Riviera - Die Vorgeschichte - Julia Kröhn - kostenlos E-Book

Riviera - Die Vorgeschichte E-Book

Julia Kröhn

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Beschreibung

Erfahren Sie in diesem kostenlosen E-Book exklusiv die Vorgeschichte zur neuen, großen Riviera-Reihe von Erfolgsautorin Julia Kröhn.

Menton 1881: Die Stadt der Zitronen zieht immer mehr Touristen aus der ganzen Welt an, die dem kalten Winter entfliehen und sich an der milden Sonne und dem sanften Mimosenduft erfreuen wollen, der in der Luft liegt. Für die junge Esmeralda, ein Kind armer italienischer Auswanderer, bedeutet es eine große Chance, als sie eine Anstellung in einem mondänen Grandhotel findet. Doch schon bald merkt sie, dass es kein gewöhnliches Hotel ist, in dem sie da arbeitet. Denn die Gäste hüten allesamt ein dunkles Geheimnis – ob nun die junge Aniela mit ihren blonden Engelslocken, die fast ganzen Tag das Bett hütet, oder der Musiker Adrien, der auf seinem Cello die wunderschönsten Melodien erschafft. Als Esmeralda erfährt, was sich hinter den Fassaden verbirgt, ist sie entsetzt. Und kann doch nicht fliehen, denn sie hat längst ihr Herz an Adrien verloren ....

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Seitenzahl: 180

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Inhalt

Menton 1881: Die »Stadt der Zitronen« zieht immer mehr Gäste aus der ganzen Welt an, die dem kalten Winter entfliehen und sich unter der milden Sonne am Mimosenduft laben wollen. Für die junge Esmeralda, das Kind armer italienischer Auswanderer, ist es eine große Chance, als sie eine Anstellung in einem der mondänen Grandhotels findet.

Doch schon bald bemerkt sie, dass es kein gewöhnliches Grandhotel ist, in dem sie da arbeitet. Denn die Gäste – ob nun die junge Aniela mit den blonden Locken eines Engels, die fast den ganzen Tag das Bett hütet, oder der Musiker Adrien, der auf seinem Cello die wunderschönsten Melodien erschafft, aber von einer tiefen Traurigkeit erfüllt ist – hüten allesamt ein dunkles Geheimnis. Esmeralda ist entsetzt, als sie es enthüllt – und kann doch nicht einfach fliehen. Denn sie hat längst ihr Herz an Adrien verloren …

Autorin

Die große Leidenschaft von Julia Kröhn ist nicht nur das Erzählen von Geschichten, sondern auch die Beschäftigung mit Geschichte: Die studierte Historikerin veröffentlichte – teils unter Pseudonym – bereits über dreißig Romane. Nach ihrem jüngsten Erfolg, »Das Modehaus«, ein Top-20-SPIEGEL-Bestseller, folgt nun mit ihrem Riviera-Zweiteiler die nächste opulente Familiensaga vor schillernder Kulisse.

Weitere Informationen unter: http://juliakroehn.at/

 

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Julia Kröhn

Riviera

Die Vorgeschichte

Mit Leseprobe zum ersten Band

Blanvalet

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

 

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

 

Copyright © 2020 by Julia Kröhn

© 2019 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (lukaszimilena; SCOTTCHAN) und Ildiko Neer/Trevillion Images

KW·Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-26660-8V001

 

www.blanvalet.de

Mein geliebter Enkelsohn Félix!

Du bist zu klein, um in mir deine Großmutter zu sehen. Als ich dich gestern auf dem Arm hielt, hast du durchringend laut geschrien, was ich dir nicht verdenken kann, denn mein Geruch ist dir ebenso fremd wie mein Antlitz. Bald aber wirst du mehr sein als ein brüllender Säugling. Du kannst dich auf die Zeit verlassen, und diese wird dir unendlich viel schenken. Jenes langsame Erwachen des Geistes, jene große Neugierde auf das Leben, das so viele Erfahrungen mit sich bringt, gute wie schlechte. In meinem Alter ist die Zeit hingegen zur Diebin geworden. Erst hat sie mir Jugend und Schönheit geraubt, später einen gesunden Leib, der sich nicht regelmäßig vor Schmerzen krümmt, und nun lässt sie jene Spanne schrumpfen, da ich noch fähig bin, mich an meine Geschichte zu erinnern und sie dir zu erzählen. Darum schreibe ich sie hier und heute nieder, damit ich für Dich dereinst mehr sein werde als nur ein Name auf einem Grabstein und Du vielmehr die junge, erblühende Frau vor dir siehst, die ich einst war.

