Meinungsfreiheit! - Volker Kitz - E-Book

Meinungsfreiheit! E-Book

Volker Kitz

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Beschreibung

»Einer anderen Meinung zu widersprechen und sie trotzdem gelten zu lassen – das ist die große Kunst.« Ein Plädoyer für echte Demokratie. »Gutmenschen« und »Pack«, »Populisten« und »Volksverräter«: Immer heftiger prallen in unserer Gesellschaft Menschen und Meinungen aufeinander. Und immer unversöhnlicher werden die Fronten. Wir sind davon überzeugt, andere von unserem Weltbild überzeugen zu müssen. Doch echte Demokratie geht anders: Einer anderen Meinung zu widersprechen und sie trotzdem gelten zu lassen – das ist die große Kunst. »Meinungsfreiheit« plädiert dafür, diese Kunst (wieder) zu üben, und zielt damit auf eine Gesellschaft, in der es höhere Werte gibt als kleinkarierte Rechthaberei: wahre Freiheit und wahre Toleranz. Nur so können wir unsere aktuell bedrohte demokratische Zukunft sichern.

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Seitenzahl: 101

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Dr. Volker Kitz

Meinungsfreiheit!

Demokratie für Fortgeschrittene

FISCHER E-Books

Inhalt

Dieses Buch ist für …1 Beschütze die Wahrheit am richtigen Ort2 Verteidige die Freiheit, wo es keine Wahrheit gibtEine Meinung braucht keinen sachlichen Grund.Eine Meinung braucht nicht einmal einen emotionalen Grund.Eine Meinung braucht kein Wissen.Eine Meinung braucht keine Betroffenheit.3 Liebe die Möglichkeit, zu hassen4 Widersage der Teufelsaustreibung5 Betrachte Medien realistisch6 Denke unsachlich7 Hab nicht nur eine Meinung, sondern auch einen Plan8 Ertrage Schmerzen9 Halte Wache an der GrenzeBeleidigerFaktenfälscherFriedensstörer10 Sei Vorbild, statt vorzuschreiben11 Leiste Widerstand, wenn du gebraucht wirst12 Geh an die frische LuftZum Nach- und Weiterlesen1 Beschütze die Wahrheit am richtigen Ort2 Verteidige die Freiheit, wo es keine Wahrheit gibt3 Liebe die Möglichkeit, zu hassen4 Widersage der Teufelsaustreibung5 Betrachte Medien realistisch6 Denke unsachlich7 Hab nicht nur eine Meinung, sondern auch einen Plan8 Ertrage Schmerzen9 Halte Wache an der Grenze10 Sei Vorbild, statt vorzuschreiben11 Leiste Widerstand, wenn du gebraucht wirst12 Geh an die frische Luft

Dieses Buch ist für …

die 37 Prozent der Menschen,

die zuletzt in einer Umfrage der Ansicht waren, sie könnten in Deutschland nicht frei ihre Meinung sagen,

die anderen,

die im Gegenteil finden, die Meinungsäußerungen seien viel zu laut und viel zu krass geworden,

 

und

für alle, die wie ich glauben:

Demokratie ist mehr als Rechthaben.

1Beschütze die Wahrheit am richtigen Ort

Am Neujahrsmorgen 2016 beschrieb die Kölner Polizei die vergangene Silvesternacht als »weitgehend friedlich«, die Einsatzlage als »entspannt«. Bald schilderten Frauen auf Facebook sexuelle Übergriffe und Diebstähle vor dem Hauptbahnhof. Nur nach und nach berichteten Medien. Erst spät wurde in der Öffentlichkeit bekannt, dass größtenteils junge Männer aus dem nordafrikanischen und arabischen Raum tatverdächtig waren, darunter solche, die in Deutschland Asyl beantragt hatten. Am 8. Januar versah die Polizei ihre ursprüngliche Pressemitteilung mit dem Warnhinweis »inhaltlich nicht korrekt«.

Im selben Januar kursierten Behauptungen im Internet, eine Lidl-Filiale auf der Schwäbischen Alb habe schließen müssen. Flüchtlinge hätten sie ausgeplündert. Polizei und Medien widersprachen. Der Markt ist bis heute geöffnet.

