Was nenne ich Rettungsanker? Das ist ein starkes, unverwüstliches und zuverlässiges Gerät, das sich trotz ungeheuer starken Drucks fest in den Untergrund einhaken und sogar ein riesiges Containerschiff auf seinem Platz festhalten kann. So verankert werden wollte ich in meinem Leben. Doch das war ich erkennbar nicht. Ich irrte, wie so viele Menschen, herum mit der Suche nach einem Leben, das mir den Sinn des Daseins offenbart.

Warum gerade die Akademie Loccum?

Der Evangelischen Akademie Loccum verdanke ich wertvolle Unterstützung bei meiner parlamentarischen Arbeit im Niedersächsischen Landtag. Das schuf Vertrauen.

Ich war als stellvertretende Fraktionsvorsitzende zuständig für die Bereiche Umwelt, Landwirtschaft und Forsten. Das war auch die Zeit der ersten rot-grünen Koalition der Regierung Schröder in Niedersachsen.

Wir hatten uns gemeinsam sehr viele politische Veränderungen vorgenommen und einiges auch anstoßen oder abarbeiten können: Gesetzgebungsverfahren im Bereich Wasser, Naturschutz, Emissionen, Boden, Sondermüll und Abfall. Das sind nur einige Felder, auf denen wir richtige Weichenstellungen erarbeiten wollten, soweit das auf Länderebene ging.

Uns gelang viel, vor allem, weil wir uns an außerparlamentarische «Mitspieler» wandten. Das waren alle diejenigen, die von den Gesetzesvorhaben betroffen waren: Behörden, betroffene BürgerInnen, Landkreise und Städte, die Industrie und Verbände aber vor allem auch Bürgerinitiativen und die Medien. Wir meinten das ernst, wir wollten Transparenz schaffen, um «Mitspieler» für unsere «Sache» zu gewinnen.

Nur so konnte es gelingen, das Bewusstsein aller zu schärfen und Mithilfe oder gar Zustimmung zu unseren Vorhaben zu erhalten. Wir machten uns auch in unserer eigenen Partei nicht nur Freunde, das war schnell klar. Eine so verstandene Politik verlangte Verzicht auf Alleinvertretung der eigenen Interessen. Für alle gab es Einschränkungen im Haushaltsbudget. Mal waren es Gewinneinbußen für die Wirtschaft und Industrie, mal kämpften die Fraktionskollegen gegen Einschränkungen ihrer Budgets. Geld konnte schließlich nur einmal ausgegeben werden. Verbote und Gebote im Umweltschutz waren äußerst unbeliebt, auch wenn sie von der Sache her gut begründet waren. Wir warben um Zusammenarbeit und Kompromisse. Es sollte wenigstens ein Umsteuern geben, ein Anfang sein. Das sind jetzt über 20 Jahre her.

In dieser Zeit konnte ich mich uneingeschränkt auf die Unterstützung der Akademie Loccum, den damaligen Direktor und die zuständigen Dozenten verlassen. Besonders komplizierte Kompromisse wurden fachlich und sachlich in hervorragender Weise in Tagungen diskutiert. Aufklärung und Klärung von hoch umstrittenen politischen Themen wurden in Ruhe bearbeitet.

Mein Wahlkreis bot mir dafür einige komplizierte Arbeitsfelder, wie die Giftmülldeponie Münchehagen, großflächiger Kiesabbau an der Weser, Lagerung von mittelradioaktiv verstrahltem Atommüll aus Gewerbe, Industrie und dem Gesundheitsbereich im Zwischenlager Steyerberg, Bodenverseuchung durch Waffenproduktion im 2. Weltkrieg in nicht begehbarem Waldgelände in Liebenau und Steyerberg und Leese und so setzt sich das beliebig fort.

Für viele dieser Sanierungs-Projekte gab es vorher weder Sachverstand noch technische Erfahrung. Es fehlte sehr viel Geld, um die Vorhaben in Angriff zu nehmen. Vor allem aber waren es sehr medienwirksame und damit höchst umstrittene Projekte, z. B. wenn wieder einmal das Gift aus der Deponie in die Umgebung ausgetreten war. Wir mussten also neue Verfahren finden, die einen Kompromiss herbeiführten, alle eventuellen Schäden beseitigen und nachhaltig vermeiden, Kontrollen aufbauen und technisches Gerät für eine Sicherung «erfinden». Der politische Raum entschied sich schließlich nach gründlicher Diskussion für ein Mediationsverfahren.

