Das Geständnis der Amme - Julia Kröhn - E-Book

Das Geständnis der Amme E-Book

Julia Kröhn

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Beschreibung

Sie war die Königin von Wessex, er der Sohn eines Wildhüters - doch sie kämpften für ihre Liebe

Frankreich im 9. Jahrhundert: Als einfallende Normannen ihr Dorf verwüsten, verliert die junge Johanna ihre gesamte Familie. Neuen Lebenssinn findet sie erst als Amme des kleinen Balduin. Stolz verfolgt sie seinen Werdegang zum ruhmreichen Ritter. Doch dann verliert Balduin sein Herz an Judith, die Tochter des fränkischen Königs. Fortan kämpfen die beiden um eine Ehe wider Standesgrenzen, König und Kirche - und vor allem wider Johanna. Denn die Amme sieht in Judith eine Nebenbuhlerin, und um ihre Macht zu erhalten, ist sie zu allem bereit - sogar zum Mord ...

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Prolog

Brügge, A.D. 864

Erster Teil Die Amme

A.D. 842 – 848

I. Kapitel

II. Kapitel

III. Kapitel

IV. Kapitel

Sechs Jahre später

Brügge, A.D. 864

Zweiter Teil Der Krieger

A.D. 858 – 861

V. Kapitel

VI. Kapitel

VII. Kapitel

VIII. Kapitel

IX. Kapitel

Ein Jahr später

X. Kapitel

XI. Kapitel

Zwei Jahre später

XII. Kapitel

Brügge, A.D. 864

Dritter Teil Die Königin

A.D. 861 – 862

XIII. Kapitel

XIV. Kapitel

XV. Kapitel

XVI. Kapitel

XVII. Kapitel

Brügge, A.D. 864

Vierter Teil Die Flucht

A.D. 862

XVIII. Kapitel

XIX. Kapitel

XX. Kapitel

XXI. Kapitel

XXII. Kapitel

XXIII. Kapitel

XXIV. Kapitel

Brügge, A.D. 864

Fünfter Teil Die Reise nach Rom

A.D. 862 – 63

XXV. Kapitel

XXVI. Kapitel

XXVII. Kapitel

XXVIII. Kapitel

XXIX. Kapitel

Brügge, A.D. 864

Sechster Teil In der Ewigen Stadt

A.D. 863

XXX. Kapitel

XXXI. Kapitel

XXXII. Kapitel

XXXIII. Kapitel

XXXIV. Kapitel

Brügge A.D. 864

Siebter Teil Das Opfer

A.D. 863 – 864

XXXV. Kapitel

XXXVI. Kapitel

XXXVII. Kapitel

XXXVIII. Kapitel

XXXIX. Kapitel

Mehrere Monate später

Epilog

Brügge, A.D. 864

Personenverzeichnis

Zeittafel

Glossar

Historische Anmerkung von Julia Kröhn

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

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Über dieses Buch

Frankreich im 9. Jahrhundert: Als einfallende Normannen ihr Dorf verwüsten, verliert die junge Johanna ihre gesamte Familie. Neuen Lebenssinn findet sie erst als Amme des kleinen Balduin. Stolz verfolgt sie seinen Werdegang zum ruhmreichen Ritter. Doch dann verliert Balduin sein Herz an Judith, die Tochter des fränkischen Königs. Fortan kämpfen die beiden um eine Ehe wider Standesgrenzen, König und Kirche – und vor allem wider Johanna. Denn die Amme sieht in Judith eine Nebenbuhlerin, und um ihre Macht zu erhalten, ist sie zu allem bereit – sogar zum Mord ...

Julia Kröhn

Das Geständnis der Amme

Historischer Roman

Zur damaligen Zeit gab es keine einheitliche Bezeichnung für die nordischen Völker, die Europa zunehmend auf den Kopf stellten: Der Name »Wikinger« wurde außerhalb von Skandinavien kaum benutzt; fränkische Quellen sprechen von »Heiden«, »Dänen«, »Piraten« oder »Nordmanni«. Ich habe mich für den eigentlich erst später gebräuchlichen Begriff »Normannen« entschieden, weil dieser dem heutigen Leser vertrauter ist als z. B. der (historisch korrektere) Hilfsbegriff »Nordmänner«.

Julia Kröhn

Prolog

Brügge, A.D. 864

Johannas Wille zu sterben war stärker als ihre Angst vor dem Tod. Nachdem sie ihren Entschluss gefällt hatte, erwartete sie, dass Zweifel und Panik sie bestürmen würden, doch die Aussicht auf das Ende machte die Welt nicht düsterer, sondern lichter.

Die schrecklichen Schreie, die aus dem Nebenraum drangen und von den Qualen zeugten, denen das Irdische oft unterliegt, schienen an Kraft zu verlieren. Vielleicht stellten sich ihre Ohren aber auch nur taub, ließ sich ihr Geist von dem Herzzerreißenden, Hoffnungslosen nicht länger anstecken. Es ist doch bald vorbei, wollte sie der Schreienden am liebsten zurufen, es ist doch bald vorbei.

Wenn ich ... es erst getan habe, dann bist auch du erlöst.