An einem Tag vor langer, langer Zeit – es war im letzten Jahrhundert, wir schrieben das Jahr 1881 – geriet diese junge Frau ins Schwärmen.

»Ich werde an hohen Wandspiegeln mit silbernen Rahmen entlang gehen und mich darin betrachten!«, rief ich. »Ich werde vom weichen Licht großer Leuchter beschienen werden, vor funkelnden Goldtapeten stehen und Decken aus Brokat glatt streichen.«

»Von wegen!«, erwidert Assunta, meine Schwester, die nur ein Jahr älter war als ich, aber deutlich schmallippiger, hatte sie doch öfter als ich die Erfahrung gemacht, wie bitter das Leben manchmal schmeckt. »Von wegen!«, wiederholte sie. »Du wirst Staub wischen, bis du hustest, und schwere Marmortische wegschieben, um darunter zu putzen, bis dein Rücken schmerzt.«

Ich wollte nicht auf sie hören. »Ich werde Vorhänge aus Samt zurückziehen, damit das Sonnenlicht kleine Skulpturen und Uhren zum Leuchten bringt.«

»Ach was, du wirst dich am Gepäck zu Tode schleppen, an all den Koffern und Kisten und Hutschachteln!«

Zugegeben, ihre Stimme kratzte an meiner Fröhlichkeit. Sie war oft erlöschend leise, als lohnte es sich nicht, die Not zu beklagen, in die unsere Familie geraten war.

»Ich werde sämtliche sieben Gänge eines Dinners servieren«, sagte ich beharrlich, obwohl ich wusste, dass dies nicht zu meinen Aufgaben gehören würde.

»Wenn überhaupt lässt man dich nur Teller waschen«, entgegnete Assunta.

Ich seufzte. »Warum musst du nur alles schlecht machen?«, fragte ich. »Es ist doch ein großes Glück, dass seit einigen Jahren so viele Reisende nach Menton kommen. Unzählige englische Lords und russische Fürsten zieht es im Winter an die Riviera, sobald sich der erste Herbstnebel über die Strände im Norden legt. Und ein noch größeres Glück ist es, dass ich in einem den vielen Grandhotels Arbeit gefunden habe. Vielleicht werde ich härter schuften müssen, als ich es mir vorstellen kann, aber zumindest werde ich das in einer wunderschönen Umgebung tun.«

Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen, in dem wir beide lebten – eine winzige Dachkammer in einem schiefen Haus. In der Altstadt von Menton standen diese so dicht nebeneinander, dass kaum Sonne durch die Luke fiel. Die vielen Heiligen- und Madonnenbilder an den Wänden konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Wände feucht waren, und der Flickenteppich nicht verhehlen, dass der Boden nur aus gestampftem Lehm bestand. Meine Mutter hatte ihn gewebt, bevor sie vor zwei Jahren am Fieber gestorben war. Meinem Vater, der ihr nur kurze Zeit später ins Grab gefolgt war, gehörte eines der Madonnenbilder. Sie waren beide vom ligurischen Hinterland der Riviera nach Menton gekommen, einer Stadt, die zwar zu Frankreich gehörte, aber so grenznah lag, dass auch viele Italiener dort arbeiteten, und sie hatten gehofft, ebenfalls eine gute Anstellung zu finden. Doch sie waren zu alt gewesen, um dem Leben eine neue Richtung zu geben. Mit ihren Träumen war das gleiche geschehen wie mit dem wenigen Licht, das jeden Tag durch die Fensterluke fiel und im trüben Inneren sogleich seinen rötlichen Glanz verlor und grau wie Staub wurde. Die Düsternis ihrer letzten Jahre schien auch einen Schatten auf Assuntas und mein Leben zu werfen, doch ich weigerte mich, in diesem stehen zu bleiben. Assuntas Zukunft mochte ihr unter den Händen zerrieseln wie die Asche, aus der sie bei einem Seifensieder Seife herstellte, doch ich beschloss, dass die meine glänzen sollte wie die Türklinken des Grandhotels, in dem ich künftig ein- und ausgehen würde.