Im Folgenden beschreibe ich am Beispiel der Giftmülldeponie Münchehagen die Arbeitsweise eines Mediationsverfahrens im Umweltbereich. Die Arbeit des Mediationsverfahrens wird in dem Abschlussbericht dargestellt, aus dem ich im Folgenden zitiere: „Im November 1990 wurde dann tatsächlich das erste Mediationsverfahren in der Republik, der Münchehagen-Ausschuss „Runder Tisch“ eröffnet. … Der Ausschuss bestand aus 32 Mitgliedern, Vertretern von Behörden und Fachbehörden, von Kommunen, Kirchen, Gewerkschaft, Parteien und Bürgerinitiativen. Die Arbeit konnte endlich beginnen. Unsere Aufgabe war, Ziele, Grundsätze und Richtlinien für ein Langzeit-Sicherungs- und Sanierungskonzept zu erarbeiten, wie auch Planungen, Durchführbarkeitsstudien, Erprobung von Techniken im großtechnischen Maßstab für eine Sanierung anzustoßen, zu begleiten und Ergebnisse zu bewerten. Außerdem fehlte die finanzielle Absicherung im Landeshaushalt. Von jetzt ab hatten auch die Landesregierung und das Parlament die Verantwortung mit übernommen. Mit Unterstützung der neuen Mehrheit im Parlament übernahm die neue Landesregierung die finanzielle und organisatorische Verantwortung: Endlich wurde ein Koordinator auf Landesebene mit der Aufgabe des umfassenden Projektmanagements für die Sanierung betraut. Damit war dann auch der größte Wunsch des Oberkreisdirektor (OKD) des Landkreises Nienburg in Erfüllung gegangen. Die vom Land übernommene Verantwortung drückte sich auch deutlich in parlamentarischer Tätigkeit aus. Es gab diverse Anfragen und Entschließungsanträge. Für uns galt letztendlich der Entschließungsantrag Landtags-Drucksache 12/1267, den ich zusammen mit Ihrer (Mitglieder des Münchehagen-Ausschusses) Unterstützung am 17.4.1991 im Landtag einbrachte und der dort angenommen wurde. …Schon nach 2 Jahren Arbeit fassten wir im Ausschuss einstimmig den Beschluss „Sanierungsziel und Kriterien für die Beurteilung eines Sicherungs- und Sanierungskonzepts für die SAD Münchehagen“.2

Eine herausragende Leistung, die außer uns, die wir sie erarbeitet hatten, keiner würdigen kann. Wir waren auf dem Weg. Erfolgreich wurde damit die Giftmülldeponie Münchehagen erkundet, zwar nicht beseitigt, aber langfristig gesichert, ein Kontrollverfahren zur weiteren Sicherung eingerichtet. Das ist bis heute ein wirklich gelungenes Beweisstück für eine mögliche Zusammenarbeit aller Betroffenen und Beteiligten auf der Basis außergerichtlicher Einigung. Hier bedanke ich mich bei meinem Freund Meinfried Striegnitz, der damals das Mediationsverfahren als Mediator über mehrere Zwischenstufen vorbereitete, durchführte und auch heute noch begleitet. Damals gab es diesen «Beruf» und das Verfahren in Deutschland noch gar nicht. Herr Striegnitz war Studienleiter in der Evangelischen Akademie Loccum. Man stelle sich vor, er wurde von allen Beteiligten, von Freunden und Gegnern, geachtet, respektiert und jeder lobte seinen hohen Sachverstand und sein Ringen um Kompromisse. Ein Vorbild für mich, wie ich noch weitere finden sollte im Leben.

Meiner Erfahrung nach, kann Politik nur so erfolgreich, friedlich und zum Wohle aller handeln. Davon bin ich immer noch zutiefst überzeugt, nachdem ich die unversöhnlichen Machtkämpfe aller gegen jeden und die damit verschwendeten Gelder erlebt habe.

Deswegen entschloss ich mich in meinem Wahlkampf für ein persönliches Plakat, auf dem stand: «Mit Herz und Verstand» verspreche ich, meine Arbeit zu machen. Damals hatte ich keine Ahnung von Zen. Das Wort «Herz» steht spirituell für den Geist des Herzens, der unbestechlich, mitfühlend und rein ist. Heute kann ich das erkennen. Damals erkannte ich das aber in dieser Deutlichkeit noch nicht. Ich ahnte es nur, aber ich bemerkte zum ersten Mal, dass ich noch eine andere als die weltliche Unterstützung benötigte.