Im selben Januar verschwand ein 13-jähriges Mädchen aus Berlin-Marzahn für eine Nacht. Nach seiner Rückkehr behauptete es, südländische Männer hätten es vergewaltigt. Die Nachricht verbreitete sich, Menschen demonstrierten mit Plakaten: »Unsere Kinder sind in Gefahr«. Die Polizei ortete das Handy des Mädchens, fand heraus: Es hatte die Nacht bei einem Freund verbracht. Rechtsmediziner entdeckten keine Spuren einer Vergewaltigung. Das Mädchen gab zu, gelogen zu haben.

Im immer noch selben Januar veröffentlichte eine Mitarbeiterin des Vereins »Moabit hilft« auf Facebook: »Soeben ist ein 24-jähriger Syrer, der tagelang am Lageso bei Minusgraden im Schneematsch angestanden hat, nach Fieber, Schüttelfrost, dann Herzstillstand im Krankenwagen, dann in der Notaufnahme – VERSTORBEN.« Journalisten reisten aus dem In- und Ausland an, es gab eine Trauerfeier, ein Kondolenzbuch, öffentliche Vorwürfe. Die Polizei widersprach. Ein Helfer gestand, sich die Geschichte ausgedacht zu haben.

Im Herbst 2016 ermordete ein Mann in Freiburg eine Studentin. Die Staatsanwaltschaft klagte später einen afghanischen Flüchtling an. Auf Facebook kursierte ein Satz, den Renate Künast der Süddeutschen Zeitung gesagt haben sollte: »Der traumatisierte junge Flüchtling hat zwar getötet, man muss ihm aber jetzt trotzdem helfen.« Das Zitat war erfunden.

Nach der Amtseinführung des amerikanischen Präsidenten Donald Trump im Januar 2017 sagte dessen damaliger Sprecher Sean Spicer: »Das war das größte Publikum, das jemals bei einer Vereidigung dabei war, sowohl vor Ort als auch weltweit. Punkt.« Die Aussage deckte sich weder mit Luftaufnahmen noch mit den Fahrgastzahlen der U-Bahn in Washington. Doch Kellyanne Conway, Beraterin des Präsidenten, lieferte eine Erklärung, die sie berühmt machte: Der Sprecher habe »alternative Fakten« geäußert.

Das alles sind ganz unterschiedliche Ereignisse, die zu einer merkwürdigen Stimmung beigetragen haben. Zwei Unbehagen mischen sich in ihr. Das eine ist die Furcht vor der entfesselten Unwahrheit. Vor einem Land, in dem aus jeder ungekehrten Ecke widersprüchliche Informationen kriechen, Falschmeldungen die Menschen verunsichern, in dem keiner weiß, was und wem er glauben darf. Und alle anfällig sind für Manipulation und Demagogen.

Viele kämpfen deshalb für die Wahrheit. Der Bundesinnenminister erwog ein »Abwehrzentrum gegen Desinformation«. Facebook erprobt Kommissionen, die Falschnachrichten aufspüren. In Talkshows beschuldigen sich Gäste, Fakten zu verdrehen oder nicht zu kennen. Auf den Sofas zu Hause, bei der Diskussion in der Familie, am Arbeitsplatz, unter Freunden: das Gleiche. Hier wie da jagen wir Aussagen durch den Faktencheck.

Doch so einfach ist es nicht. Denn das zweite Unbehagen ist die Furcht vor der Zensur. Vor einem Land, in dem ein Nebeneinander unterschiedlicher Sichtweisen nur Nostalgie ist, eine Diskussion überflüssig, weil eine Behörde entscheidet, was wahr ist – und das war’s. »Fake News sind schlimm, aber ein Wahrheitsministerium ist schlimmer«, sagte der Vizepräsident der Europäischen Kommission, Andrus Ansip.

Hier blitzen Bilder aus George Orwells Roman 1984 auf: Ein Ministerium kontrolliert das Denken und Sprechen der Bevölkerung. Die Realität in manchen Staaten schockiert nicht weniger. In der Türkei zählte die Berufsvereinigung zuletzt 144 kritische Journalisten im Gefängnis, 839 standen im Jahr 2016 vor Gericht. Aus Russland erreichen uns seit Jahren Meldungen über Morde an Journalisten. Diese Dinge passieren Menschen, die etwas »Falsches« sagen.