Johanna ging fast traumwandlerisch, ohne das übliche unangenehme Knacken, mit dem die morschen Knochen von ihrem hohen Alter kündeten. Auch der Rücken schmerzte nicht wie sonst vom langen Stehen, sondern fühlte sich an, als könnte sie ihn das erste Mal seit Jahren wieder gerade durchstrecken. Vielleicht hatte ihr Entschluss, den Leib abzustreifen, diesem bereits die Form des Himmlischen gegeben. Jene Form, die er einst nach der Auferstehung des Fleisches erhalten würde, wenn er in ewiger Schönheit erstrahlen und nicht mehr von den Spuren des hiesigen Jammertals zeugen würde. Ihr Haar würde dunkel und kräftig sein, nicht grau und dünn. Ihre Haut wäre glatt und strahlend, nicht faltig und bleich. Ihren Händen würde man nicht ansehen, dass sie oft stundenlang in der Erde gegraben hatten, um Samen zu säen oder Kräuter zu ernten, so wie jene, die sie nun aus ihrer geheimen Vorratskammer nahm. Ihre Schätze befanden sich in kleinen Lederbeutelchen und Tiegeln aus Bronze, die sie in einem langen, schmalen Hängeschrank aufbewahrte. Er war aus dem Geflecht von Ästen gewunden und hing an einem Haken an der Decke. Johanna öffnete einige der Beutel; der Duft, den die vielen Arzneien verströmten, war intensiv, aber sie labte sich nicht daran, als sie das Gift mischte, sondern steckte bereits im Dunst einer Welt fest, in der Wohlgerüche nicht mehr zählen.

Ehe sie das Gift an ihre Lippen führte, hielt Johanna noch einmal inne. Sie wollte nicht überdenken, was sie plante, aber sie wollte es klar benennen, auf dass der Allmächtige da droben im Himmel auch wüsste, was sie tat – und vor allem, warum sie es tat. Zwar sagten die Mönche, dass Seinem gestrengen Blick nichts entginge, aber wer konnte schon mit Gewissheit sagen, ob Er ihr Vorgehen als jenen todernsten Handel betrachtete, bei dem sie höchsten Einsatz zeigte, und nicht als Irrtum einer alten Frau, die ihre Sinne nicht mehr beisammen hatte und versehentlich das Falsche schluckte?

Ehe sie starb, wollte sie sich Gott erklären. Es waren Sein Zorn und Seine Rache, die sie hierher geführt hatten, und ihr Versuch, Ihn gnädig zu stimmen, war der einzige Weg, der ihr noch blieb.

Obwohl sie im Leben selten gebetet hatte, faltete sie die Hände. Ihre Stimme klang fest, aber fremd.

»Höre, Gott, Allmächtiger! Ich, Deine Tochter Johanna, tue Buße für meine Sünden, meine ach so schweren Sünden. Nimm meine Sühneleistung an. Lass nicht andere Menschen für das leiden, was ich verbrochen habe. Schon gar nicht Balduin und Judith. Herr, erbarme Dich meiner. Sei meiner armen Seele gnädig und weiche niemals von Balduin und Judith, wenn ich die Welt bald verlassen habe.«

Sie löste ihre Hände voneinander, nahm von dem Gift und schluckte es. Bilder stiegen vor ihr auf, Bilder, die Zeugnis ablegten von ihrem Leben. Sie verwehrte sich ihnen nicht, sondern gab sich ihnen hin, auch der Erinnerung an jenen lang vergangenen Tag, da sie schon einmal in Todesnähe geschwebt hatte. Damals hatte sie unendliche Angst gehabt, hatte mit all ihrer Kraft gegen den Tod gekämpft und schließlich mit knapper Not überlebt.

Heute würde sie nicht überleben. Heute war ihr Wille zu sterben stärker als ihre Angst vor dem Tod.

Erster TeilDie Amme

A.D. 842 – 848

»Die Zahl der Schiffe schwillt an,

die endlose Normannenflut hört niemals auf anzusteigen.

So erfüllt sich allmählich die Prophezeiung des Herrn,

wie sie von seinem Propheten verkündet wurde:

Eine Geißel wird hereinbrechen vom Norden

über alle Bewohner der Erde.«

Ermentarius von Noirmoutier

I. Kapitel

Ihre Füße waren blutig.

Obwohl sie weite Strecken auf weichem Moos gelaufen war, hatten sich Äste und Steinchen in ihre Sohlen geschnitten und jagten scharfe Schmerzen bis in ihre Leibesmitte. Als sie stehen blieb und sich vorbeugte, um besser Atem holen zu können, gewahrte sie die Spur, die sie auf dem Weg hinterlassen hatte.

Kurz dachte sie, dass jener rote Saft unmöglich von ihr stammen könnte, dass sie – nach allem, was sie erlebt hatte – nicht lebendig genug war, um zu bluten. Doch dann sah sie an sich hinab, wendete zuerst den einen Fuß, dann den anderen, und bemerkte die klaffenden Wunden.