»Du bist eine Träumerin«, murmelte Assunta.

»Mag sein, aber Träume können nun mal nur dann ihre Macht entfalten, wenn man sie fliegen lässt. Und das ist nicht möglich, wenn man sie mit Ängsten und Sorgen belastet. Deswegen hoffe ich das Beste. Oh, ich werde in eleganten Sälen unter Stuckdecken schreiten, ich werde jene Kristallleuchter anmachen, die die Räume mit sanftem Licht erfüllen, ich werde Badezimmer putzen, aus deren Messinghähnen nicht nur kaltes, sondern auch heißes Wasser kommt, ich werde …«

»Du wirst im Sommer arbeitslos sein, dann nämlich fürchten die Gäste die ungesunden Dünste und die Malaria und meiden die Riviera.«

»Wenn es so weit ist, denke ich darüber nach, aber jetzt haben wir gerade mal Oktober.«

 

Ja, wenn man jung ist, ist die Zeit keine Diebin; man weiß noch nicht einmal, wie geizig sie oft ist. Für dich, kleiner Enkelsohn, bringt jeder Tag etwas Neues, und das Neue bläht ihn auf zur halben Ewigkeit. Ich dagegen bin in der fortwährenden Wiederholung von Bekanntem gefangen, sodass die Stunden zu Sandkörnern werden.

Aber warum damit hadern? Ich will mich lieber an der Fröhlichkeit und Unbeschwertheit der jungen Esmeralda laben, die ich einst war und die ihre Sehnsüchte nach einem besseren Leben mit der Aussicht auf einen Arbeitsplatz erfüllt sah. Schon oft war ich damals an dem Grandhotel vorbeigekommen, seinen riesigen Fensterfronten, der stuckverzierten Fassade, den goldenen Lettern am Dach. Und jetzt würde ich es endlich betreten – nicht nur einmal, sondern Tag für Tag.

 

»Porca miseria!«, fluchte ich einige Wochen später.

Ich konnte meine Wut, meine Enttäuschung anders nicht bändigen.

»Porca vacca!«, fügte ich hinzu.

Du verstehst diese Worte noch nicht, kleiner Enkelsohn. Fleurette verstand sie auch nicht, stammte sie doch aus Nizza und beherrschte nur den dortigen Dialekt, den Nissart. Französisch sprach sie mit starkem Akzent, Italienisch gar nicht.

»Was hast du da gesagt?«, fragte sie misstrauisch. Fleurette war immer misstrauisch. Anfangs hatte ich geglaubt, ich könnte sie für mich einnehmen, indem ich sie stets freundlich anlächelte, aber das machte sie am allermisstrauischsten.

»Ich habe gesagt: Was für ein wunderschöner Tag!«, log ich.

Natürlich glaubte sie mir nicht. Allerdings wollte sie auch nicht zugeben, wie begrenzt ihre Sprachkenntnisse waren. »Du solltest etwas leiser sein«, sagte sie nur.

»Warum? Hier kann uns ohnehin niemand hören.«

Ich deutete in den Raum, in dem wir uns befanden. Und nein, es war leider keiner mit griechischen Säulen, seidenbespannten Wänden und edlen Perserteppichen – es war nämlich weder der Damensalon, in dem sich auch Marie Antoinette höchstselbst wohlgefühlt hätte, noch die Eingangshalle, in die durch eine gläserne Kuppel Licht fiel. Nein, es war eine winzige Kammer, in deren Ecken man ob der stickigen Luft Spinnweben hätte vermuten können.