Ich hatte längst beschlossen, nach der 2. Legislaturperiode nicht wieder zu kandidieren und ein privates Leben zu entdecken, an Spiritualität dachte ich aber immer noch nicht. Schließlich anerkannte ich aber gesundheitliche Schwierigkeiten bei mir und fragte scherzend einige Dozenten der Akademie Loccum beim Mittagsessen während einer Tagung: «Leute, mir platzt oft die Birne. Kennt ihr ein Verfahren, mit dessen Hilfe ich Ruhe in mein Gehirn bekommen kann?» Sie lachten und trösteten mich mit Worten wie: «Du machst das doch alles wunderbar, weiter so». Aber einer von ihnen war Pastor und sagte: «Da gibt es doch die Meditation, Zazen genannt. Hier in der Nähe lebt eine christliche Zen-Lehrerin, die bietet Sesshin an. In einem Wochenend-Sesshin kannst du das Meditieren lernen.» Irgendetwas klingelte in meinem Gehirn, also fragte ich weiter: «Ihr seid doch auch so gestresst, geht ihr da auch hin?» Und wieder lachten sie und einer sagte: «Ne, dazu braucht man zu viel Disziplin und das ist außerdem richtig hart. Aber ich glaube, für dich ist das etwas.»

Ich meldete mich an, saß an einem Wochenende, an dem ich keine politischen Termine hatte, in einem Meditationsraum, und freute mich auf die Stille und das Nichtstun. – Es war die Hölle! Schwitzend vor Schmerzen, den Blick an die weiße Wand gerichtet, das Kopfkino auf volle Sendung geschaltet, zählte ich erst die Minuten, dann die Sekunden, bis man sich wieder bewegen konnte. Ich genoss aber die Gehmeditation im blühenden duftenden Garten und sagte mir bei jedem Schritt: «Nicht laufen, nicht hetzen, nur gehen». Als mich die Zen-Lehrerin am Ende nach meinen Erfahrungen befragte, sagte ich höflich: «Ich weiß nicht, wie die anderen mit verklärtem Lächeln so sitzen können. Ich bin zu alt dazu (ich war 50 Jahre alt). Nach der Politik könnte ich ja mal darüber nachdenken». «Tu das», sagte sie, «ich spüre, dass das etwas für dich ist».

MEIN 2. RETTUNGSANKER – DER LEBENSGARTEN IN STEYERBERG

In meinem Wahlkreis gründeten junge Menschen vor 30 Jahren ein Wohnprojekt, das inzwischen ein Dorf geworden ist. Sie leben privat in einzelnen Häusern oder Wohnungen, sind auch Mitglieder einer Gemeinschaft mit Seminarbetrieb und bieten unter anderem auch Workshops zu Spiritualität und Esoterik an. Die Mitglieder des Vereins, den sie gründeten, nennen sich Lebensgärtner. Sie nannten ihr ‹Dorf› Lebensgarten.

Der Lebensgarten ist zwar kein Garten, liegt aber mitten in einem Wald- und Feldgebiet am Ende des Dorfes Steyerberg. Die Lebensgärtner wohnen in den Backsteinhäusern, die vor dem Krieg für Zwangsarbeiter und Personal einer der größten Munitionsfabriken in Deutschland gebaut wurden. Die Munitionsfabrik lag heimlich und unterirdisch versteckt in dem riesigen Waldgebiet zwischen Liebenau, meinem Geburtsort, und dem Nachbarort Steyerberg. Grund und Boden gehören heute noch dem Bund, der IVG. (Die IVG Immobilien AG ist eine Immobiliengesellschaft mit Sitz in Bonn, welche aus der bundeseigenen Industrieverwaltungsgesellschaft mbH hervorgegangen ist.)

Es waren auch die schrecklichen Arbeitsbedingungen der Gefangenen, die Kriegsmaschinerie, die dort ermöglicht und in Gang gehalten wurde, die dumpfe Atmosphäre und das Unheimliche, das im Verborgenen so viel Leben ausgelöscht hatte, was die Lebensgärtner verändern wollten. An diesem Ort wollten sie leben. Hier sollte sich ein spirituelles und ökologisches, tolerantes und soziales Leben entwickeln können. An diesem Ort sollte es fortan nicht mehr Kriegsvorbereitung und Sterben geben, sondern ein friedliches Zusammenleben für Alt und Jung, das von allen Menschen praktiziert und gelernt werden könne, war das Ziel. Das empfanden viele alteingesessene Mitbürger aus Steyerberg und Liebenau als Provokation oder Einmischung. Inzwischen ist der Lebensgarten aber genauso ein Ortsteil wie andere Ortsteile auch, ein bisschen fremd, aber da.

