Meisterin der Runen - Julia Kröhn - E-Book
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Meisterin der Runen E-Book

Julia Kröhn

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Beschreibung

Sie träumt davon, eine Runenmeisterin zu sein, doch das Schicksal will es anders ...

Normandie, 962: Die junge Dänin Gunnora betritt mit ihrer Familie zum ersten Mal normannischen Boden. Noch glaubt sie fest daran, ein schönes, neues Leben beginnen und ihrer Mutter in der Kunst der Runenmagie nacheifern zu können. Aber aus dem Traum wird bald ein bitterer Kampf ums Überleben: Ihre Eltern sterben, und Gunnora muss alleine für ihre Schwestern sorgen. Ihr Leben verändert sich jedoch jäh, als sie Richard, dem Herzog der Normandie, begegnet ...

Ebenfalls von Julia Kröhn bei beHEARTBEAT lieferbar: "Das Lied der Nebelinsel".

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Inhalt

Cover

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Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Zitat

Die Runen

Vorbemerkung

Fécamp 996

I. 962

Fécamp 996

II. 962

Fécamp 996

III. 962

Fécamp 996

IV. 964

Fécamp 996

V. 964

Fécamp 996

VI. 964

Fécamp 996

VII. 965

Fécamp 996

VIII. 965

Fécamp 996

IX. 965

Fécamp 996

X. 965-966

Fécamp 996

XI. 966

Fécamp 996

XII. 966

Fécamp 996

XIII. 988

Fécamp 997

Historische Anmerkung

Weitere Titel der Autorinbei beHEARTBEAT

Das Lied der Nebelinsel

Die Normannen-Trilogie:

Band 1: Tochter des Nordens

Band 2: Kinder des Feuers

Ebenfalls lieferbar:

Distel und Rose

Über dieses Buch

Sie träumt davon, eine Runenmeisterin zu sein, doch das Schicksal will es anders …

Normandie, 962: Die junge Dänin Gunnora betritt mit ihrer Familie zum ersten Mal normannischen Boden. Noch glaubt sie fest daran, ein schönes, neues Leben beginnen und ihrer Mutter in der Kunst der Runenmagie nacheifern zu können. Aber aus dem Traum wird bald ein bitterer Kampf ums Überleben: Ihre Eltern sterben, und Gunnora muss alleine für ihre Schwestern sorgen. Ihr Leben verändert sich jedoch jäh, als sie Richard, dem Herzog der Normandie, begegnet …

E-Books von beHEARTBEAT – Herzklopfen garantiert.

Über die Autorin

Julia Kröhn wurde 1975 in Linz an der Donau geboren. Heute lebt die Fernsehjournalistin und Autorin in Frankfurt am Main. Sie veröffentlicht unter verschiedenen Pseudonymen sehr erfolgreich Kinder-, Fantasy- und Historische Romane. Unter dem Pseudonym Carla Federico erhielt die Bestsellerautorin im Jahr 2010 den internationalen Buchpreis CORINE für ihren Roman »Im Land der Feuerblume«.

Besuchen Sie die Autorin unter www.juliakroehn.de im Internet.

Julia Kröhn

MEISTERINDER RUNEN

Historischer Roman

beHEARTBEAT

Digitale Neuausgabe

»be« – Das E-Book-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2013 by Bastei Lübbe AG, Köln

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Melanie Blank-Schröder

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock: faestock | naKornCreate | JJFarq

E-Book-Produktion: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-8694-3

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Runen ritze keiner,weiß er nicht,was sie bedeuten!

Die Runen

Vorbemerkung

Seit dem 9. Jahrhundert suchen Wikinger aus Dänemark und Norwegen den Norden des Westfrankenreichs heim. Um der steten Bedrohung Herr zu werden, bietet der fränkische König einem ihrer Anführer, Rollo, 911 ein Stück Land am Unterlauf der Seine an, künftig das Land der »Nordmänner«, Normandie, genannt. Voraussetzung dafür ist, dass jener Rollo dem fränkischen König den Lehnseid schwört und sich taufen lässt.

Trotz des Bekenntnisses zum Christentum bleibt Rollo innerlich zeitlebens der nordischen Religion verpflichtet – ganz anders als sein Sohn und Nachfolger, Graf Wilhelm Langschwert: Der zweite Graf der Normandie ist gläubiger Christ und passt sich der fränkischen Kultur voll und ganz an. Sein Sohn Richard, seit 941 der nunmehr dritte Graf der Normandie, tut es ihm gleich.

Doch seine Nachbarn – ob nun die Mächtigen im fränkischen Königreich oder die der diversen Grafschaften – akzeptieren Richard nur vermeintlich als ebenbürtigen Herrscher. Zu groß ist insgeheim das Misstrauen gegenüber einem, der von den rohen »Nordmännern« abstammt. Zu groß auch ihre Gier, sich sein Herrschaftsgebiet selbst einzuverleiben …

FÉCAMP996

Agnes fand es langweilig, auf den Tod zu warten. Sie hatte ihn sich anders vorgestellt, unheimlicher und bedrohlicher, hatte Schauder erwartet, die ihr über den Rücken rannen, weil mit dem Tod doch die Dämonen kamen, um nach der unsterblichen Seele zu gieren und mit Gottes Engeln eine Schlacht auszufechten. Doch da waren keine dunklen Schatten, kein geheimnisvolles Wispern unsichtbarer Gestalten, kein Flügelschlagen überirdischer Wesen, nein, da war nichts, was von der jenseitigen Welt kündete, nur jede Menge Rauch, der in der Kehle kitzelte. Und da waren ausdruckslose Gesichter.

Der ganze Hofstaat hatte sich am Totenbett des Grafen der Normandie versammelt: seine Getreuen, die Großen des Landes, der Klerus und natürlich seine Familie – seine Gattin und die zahlreichen Kinder und Kindeskinder.

Sie alle wirkten ernst. Ob sie auch gelangweilt waren wie sie und enttäuscht vom Tod, konnte Agnes nicht sagen, aber sie war überzeugt, dass alle hofften, dieses quälend lange Ringen möge nicht mehr allzu lange dauern. Ob nun allerdings der Tod zu schwach war oder der Graf zu stark – es ging einfach nicht zu Ende.

Eine Woche zuvor war der Graf während eines Aufenthalts in Bayeux zusammengebrochen. Er hatte sich dort vom Fortschritt der Bauarbeiten – seit einigen Jahren werkte man daran, aus den Ruinen der römischen Zitadelle einen fürstlichen Palast erstehen zu lassen – überzeugen wollen. Doch ehe er die neuen Wände bestaunen und sich ein künftiges Leben darin ausmalen konnte, war er, so der Bericht seines Halbbruders Raoul von Ivry, von einer Ohnmacht überwältigt worden. Er erwachte daraus bald wieder, wurde seitdem aber von grässlichen Schmerzen geplagt, im Kopf ebenso wie in den Gliedern.

Sein Zustand verschlechterte sich, sodass man ihn, der doch zeit seines Lebens gern geritten war, im Wagen nach Fécamp bringen musste. Bei seiner Ankunft fühlte er sich zu elend, deswegen Scham zu bekunden. Schlimm genug, dass er gleich danach sterben sollte, stand es dennoch nicht um ihn. In aller Ruhe hatte er von den Seinen Abschied genommen, mit rasselnder Stimme erklärt, dass sein ältester Sohn der Erbe der Normandie sei, und ins Gebet der Mönche eingestimmt. Mittlerweile war er verstummt, atmete jedoch immer noch.

Agnes unterdrückte ein Seufzen. Sie verstand nun, warum die heidnischen Nordmänner, die einst dieses Reich gegründet hatten, mittlerweile aber allesamt getauft worden waren, das langsame Sterben im Bett als Fluch ansahen: Wer auf dem Schlachtfeld fiel, starb einen ruhmreichen und vor allem schnellen Tod.

Ob sich auch der Graf langweilte? Und ob er womöglich mit einem Gähnen, nicht mit einem Lächeln bei Petrus an der Pforte klopfen würde?

Sein Gesichtsausdruck war jedenfalls so leer wie der der anderen – oder nein … nicht aller.

Agnes war plötzlich hellwach. Bei zweien der Mönche nahm sie eine große Anspannung wahr, die nicht allein das langsame Sterben des Grafen bedingen konnte. Der eine hieß Bruder Ouen und war für seine außergewöhnliche Leibesfülle ebenso bekannt wie für seine schöne Schrift, weswegen er seit Jahren dafür Verantwortung trug, bei Hofe Urkunden anzufertigen. Der andere war Bruder Remi. Obwohl er erst wenige Tage zuvor angereist war, kannte dennoch der ganze Hof in Fécamp seinen Namen: Er war ein Mönch vom Mont-Saint-Michel und darauf so stolz, dass er einem jeden diese Tatsache unter die Nase rieb, ob der es nun wissen wollte oder nicht.

Die beiden Mönche schienen sich zu kennen, denn eben nickten sie sich zu, woraufhin sich Bruder Ouen schwerfällig vom Bett des Sterbenden entfernte und nach draußen trat. Bruder Remi folgte ihm rasch, nachdem er sich noch einmal misstrauisch umgesehen hatte.

Agnes’ Herz pochte schneller, als auch sie sich unauffällig erhob und den Gang betrat. Den übrigen Versammelten mochte entgangen sein, was die beiden trieben, und hätten sie es bemerkt, hätten sie ihr Verschwinden nicht weiter infrage gestellt, doch in ihr erwachte die Neugier, was die beiden wohl bewogen hatte, sich aus dem Sterbezimmer zu schleichen.