Ihre Zunge fühlte sich belegt an, ihr Atem roch säuerlich. Der Schmerz schien sich in ihren gesamten Körper auszustrecken: bis in die Spitzen ihrer Brüste, die während des Laufens unruhig auf ihrem Körper geschlackert hatten, und bis zu ihrem Magen, der sich anfühlte, als hätte er sich auf die Größe eines Kieselsteins zusammengezogen. Ihr Durst war unerträglich. Keuchend lief sie weiter und spürte einen neuerlichen Schmerz, diesmal, als ob ihr ein Messer zwischen die Beine schnitt. Sie fühlte, wie warme Flüssigkeit über die Schenkel rann. Hatte sich ihre Blase entleert? Oder blutete sie auch dort?

Sie ordnete alles dem unerträglichen Durst unter und irrte auf der Suche nach einer Quelle durch den finsteren, raschelnden Wald. Eichen, Buchen, Ahornbäume und Birken reichten sich gegenseitig die Hände und tanzten, während sie an den Stämmen vorbeihuschte. Manchmal gluckerten ihre Schritte, vielleicht, weil es geregnet hatte und der Waldboden noch nass war, vielleicht, weil sie von Sümpfen und Mooren umgeben war. Letztere waren gefährlich, man konnte darin versinken und elendiglich ertrinken – diese Warnungen hatte sie ihr ganzes Leben lang gehört. Doch ihre Angst schien aufgebraucht. Nur wie von ferne hallten die Worte der Priester in ihren Ohren, die den Wald einen unheilvollen Ort genannt hatten, eine Stätte der Geister und Trolle, der Bäume, die die Heiden verehrten und denen darum teuflische Kräfte innewohnten, der verzauberten Quellen, die giftiges Wasser sprudeln ließen. Wer davon trinke, der stürbe.

Der Gedanke vergrößerte nur ihren Durst. Ihre Zunge fühlte sich an, als füllte sie den ganzen Mund aus, raubte noch mehr von dem Platz, den sie doch brauchte, um Atem zu schöpfen.

Dann fand sie endlich eine tiefe Pfütze, trüb und braun. Statt sich bloß darüberzubeugen, mit den Händen von dem Wasser zu schöpfen und dieses an die vertrockneten Lippen zu führen, ließ sie einfach das ganze Gesicht in das kühle Nass sinken. Ihre Welt wurde schwarz und lautlos, als auch ihre Ohren vom Wasser umgeben waren. Die Geräusche des Waldes verstummten: das Stöhnen des Geästs, das Rascheln der Blätter, das traurige Rufen der Vögel. Sie öffnete den Mund, das Wasser lief einfach hinein, sodass sie nur mehr schlucken musste. Es schmeckte faulig nach Schlamm, und als sie endlich wieder hochfuhr, vermeinte sie, nicht getrunken, sondern sich mit feuchter Erde genährt zu haben. Kleine Klümpchen verfingen sich zwischen Gaumen und Zunge und brachten sie zum Würgen. Als sie sich mühsam aufrichtete, fiel diesiges Licht auf die Pfütze. Es reichte nicht aus, um sie zu klären, aber die Oberfläche, eben noch lehmig, schien sich zu verhärten und reflektierte ihr unscharfes Bild. Sie sah nicht viel, nur Umrisse, in denen sie nichts Vertrautes erkennen konnte. Mit einer heftigen Bewegung fuhr sie herum, um sich zu vergewissern, dass es die eigene Gestalt, nicht die eines Fremden war, die sich über die Pfütze beugte. Doch sie war sich selbst fremd geworden. Sogar die Schmerzen, die ihren Kopf und ihren Leib zu zerreißen drohten, schienen nicht zu ihr zu gehören.

Sie starrte wieder auf ihr Spiegelbild. Sie wusste ihren eigenen Namen nicht mehr.

Das braune Wasser der Pfütze verkrustete auf ihrer Haut, doch sie wischte es nicht ab. Dunkel, fast schwarz wurde auch das Blut an ihren Füßen. Sie war neben der Pfütze sitzen geblieben, schließlich eingeschlafen, und als sie erwachte, war es tiefe Nacht. Regen prasselte auf die Blätter der Bäume, aber sie spürte, vom Dach der vielen Zweige und Äste beschirmt, nur einzelne Tropfen; es waren zu wenige, um sie reinzuwaschen. Klamm stieg es vom Waldboden hoch. Als hinter dem Blätterdach endlich der Morgen dämmerte und dünne Lichtfäden auf sie fielen, waren ihre sämtlichen Glieder steif. Ächzend erhob sie sich. Die Spitzen ihrer Brüste schmerzten noch immer, ebenso ihre Scham, aber zumindest der Bauch knurrte wie der eines gesunden Menschen, der lange nichts gegessen hat.

Mit dem Hunger kamen die Erinnerungen, allerdings nicht zusammenhängend. Ähnlich karg wie das Licht streiften sie ihr Gemüt nur für die Dauer eines Wimpernschlags, und die Bilder, die sie dann zu erkennen glaubte, blieben trügerisch. Sie wusste nicht, ob sie etwas widerspiegelten, was sie in der Vergangenheit tatsächlich erlebt hatte, oder ob sie nur der Nachgeschmack aberwitziger Träume waren.