Im Jahr 2000 erfuhr der Lebensgarten eine Würdigung, als er eines der Besichtigungsprojekte für die landesweite Ausstellung Expo 2000 mit finanzieller Unterstützung auch des Landes wurde. Viele Besucher kamen zu den kulturellen Veranstaltungen des Lebensgartens.

Alle Lebensgärtner, die dort wohnen wollen, sind Mitglied des Vereins und müssen neben ihrer Arbeit, die zum Teil außerhalb der Gemeinschaft ist, etwas anbieten, was der Gemeinschaft zugutekommt. Toleranz, ökologische Lebensweise auch Permakultur, soziales Engagement und kulturelle Vielfalt nach dem Muster von Findhorn Ecovillage in Schottland, sind zwingende Voraussetzung.

Mich faszinierte damals dieses Projekt. Ich konnte als örtliche Abgeordnete hin und wieder auch einige ihrer ökologischen Projekte mit staatlicher Finanzierung unterstützen.

Im Lebensgarten habe ich schon während meiner politischen Tätigkeit angefangen, Tai Chi zu lernen.

WARUM AUSGERECHNET ZEN? WAS IST ZEN FÜR MICH?

Vier Jahre später wurde dann der Lebensgarten mein 2. Rettungsanker, nachdem ich nicht mehr Berufspolitikerin war. Ich traf dort meinen späteren Zen-Lehrer Christoph Hatlapa. Er war auch Mitbegründer des Vereins und lebt seitdem dort mit seiner Familie. Wir kannten einander aus der politischen Zeit. Auch er machte Mediation (außergerichtliche Streitvermittlung) und gründete im Lebensgarten eine Schule für Mediation, die bisher sehr erfolgreich viele Menschen als Mediatoren ausgebildet hat.

Christoph und ich saßen auch hin und wieder auf einem Podium in der Akademie Loccum zusammen und er meint heute noch, ich sei eine recht streitbare Frau gewesen. Was ich aber nicht wusste, war, dass Christoph Dharma-Nachfolger von Oi Saidan Roshi war. Oi Saidan Roshi ist der Abt unseres japanischen Mutterklosters. Christoph gründete im Lebensgarten außerdem eine Zen-Gemeinschaft (Sangha) mit dem schönen Namen Choka Sangha, was Vogelnest-Sangha heißt, weil unsere Meditationshalle (Zendo) direkt unter dem Dach ist.

Ich meldete mich also zu einem Gespräch bei Christoph an und wollte mehr über Zen wissen. Er empfing mich mit der üblichen Tasse grünen Tees in seiner Küche und sagte zu mir: «Na endlich bist du da. Ich wusste, du würdest kommen.» So etwas machte mich stutzig. In meiner Vorstellung gab es Sekten, die rattenfängermäßig Leute sammelten. «Das ist doch hoffentlich nicht auch so eine», dachte ich mir. Reserviert aber neugierig und entschlossen meldete ich mich dann doch zum ersten Übungsabend «Dokusan» genannt und zu einem Wochenend-Sesshin an. Die beiden Zenbegriffe Sesshin und Dokusan erkläre ich weiter unten.

In meinem Zentagebuch finde ich folgenden Eintrag:

Sesshin Tagesplan 11. – 13.8.1995

4:00

Kaijo (Aufstehen)

4:30

Choka, Sarei und Zazen Morgenrezitation, Teezeremonie, Meditation

5:30

Dokusan und Zazen (Koanschulung)

7:00

Shukuza (Frühstück)

7:30

Nitten Soji (Aufräumen)

8:00

Samu (Arbeiten im Garten, Küche, Putzen,…..)

10:00

Sarei und Zazen

10:45

Zazen und Taiwa oder Teisho (Fragen an den Lehrer oder Lehrvortrag)

12:00

Saiza (Mittagessen)

12:30

Kyukei (Pause)

14:30

Samu

16:00

Sarei und Zazen

16:45

Dokusan und Zazen

18:00

Jakuseki (Abendessen)

19:30

Zazen

20:15

Dokusan und Zazen

21:30

Banka (Abendrezitation)

22:15

Yaza und Kaichin (Nachtsitzen und Bettruhe)

Richtig, es klingt anstrengend und ist es auch!