Vielleicht gab es einen harmlosen Grund, und sie suchten lediglich die Latrinen auf oder wollten sich den Magen vollschlagen. Zumindest Bruder Ouen war nicht grundlos so dick, sondern dafür bekannt, dass er der Versuchung der Völlerei viel öfter erlag als widerstand. Vielleicht hatten die beiden aber auch Wichtiges zu bereden, und herauszufinden, ob das stimmte, war in jedem Fall abwechslungsreicher, als den siechen Grafen zu betrachten.

Agnes folgte den beiden Geistlichen mit raschem, lautlosem Schritt. Sie waren am Ende des Gangs stehen geblieben, hatten die Köpfe zusammengesteckt und tuschelten aufgeregt miteinander. Agnes nahm nur ein Zischen der Stimmen wahr, doch als sie näher schlich, glaubte sie, einzelne Wörter zu verstehen.

»Was nun tun … lang gehütetes Geheimnis … einer meiner Mitbrüder … kurz vor seinem Tod anvertraut … unabsehbare Folgen …«

Agnes stand im Schatten einer Säule verborgen und atmete tief durch. Die lähmende Müdigkeit fiel jäh von ihr ab, und ihr Körper spannte sich nicht minder an als der der beiden Mönche.

»Ich lebe seit Jahren hier bei Hofe«, erklärte der dicke Bruder Ouen eben, und sein Doppelkinn erbebte, »aber in all dieser Zeit habe ich noch nie etwas von diesen Schriften gehört.«

»Natürlich nicht!« Bruder Remi wirkte ungeduldig. Sein Kinn war anders als das von Bruder Ouen spitz und seine Nase nicht minder, was Agnes unwillkürlich an einen Raubvogel denken ließ. »Wenn alle Welt davon wüsste, dann wären es ja keine geheimen Schriften. Aber ich bin mir sicher, dass die Gräfin sie irgendwo aufbewahrt!«

Bruder Ouen schüttelte den Kopf, und wieder bebte das schlaffe Kinn. »Es wäre närrisch von ihr gewesen, das zu tun, vorausgesetzt, diese Schriften sind tatsächlich so gefährlich, wie du behauptest.«

»Mhm«, machte Bruder Remi. »Sie mag ja eine kluge Frau sein, aber dennoch bleibt sie ein Weib, und den Weibern hat, wie wir alle wissen, Gott mehr Gefühl als Verstand gegeben. Was bedeutet, dass sie den Hof kundig zu führen weiß und kostbare Kleidung samt Schmuck mit Würde zu tragen, nicht unbedingt jedoch, dass sie in weiser Voraussicht künftiger Politik zu handeln versteht.« Verachtung schwang in seiner Stimme mit.

Bruder Ouen stellte den anderen für diese schmähenden Worte nicht zur Rede. »Und jetzt?«, fragte er.

»Nun …«, setzte Bruder Remi gedehnt an, »… du weißt doch gewiss, wo sich das Gemach der Gräfin befindet. Eine bessere Gelegenheit, nach diesen Schriften zu suchen und sie an uns zu bringen, wird es nicht geben. Undenkbar, dass sie sich in den nächsten Stunden auch nur ein Jota vom Bett ihres Gatten entfernt.«

Jetzt erzitterte Bruder Ouens ganzer Körper vor Erregung, und überdies glaubte Agnes, Schadenfreude in seiner Miene zu lesen. Sie spürte Wut in sich aufsteigen.

»Die Gräfin ist ein stolzes Weib«, murmelte er. »Sie hielt sich immer über alle Welt erhaben und für unbesiegbar. Doch wenn es stimmt, was du sagst …«

»Es stimmt, du kannst es mir glauben!«

»Nun, wenn sie tatsächlich dieses Geheimnis hütet, wir es aber aufdecken und mit besagten Schriften den Beweis erbringen würden, dass wir nicht üble Verleumdung begehen, sondern die Wahrheit sagen, so wäre nicht nur ihr Ruf zerstört. Die Zukunft der Normandie stünde auf dem Spiel!«

Auf seine aufgeregten Worte folgte Gelächter, das wie das Meckern einer Ziege klang. Was ihn zu belustigen schien, jagte Agnes einen eisigen Schrecken über den Rücken. Seit Stunden wartete sie darauf, innerlich zu erbeben, doch nun brachte sie nicht der zu erwartende Tod des Grafen dazu, sondern die Ahnung, dass sie etwas gehört hatte, was sie niemals hätte hören dürfen.

»So ist es!«, stimmte Bruder Remi nicht minder triumphierend zu.

Gütiger Gott!, dachte Agnes bestürzt. Was bloß war das Geheimnis der Gräfin der Normandie, die im Nebenraum von ihrem geliebten Gatten Abschied nahm? Und welchen Schaden würden diese beiden Mönche bewirken, könnten sie es tatsächlich ans Licht zerren?

I.

962

Das Licht war derart trübe, dass Gunnora die einzelnen Zeichen kaum erkennen konnte, weswegen sie mit ihren Fingern ehrfürchtig darüberfuhr, um sie sich einzuprägen. Ihre Mutter Gunhild hatte sie mit einem kleinen Messer ins Holz geritzt. Nach einer Weile nahm Gunnora ihr das Werkzeug ab und ritzte nun selbst einige Runen.

»Ich beherrsche jetzt alle Zeichen«, erklärte sie stolz.

In früheren Zeiten hatte es nur sechzehn Runen gegeben, später waren acht weitere hinzugekommen. Und dann gab es noch einige Geheimrunen, die nur wenigen bekannt waren: Eine glich einem Wolf, und wenn man sie in den Grabstein eines Verstorbenen ritzte, war dieser für immer verflucht. Eine große Macht lag in den Runen, und die Mutter wurde nicht müde, sie vor dieser Macht zu warnen, so auch jetzt.

»Jede Rune steht für ein Zeichen, aber überdies hat sie einen eigenen Namen, der andeutet, worin ihre Macht besteht. Und jede Rune kann etwas Gutes bewirken, wenn man sie jedoch verkehrt herum zeichnet, etwas Schlechtes. Das darfst du nie vergessen!«

Ihre Stimme wurde immer leiser, der Griff um Gunnoras Schultern fester. Ein Knarzen ertönte, als der Schiffsbauch etwas schwankte. In den ersten Tagen ihrer Reise hatte der stete Wellengang in ihr Übelkeit ausgelöst, mittlerweile hatte Gunnora sich jedoch an die unruhige See und die vielen fremden Laute, ob vom ächzenden Holz oder der spritzenden Gischt, gewöhnt.

Sie nickte eifrig und schnitzte weiter. »Ja, ich weiß«, sagte sie, »diese Rune hier, die achte, heißt Wunjo, was Erfolg und Erkenntnis bedeutet. Sie kann hingegen auch für Sorgen, Entfremdung und Besessenheit stehen. Und das ist die zehnte Rune, Naudhiz, was Not bedeutet. Sie gibt uns Kraft, unser Schicksal anzunehmen und unseren Ängsten ins Auge zu blicken. Doch wer unter ihrem Fluch steht, muss Mühsal ertragen, Verlust und Armut.«

Gern hätte sie weitere Runen geschnitzt und mit der Mutter geredet, diese hingegen nahm ihr das Messer aus der Hand. »Es ist gut für heute«, entschied sie. »Du zeigst großen Eifer, Gunnora. Mit deinen siebzehn Jahren weißt du mehr über die Runen als manch altes Weiblein.«

Sie klang stolz, zugleich auch unerwartet kummervoll, und sie strich ihrer Tochter über den Kopf, als wollte sie sie weniger loben als vielmehr trösten.

»Aber du hast selbst gesagt, wie wichtig das ist!«, rief Gunnora. »Schließlich ist nicht gewiss, ob die Menschen in unserer neuen Heimat noch von der Macht der Runen wissen.«

Sie konnte die Verachtung in ihrer Stimme nicht ganz unterdrücken. Wann immer sie an das künftige Zuhause dachte, erwachten Zweifel, ob sie das Land je würde lieben können und seinen Bewohnern je vertrauen. Der Vater hatte entschieden, dass in der Normandie ihre Zukunft läge, und dem Vater widersprach man nicht, doch ihr war das Widerstreben der Mutter nicht entgangen, als sie ihren Hof in Dänemark verlassen und das Schiff bestiegen hatten.

»Das Wort Rune«, fuhr Gunnora fort, »bedeutet Geheimnis, und ich will all die Geheimnisse kennen, genau wie du. Ich will deine Macht besitzen!«

Ja, Runen bedeuteten Macht. Es gab zwar Leute, die vor allem einen praktischen Nutzen darin sahen: Händler, die Vereinbarungen über die Lieferung von Waren mit Runen festhielten, oder Reisende, die auf ihren Wegen Botschaften hinterließen, Bauern, die ihren Namen in Pflüge ritzten, auf dass jeder wusste, wem diese gehörten, oder Krieger, die ihre Schilde und Schwerter auf diese Weise als die ihren kennzeichneten. Doch erst wenn man wie Gunhild die Runenzauberei beherrschte, entfalteten die einzelnen Zeichen ihre ganze Kraft: Sie konnten das Schicksal vorhersagen, Glück oder Pech bringen, konnten das Andenken an Verstorbene wahren oder deren Namen verfluchen, sie konnten Vieh gedeihen, die Ernte reifen und Geschwüre heilen lassen – oder Unwetter, Fäulnis und Tod bringen.