Nicht dass Fleurette Spinnweben geduldet hätte. Fleurette duldete auch keine Falten in der Wäsche. Die Kammer war Teil der hoteleigenen Wäscherei, wo gebügelt wurde, und auch wenn es keine harte Arbeit war, die ich da zu verrichten hatte, so war es doch eine höchst langweilige, die mir nicht erlaubte, mehr vom Grandhotel zu sehen.

»Bist du endlich fertig?«, fragte Fleurette.

Gleich würde sie mit einem Stapel Tischdecken den Raum verlassen, um im Speisesaal aufzudecken. Eine besonders angesehene Arbeit war das auch nicht, dennoch stand Fleurette im Rang weit über mir, die ich offiziell nur eine »Wäschehausdienerin« und inoffiziell die »Bügelmamsell« war. Daher war sie überzeugt, dass ihr der herablassende Tonfall zustand. So wie eben auch der Liftboy auf den Schuhputzer herabsah, der Hotelkellner auf den Gepäckträger, der Chef de rang im Restaurant auf den Commis de rang (worin der Unterschied zwischen beiden besteht, weiß ich bis heute nicht.) Geringeres Ansehen als ich genoss nur der Hilfsgärtner, der immerhin den Vorzug genoss, im Freien im hoteleigenen Park arbeiten zu dürfen.

»Frische Servietten brauche ich morgen auch«, fügte Fleurette noch hinzu. »Kann ich mich darauf verlassen, dass sie in einer Stunde fertig sind?«

Wieder kämpfte ich um ein Lächeln. Immerhin waren Servietten leichter zu bügeln als Vorhänge, weil sie kleiner und aus dickem Stoff waren. Als Fleurette den Raum verließ, entfuhr mir dennoch einmal mehr ein unwirsches »Porca miseria!«

»Na, na, na«, ertönte eine Stimme, »so böse Worte aus einem so hübschen Mund?«

Ich zuckte zusammen, hatte ich doch nicht bemerkt, dass jemand die Bügelkammer vom rückwärtigen Eingang betreten hatte. Als ich den unerwarteten Besucher erkannte, entspannte ich mich, und diesmal kam mein Lächeln von Herzen. Im Türrahmen stand Corneille Aubry, ein Tuchhändler aus Menton, der das Grandhotel mit Bettwäsche, Vorhängen und Tischdecken versorgte. Dass er so bestrebt war, seine Ware möglichst faltenfrei zu liefern, ließ nun wiederum auf seiner Stirn Sorgenfalten erscheinen. Richtig finster war seine Miene jedoch nie, und wenn er mich sah, leuchtete seine Blick regelrecht auf. Ich vermute, meine schwarzen Locken waren das einzige auf der Welt, das ihm gefiel, obwohl es nicht glatt war. Er selbst hatte recht schütteres Haar, machte aber in seiner blitzsauberen Tuchuniform mit den funkelnden Messingknöpfen und Goldlitzen einen überaus eleganten Eindruck.

Mit dem Kinn deutete er auf eine Serviette. »Was hat sie Ihnen denn getan, dass Sie sie so verfluchen?«

»Nun«, erwiderte ich, »sie hat mir gar nichts getan, aber ich muss zugeben, dass ich schrecklich eifersüchtig auf diese Serviette bin. Immerhin wird sie alsbald mit in den Speisesaal genommen, jenen riesigen Raum mit den deckenhohen Fenstern, während ich in diesem Loch hier eingekerkert bin.«

»Die Serviette wird im Laufe des Tages aber auch ein paar Flecken abbekommen.«

Ich seufzte. Als ob es die größte Zumutung des Lebens wäre, befleckt oder zerknittert zu werden! Langeweile war die größte Strafe – und die glich eher einem gänzlich unbeschriebenen Blatt als einem beschmierten und zerknüllten.

»Trotzdem …«, erwiderte ich beharrlich.