Ich fand Christoph aber sympathisch, das war der Grund, warum ich mich anmeldete. Viele meiner Schüler kamen später auch zu mir, weil die «Chemie stimmte» oder sie das Gefühl hatten, «das ist richtig», gestanden sie mir hinterher. So traf ich eine Schülerin auf einer Zugfahrt in einem rappelvollen Zug und stieg aus mit der Anmeldung von ihr zu meinem nächsten Sesshin. Sie ist heute noch meine Schülerin. Das ging bisher ständig so. Nie habe ich in irgendeiner Weise öffentlich geworben um Schülerinnen und Schüler zu bekommen, kein Internet, keine andere Werbung. Eigentlich wollte ich gar nicht Lehren und schon gar nicht Geld damit verdienen, was andere jüngere Sensei (Zen-Lehrer) natürlich müssen, wenn sie nicht im Kloster leben. Ich wollte mich um meine eigene spirituelle Entwicklung kümmern, das war spannend genug.

Nun erkläre ich weitere Zen-Fachbegriffe:

SESSHIN: jap. Ideogramm, bestehend aus ‹ses› und ‹shin›. Sesshin: Meditationstage/Woche (strenge Zenübung)

‹Ses›, kurz für ‹setsu›, wird verwendet im Sinne von: etwas angemessen annehmen oder berühren. Shunryo Suzuki, ein Zen-Meister, verstand es auch als: etwas angemessen kontrollieren und in Ordnung bringen, oder: so zu behandeln, wie man einen geehrten Gast behandelt.3

Shin bedeutet Geist oder Herzgeist. Sesshin bedeutet also, einen richtig funktionierenden Geist zu haben, anstelle unseres ichzentrierten Konzepts von uns selbst, unserem «Willi» oder «Affengeist» (wie Meister Rinzai sagte). Während eines Sesshin geben wir uns somit die Möglichkeit alles zu erlernen, was wir an Übungsmaterial brauchen, um mit uns und «Willi» besser klar zu kommen und so unserem Leben eine andere Richtung zu ermöglichen oder mehr von uns kennen zu lernen.

DOKUSAN: Alleinsein mit dem Roshi/Sensei. Im Dokusan gibt es die Koanschulung und/oder andere Möglichkeiten, zu erfahren, ob die Schüler mit ihrem Übungsweg klar kommen.

ROSHI: Ehrentitel für einen Zen-Meister (der Abt ist)

SENSEI: ZenlehrerIn

KOAN: von Kanna: Kan – genau anschauen und Na – etwas.

Später werde ich in einem Kapitel das Wort Koan ausführlicher erklären und versuchen, den Zusammenhang zwischen der Koanarbeit im Zen und im täglichen Leben an Beispielen deutlicher zu machen. Was ist also ein Koan? Es kann ein Problem oder ein unlösliches Ding, eben ein Paradoxon sein, auf das die Schüler eine Antwort finden müssen. Diese muss aber der Lehrer auch als «richtig» bestätigen. Das Weitere erkläre ich im Kapitel 6.

Ich besuchte also vom 11. – 13.8.1995 mein erstes Sesshin und war jeden Donnerstag bei den wöchentlichen Dokusan-Abenden. Ich meditiere morgens allein. Das ist das Gute am Zen-Weg. Es kostet nichts und man kann die Übungen überall auch allein machen, wenn man es schafft, sich jeden Tag 20 Minuten zu gönnen und im Leben Achtsamkeit zu üben.

Wenn man sich für einen Lehrer, eine Sangha (die Gruppe der Übenden) und eine Schulung entschieden hat, dann gehören auch Sesshin und Dokusan dazu. Ich habe mich vor Jahren damals dazu entschieden und bin seitdem Mitglied der Choka Sangha und nicht von meinem spirituellen Zen-Weg abgewichen. Er ist nun ein Bestandteil meines Lebens, wie alles andere auch, was ich erlernt habe. Ohne einen Lehrer oder eine Lehrerin stelle ich mir das am Anfang sehr schwer vor und würde es auch keinem empfehlen.

Natürlich hatte ich Schwierigkeiten mit den ungewohnten Ritualen und mit der Zen-Fachsprache. Ich hatte große Probleme mit dem Tragen einer Robe, die mich an eine Uniform erinnerte und lehnte das ab. Mich schreckten die strengen, harten Disziplinierungsvorgaben ab, wie schnelles Essen, den Keisaku, den Weckstab zu benutzen oder darum zu bitten, die endlosen Sitzrunden tagsüber und nachts und das Gehorchen und Tun von Dingen, die ich nicht verstand oder verstehen wollte. Im Sommer Hitze, im Winter Kälte, Müdigkeit, Hunger und Bewegungsdrang, das alles sollte unwichtig werden und gehörte zu den Achtsamkeitsübungen. Verbeugen und immer wieder Verbeugen warum denn bloß? Ich werde das erklären!