Erneut strich die Mutter ihr über den Kopf. »Ich bin stolz, eine so gelehrige, wissbegierige Tochter zu haben«, murmelte sie, »aber du darfst eines nicht vergessen: Um die Macht der Runen zu nutzen, musst du einen Preis bezahlen.«

Wieder knirschte es im Gebälk.

»Welchen Preis?«, fragte Gunnora.

Gunhild zögerte einen Augenblick. Sie schien sich nicht sicher zu sein, ob sie der Tochter diese Last aufbürden sollte. Schließlich gab sie sich einen Ruck.

»Ich habe dir erzählt, welcher Gott am meisten über die Runen und ihre Magie weiß.«

»Odin.«

»Aber weißt du auch, wie er dieses Wissen erlangt hat?«

Gunnora schüttelte den Kopf.

»Odin war beharrlich auf der Suche nach Weisheit. Für einen Schluck aus Mimirs Brunnen, der seherische Kräfte verleiht, gab er sein rechtes Auge. Und er verwundete sich selbst. Neun Tage und neun Nächte hing er kopfüber im Weltenbaum Yggdrasil, ehe er Kenntnis von der Macht der Runen gewann und sich befreien konnte. Jeder kann lernen, diese Macht auszuüben – aber jeder hat dafür etwas zu geben.«

Neun Tage, dachte Gunnora, neun Tage kopfüber in einem Baum hängen …

»Und ich?«, fragte sie heiser, »was habe ich zu geben?«

»Das weiß allein Odin.«

Das Rumoren im Schiffsbauch wurde lauter, sein Ächzen klang plötzlich so unheilvoll wie die Stimme der Mutter. Gunnora starrte sie an, und trotz des trüben Lichts erkannte sie deutlich deren Angst. Galt sie den Runen, die ebenso schaden wie nutzen konnten, den unberechenbaren Göttern, die sich manchmal einen Spaß daraus machten, die Menschen zu quälen? Oder galt sie der Zukunft in ihrer neuen Heimat, für die sie ihre vertraute Welt zurückgelassen hatten?

Gunnora zuckte angstvoll zusammen, als plötzlich ein Ruf von draußen erschallte. Aus der Miene der Mutter schwand sogleich die Sorge, und ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln.

»Wie es aussieht, ist endlich Land in Sicht.«

Später fragte sich Gunnora oft, ob das Unbehagen sie schon begleitet hatte, als sie von der niedrigen Kammer ins Freie getreten war, auf das glitzernde Wasser gestarrt und am Horizont einen Streifen Land auszumachen versucht hatte, und ob dieses Unbehagen nur von der Geschichte über Odins Opfer gerührt hatte oder von einer dunklen Vorahnung. Sie war sich nicht sicher. In jedem Fall hatte es außer dem leichten Unbehagen nichts gegeben, das sie vor dem Kommenden gewarnt hatte.

Gespannt, ein wenig wehmütig und nicht ohne Zweifel sah sie nun in Richtung Küste, die immer deutlicher zu erkennen war, ein Sandstreifen zwischen Himmel und Meer, von schroffen Felsen begrenzt. Ein Zeichen, dass das Leben in der Heimat endgültig vorüber war und das in der Normandie begann.

Der Meerwind blies ihr ins Gesicht, und Gunnora schloss kurz die Augen, um den salzigen Geruch und die Ahnung von Freiheit, die er schenkte, zu genießen. Die Mutter lehrte sie die Runen nur drinnen, ob in ihrem Langhaus in Dänemark oder nun in der Kammer auf dem Schiff, und dafür war sie gern bereit, auf die Sonne zu verzichten. Doch jetzt nahm sie erfreut die Wärme in sich auf, sah darin ein hoffnungsvolles Zeichen und schüttelte die Zweifel ebenso ab wie das stete Frösteln. Viel zu oft war ihr im Leben kalt gewesen, auch in den letzten Nächten im Schiffsbauch, wo es kein Feuer gab, um sich zu wärmen, wo sie sich zitternd aneinanderpressen mussten und ihre Haare sich in der Feuchtigkeit kräuselten, die stetig durch die Ritzen kroch.

Knörr hießen Schiffe wie dieses, hatte ihr Vater erklärt, im Vergleich zu den geschmeidigen, schnellen Langschiffen ungleich behäbiger und zum Transport schwerer Waren wie Eisen und Speckstein geeignet. Ihr Nachtlager im niedrigen Frachtraum hatten sie inmitten dieser Güter aufgeschlagen, nicht frei von Furcht, im Schlaf davon erdrückt zu werden.

Das nächste Mal werde ich in der fremden, neuen Heimat einschlafen, dachte Gunnora – plötzlich nicht minder aufgeregt als ihr Vater, dem man die Ungeduld deutlich ansah.

»Wann werden wir anlegen?«, fragte er.

Der Mann, dem das Schiff gehörte, war für gewöhnlich wortkarg, desgleichen seine Besatzung: sechs Männer, die den Handel zwischen Dänemark und der Normandie belebten. Jetzt erklärte er nicht ohne Stolz, dass sein Schiff, von ihm liebevoll Elch des Meeres genannt, die Reise schneller als erwartet hinter sich gebracht habe.

»Wenn die Sonne am höchsten steht, betreten wir wieder Land«, fügte er hinzu.

Gunnoras jüngere Schwestern hatte es belustigt, dass er seinem Schiff einen Kosenamen gab. Während der Reise hatten sie es gründlich erforscht, doch heute interessierten sie sich nicht länger für die im Wind knatternden Segel oder die langen Ruder, die mit einem lauten Klatschen in die Fluten tauchten, sondern nur noch für das Land in der Ferne.

»Stimmt es … stimmt es, dass die Wiesen in der Normandie voller Blumen stehen und die Äcker vor Ähren überquellen?«, fragte Seinfreda, ein Jahr jünger als Gunnora und zarter als sie, mit so heller Haut, dass man die dunklen Adern durchschimmern sah. Im Gegensatz zu Gunnora, die schwarzes Haar hatte, war die Schwester blond. Ihre Füße waren so winzig, dass man meinen konnte, sie würde keinen ordentlichen Halt auf der Erde finden, sondern jederzeit vom Wind fortgeweht werden.

»Nun, auch dort gibt es Unwetter und Kälte, aber nicht so oft wie bei uns«, erwiderte ihr Vater Walram.

Wevia, die Dritte im Bunde und acht Jahre alt, interessierte sich nicht für Blumen und Ähren. »Werde ich in der Normandie eine Kette bekommen, die so schön wie die von Mutter ist?«

Sie liebte den Schmuck, den Gunhild trug, und konnte ihn stundenlang betrachten. Manchmal hatte ihr Walram einzelne Perlen geschenkt, jedoch nie eine vollständige Halskette, wie eine Schwester der Mutter sie kunstvoll herzustellen vermochte, indem sie Rohglasklumpen und Mosaiksteine in einer Schmelzpfanne erwärmte und daraus mit einem Eisenstab kleine Steine formte.

»Wenn wir erst einmal Land haben und reiche Ernte einfahren, dann wirst du auch eigenen Schmuck bekommen«, meinte der Vater lächelnd.

»Und wenn du etwas älter bist«, fügte Gunhild ein wenig strenger hinzu.

Bei Wevia regte sich Widerspruch, doch ehe er laut wurde, trat die vierjährige Duvelina dazwischen, schmiegte sich an den Vater und bat: »Erzähl mir eine Geschichte von der Normandie!«

Ob im neuen Land häufiger die Sonne schien und mehr Reichtum zu erwarten stand, war ihr gleich, umso wissbegieriger aber war sie, ob dort wie in Dänemark Drachen, Elfen und Zwerge wohnten, faszinierende Wesen allesamt, von deren Eigenheiten zu hören sie nicht genug bekommen konnte. Der Vater erzählte ihr nicht nur Geschichten darüber, sondern schnitzte ihr Figuren, so auch den hölzernen Wolf, den Duvelina eben fest umklammert hielt. Als Gunnora noch kleiner war, hatten sie jene Miniaturnachbildungen von Booten, Schwertern, Tieren und allen möglichen geheimnisvollen Gestalten aus den Märchenwelten ebenso begeistert, doch mit den Jahren zogen die Runen eher ihr Interesse auf sich.

Die Sonnenstrahlen fielen unterdessen fast senkrecht vom Himmel und krönten die Wellen mit ihrem goldenen Licht. Die Fahrt wurde langsamer, als das Segel eingeholt wurde, das an der querschiffs stehenden Rahe befestigt war. Den Mast wiederum, der die Rahe hielt, legten die Männer mithilfe von Wanten und Stagen aus Seehundsleder im Kielschwein um. Finngeirr, der Besitzer des Schiffes, erklärte voller Genugtuung, dass das nicht auf jedem Schiff möglich sei.

Duvelina war außer sich vor Begeisterung, als nun der Drachenkopf am Bug des Schiffes abgenommen wurde. Draußen auf den Meeren diente er dazu, die bösen Meergeister fernzuhalten, an Land jedoch musste man ihn verstecken, auf dass er niemanden erschreckte – weder die Menschen noch die Wesen aus der Zwischenwelt. Gunnora wusste, dass Letztere großen Schaden verursachen konnten, doch für Duvelina waren Zwerge und Elfen noch nicht unheimlich, das Leben ein großer Spaß und alles, was man brauchte, es zu bestehen, dazu da, sie zu unterhalten – auch der Sonnenstein neben der Peilscheibe, mit dem man den Standort berechnete, der nun aber nicht länger vonnöten war.