Eines dieser Bilder schenkte ihr zumindest die Gewissheit, dass es auch in den Wäldern – so gefährlich sie auch waren, weil man sich in ihrer Weite verirren konnte – etwas Essbares gab: Heidelbeeren, Vogelbeeren und Pilze, manchmal auch Äpfel, Birnen und Pflaumen. Sie erinnerte sich, wie sie einst ein ähnliches Dickicht durchstreift hatte, einen aus Weidenflechten gewundenen Korb in der Hand, um darin zu sammeln, was zwischen den übrigen Mahlzeiten – meist fade schmeckender Getreidebrei – für Abwechslung sorgen sollte. Sie erinnerte sich auch an ein Gefühl von Unbeschwertheit, von Leichtigkeit.

Es hatte ein Leben vor dem Grauen gegeben, und sie war damals nicht allein gewesen, sondern wurde von anderen Frauen begleitet – vertrauten Frauen, die sie gewiss mit jenem Namen riefen, den sie nicht mehr wusste.

Nein, damals war sie nicht allein gewesen, nicht verloren ...

Sie krümmte sich, als hätte sie ein Schlag in der Magengrube getroffen. »Nein!«, schrie sie unwillkürlich. »Nein!«

Ihre Stimme ließ sie noch mehr zusammenfahren. Sie klang nicht wie die eines Menschen, sondern wie die eines verwunschenen Waldwesens, das sich mit Tieren paart. Mit einer schreienden Eule, einem heulenden Wolf.

Wölfe ...

Erneut stieg ein Bild vor ihr auf. Diesmal zeigte es nicht den Wald, sondern eine Kirche, die Kirche eines Dorfes, ihres Dorfes. An die zwanzig Häuser standen dort, aus Holz und Lehm errichtet, in den Boden eingetieft, von einem Palisadenzaun umgeben. Die kleine Kirche war ähnlich erbaut wie die Häuser, mit einem Gitterwerk aus Geäst als Wände und einem aus Lehm gestampften Boden. Sie hatten die Messe gefeiert, sie und die anderen Bewohner des Dorfes, als plötzlich ein Wolf hereingekommen war, mit Schaum vor dem Mund, aber ohne die übliche Scheu vor den Menschen. Er schien gar nicht auf ihr Geflügel oder ihre Schafe aus zu sein, sondern auf Gesellschaft. Mit gelben Augen starrte er sie an, nicht bösartig, nur hungrig.

Als die Männer ihn erschlugen, wehrte er sich nicht. Voller Unbehagen hatte sie zugesehen, fand es falsch, auf ein wehrloses Tier einzuprügeln, und war umso besorgter, als der Priester später voller Furcht verkündete, dass es ein schlechtes Omen sei, wenn ein Tier wie der Wolf in die Kirche eindrang. Gewiss stünde ihnen allen großes Unheil bevor, Gott der Allmächtige möge ihnen gnädig sein.

Unheil, Unheil, Unheil ..., hallte es in ihren Gedanken nach. Sie krümmte sich noch tiefer, sprang dann auf. Sie lief, ohne innezuhalten, scherte sich nicht, dass die kaum verkrusteten Wunden an ihren Fußsohlen aufplatzten, dass ihre Kehle sich wieder schmerzhaft zusammenschnürte. Sie wusste: Wenn sie nicht vor dem Grauen davonliefe, das nach ihrer Seele fasste, nicht vor dem, was ihr geschehen war und was sie selbst getan hatte – dann würde sie sterben.

Irgendwann war der Wald zu Ende.

Ödland breitete sich vor ihr aus. Vor langer Zeit war hier wohl gerodet worden, doch anschließend hatte sich niemand die Mühe gemacht, den Boden zu beackern und mit Reben zu bepflanzen.

Sie wollte weiterlaufen, schaffte es aber kaum mehr. Nicht nur wegen des bedrohlich weiten Himmels, der sich über ihr öffnete, oder der ungeschützten Fläche, die sich vor ihr auftat, sondern weil der Schmerz in ihren Füßen unerträglich wurde. Ohne darüber nachzudenken, tat sie etwas, was sie längst hätte tun sollen. Sie riss einen Fetzen von ihrem schmutzigen Kleid und wickelte ihn um die Füße. Sogleich erinnerte sie sich an jenen Morgen, da ihre Welt noch in Ordnung gewesen war, da das grässliche Rasseln der Köcher noch nicht die Nähe der Angreifer verraten hatte. An diesem Morgen hatte sie das Kleid angezogen – in der Hütte, die sie plötzlich vor sich sah und in der sie wohl gelebt hatte.

Die Hütte war dunkel, raucherfüllt. Der Boden war nicht mit Lehm gestampft wie in der Kapelle, sondern mit Holzplatten verlegt, die ständig knirschten. Es gab einen Tisch und eine Bank. An den Wänden aus Weidengeflecht hingen Schüsseln, Töpfe, Messer und Sicheln. Am Ende des Raumes befand sich leicht erhöht die Schlafstatt. Auf ein paar geknüpften Teppichen lagen die Strohsäcke – die Strohsäcke von ihr und ihrem ...

Das Bild verschleierte sich, aber während sie nun, nicht mehr atemlos umherirrend, sondern fast würdevoll schreitend, jenes Ödland durchwanderte, gesellten sich immer neue Eindrücke hinzu.