Innere und äußere Freiheit zu leben war das Ziel und um das zu erreichen, musste ich egoistische Anwandlungen verstehen lernen. Ich hätte gewettet, dass das so nicht funktioniert und verstehe auch heute noch nicht, warum ich nicht sofort weggelaufen bin, aber ich blieb und habe nun verstanden und werde es bis zum Ende des Buches hoffentlich hinreichend an Beispielen erklärt haben.

Wir übten also im Sesshin und an den Dokusan-Abenden nach jahrhundertealten Klosterregeln, die wir von unserem Mutterkloster in unserer Rinzai-Schule übernommen haben und nach denen ich auch heute mit meinen zwei Sanghas übe. Damals und auch heute habe ich aber eingesehen, dass das Leben von jungen Frauen und Männern, die ihre Klosterausbildung zu allen Zeiten in Zenklöstern und anderen buddhistischen Klöstern begonnen haben, nicht mehr für uns westliche Menschen passt. Das Kloster kann die Heimat von jungen Menschen werden, wenn sie Nonne oder Mönch werden wollen. Also wurden sie auch so erzogen. Ich wollte es ja auch, als ich 14 Jahre alt war, mit dem Ergebnis, dass ich erkannte: ich gehöre mitten ins Leben und nicht hinter Mauern.

Im Zen und vor allem mit meinem Lehrer fühlte ich mich endlich gut aufgehoben. Deshalb konnte ich mich entschließen Zuflucht zu nehmen, zu Buddha, Dharma und Sangha. Mit dieser feierlichen Zeremonie versprach ich mir, die Fünf Silas4 in mein Leben als Achtsamkeitsübungen aufzunehmen. Ich werde dieses sehr ausführlich in einem Kapitel erklären, denn sie haben mein Leben reicher gemacht. Diese Übungen ähneln den Zehn Geboten, die wir aus dem Christentum kennen.

Nach einigen Jahren konnte ich mich auch zur Laienordination entschließen und bekam meinen buddhistischen Namen Ho Shin. Ho Shin bedeutet etwa Ho – der Gipfel, Shin – Geist, also: Ho Shin – das Gesetz, der Gipfel des Geistes. Auch bei dieser feierlichen Zeremonie gab ich mir das Versprechen, fünf weitere ethische Achtsamkeitsübungen zu praktizieren, die ich auch später ausführlich erklären werde.

Plötzlich waren Robe, Gelöbnis, Zeremonien und alles andere für mich eine heilige Handlung. Die Samen in meinem Herzen waren gereift und fingen an zu sprießen. Endlich war ich in meinem Herzen zu Hause angekommen. Dazu brauchte und fand ich, Buddha sei Dank, etwas anderes als ins Kloster zu gehen.

Der Buddha hat den Laienstand ausdrücklich anerkannt. Im Vimalakirti-Nirdesa-Sutra5 wird die Geschichte von dem berühmtesten Laienschüler zu Buddhas Zeiten erzählt. Vimalakirti lebte in Biyali, wo der Buddha gerade predigte.

Eigentlich ist damit meine Einführung in den Zen-Übungsweg beendet. Ich könnte sagen, ich kenne jetzt alles, was ich auf meinem Lebensweg brauche, um auch ein spirituelles Leben zu führen. Aber das war es nicht. Wer einmal begonnen hat sein Herz zu öffnen und einmal erkannt hat, dass Empathie der Schlüssel zum friedlichen Zusammenleben aller Wesen ist, der braucht keine Wunder, um zu erwachen. Der ist wach. Und doch ist das nur wieder der Anfang bis zu dem «großen Erwachen». Das große Erwachen beschreibe ich in einem gesonderten Kapitel.

Wie erging es mir nun mit einem Dharma-Lehrer, der seine Ausbildung in einem japanischen Kloster vervollständigt und das Mönchsgelübde abgelegt hat und Inka von seinem Lehrer Oi Saidan Roshi bekam? Inka ist die Erlaubnis den Dharma zu lehren. Das geschieht ziemlich selten und bedeutet außerdem, dass man Dharma-Nachfolger seines Lehrers ist. Darüber berichte ich im Kapitel 3.

MEIN LEHRER