Noch war an Land nichts von den versprochenen Blumen und Ähren zu sehen, nur Sand und Stein und ein paar vereinzelte Bäume, die, verglichen mit den riesigen Eichen und Buchen der dänischen Wälder, dürr und mickrig erschienen. Gunnora sehnte sich schon jetzt nach ihrem würzigen Duft, wenngleich sie sich zu sagen versuchte, dass es gewiss auch hier Wälder gab und in Dänemark wiederum weites Ödland aus Sanddünen, Feuchtwiesen und Sümpfen, das nicht einladender war als diese Küste.

Die Mutter trat zu ihr. »Du wirst sehen, hier wird alles besser.«

Ob sie die Tochter trösten wollte oder vielmehr sich selbst?

Gunnora nickte, lächelte aber nicht. Ein Leben ohne Kälte. Ein Leben ohne Hunger. Ein Leben ohne … Heimat.

Walram schnalzte mit der Zunge. »Hat unsere Älteste etwa schon wieder Heimweh?« Und als Gunnora keine Antwort gab, sagte er: »Manchmal braucht man Mut zu bleiben, manchmal braucht man Mut zu gehen. Unser Volk hatte stets beides.«

»Das weiß ich doch«, erwiderte Gunnora schnell.

Neben Geschichten über Zwerge und Elfen hatte ihr Vater immer gern von den Jüten erzählt, die einst auf Booten nach England fuhren, viel kleiner und wackliger diese als ihr breites Frachtschiff. Etliche waren ertrunken – was andere nicht davon abgehalten hatte, es auch zu versuchen.

Sie rang sich ein Lächeln ab. »Ich freue mich doch darauf, in der Normandie zu leben.«

»Ich freue mich, wenn wir genug zu essen haben«, sagte die zarte Seinfreda.

»Und ich freue mich auf meine erste Kette!«, rief Wevia.

»Und schnitzt du mir ein Pferd?«, quäkte Duvelina.

Gunhild sagte oft, dass ihre Töchter so verschieden wie die vier Himmelsrichtungen seien. Ihre Züge glichen sich, die Farbe ihrer Haare nicht – die von Seinfreda waren blond, die von Gunnora schwarz, Duvelina wuchsen rote Locken, Wevia weiche kastanienbraune.

Ich bin der Norden, dachte Gunnora, dunkel wie die Wälder und das Meer, weil viel zu selten die Sonne darauf fällt wie jetzt. Und weil aus dem Norden das Wissen über die Runen stammt, das ich hier bewahren werde.

»Aber natürlich schnitze ich dir ein Pferd!«, rief Walram.

Er klang so begeistert, dass Gunnora sich von ihrer Wehmut nicht bezwingen ließ. Da war kein Unbehagen mehr, keine düstere Vorahnung. Nichts hatte sie gewarnt. Nichts darauf vorbereitet, was geschehen würde.

Es dauerte nicht mehr lange, bis sie das Land erreichten, doch ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, ehe sie nach vielen Tagen auf hoher See tatsächlich wieder festen Boden betreten konnten. Vor dem Anlegen galt es, mit einer Leine die Wassertiefe auszuloten und danach das Schiff behutsam an den Portus heranzuführen, einen Steg aus Reisigbündeln und Flechtwerk, den man mit Steinen und Holzstämmen beschwert hatte. Pflöcke standen davon ab, die man in eine dafür vorgesehene Vorrichtung des Schiffes steckte, sodass es alsbald fest mit dem Steg verbunden war. Nun galt es noch abzuwarten, bis die Männer das Schiff entladen hatten.

Gunnora kletterte auf den Steg und ging, Wevia an der Hand, ein paar wacklige Schritte. Obwohl das Holz kaum knarrte, vermeinte Gunnora noch den Rhythmus der Wellen in den Knochen zu spüren. Bei jedem Schritt schien der Boden zu beben. Der salzige Geruch des Meeres, der von Weite, Freiheit und Sonne kündete, wich einem fauligen von brackigem Wasser, und die Fluten waren nicht länger schaumgekrönt. Die Oberfläche spiegelte ihr Gesicht nicht. Das Wasser stand so ruhig wie das eines Tümpels.

Seinfreda streckte ihre Hand nach der ältesten Schwester aus. »Ist das nicht aufregend?«, fragte sie.

Gunnora nickte. Sie schritt entschlossen weiter und konnte doch die Angst nicht abschütteln, auf diesem schmalen Steg zu stolpern und ins Wasser zu fallen. Sein tiefes Grün wirkte so beängstigend: Unmöglich würde sie sich an der Oberfläche halten können, sie müsste untergehen und ertrinken! Doch sie stolperte nicht, erreichte einige Schritte später den sandigen Boden der Normandie und hatte dort keine Angst mehr vor dem Wasser, sondern vor dem Stimmengewirr, das sie empfing.

Ihr Schiff war nicht das einzige, das eben angekommen war, und Gunnoras Familie nicht die einzige, die sich hier ansiedeln wollte. Ein zweites wurde gerade entladen. Unter den Menschen, die es verließen, befanden sich nicht nur Dänen, sondern auch Schweden. Einst waren sie nach Jütland gekommen, weil sie sich dort fruchtbareres Land erhofft hatten, nun, da diese Hoffnung unerfüllt geblieben war, kamen sie in die Normandie. Neugierig sahen sie sich um, Gunnora folgte ihrem Blick. Weiterhin waren nur Steine, Sand und gelblich schimmerndes Gras zu sehen. Die Schweden tuschelten dennoch aufgeregt, und auch Walrams Familie störte sich nicht daran, zumal es galt, ihren kostbarsten Besitz auszuladen – ihre beiden Pferde.

Wie ein Großteil der Schweden war auch Walram Pferdezüchter. Keine zäheren Tiere gebe es, so hieß es, als die aus Dänemark – ob die, die im Kampf Krieger trugen, oder solche, die in Friedenszeiten Wagen zogen. Jetzt jedoch wirkten die beiden Tiere nicht zäh, sondern ängstlich. Als sie in Aggersborg das Schiff bestiegen hatten, hatte Walram sie auf die Seite gelegt und vertäut, seitdem waren sie nicht bewegt worden. Sie fühlten sich jetzt gewiss noch wackliger auf den Beinen als Gunnora. Die Tiere stürmten nahezu über den Steg, und Gunhild hob Duvelina rasch hoch, damit sie nicht unter ihre Hufe geriet. Die Pferde wieherten, und Walram lachte erleichtert.

Es war das letzte Mal, dass Gunnora ihren Vater lachen hörte, das letzte Mal, dass die schwedischen Siedler ihnen etwas in ihrer Sprache zuriefen, das letzte Mal, dass Gunnora Pferde sah, ohne an Blut zu denken.

Kaum hatten sie den sandigen Boden erreicht, hielten die Tiere plötzlich inne. Sie schnaubten, stiegen in die Luft und schüttelten ihre Mähne. Jetzt sah Gunnora, was sie so beunruhigte. Aus der Ferne näherten sich Artgenossen. Reiter saßen auf ihnen, die Reiter trugen Waffen, und sie ritten auf den Strand zu.

»Wer ist das?«, fragte sie.

Sie versuchte mehr zu erkennen, aber das Sonnenlicht, das sie eben noch wohlig gewärmt hatte, blendete sie.

»Ich weiß es nicht …«

Täuschte sie sich, oder zitterte die Stimme der Mutter? In jedem Fall vertraute ihr Gunhild hastig die jüngste Schwester an.

»Wartet hier!«, befahl sie.

Walram versuchte, die beiden Pferde zu beschwichtigen, und wenn er ihr angstvolles Wiehern auch nicht zum Verstummen brachte, führte er sie doch alsbald wieder sicher am Halfter.

»Ist das deine Familie?«, rief Gunnora ihm zu.

Einige seiner Verwandten lebten seit geraumer Zeit in der Normandie. Bei ihnen, so hatte Walram gehofft, würden sie fürs Erste ein Zuhause finden. Doch sie wussten nichts von ihrer Ankunft, und sie waren nicht reich genug, um so viele Pferde zu haben … und Waffen.

Walram folgte seiner Frau. »Lass mich fragen!«

Seine Töchter ließ er zurück – die Pferde nicht. Er hielt sie rechts und links, als er auf die Reiter zutrat, die eben stehen geblieben waren. Die Tiere schnaubten, verdrehten die rotgeäderten Augen. Fürchteten sie die Artgenossen? Die Reiter, die sich nicht rührten? Den süßlichen Geruch?

Ja, plötzlich roch es nicht mehr nach brackigem Wasser, sondern … süßlich.

In der Aufregung hatte Gunnora diesen Geruch nicht bemerkt – auch nicht, dass ihnen niemand entgegengekommen war, um ihnen beim Ausladen zu helfen, obwohl doch in der Nähe des Stegs ein kleines Dorf lag. Sie war damit beschäftigt gewesen, heil an Land zu kommen und dieses Land zu mustern, hatte nach Äckern und Blumen Ausschau gehalten, nicht nach den wenigen Hütten. Jetzt betrachtete sie die Hütten, jetzt sah sie, dass hinter einer der Hütten ein Mensch lag … nicht schlafend, sondern … verwesend.

Ehe sie auch nur den Mund öffnen konnte, hörte sie die Mutter schreien. »Lauft! Lauft fort!«

Gunhild begann zu laufen – jedoch nicht von der Gefahr fort, sondern an die Seite des Vaters. Inmitten der beiden Pferde wirkte er so klein. Die Reiter hingegen, die ihre Waffen zogen, schienen geradezu riesig.