Chaos oder Tyrannei: Wenn wir weder das eine noch das andere wollen, bleibt nur ein Land zwischen den beiden Horrorszenarien. Ein Land, in dem Menschen für die Wahrheit kämpfen, aber nicht gegen die Freiheit. In einem solchen Land kann im Gefängnis landen, wer eine Vergewaltigung erfindet – nicht aber, wer die Regierung kritisiert. Ein solches Land erhält sich nicht von selbst. Wir müssen es jeden Tag verteidigen. Was dafür zu tun ist, darum geht es in diesem Buch.

Alles fängt mit dem ersten, wichtigsten Schritt an: Zu erkennen, wo es die Wahrheit überhaupt geben kann – und wo nicht. Welche Aussagen wir dem Wahrheitstest unterziehen dürfen und welche nicht. Nur Aussagen über Tatsachen sind entweder richtig oder falsch, nur hier kann man die Wahrheit suchen, finden und verteidigen. Es ist wichtig, das zu tun. Genauso wichtig ist es aber, die Wahrheit an der falschen Stelle nicht zu verteidigen.

Denn es gibt auch Äußerungen, die weder richtig noch falsch sein können, bei denen es töricht ist, die Wahrheit zu suchen, und schädlich, sie zu verteidigen. Das sind Meinungen.

Eine Tatsache können wir mit menschlichen Sinnen direkt wahrnehmen: sehen, riechen, hören, schmecken oder fühlen. Sie lässt sich überprüfen, indem man einen Ort aufsucht (zum Beispiel einen Supermarkt, um zu schauen, ob er geöffnet hat) oder eine Sache betrachtet (zum Beispiel eine Süddeutsche Zeitung, um zu schauen, ob darin ein Zitat von Renate Künast steht). Oder jemanden fragt, der dabei war (zum Beispiel, was er in der Silvesternacht vor dem Kölner Hauptbahnhof gesehen hat) oder jemanden, der Fachwissen hat, einen Sachverständigen (zum Beispiel einen Arzt, ob er an einem Körper Vergewaltigungsspuren findet). Diese Mittel stammen aus dem einzigen Ort, der über ein Verfahren verfügt, um die Wahrheit aufzuklären: dem Gerichtssaal, in dem es eine Beweisaufnahme gibt.

Aus den möglichen Beweismitteln können wir schließen, was eine Tatsache ist: Alles, was sich mit diesen Mitteln klären lässt. Zumindest theoretisch. Denn auch ein Satz wie »Auf dem Mars gibt es Lebewesen« ist entweder richtig oder falsch. Momentan fehlen die Möglichkeiten, ihn zu überprüfen, doch nach dem ersten bemannten Marsflug werden wir Bescheid wissen. Alle Aussagen, die sich dann als falsch herausstellen, werden ihre Berechtigung verlieren.

Bis dahin ist der Satz eine Theorie. Die Theorie gehört zur seriösen Methodik der Wissenschaft. Doch als Verschwörungstheorie ist sie in Verruf geraten. Die eine unterscheidet von der anderen nicht, dass ihr Inhalt fernliegt. Wer vor einigen Jahren behauptet hätte, der Auslandsgeheimdienst der USA überwache mit einem geheimen Programm systematisch die Weltkommunikation, wäre als Verschwörungstheoretiker verlacht worden – bis der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden dafür die Beweise lieferte. Wer vermutet hätte, Autohersteller manipulierten Fahrzeuge, um Abgaswerte in Tests zu fälschen, wäre bis zum Sommer 2015 als irre abgetan worden – bis es die amerikanische Umweltschutzbehörde aufdeckte.

Der Unterschied liegt woanders: Der Verschwörungstheoretiker hat kein Interesse an einer ergebnisoffenen Überprüfung. Er will seine Theorie auf Biegen und Brechen aufrechterhalten, denn sie stützt sein Weltbild. Selbst gegenteilige Erkenntnisse nutzt er als vermeintlichen Beleg. Eine seriöse Theorie dagegen öffnet auch ihrer Widerlegung emotionslos die Tür.

Wie viele Besucher an der Amtseinführung von Donald Trump teilnahmen, ob jemand vergewaltigt wurde, gestorben ist, einen bestimmten Satz gesagt hat, ob ein Supermarkt geschlossen ist – all das sind Tatsachen. Unterschiedlicher Ansicht kann man darüber nicht sein. Eine Aussage, die entweder richtig oder falsch ist, kann nicht frei sein, auch nicht in einem freien Land. Es gibt kein Dazwischen, keine alternativen Fakten. Falsche Informationen haben keinen gesellschaftlichen Wert. Sie tragen nicht zu einer brauchbaren Meinungsbildung bei. Sie stützen keine tauglichen Entscheidungen, weder in der Politik noch im Privatleben. Falsche Informationen sind nicht von unserer Verfassung geschützt, und es ist richtig, sie zu ächten. Wer sie verbreitet, disqualifiziert sich, darf von seinen Mitmenschen korrigiert und vom Staat sanktioniert werden.