»Und wenn Sie von mir die Anweisung bekämen, die Geschirrtücher, die ich soeben geliefert habe, in die Küche zu bringen?« Er klang etwas skeptisch, war er doch selbst jemand, der heißen Dampf, starke Gerüchte und steten Lärm lieber mied. Ich hingegen lachte glockenhell. »Ist das Ihr Ernst?«

»Aber natürlich!«

»Wie könnte ein solches Angebot ausschlagen?«, rief ich und nahm ihm den Stapel Geschirrtücher ab. Er war so hoch, dass er fast mein ganzes Gesicht verbarg. Corneille Aubry konnte nicht sehen, dass mein Lächeln nicht einfach nur fröhlich, sondern regelrecht triumphierend war – genauso wenig wie irgendjemand die »Bügelmamsell« erkennen würde, dem ich auf dem Weg begegnete.

Was Corneille nicht ahnte: Ich hatte nicht vor, mit dem Geschirrtuch schnurstracks in die Küche zu gehen. Nein, ich würde vermeintlich irrtümlich in einen Gang geraten, der zu den Gästezimmern führte.

 

Wenig später betrat ich eines der Zimmer, das ich schon nicht mehr zu sehen gehofft hatte. Bis heute Morgen hatte ich noch nicht einmal die Eingangshalle betreten, mussten sämtliche Dienstboten doch die hintere Pforte nutzen. Zu meinem Glück stand eine der Türen offen, als ich den von etlichen Kornleuchtern erhellten Gang entlang schritt.

Dass ich einfach eintrat, mag mich dreister erscheinen lassen, als ich eigentlich bin. Natürlich schlug mir das Herz bis zum Hals, natürlich wusste ich, dass ich etwas Verbotenes tat und natürlich war mir auch bewusst, dass ich mich kaum würde herausreden können, wenn man mich ertappte – die Geschirrtücher ließen sich unmöglich als Handtücher ausgeben. Aber meine Abenteuerlust und mein jugendlicher Leichtsinn waren so groß, dass ich nicht über diesen Augenblick hinausdachte. So groß auch, dass ich mich nicht damit begnügte, das Zimmer gründlich in Augenschein zu nehmen. Es war übrigens keines der kleineren, die man schon für neunzig Francs die Nacht haben konnte, sondern ein Apartment, zu dem neben einem Schlafzimmer auch ein Salon, ein Bad und ein Balkon gehörten. Mein Wagemut ging so weit, mich auf einen der bordeauxrot gepolsterten Louis-Philippe-Stühle zu setzen. Damals wusste ich noch nicht, wer Louis Philippe war und warum die Stühle so hießen wie er, doch ich war gewiss, dass man nirgendwo bequemer sitzen konnte. Unwillkürlich wanderte meine Hand zu einer Stehlampe mit einem kunstvollen Schirm, die vor mir auf einem kleinen Glastisch stand, und knipste sie an. Ein unnötiger Akt, denn der Raum war alles nur nicht finster. Das Sonnenlicht, das durch die breite Fensterfront floss, brachte das Glastischchen ebenso zum Glänzen wie die vielen Spiegelrahmen. Ich seufzte. Doch dieser Laut, der von der Sehnsucht nach all dem Schönen kündete, und von dem Schmerz, dass es mir verwehrt blieb, wurde von den weichen Perserteppichen, den samtenen Vorhängen und den Tapeten aus Seide verschluckt.

Ein Gluckern ließ mich aufschrecken. Anders, als ich kurz befürchtete, kam es nicht vom Gang, sondern aus den Leitungen. Richtig, in den Räumen gab es eine Warmwasserheizung – ein unerhörter Luxus, von dem ich in unserem kargen Heim, wo der Holzkohlenofen mehr Rauch als Wärme spendete, nur träumen konnte. Obwohl ich nicht fror, mein Gesicht vielmehr vor Aufregung glühte, presste ich mich an die Heizung und genoss es, die Wärme zu spüren.