»Lauft!«, schrie die Mutter wieder.

Gunnora lief nicht, sie stand ganz starr. Wevia, an Seinfredas Hand, begann jetzt zu weinen, und Duvelina krallte sich an ihr fest. Ich bin die Älteste, ich muss sie in Sicherheit bringen, fuhr es ihr durch den Kopf.

Denken konnte sie noch, sich rühren nicht. Wie gelähmt sah sie zu, wie einer der Reiter auf den Vater zugaloppierte. Der ließ die Pferde los und hob die Hand, um den Angreifer dazu zu bewegen, anzuhalten, doch dieser ritt weiter und schwang sein Schwert. Kurz blitzte die Klinge in der Sonne, dann hatte er es schon wieder gesenkt. Es war so schnell gegangen, dass Gunnora nicht gesehen hatte, wie er den Schlag ausführte. Sie sah nur, wie ihr Vater auf die Knie sank, sah einen Wimpernschlag später seinen Kopf, der, vom Rumpf getrennt, auf den Boden fiel.

Der Sand färbte sich rot.

Weiterhin konnte sie denken, jedoch nichts fühlen und sich nicht bewegen, selbst dann nicht, als hinter ihr ein Tumult losbrach. Die Siedlerfamilien schrien, drängten sich erst aneinander und flohen dann in sämtliche Richtungen. Der Weg wurde ihnen abgeschnitten, von überall schienen nun Reiter zu kommen, enthaupteten Menschen mit ihren Schwertern, schlugen sie entzwei, durchbohrten ihre Brust mit Lanzen.

Der Sand wurde immer röter, ein ganzes Meer von Blut.

Seinfreda zerrte an ihrer Hand. Ihre Augen waren weit aufgerissen, das blonde Haar hob sich kaum von ihrem blassen Gesicht ab. Ein seltsamer Gedanke kam Gunnora in den Sinn: Wenn Seinfreda vom Schwert getroffen würde, wäre ihr Blut nicht rot, sondern weiß wie die Gischt …

Aber Seinfreda durfte nicht getroffen werden, und auch nicht Wevia, nicht Duvelina, nicht sie selbst!

»Lauft! Lau …«

Der Schrei der Mutter riss ab. Ihr Körper wurde von einer Lanze durchbohrt, sie sank auf den Boden.

Dieses Mal gehorchte Gunnora ihrem Befehl. Sie lief zurück zum Steg, weg von den Reitern und den Toten. Sie sah in weiter Ferne ein Stückchen Wald. Es waren nicht genug Bäume, um sich dahinter zu verstecken. Unmöglich auch, sie zu erreichen. Ihr Mut sank.

»Das Boot.«

Sie konnte Seinfreda unter dem Schreien der Menschen kaum verstehen, aber jetzt sah sie es selbst: Im grünen, schlickigen Wasser trieb ein Boot. Sie nickte und watete ins Wasser. Die Kälte fuhr wie ein Messerstich in ihre Glieder, doch das war nicht wichtig. Mit der einen Hand hielt sie Duvelina umklammert, mit der anderen drehte sie das Boot um. Seinfreda half ihr dabei, während sie ihrerseits Wevia festhielt. Die beiden Jüngsten weinten hemmungslos.

Immer tiefer versank Gunnora im Wasser, immer kälter wurde ihr, doch nichts war so kalt wie der Tod – und dies war die einzige Möglichkeit, sich vor ihm in Sicherheit zu bringen.

»Halt die Luft an!«

Das brackige Wasser schlug über ihrem und Duvelinas Kopf zusammen. Als sie wenig später unter dem Boot wieder auftauchte, schien es nicht länger grünlich, sondern schwarz. In dem Hohlraum war es dunkel, Duvelina hörte zu weinen auf. Seinfreda und Wevia folgten, auch sie starr vor Angst und Kälte. Gunnora starrte Seinfreda an, las die eigene Sorge in ihrer Miene: Bot der Hohlraum genug Luft zum Atmen? Allerdings würde das Töten nicht mehr lange dauern. Bis auf die vier Schwestern konnte kaum mehr einer am Leben sein.

Seinfredas Haut wirkte nicht mehr weiß, sondern bläulich. Gunnora ertrug es nicht, sie anzusehen, deshalb schloss sie die Augen.

Sie zitterten, die Zähne klapperten, die Haut brannte.

»Ist es vorbei?«, fragte Seinfreda.

»Psst.«

Wellen schlugen an das Boot, sonst hörten sie nichts. Immer tiefer versanken ihre Füße in den Grund, nicht sandig dieser, sondern schlammig. Gunnora öffnete ihre Augen wieder, spähte durch eine Ritze zwischen den Planken.

Die Toten konnte sie nicht erkennen – einen ihrer Mörder jedoch ganz genau. Er war von seinem Pferd gesprungen, schritt, das Schwert fest umklammert, den Strand auf und ab und hielt Ausschau nach Überlebenden. Sein Gesicht schien nicht aus Fleisch und Blut zu sein, sondern aus Eisen gehämmert. Sie schloss die Augen vor Schreck, öffnete sie erneut, erkannte nun, dass nicht das Gesicht aus Eisen war, sondern nur sein Helm mit den genieteten Bronzeplatten, an dem ein mandelförmiger Schutz für Wangen und Nase angebracht war. Über dem Helm trug er eine Kapuze aus Eisenmaschen, an einem Kettenhemd befestigt, der nur die Unterarme freiließ. Die Sonne fiel auf den Mann, ließ alles an ihm silbrig glänzen. Nur das Kreuz, das von seiner Brust baumelte, war aus Holz und blieb matt.

Gunnora wusste nicht, ob er ein Normanne oder ein Franke war – ihr Vater hatte stets gesagt, dass diese beiden Völker hier nicht zu trennen seien. Sie wusste auch nicht, warum er und seine Mitstreiter die Siedler aus Dänemark und Schweden mitsamt den Händlern, auf deren Schiffen sie gekommen waren, niedergemetzelt hatten – gleich jenen, die wohl in den letzten Tagen angekommen waren. Sie wusste nur, er war Christ, und sie würde entweder durch seine Hand sterben oder er durch ihre.

Der Mann, der das Zeichen der Christen um den Hals trug, ging noch eine Weile auf und ab. Er keuchte kaum hörbar. Schließlich verschwand er aus ihrem Sichtfeld. Das Knirschen des Sandes verstummte, das Hufgetrappel, das ihm folgte, alsbald auch.

Kein Klagelaut durchbrach mehr die Stille. Die Schwestern waren verstummt, alle anderen hatten das Massaker nicht überlebt. Nur die Möwen kreischten, und Gunnora fragte sich jäh, ob sie die Toten wohl wie Aasgeier fressen würden.

Gemeinsam mit Seinfreda kippte sie das Boot zurück und watete zum Strand. Die Sonne versteckte sich hinter den Wolken, und der Sand war nicht länger blutrot, sondern schwarz.

Ein verwunschenes Land, dachte Gunnora, unfruchtbar, dem Tode geweiht … Wir hätten nicht hierherkommen dürfen … es ist die Heimat von Christen, nicht unsere …

Gunnora war nicht getauft, obwohl der Vater es so gewünscht hatte, zumindest zum Schein. Viele Dänen hielten das so – vor allem die, die in der Normandie eine neue Heimat suchten. Sie ließen sich mit dem Kreuzzeichen segnen, aber nicht mit Wasser begießen, erklärten, an Jesus Christus zu glauben, aber verehrten im Herzen die Götter – wie die Nordmänner, die einst dieses Land erobert und ihm seinen Namen gegeben hatten. Die meisten von diesen waren Christen geworden – der erste Graf der Normandie, Rollo, erst als Erwachsener, seine Nachfolger Wilhelm und Richard bereits als Kinder. Aber das, so hatte ihr Vater einmal gesagt, bedeute nicht, dass sie ihre Herkunft vergessen hätten.

Wie auch immer – die Mutter hatte der Vater nicht überzeugen können, sie hatte sich geweigert, einen christlichen Priester auch nur in die Nähe ihrer Töchter zu lassen. Die Mutter war schließlich eine Meisterin der Runen. Und nun lag sie reglos und blutüberströmt im Sand: Die Macht der Runen hatte sie nicht vor dem grausamen Tod bewahrt.

Gunnora hielt Duvelina die Hände vor die Augen, um sie vor dem Anblick zu bewahren; sie selbst jedoch konnte sich ihm nicht blind stellen. Das grässliche Bild fraß sich in ihre Seele, während sie die Schwestern hastig mit sich zog. Weit und breit waren nirgendwo die Pferde ihres Vaters zu sehen. Sie waren entweder geflohen oder von den Mördern mitgenommen worden – in jedem Fall hatten wenigstens sie überlebt.

»Wohin?«, fragte Seinfreda.

Gunnora wusste es nicht. Sie brauchten trockene Kleidung, Essen, Feuer, ein Dach über dem Kopf. Sie brauchten Hilfe, Zuspruch, Trost. Doch weder kannte sie die Namen ihrer Verwandten noch den Ort, an dem sie wohnten.

»Und wenn sie zurückkommen?«

Gunnora schüttelte mit aller Macht ihre Verzweiflung ab. Noch wichtiger als Essen, Kleidung und ein Dach war es, zu überleben.