Denn die gemeinsame Realität ist eine Unverzichtbarkeit der Demokratie. Wissen wir, was in Köln an Silvester passiert ist, kann daraus jeder seine Schlüsse ziehen. Sie können sehr unterschiedlich sein. Damit kommen wir zurecht. Glaubt aber jeder an eine andere Version des Geschehens, wird ein Zusammenleben unmöglich. Wenn jeder nicht nur seine Meinung hat, sondern auch in seine eigene Realität abdriftet, fällt die Gesellschaft auseinander.

Dieses Buch ist ein Plädoyer dafür, mit Meinungen gelassener umzugehen. Doch am Anfang eines Buches über Meinungsfreiheit sollten wir festhalten, was nicht frei ist: Meinungsfreiheit ist keine Tatsachenfreiheit. Gegen falsche Tatsachen kämpfen, gegen die Verzerrung der Wirklichkeit, das ist wichtiger, als es scheinen mag. Die Unwahrheit ist heute ein Geschäft: Man kann bewusst gefälschte Nachrichten, »Fake News«, im Darknet kaufen, dem anonymen Internet. Unternehmen bieten an, Einzelpersonen für ein paar tausend Euro zu diskreditieren. Eine Lügenkampagne, die Proteste provoziert, gibt es für gut 150000 Euro. Ab 300000 Euro soll man eine politische Wahl beeinflussen können. Zwar sind Gerüchte keine Erfindung des Internets, es gab sie immer, auf Marktplätzen, in Briefen, in Zeitungen und Büchern, am Telefon. Die Gesellschaft hält eine Gerüchteküche aus. Doch wenn die Hitze übergreift, kann Feuer das ganze Haus einäschern.

Die Wahrheit zu beschützen kann mühsam sein. Die Beispiele zeigen: Oft verbreiteten sich falsche Nachrichten in sozialen Netzwerken, während Polizei und Medien zutreffend berichten. Manchmal ist es aber umgekehrt, wie nach der Silvesternacht in Köln. Wüssten wir ohne Facebook heute, was in den ersten Stunden des Jahres 2016 dort geschehen ist?

Für den Demokraten kann es nötig werden, sich selbst zu informieren: einen Ort aufzusuchen, um mit eigenen Augen zu sehen. Oder jemanden zu fragen, der mit eigenen Augen gesehen, mit eigenen Ohren gehört hat. In unsicheren Zeiten sollten wir immer die Informationsquelle suchen, die am nächsten am Geschehen war. Es ist ein Unterschied, ob eine Polizistin, ein Journalist, ein Teilnehmer von etwas berichtet, das er selbst erlebt hat. Oder ob jemand einen Bericht über das tippt, was andere ihm sagen. Erst recht hat es nichts zu bedeuten, wenn jemand auf Facebook eine Meldung teilt. Der Demokrat interessiert sich immer dafür, aus welcher Quelle die Nachricht zuerst kam. Das Prinzip der Unmittelbarkeit schützt vor der Verbreitung von Falschnachrichten.

Je mehr Unmittelbarkeit, desto besser: Behauptet ein Helfer, ein Flüchtling sei gestorben, und hat sonst niemand etwas davon mitbekommen, nicht die Umstehenden, nicht die Rettungskräfte, nicht die Ärzte, die den Tod festgestellt haben sollen – dann ist Vorsicht die Tugend des Demokraten. Ebenso wäre es gewesen, wenn ein einziger Mensch auf dem Kölner Bahnhofsplatz etwas anders gesehen hätte als alle anderen, die Polizei, die Journalisten, die übrigen Besucher. Das Bild entstand, weil sich übereinstimmende Augenzeugenberichte häuften.

Zur Wahrheit kann aber auch gehören, wieder ein Stück zurückzutreten und die Totale zu betrachten. Denn die Wahrheit kann aus mehreren Teilen bestehen, und nur zusammen ergeben sie die ganze Wahrheit. Noch am 5. Januar 2016