Bauern. Sie waren Bauern. Unfreie Bauern, das Land gehörte ihnen nicht, es gehörte den Pächtern, denen sie Abgaben leisteten. Die Pächter schützten sie für gewöhnlich.

Doch sie haben uns nicht vor den Angreifern aus dem Norden retten können. Das ganze Dorf wurde verbrannt, alle Bewohner getötet, nur ich nicht ... nur ich nicht ... aber zu welch schrecklichem Preis?

Unwillkürlich griff sie sich an den Kopf, ertastete dort nicht die dicken, kräftigen Locken, die sie erwartete, sondern nur angekohlte Strähnen, die zu Staub zerrieselten, kaum dass sie sie berührte. Sie tastete weiter, stellte fest, dass das Haar nicht am ganzen Kopf verbrannt war, nur an den Schläfen und an der Stirn.

König Karl, kam ihr plötzlich ein Name in den Sinn – der erste, an den sie sich erinnern konnte. Den eigenen wusste sie noch immer nicht; in jenen wüsten Lauten schien er verschollen zu sein: im Geschrei, dem Feuer, den knirschenden Balken, den wüsten Schritten. Nur dass sie in einem Land lebte, in dem ein König namens Karl herrschte, den man »den Kahlen« nannte – das wusste sie wieder.

Freilich, nie war sie auch nur in die Nähe einer der königlichen Pfalzen gekommen. Ihr Leben war auf das Dorf begrenzt, bis auf jene Tage, da es zum Wochenmarkt in die nächstgelegenen, etwas größeren Orte ging und wo sie – auch das stand ihr plötzlich wieder klar vor Augen – Hühner und Eier mit den Erzeugnissen der Töpfer, der Schmiede oder der Weber tauschte. Geld hatte sie nur ein einziges Mal genommen, einen ganzen Denar, und dafür, das hatte ihr Mann gesagt, könnten sie ganze fünfundzwanzig Haferbrote kaufen.

Ihr Mann.

Ein neuerlicher Schmerz durchzuckte ihre Leibesmitte und ließ sie zusammensacken. Ihre Brüste schienen zu platzen, sich an den Warzen in Blut aufzulösen. Der Name ihres Mannes fiel ihr genauso wenig ein wie der eigene, doch sie konnte sich an sein Gesicht erinnern. Das Gefühl, alles verloren zu haben, von Gott und der Welt verlassen zu sein, nagte von allen Seiten an ihr. Es würde sie auffressen, es würde nichts von ihr übrig lassen als einen Kadaver. Die Tiere des Waldes würden ins Ödland vordringen, um ihn zurück in den schützenden Schatten der Bäume zu zerren und sich dort daran zu sättigen.

»Warum?«, hörte sie sich mit fremder Stimme klagen. »Warum nur?«

Sie hatte diese Strafe nicht verdient, niemand in ihrem Dorf hatte das. Einfache Menschen lebten dort, die ihr Schicksal nicht beklagten, sondern es als eines hinnahmen, das Gott ihnen zugedacht hatte. Gott hatte auch entschieden, dass sie hart arbeiten mussten, als Buße für jene Schuld, die Adam und Eva auf sich geladen hatten. Wer sich dieser Buße ohne zu murren fügte, der konnte die Schuld abtragen, die jedes Kind von Geburt an mitbekam.

Das Leben, das sie nie wieder auf diese Weise würde führen können, war nicht ohne Mühen gewesen, aber einfachen Regeln unterworfen. Seit sie denken konnte, wurde ihr aufgetragen, was sie zu tun hatte. Von den Eltern, dann, nach deren Tod, von ihrem Bruder, schließlich von ihrem Mann. Sie folgte den Befehlen, wie alle Frauen es taten. Frauen buken Brot, fütterten die Hühner und schoren die Schafe. Frauen sammelten Holz und Obst und halfen beim Heuen. Sie zupften Wolle, strichen sie mit Disteln glatt und brachen Flachs. So war es gewesen, so würde es immer sein, auch dieses Jahr hatte den üblichen Verlauf genommen. Im März wurden die Reben beschnitten, im April die Tiere auf die Weide gebracht und Unkraut gejätet, im Mai ...

Im Mai hatte Gott ihre Welt zertrümmert.

Sie erhob sich stöhnend, beinahe erstaunt, dass der Schmerz sie nicht vernichtet hatte, dass etwas von ihr übrig geblieben war und dieser Rest ausreichend mit Lebenskräften erfüllt schien, sodass sie weitergehen konnte, immer weiter, über den nächsten Hügel, über die nächste Wiese, an den Ausläufern eines Waldes vorbei. Sonne fiel durch einen Wolkenspalt, tauchte die Welt in sattes Grün. Sie fühlte, wie die Strahlen sie kitzelten, wie sie wieder zu riechen begann. Ja, sie roch Gras, frisches, saftiges Gras, das ihr fast bis zu den Knien stand und die Leinenbinden um ihre Füße mit seinem Tau durchtränkte. Wie weich es war, darauf zu laufen, wie weich ...

Kurz schloss sie die Augen, ward von einem warmen, matten Gelb umhüllt. Sie gab sich diesem wonnigen Gefühl hin, lief mit geschlossenen Augen weiter.