»Wir müssen uns verstecken.«

Sie blickte sich um. Eines der Schiffe hatte sich vom Steg gelöst und trieb unerreichbar im Wasser. Die Hütten waren unbeschädigt, aber wenn der Christ mit seinen Männern wiederkehrte, würde er dort zuerst nach Überlebenden suchen. Und sie wollte auch nicht länger in der Nähe der Leichen bleiben. Sie deutete auf den Wald im Landesinneren.

»Bis dorthin müssten wir es schaffen. Im Schatten der Bäume können wir uns verbergen.«

Gunnora, Duvelina, Seinfreda und Wevia drehten sich nicht nach den gefallenen Eltern um. Sie gingen erst über den Sand, dann über Gras, gelb und verdorrt, aber zumindest nicht blutig rot. Hufe hatten Spuren hinterlassen – Gunnora war sich nicht sicher, ob sie von den Pferden des Vaters oder denen der Mörder stammten. Nur eines wusste sie: Von ihr selbst sollten so wenig Spuren wie nur möglich zurückbleiben. Sie war kaum angekommen, und doch hasste sie dieses Land schon, und sie hasste die Christen, die es bewohnten.

Duvelina wurde immer schwerer, sie trug sie dennoch verbissen weiter und achtete nicht auf den Schmerz in den Armen. Die Kleine begann wieder zu weinen, alsbald übertönte das Rascheln der Blätter im Wind jedoch das Schluchzen. Groß und dunkelgrün waren diese Blätter, aber nicht sehr zahlreich – der Wald war noch lichter als von der Ferne vermutet.

»Und jetzt?«, fragte Seinfreda.

Gunnora hatte keine Antwort.

Sie stellte Duvelina auf den Boden, sank auf ihre Knie, stützte sich auf. Die Erde war warm. Mit einem Finger zeichnete sie in die warme Erde eine Rune.

Naudhiz. Die Rune, die Not symbolisierte.

Dank ihrer konnte man Not annehmen, daran wachsen und sie wenden. Oder davon erdrückt werden, daran zugrunde gehen, nie wieder seines Lebens froh werden. Segen oder Fluch. Nutzen oder Schaden. Gut oder Böse.

Duvelina klagte, rief nach ihrer Mutter, Wevia war verstummt. Sie sah nicht wie ein Kind aus, sondern wie eine Greisin. Der Schock hatte sie um Jahre altern lassen.

»Still!«, murmelte Gunnora. Duvelina weinte hemmungslos weiter. »Still!«, sagte sie noch einmal, und als das Mädchen nicht verstummte, schlug sie ihm die Hand vor den Mund. Es hing noch Erde daran, die an den weichen Lippen haften blieb.

Augenblicklich war nichts mehr vom Weinen zu hören, still wurde es dennoch nicht. Hufgetrappel ertönte und wurde lauter, der Christ kehrte mit seinen Männern zurück. Vielleicht war er nie fort gewesen, sondern hatte aus der Ferne beobachtet, ob sich noch jemand regte.

Nun brach Seinfreda vor Schreck in Tränen aus.

Gunnora erhob sich und fuhr sie an: »Du bist eine Dänin, und Dänen weinen nicht. Unser Volk verabscheut Tränen.«

»Sie werden uns töten, uns abschlachten!«, rief Seinfreda heiser.

»Nicht, wenn ich es verhindern kann.«

Ehe sie die Schwestern anwies, ihr zu folgen, warf sie einen letzten Blick auf die Rune Naudhiz.

Ich werde die Prüfung annehmen.

Ich bin stark und zäh.

Ich werde nicht aufgeben.

Sie liefen davon, hasteten über ein Stück freie Wiese und erreichten eine weitere Baumgruppe, die dichter war. Birken und Ahornbäume gaben sich die Hände, Farne wuchsen kniehoch. Vögel stoben aus dem Gebüsch – über jedes ungewohnte Geräusch nicht minder erschrocken wie sie. Anders als sie konnten die Vögel die Flügel ausbreiten und fliehen, Gunnora hingegen wähnte sich in eine Falle geraten, als sie auf einer Lichtung innehielt und sich umblickte. Wenn jetzt die Reiter auftauchten …

Nein, das durfte sie nicht einmal denken! Auch nicht, dass ihre Eltern erschlagen im blutroten Sand lagen und sie nun allein die Verantwortung für ihre Schwestern trug!

»Wir müssen uns zu den Verwandten unseres Vaters durchschlagen«, sagte Seinfreda.

Gunnora war froh, dass Seinfreda wie sie noch nüchtern nachzudenken imstande war, anstatt sich Kummer und Grauen hinzugeben. Ihren Vorschlag hieß sie dennoch nicht gut.

»Wir wissen zu wenig über sie, um sie finden zu können, noch nicht einmal ihren Namen. Besser, wir trennen uns.«

Seinfreda starrte sie erschrocken an. »Aber …«

»Nur für kurze Zeit«, sagte Gunnora schnell. »Und nur, solange die Männer in der Nähe sind. Ihr geht noch tiefer in den Wald hinein, und ich bleibe hier und halte nach ihnen Ausschau. Wenn ich sie höre, locke ich sie in die falsche Richtung.«

»Aber ich kann doch nicht …«

»Doch du kannst!«

Gunnora packte Seinfredas Arm. Er war so dünn wie all ihre Glieder, und dennoch: Als sie ihren Blick suchte, stand etwas darin, das sich nicht brechen, nicht fortwehen, nicht erschlagen ließ. Der Wille, bis zum letzten Atemzug zu kämpfen – für sich selbst, und vor allem für die Schwestern.

Seinfreda nickte. Die beiden Jüngeren hingegen nahmen die Entscheidung nicht hin. Wevia schrie spitz und hoch, Duvelina klammerte sich an sie. Gunnora bog mit Gewalt ihre zarten Fingerchen auf und glaubte dabei, ihr Herz würde brechen. Allerdings – war es nicht schon zerbrochen? Lief sie nicht längst schon auf Scherben und konnte doch noch gehen, ohne dass ihre Fußsohlen davon zerschnitten wurden?

»Tut, was ich euch sage!«

So streng hatte sie noch nie gesprochen. So erwachsen hatte sie sich noch nie gefühlt.

Die Mädchen erschraken und folgten Seinfreda ins Dickicht. Hoffentlich ist das eine gute Entscheidung, dachte Gunnora, als nichts mehr von ihnen zu sehen und zu hören war. Nun, da sie allein war, fühlte sie sich nicht mehr streng und alt, sondern verzagt wie ein kleines Mädchen, das sich nach den Armen seines Vaters sehnt, nach den weisen Worten der Mutter, nach der Heimat.

Wir haben es doch gut gehabt, warum sind wir nur fortgegangen? Gewiss, wir froren manchmal, aber das tue ich jetzt auch … Wir litten Hunger, doch da war kein Christ, der uns töten wollte.

Gunnora lehnte sich an einen Baumstamm, barg das Gesicht in ihren Händen. Das Leben war einfach, aber friedlich gewesen. Ob Pferdezüchter oder Bauer, Jäger, Fischer oder Fallensteller … jeder hatte gleich viel oder gleich wenig besessen. Meist war es wenig. Einmal fiel die Ernte so schlecht aus, dass das Gesetz erlassen wurde, wonach mit Gerste nur mehr Brot zu backen war, kein Bier zu brauen. Die Menschen, allen voran ihr Vater, wollten nicht darauf verzichten. Sie mischten Bier mit Algensuppe oder einer Brühe aus Baumrinde, legten Früchte darin ein und aßen es anstelle von Brot.

Gunnoras Magen knurrte. Hier gab es weder Bier noch Brot, bestenfalls ein paar Beeren, Pilze, Nüsse. Sie ließ die Hände sinken.

Die Erde war braun und saftig, das Moos grün und feucht, sie erspähte jedoch nichts Essbares und konnte das Gefühl nicht abschütteln, der Boden wäre auch hier blutig und … verflucht. Nie würde sie sich in der Normandie sicher fühlen, nie eine Heimat hier finden.

Sie raffte ihr Kleid, zwängte sich durchs Unterholz, lauschte atemlos. Dornige Ranken blieben am Stoff hängen und zerfetzten ihn. Sie blickte an sich herab, sah Blutspritzer auf dem Trägerrock, auf der Nadel, die den Überwurf zusammenhielt, auf den beiden ovalen Broschen, die die Träger an ihrem Leinenhemd befestigten.

Noch größer als die Gier nach Essen und nach Wärme wurde der Wunsch, sich zu waschen. Sie gab ihm nicht nach, ignorierte das Blut, lauschte weiter. Auf das Knacken von Holz, auf den eigenen unruhigen Atem, auf Stimmen …

Ja, da war eine Stimme! Nicht die des Waldes, jenes Chores aus Heulen, Gurren, Knurren, Knarzen, sondern die Stimme des Mörders.

»Es waren Frauen … Mädchen … Sie haben sich irgendwo versteckt. Wir müssen sie kriegen … Sie haben alles gesehen … könnten es bezeugen …«

Auf die Stimme folgte neues Hufgetrappel, das Schnauben von Pferden. Noch war nichts zu sehen, aber Gunnora vermeinte, die Blicke des Mannes auf sich zu spüren, die Blicke des Christen …

Sie wusste, sie sollte ruhig stehen bleiben, sich eine Rune ausdenken, die Schutz versprach, sie in den Boden malen und den Mörder damit bannen. Doch ihr Geist war plötzlich wie leer, und sie hielt nicht länger an ihrem Plan fest, die Männer von ihren Schwestern wegzulocken. Sie konnte nicht mehr denken, nur rennen, keuchend, schnell und laut … viel zu laut.