Wäre ich vernünftig gewesen, hätte ich das Apartment spätestens jetzt verlassen, stattdessen zog es mich ins Schlafzimmer zu dem raumhohen Kleiderschrank. Und sobald ich ihn geöffnet hatte, konnte ich mich nicht damit begnügen, die Kleider einfach nur zu betrachten, nein, berühren wollte ich sie … musste ich sie. Auch eins herausnehmen, es mir vor den Leib halten, mich damit vor dem Spiegel drehen. Es war etwas zu klein, aber der Stoff – ein dunkles Rosé, das mit heller Spitze eingefasst war – passte wunderbar zu meinem Hautton, nicht ganz so dunkel wie der meiner Schwester Assunta, aber auch nicht zu blass, um jemals fahl zu wirken. Das Sonnenlicht verlieh meinem schwarzen Haar einen rötlichen Schimmer und meine Augen blitzten. Wieder drehte ich mich und …

»Ich finde, das Kleid würde Ihnen hervorragend stehen.«

Ein Wunder, dass ich mir vor Schreck nicht die Zunge abbiss. Ich fuhr herum und sah jemanden in einem Himmelbett liegen, dessen Vorhänge halb zugezogen waren. Das Bett war riesig – der Mensch … das Mädchen darin dagegen winzig. Sein Gesicht hatte fast die gleiche Farbe wie die weißen Bettlaken, die Haare waren von einem so hellen Blond, dass man sie ebenfalls für weiß hätte halten können. Die Wimpern und Augenbrauen waren kaum dunkler. Doch auch wenn sie sich kaum vom Bett abhob, hätte ich sie trotzdem bemerken müssen. Ihr Atem klang rasselnd, und jetzt begann sie auch noch zu husten.

»Es … es …«, stammelte ich gegen ihren Husten an.

Mir fiel nichts ein, was mein Vergehen hätte rechtfertigen können. Das einzige, was ich zustande brachte, war, das Kleid in den Schrank zu hängen und zur Tür zu hasten.

»Bleiben Sie doch!«, rief das Mädchen heiser.

Ich zögerte.

»Mir ist so schrecklich langweilig«, fügte es hinzu. »Ich … ich muss doch den ganzen Tag im Bett liegen und mich ausruhen.«

Nicht nur die Freundlichkeit, die aus ihrer Stimme sprach, bewog mich, innezuhalten, sondern auch meine Neugierde. Ich trat zurück an ihr Bett. »Warum musst du dich denn den ganzen Tag ausruhen?«

»Man hört es doch. Ich leide an nervösem Husten.«

Nervös schien mir ein etwas harmloses Attribut zu sein. Das Gesicht des Mädchens verzog sich, als litte es an heftigen Brustschmerzen. Unwillkürlich ließ ich mich neben ihr nieder und nahm ihre Hand, leicht wie eine Feder, von bläulichen Adern, die deutlich unter der hellen Haut durchschimmerten, überzogen.

»Natürlich leide ich an etwas Schlimmerem als einem nervösen Husten, aber niemand spricht darüber«, sagte sie leise. »Es erwähnt ja auch niemand, dass dieses Grandhotel nicht einfach nur ein Hotel ist.«

Aus meiner Neugierde wurde Verwirrung. »Was denn sonst?«, entfuhr es mir.

Meine Verständnislosigkeit spiegelte sich in ihrem Blick. »Wissen Sie das denn nicht?«

»Was soll ich wissen?«

»Dass Menton nicht nur als Perle des Mittelmeers, als die Stadt der Zitronen gilt, sondern auch untrennbar mit dem Begriff climatothérapie verbunden ist.«

So stolz ich immer darauf gewesen war, schnell Französisch gelernt zu haben – mit diesem Begriff konnte ich nichts anfangen.

»Menton«, sprach das Mädchen weiter, »hat ein besonders weiches, trockenes Klima. Deswegen wirkt ein Aufenthalt wahre Wunder, wenn man an Asthma leidet oder, noch schlimmer, an …« ein neuer Hustenanfall würgte sie ab, und als er nachgelassen hatte, fügte sie nichts weiter hinzu.