Als sie endlich die Augen wieder öffnete, sah sie in der Ferne eine Stadt.

Die Stadt lag auf einem Hügel und war von einer Mauer umgeben, so hoch und wuchtig, wie sie es noch nie gesehen hatte. An einer Stelle war die Mauer von einem Tor unterbrochen, durch das sie nun wankte.

Sie fühlte Blicke auf sich, viele Blicke, entsetzte Blicke, ungläubige und ängstliche. Sie dachte an den wilden Wolf, der in die Kirche vorgedrungen war und vor dem alle zurückgewichen waren, ehe die Männer ihn erschlagen hatten. Jetzt war sie das wilde Tier, das die Menschen scheuten. Es waren viele Menschen, die freilich allesamt keine Gesichter hatten – zumindest nicht für sie. Seit sie die Stadt betreten hatte, blickte sie nicht viel höher als bis zu den Beinen der Vorbeigehenden. Manche der Füße waren nackt und dreckig, andere steckten in Schuhen aus Leder. Von den Händen sah sie gerade noch die Fingerspitzen, aber nicht mehr. Sie brauchte nicht in die Gesichter zu blicken, um zu fühlen, was sich darin ausbreitete: Ekel, Furcht und Unbehagen. Sie konnte den Angstschweiß der Menschen riechen – oder war es ihr eigener?

Sie schlotterte am ganzen Körper, vor Erschöpfung, vor Schmerzen, vor Trauer.

Eigentlich hatte sie eine Kirche erreichen, hatte sich deren schützendem Obdach anvertrauen wollen. Doch so weit kam sie nicht. Bis jetzt war jedem Schritt ein weiterer gefolgt, und fiel er auch noch so schwer. Nun aber konnte sie nicht mehr weiter. Sie fiel nicht schnell zu Boden, sondern unendlich langsam, brach zuerst auf die Knie, verharrte, als würde sie beten, und wurde dann von ihrem schweren Oberkörper nach vorne gezogen. Ihr Kopf schlug auf die Erde, schmerzte noch heftiger. Ächzend ließ sie sich herumrollen und blickte in das Gesicht einer Frau, die sich über sie beugte.

Jene war leichenblass vor Entsetzen. Sie schlug ein Kreuz über ihrer Brust, als wollte sie sich vor ihrem Anblick schützen. »Oh, mein Gott«, stammelte die Frau ein ums andere Mal. »Oh, mein Gott.«

II. Kapitel

Graf Robert von Laon hatte anfangs Mitleid mit seinem Waldhüter gehabt, aber je länger er mit ihm zusammen saß, desto entschiedener wandelte es sich in Verärgerung. Er schämte sich dafür, dass er ungeduldig wurde. Es war ein denkbar unpassendes Gefühl, um dem traurigen Anlass gerecht zu werden. Doch er konnte es nicht vermeiden, spürte, wie sein Mund schmallippiger wurde, seine Stirn sich runzelte und seine Stimme einen leicht nörgelnden Klang annahm. Sein Mitgefühl war eben noch aufrichtig gewesen, aber da es nicht dankbar angenommen wurde, schwand es zunehmend.

Audacer schien sich nicht daran zu stören. Er sah ohnehin nicht in Roberts Gesicht, sondern saß in sich zusammengesunken, seitdem er den Saal des Grafen betreten und sich auf dem Stuhl ihm gegenüber niedergelassen hatte. Er war nicht einmal bereit gewesen, seinen schweren Umhang abzulegen, der so verdreckt war, dass sich nicht genau ausmachen ließ, ob er aus Schaf-‍, Biber- oder Maulwurffell gefertigt war.

Genau genommen achtete Audacer nie auf seine Kleidung und noch weniger auf seine Reinlichkeit. Er stank zwar nicht nach Schweiß, aber immer nach Wald und Erde, als würde er sich nicht nur stundenlang dort herumtreiben, sondern sich regelmäßig auf den Boden werfen, um sich darin zu suhlen wie ein Wildschwein. Ein bösartiges Gerücht über ihn besagte, dass er Baumstämme wie Weiber umarmte, dass er sich – bevor er die Ehe eingegangen war – nie mit einer Menschenfrau gepaart hätte, nur mit den geisterhaften Wesen des Waldes, und dass seine Füße und Arme, gleichwohl verborgen unter Kleidung, längst das Aussehen von knorrigen Ästen angenommen hätten.

Graf Robert räusperte sich, um der klagenden, jedoch immer leiser werdenden Litanei des anderen etwas entgegenzusetzen: »Du musst es so sehen, Audacer: Nicht immer darf man alles behalten, was Gott einem in seiner großen Güte geschenkt hat, sondern ...«

»Gott ist nicht gütig!«

Der Graf schüttelte den Kopf. Anders als die meisten Menschen in Laon mochte er Audacer. Er versuchte, sein stets mürrisches Wesen zu verstehen, billigte sein undeutliches Grummeln, das nur selten zu lautem Geschrei anwuchs, ebenso wie seinen für viele Menschen unverständlichen Wunsch nach Einsamkeit. Graf Robert hatte ihn zwar nie dabei beobachtet, aber er stellte sich vor, wie – wenn Audacer stundenlang die Wälder durchstreifte – das Misstrauen aus seinen Zügen wich und einem süßen Schmerz Raum gab: der Beglückung, das Herz der Natur pochen zu hören, und der Trauer, dass er ihr nie so vollkommen angehören würde wie das freie und wilde Getier des Waldes.