Sie kämpfte sich weiter durchs Unterholz und kam zu einer weiteren Lichtung. Sie betrat sie nicht als Erste. Der Mörder war vor ihr dort angekommen, und sie rannte ihm direkt in die Arme.

Am Hof von Graf Richard in Rouen wurde in diesen Tagen viel getuschelt, und einmal mehr presste Alruna das Ohr an die Tür. Ihre Mutter hatte sie oft ermahnt, dass es ein Laster sei, heimlich zu lauschen, aber sie hatte sie auch schon sagen hören, dass Wissen Macht bedeute. Und Wissen, so war Alruna überzeugt, erwarb man sich nicht nur, indem man Fragen stellte und auf Antwort hoffte. Manchmal musste man es ähnlich stehlen wie der Dieb die frischen roten Äpfel vom Markt.

»Ich mache mir große Sorgen um den Grafen«, hörte Alruna ihre Mutter eben sagen.

»Er ist jung, er kommt darüber hinweg.« Die Worte ihres Vaters sollten wohl Trost spenden, aber seine Stimme klang so verzagt wie die seiner Frau.

Beide dienten Richard, dem jungen Grafen der Normandie, und beide waren sie bestürzt, dass er einen so großen Verlust hatte hinnehmen müssen. Noch ergebener als ihre Eltern war Alruna dem Grafen, für sie war es nahezu unerträglich, Richard so leiden zu sehen.

»Denkst du, er hat sie geliebt?«, fragte Arvid, ihr Vater.

Alruna konnte ihre Mutter nicht sehen, war sich dennoch sicher, dass Mathilda die Schultern zuckte.

»Wer kann schon in das Herz eines Menschen sehen? Gewiss ist nur: Solange sie lebte, konnte er sich des Schutzes und der Freundschaft ihres Bruders sicher sein. Doch nun …«

Sie sprachen von Emma, Tochter Hugos des Großen und Schwester von Hugo II., Letzterer der mächtige Herrscher von Franzien, dem Nachbarland der Normandie. Seit Alruna denken konnte, war Richard mit Emma verlobt gewesen, und als die Braut alt genug geworden war, hatte Hugo Richard nach Paris eingeladen, wo erst eine feierliche Messe gefeiert worden war und sich später das Paar zum ersten Mal gegenübergestanden hatte. Alruna konnte jenes denkwürdige Treffen nicht bezeugen, hatte jedoch erfahren, dass Richard von Emmas Liebreiz und Schönheit verzückt gewesen war.

Sie konnte nicht so recht glauben, dass dies der Wahrheit entsprach. Als Emma nach der Hochzeit nach Rouen kam, befand sie sie für blass, nichtssagend und unwürdig, die Frau an Richards Seite zu sein. Doch auch wenn sie sie nicht sonderlich mochte und sie insgeheim beneidete – den plötzlichen Tod, der Emma wenige Wochen zuvor ereilt hatte, hatte sie ihr nicht gewünscht, und sei es nur, um Richard möglichen Kummer zu ersparen.

»Was denkst du, wird Hugo nun tun?«, fragte Mathilda.

Arvid schnaubte. »Hugo ist ein Wendehals wie sein Vater, das wissen wir alle. Er hat schon so viele Schwüre geleistet, die er hinterher leichtherzig gebrochen hat. Aber um Hugo mache ich mir die geringsten Sorgen, sondern …«

Er brach ab, begann auf und ab zu gehen. »Richard darf sich nicht in seiner Trauer verkriechen!«, rief er schließlich beunruhigt. »Gerade jetzt nicht!«

Alruna löste ihr Ohr von der Tür, atmete tief durch und trat ein.

Der Schmerz musste nur allzu deutlich in ihren Zügen stehen, denn ihre Mutter musterte sie nur flüchtig, ehe sie grußlos sagte: »Du vermisst sie gewiss auch unendlich!«

Alruna packte das schlechte Gewissen. Mathilda war eine kluge Frau, die den meisten Menschen ins Herz sehen konnte, aber das, was ihre Tochter umtrieb, deutete sie häufig falsch. Sie glaubte tatsächlich, dass sie Emma von ganzem Herzen gemocht hatte, war sie doch deren Zofe gewesen! In Wahrheit hatte sie diesen Dienst nur widerstrebend geleistet, sich ihm schlichtweg nicht entziehen können, da jeder in ihrer Familie eine Aufgabe am gräflichen Hof innehatte: Ihr Vater Arvid war einst Lehrer des jungen Grafen gewesen und mittlerweile einer seiner engsten Berater, und ihre Mutter war neben dem Mansionarius für die Hofhaltung verantwortlich.

Alruna schluckte das schlechte Gewissen hinunter. »Ich würde so gern etwas tun …«, murmelte sie.

Der Vater strich ihr tröstend über das Haar. »Ich fürchte, du kannst nichts tun, ich selbst muss ihm ins Gewissen reden, ich muss ihm sagen, dass …«

»Es ist wegen Thibaud von Chartres, nicht wahr?«, unterbrach Alruna ihn hastig.

Der Vater blickte sie verwundert an. »Woher kennst du denn diesen Namen?«

Alruna unterdrückte ein Seufzen. Der Vater hatte immer noch nicht begriffen, dass sie kein kleines Mädchen mehr war, das man mit Rasseln aus Knochenstücken erfreuen konnte, sondern sechzehn Jahre alt und somit erwachsen. Ein Gutes hatte es gehabt, an Emmas Seite zu leben – Alruna wusste nun alles über die Vergangenheit der Normandie und die hohe Politik. Und sie kannte die Namen der vielen Feinde, die Richards Macht bedrohten, und der vielen Neider im fränkischen Reich, die den Grafen der Normandie als Piraten bezeichneten, weil er ein Nachfahre der grausamen, heidnischen Nordmänner war. Einer war besagter Thibaud von Chartres, genannt le Tricheur, Graf von Blois und Bruder vom Grafen der Champagne.

Ja, Alruna hatte sich all diese Titel gemerkt und auch, dass Thibaud immer wieder Raubzüge in die benachbarte Normandie unternahm. Der fränkische König Lothar strafte ihn nicht dafür – im Gegenteil. Er schien für die Einflüsterungen Thibauds empfänglich, wonach er selbst die Normandie erobern sollte. Nun, Lothar war nicht gefährlich, er war noch viel zu jung. Aber Hugo, Emmas Bruder, könnte in Versuchung geführt sein, sich erst der fränkischen Krone zu bemächtigen und später der der Normandie.

Das alles legte sie ihrem Vater dar und schloss mit den Worten: »Richard muss auf der Hut sein, jetzt, da Emma tot ist. Wenn Hugo der Große noch leben würde, könnte er sich seines Schutzes sicher sein, doch sein Sohn pflegt eine nicht mehr ganz so enge Freundschaft mit Richard, und nun ist er nicht länger sein Schwager.«

Erst hatte sich Verwirrung im Gesicht des Vaters ausgebreitet, am Ende neue Sorgen, doch anders als erwartet galten diese nicht Graf Richard.

»Du solltest dich nicht mit solchen Dingen beschäftigen«, murmelte er zweifelnd.

»Warum? Weil sie eine Frau ist?«, ging die Mutter scharf dazwischen und nahm den Widerspruch vorweg, der Alruna selbst auf den Lippen lag.

»Nein, weil sie noch so jung ist.«

Alruna reckte ihr Kinn. Wie sie es hasste, wenn über sie geredet wurde, als wäre sie gar nicht anwesend.

»Lasst mich mit Richard sprechen!«, forderte sie entschlossen.

Obwohl sie eigentlich auf ihrer Seite stand, wirkte nun auch Mathilda verwirrt. »Aber …«

»Er ist von seiner Trauer gefangen und blind für die politische Lage«, fuhr sie rasch fort. »Das ist es doch, was euch umtreibt, und deswegen willst du ihm ins Gewissen reden, nicht wahr, Vater? Ich könnte das doch auch tun, und gerade weil ich eine Frau bin und noch jung, mehr Erfolg haben als du!«

Arvid runzelte argwöhnisch die Stirn, doch ehe er etwas sagen konnte, legte Mathilda ihre Hand auf seinen Arm. »Das ist kein schlechter Vorschlag. Alruna hat einen besonderen Platz in seinem Herzen, und vielleicht vermag niemand besser als sie, die Schwärze aus seinem Herzen zu vertreiben.«

Nur wenig später stand Alruna vor dem Grafen.

»Ach, Alruna …«, seufzte Richard.

Er sah älter aus, hagerer, etwas gebeugter – ein Anblick, der ihr Kummer bereitete, zugleich jedoch auch Zorn entfachte. Richard durfte sich nicht gehen lassen! Sich dem Alter hingeben durften seine Berater, ihr Vater darunter, aber doch nicht er, ihr Held, ewig strahlend, jung und stark! Er durfte nicht immer wieder seufzen, den Kopf schütteln, ihr Anliegen schlichtweg ablehnen!

Eben hatte sie vorgeschlagen, gemeinsam auszureiten, doch mit diesem Ansinnen nicht die erhoffte Leidenschaft in ihm entfachen können.