Ich war beunruhigt von den ungesunden rötlichen Flecken, die sich auf dem weißen Gesicht abzeichneten. Zart wie sie war, erschien mir die Decke auf ihr viel zu schwer. Ich zog sie zurück und sah, dass das Mädchen nicht einfach auf einem Leintuch lag, sondern auf einem Kaninchenfall. Gewiss war das weich, doch zugleich bewirkte es, dass sie unaufhörlich schwitzte.

»Es geht nichts anders«, erklärte das Mädchen. »Ich liege mich so schnell wund und muss dann mit Branntwein eingerieben werden. Das stinkt grässlich. Wobei noch grässlicher als der Geruch die Langeweile ist.«

Wie gut ich das verstehen konnte! Und wie leid sie mir tat! Die Frage nach ihrer Krankheit lag mir auf den Lippen, doch ich hielt mich zurück, denn das Mädchen wollte sicher mehr sein als nur eine Leidende. »Wie heißt du?«, erkundigte ich mich stattdessen.

»Aniela.«

Das war weder ein französischer noch ein italienischer Name. Sie sprach auch mit fremdem Akzent. »Ich komme aus Polen«, fügte sie hinzu, als sie meinen fragenden Blick bemerkte. Der Name ließ kein Bild vor meinem inneren Auge erstehen, ich glaubte mich jedoch vage zu erinnern, dass dieses Land viel weiter im Norden lag als Menton.

»Und wer sind Sie?«

»Mein Name ist Esmeralda, und ich wäre gerne eine, die diene Langeweile vertreibt«, sagte ich, »aber ich weiß nicht, ob ich dazu tauge. Ich bin ja auch im Bügeln sehr schlecht, obwohl man mich hier Hotel ausgerechnet dafür angestellt hat. Und heimlich in ein Zimmer zu schleichen und dort ein Kleid anzuprobieren, hat auch nicht so recht geklappt.«

Ein glockenhelles Lachen ertönte, das nach dem röchelnden Husten herzerfrischend klang.

»Was ich allerdings zustande bringe …«, setzte ich an und brach gleich darauf wieder ab. Ich weiß nicht mehr, was ich ihr hatte vorschlagen wollen. Jedenfalls ließen mich die Schritte, die am Gang ertönten, zusammenzucken.

»Ich fürchte, meine Gouvernante kommt zurück«, sagte Aniela bedauernd. »Sie heißt Natalia, ist sehr streng und trägt eine Lorgnette.«

Eine Lorgnette war eine Stilbrille. Ob Natalia diese nun aber auf der Nase sitzen hatte oder nicht – sie durfte mich keinesfalls hier sehen!

Ich warf einen gehetzten Blick zur Tür. Ich würde keine Zeit mehr haben, unauffällig hinaus zu huschen. »Nehmen Sie das hier und tun Sie so, als würden Sie es abservieren.«

Aniela deutete auf ein kleines Tablett, das mit einem schneeweißen Damasttuch bedeckt war und auf dem sich leeres Teegeschirr stapelte. »Für gewöhnlich erledigt das ein Kellner mit schwarzem Frack und weißer Halsbinde, aber ich werde Natalia sagen, dass er sich die Halsbinde so eng gebunden hat, dass auch er an nervösem Husten leidet und Sie für ihn einspringen mussten.«

Ich erwiderte ihr verschwörerisches Grinsen, nahm das Tablett und verließ mit gesenktem Kopf das Zimmer. Im Gang lief ich fast in Natalia, doch ich hielt den Kopf beharrlich gesenkt, beschleunigte den Schritt, und dann war ich auch schon verschwunden.

Dass Natalia mich nicht aufgehalten hatte, hieß freilich nicht, dass ich außer Gefahr war, aufzufliegen. Gut möglich, das ich jemand anderem begegnen würde, der sich darüber wunderte, warum eine Bügelmamsell mit einem Tablett durchs Grandhotel lief.

Kurz darauf hatte ich jenen Trakt erreicht, wo sich die Salons befanden. Für gewöhnlich traf man sich hier zum Rauchen oder Kartenspiel, zur Zeitungslektüre oder zur gepflegten Konversation. Doch nun drang aus einem der Räume ein schrecklicher Laut.