»Doch, doch!«, widersprach der Graf heftig. »Gott ist gütig! Gleichwohl wir Seine Taten nicht immer verstehen, sie uns unberechenbar erscheinen, folgen sie doch Seinem großen Plan.«

»Ist Er etwa gütig zu Euch, Graf?«, fuhr Audacer auf. »Ich weiß, dass Ihr seit mehr als fünf Jahren auf einen Sohn wartet und Euer Weib einfach nicht schwanger wird.«

Der Graf zuckte zusammen, einzig erleichtert, dass Alpais diese Worte nicht hören konnte. Sie ertrug ihre Kinderlosigkeit mit der Fassung eines stillen, demütigen Menschen, der schlichtweg nie gelernt hatte aufzubegehren, weder gegen das Walten eines anderen Menschen noch gegen das des fordernden Schicksals. Doch er ahnte, dass ihr Seelenfrieden gesicherter war, solange die Wahrheit nicht laut ausgesprochen wurde.

»Hör mir gut zu, Audacer!«, rief er streng. »Ich weiß, dass es für dich bitterer ist als für jeden anderen, sein Weib zu verlieren. Niemand außer dir hat so lange gebraucht, sich überhaupt durchzuringen, eines zu ehelichen. Ich weiß auch, dass Hildegund die Richtige für dich war, weil sie die Stille liebte wie du und dir niemals vorgeworfen hat, dass du die Abgeschiedenheit suchst. Und dennoch wusstest du, was wir alle wissen: Das Begehren des Mannes kann die Frau töten. Denn die Lust kam mit dem Sündenfall, und die Strafe für diesen Sündenfall ist, dass die Frau unter Schmerzen gebiert.«

Erstmals hob Audacer den Kopf. Graf Robert erschrak über das Gesicht: Dass es sonnengegerbt und gefurcht war wie ein frisch beackertes Feld, war ihm vertraut, nicht aber, dass Audacers Augen nässten.

»Ihr habt sie nicht gesehen! Sie hat drei Tage lang gelitten!«

»Und gottlob durfte sie danach endlich den geschwächten Geist aushauchen«, hielt der Graf an seiner Rede fest. »Das Kind aber lebt! Du hast einen Sohn! Und lass dir sagen: Alle Männer wissen, dass man besser einen Sohn hat als eine Frau.«

»Gilt das auch für Euch?«, entgegnete Audacer, und sein eben noch gramerfüllter Blick wurde lauernd. »Ihr haltet an Eurer Ehe fest, obwohl Ihr keinen Sohn habt und Alpais darum verstoßen könntet. Niemand würde es Euch vorwerfen, wenn Ihr Eure Ehe auflöst, nicht einmal die Priester. Sie schimpfen zwar laut, wenn manche Männer sich mehrere Frauen halten. Aber wenn ein Weib unfruchtbar ist ...« Audacer hielt inne, ein Geräusch am anderen Ende des Saals hatte ihn zum Schweigen gebracht.

Als Graf Robert seinem Blick folgte, stöhnte er unwillkürlich auf. Alpais stand dort, mit kalkweißem Gesicht und vor Schreck geweiteten Augen. Dies war also der Dank dafür, dass er Audacer nun schon seit Stunden in seinem Kummer beistand – dass jener sein Weib vor den Kopf stieß?

»Alpais ...«, setzte Robert bedauernd an, als sie nähertrat. Er suchte nach einer Erklärung, überlegte, wie er ihr beteuern könnte, dass er sie nie verstoßen würde. Nicht, dass sie ihm sonderlich wertvoll war. Aber er war keiner, der vor Prüfungen davonlief, weder vor jenen, die sein Amt mit sich brachte, noch vor denen, die ihm das Leben stellte. Er war sich gewiss, dass alles seine Berechtigung und seinen Sinn hatte, und wer sich dagegen störrisch auflehnte, wie Audacer es tat, der war in seinen Augen zwar kein Sünder, aber doch ein Schwächling. Ganz gleich, was Audacer über die Priester sagte – hatte der Gelehrte Jonas von Orléans es nicht scharf kritisiert, Ehen bei Kinderlosigkeit zu beenden?

Dem Willen Gottes galt es, sich zu beugen, auch wenn er oft mit diesem Willen haderte, wenn er sich zum Gebet nach Saint-Vincent zurückzog, der Kirche von Laon, wo sämtliche Bischöfe der Stadt begraben lagen.

»Alpais«, setzte er erneut an, da seine Frau sich nicht rührte. »Audacer wollte gewiss nicht ...«

Sie fiel ihm ins Wort, was für eine Frau wie Alpais ungewöhnlich genug war. »Du musst sofort kommen, mein Gemahl. Es ist etwas Schreckliches geschehen.«

Ihre Worte stimmten ihn zunächst erleichtert. Sie hatte also doch nicht gehört, was Audacer gesagt hatte. Als er aber hinter Alpais weitere Frauen in den Saal strömen sah, ihre Damen und auch einfache Mägde, zuckte er zusammen. Sie redeten wild durcheinander, doch die Botschaft, die sie überbrachten, schälte sich erstaunlich klar aus dem wilden Wortschwall.