»Ich bitte dich«, bedrängte sie ihn, »du liebst das Reiten über alles, es wird dir guttun!«

»Aber du hast doch Angst vor Pferden.«

Immerhin, in seinem Tonfall lag etwas Neckisches. So sprach er oft mit ihr, als wäre sie noch das kleine Kind, mit dem er früher manchmal gespielt hatte, desgleichen, wie immer, wenn er sie anlächelte, ein Augenzwinkern folgte. Sie liebte sein Lächeln – das Augenzwinkern hingegen nicht. Sie wollte, dass er sie ernst nahm und in ihr nicht länger das kleine Mädchen sah!

»Ich habe schon lange keine Angst mehr!«, rief sie überzeugt.

Das war eine dreiste Lüge – nichts fürchtete sie mehr als jene mächtigen Schlachtrosse, die gewohnt waren, Krieger zu tragen, keine Frauen. Richard war auf dem Pferderücken aufgewachsen, er hatte schon mit vier Jahren reiten gelernt. Sie selbst hingegen war viel älter gewesen, als sie das erste Mal auf einem solchen Tier gesessen hatte – und viel widerwilliger.

Allerdings ließ sie sich das nicht anmerken, sondern starrte ihn herausfordernd an. »Es wird Zeit, dass du dich wieder unter die Lebenden mischst!«, rief sie.

Was ihre Worte nicht auszurichten vermochten, schaffte ihr Blick.

Er lächelte nicht mehr, zwinkerte sie nicht spöttisch an, sondern wurde plötzlich ganz ernst. »Wenn du meinst.«

Alrunas Herz pochte, als sie gemeinsam den Turm hinabstiegen. Vor einigen Jahren hatte Richard die gräfliche Pfalz in Rouen von Grund auf erneuern und einen Turm, dessen Fenster Richtung Südwesten lagen, errichten lassen. War er in seiner Hauptstadt, verbrachte er viel Zeit dort. Für gewöhnlich verließ er ihn nicht an der Seite einer Frau, sondern von Männern – am liebsten von Raoul, seinem Halbbruder, den seine Mutter Sprota einem Müller von Pîtres geboren hatte. Ohne die Last, der Sohn eines Grafen zu sein und dereinst ein schwieriges Erbe antreten zu müssen, war Raouls Kindheit viel leichter gewesen und sein Wesen darum viel fröhlicher – in der Trauer der letzten Wochen vielleicht sogar ein wenig zu fröhlich für Richard. Alruna war sich sicher, dass er sich von ihr, deren Ernsthaftigkeit er oft verspottet hatte, besser verstanden fühlte.

Rasch waren die Pferde gesattelt und einer Gruppe von Kriegern der Befehl erteilt, mit etwas Abstand zu folgen. Richard ritt nie allein aus, sondern immer in Begleitung einer kleinen Einheit, bestehend aus jungen Männern, die am Hof lebten und zu Kriegern ausgebildet wurden.

Anfangs fühlte Alruna sich von ihnen gestört, später, als sie die Straße verließen und auf unebenem Gelände weiterritten, galt ihr ganzes Augenmerk dem Trachten, sich auf dem Pferderücken zu halten, ohne dabei lächerlich zu wirken. Die Pferde der Krieger hatten Riemen mit Eisenbeschlägen an Brust und Unterbauch, ihres nur einen Sattel mit Steigbügeln, der bei jedem Schritt zu verrutschen drohte. Vielleicht war es aber gar nicht der Sattel, sondern sie, die alsbald auf dem Boden zu landen drohte.

»Und du hast doch Angst«, neckte Richard sie. »Mir brauchst du nichts vorzumachen.«

Sie verzichtete auf eine weitere Lüge. »Du mir auch nicht«, erwiderte sie ernst. »Ich weiß, warum du dich in deinem Turm verkriechst. Nicht wegen der Trauer um Emma nämlich, wie du alle Welt glauben machst. Du hast sie nicht geliebt – lediglich das Leben an ihrer Seite. Solange sie deine Frau war, konntest du dich halbwegs sicher fühlen vor deinen Feinden, galtest als Franke und frei von der Bürde, ein Nachfahre der wilden Nordmänner zu sein. Emma hat alle Welt das Erbe deines Blutes vergessen lassen. Doch nun scheint dein Trachten, einer der ihren zu sein, vergebens.«

Die ersten Worte waren noch zögerlich über ihre Lippen gekommen, danach redete sie immer entschlossener auf ihn ein. Vielleicht ging sie zu weit, aber dieser gestohlene Moment war zu kostbar, ihm auch nur einen der Gedanken, der sie seit Tagen umtrieb, zu verschweigen. In seinem Blick stand Verwirrung, doch er senkte ihn nicht, und er versuchte auch nicht, sie zu unterbrechen.

Erst nachdem sie geendet hatte, murmelte er: »Seit ich denken kann, bin ich von Feinden bedroht worden. Mein Vater ist ermordet worden, ich habe als Kind monatelang in Gefangenschaft gelebt. So oft hätte ich um ein Haar die Normandie verloren oder gar mein Leben.«

Sie nickte. »König Ludwig, Hugo der Große, Kaiser Otto, Arnulf von Flandern …«, nannte sie die Namen derer, die ihn viele schlaflose Nächte gekostet haben mussten.

Sie selbst konnte sich noch daran erinnern, als die Truppen des Kaisers die Normandie überfielen und Richard sie erst im letzten Augenblick überlisten konnte. Eigenhändig hatte er damals den Neffen des Kaisers enthauptet, was dessen Truppen dazu getrieben hatte, entsetzt in alle Himmelsrichtungen zu fliehen.

Unmerklich glitt ihr Blick zu diesen Händen. Es waren schöne Hände, feingliedrig und doch voller Kraft. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie diese Hände töteten, wollte es auch gar nicht, wollte sich lieber ausmalen, wie diese Hände zärtlich über ihr Gesicht streichelten. Wie sehr sie sich danach verzehrte! Wie glühend rot sie allein bei dem Gedanken daran wurde!

»Eben aber denkst du nicht an meine Feinde, oder?«, neckte er sie.

Sie fühlte sich ertappt, blickte hastig von den Händen weg und studierte sein Gesicht. Obwohl es ihr vertraut war, war es immer wieder eine Freude, ihn zu mustern, sich jedes Detail einzuprägen, seine ebenmäßigen Züge, sein zu Zöpfen geflochtenes, schulterlanges Haar, seinen sorgfältig gestutzten Bart, seine blauen Augen.

Er war so stattlich, so männlich, so herrschaftlich …

»Trotz der vielen Feinde hast du dich immer als stark erwiesen«, rief sie eifrig. »Man nennt dich nicht ohne Grund Richard, den Furchtlosen. Du hast Emma verloren, aber gewiss nicht deine Tapferkeit.«

Sein Lächeln schwand von den Lippen. »Und siehst du, vielleicht irrst du dich, vielleicht irrt sich alle Welt. Manchmal habe ich doch … Angst.«

Er sprach das Wort aus, als würde er sich daran verbrennen.

»Das ist doch nichts Schlimmes«, rief sie. »Du darfst dich nur nicht dazu bekennen! Es ist dein Geheimnis … deines … unseres …«

»Du scheinst darin geübt, solche Geheimnisse zu hüten.«

Wie leicht es plötzlich schien zu nicken! Wie leicht, ihm anzuvertrauen, was sie bis jetzt aller Welt eisern verschwiegen hatte! Doch ehe sie es tun konnte, erklang ein Rascheln im Gestrüpp, und sie zuckte zusammen.

»Es wird doch kein Bär sein!«, rief sie erschrocken.

»Und selbst wenn … Ich würde ihn töten, ehe er dir etwas zuleide tun könnte.«

Wieder fiel ihr Blick auf seine Hände, wieder konnte sie sich nicht recht vorstellen, dass diese halfen, Blut zu vergießen.

»Er ist so unglücklich mit seiner Frau.«

Ohne dass der Name seines Bruders fiel, entfuhren Richard diese Worte. Raoul nannte man den Bärentöter, seit er einmal auf der Jagd im Wald von Vivière ein besonders großes, gefährliches dieser Tiere getötet hatte, weswegen Richard nun an ihn dachte.

Alruna schluckte. Der ganze Hof schwatzte über Raouls Ehefrau Ermentrude, die ihm das Leben schwer machte, wo sie nur konnte. Wie ungerecht es war, dass Raoul in einer freudlosen Ehe gefangen war, Richard hingegen Witwer, obwohl er Emma doch gemocht hatte! Wie ärgerlich auch, dass das Rascheln sie von ihrem Bekenntnis abgehalten hatte und nun die Gelegenheit verstrichen war!

»Es tut mir leid«, murmelte sie schlicht. »Nicht, dass Raoul unglücklich ist … sondern du.«

»Ach, das muss dir doch nicht leid tun«, rief er leichtfertig. »Du gibst dir alle Mühe, mich auf andere Gedanken zu bringen. Und wenn ich nicht glücklich bin, ist es gewiss nicht deine Schuld, im Gegenteil. Du bist …«

Er hielt inne. Obwohl das Rascheln längst verstummt war, ritten sie nicht weiter.

»Ja?«, fragte sie.

»Du bist so gut zu mir«, sagte er, »ich liebe dich.«

Ihre Welt stand still.

»Ich liebe dich wie eine Schwester«, fügte er dann hinzu.

Ihre Welt wankte.

Ich liebe dich auch, dachte sie, ich habe dich immer geliebt, schon als kleines Mädchen, ich bin mit der Liebe groß geworden, und diese Liebe hat sich gewandelt, ist längst viel inniger geworden, als die zu einem Bruder es ist.

Sie lächelte, aber sie hatte Tränen in den Augen. Er bemerkte sie nicht, sondern gab seinem Pferd die Sporen.