Graf Robert sprang auf. »Das ist doch nicht möglich!«, rief er.

Alpais schlug die Hand vor den Mund. »Doch«, stammelte sie undeutlich, »doch ...«

Robert von Laon hatte in seinem Leben vieles gesehen: Menschen mit grässlichen Verwundungen – mit tiefen Schnitten, sodass rohes Fleisch hervorquoll, oder mit schwärenden Stümpfen dort, wo für gewöhnlich Hände oder Füße waren. Desgleichen Menschen, die die qualvolle Langsamkeit des Sterbens erdulden mussten, die stinkend und vor Schmerzen verkrampft ihrem Siechtum einfach nicht erliegen mochten. Vor einigen Tagen noch war er am Totenbett von Audacers Weib Hildegund gestanden, die Luft war noch schwer gewesen vom Blut, das sie während der Geburt verloren hatte, und erfüllt von schwarzen Fliegen, die um ihren Leichnam surrten. In ihrem Gesicht stand nichts von Erlösung zu lesen, nur von den Qualen der hiesigen Welt.

Doch nichts hatte ihn jemals so bestürzt wie der Anblick der Frau, die eben wankend in den Saal geleitet wurde und dort zusammenbrach.

Sein Entsetzen und auch sein Ekel mussten ihm nur allzu deutlich anzusehen sein, denn mit einem Mal verstummten die aufgeregten Weiber. Die Stille war ebenso schwer zu ertragen wie der Anblick der Frau, deren Körper nicht einfach nur bebte, sondern von einer unsichtbaren Macht durchschüttelt schien.

»Sie friert!«, stellte er heiser fest, um die Stille auszufüllen. »Führt sie zum Kamin!«

Die Mägde schienen sich zu scheuen, das halbtote Wesen anzufassen. Doch Alpais, von der Robert nicht genau wusste, ob sie tatsächlich ein herzensguter Mensch war oder einfach nur jedem Befehl folgte, um nicht aufzufallen, beugte sich zu der Frau, um sie in den Schein der wärmenden Flammen zu ziehen.

Da bäumte sich das erbarmungswürdige Wesen auf. »Nicht!«, kroch eine Stimme aus ihrer Kehle, die den Grafen nicht minder zerrissen und geschunden deuchte als die ganze Gestalt. »Nicht zum Feuer, bitte!«

Graf Robert blickte sich hilfesuchend um, nicht gewiss, was er als Nächstes tun sollte. Erst jetzt bemerkte er, dass Audacer sich erhoben hatte und langsam nähertrat. Als der Graf ihn aus den Augenwinkeln musterte, gewahrte er das gleiche Entsetzen, das auch in seinem Gesicht stehen musste.

»Wer hat sie so zugerichtet?«, hörte Robert ihn stammeln.

Selbst Alpais war mittlerweile wieder von der gepeinigten Frau, die immer noch schlotterte, zurückgewichen und starrte auf sie hinab, zwar nicht mit offenkundigem Ekel wie die Männer, aber mit tiefem Unbehagen.

Die Füße der Frau glichen blutigen Stümpfen, selbst der Rist war von vielen Kratzern übersät. Ihr Gesicht war über und über mit Schlamm bedeckt. Ein Teil der Haare war verbrannt und stand ihr wie ein schwarzer Heiligenschein vom Kopfe weg. Ausgemergelt waren die Züge, die Augen geweitet. In der Leibesmitte breitete sich ein dunkler Fleck aus – offenbar Blut.

Sie ist geschändet worden, dachte der Graf zunächst. Doch als sein Blick auf ihre Brüste fiel, erkannte er, dass es auch einen anderen Grund dafür geben konnte, weshalb Blut aus ihrer Scham sickerte.

»Was ist mit dir geschehen?«, fragte der Graf.

Diesmal war die Stimme der Frau erlöschend leise. »Wo bin ich?«, fragte sie zurück.

»In Laon.«

»Wo bin ich?«, wiederholte sie, als hätten seine Worte sie nicht erreicht.

»Laon ist eine Stadt, ich bin ihr Graf.«

»Wo bin ich?«, fragte sie zum dritten Mal.

»Du bist in der Francia, in Gallien. Das ist jener Teil des Reichs, wo König Karl herrscht. In den anderen Teilen, im Ostfranken- und im Mittelreich, herrschen seine Brüder.«

Die Frau blieb stumm, und an ihrer Stelle begann nun Audacer zu sprechen. »Ich habe Gerüchte gehört«, murmelte er in Roberts Richtung. »Ich habe sie nicht glauben wollen, deswegen habe ich sie nicht erzählt.«

»Welche Gerüchte?«, rief Graf Robert und bemerkte, wie Alpais zusammenzuckte.

»Schiffe«, begann Audacer mit seiner rauen Stimme, »ihre Schiffe sind die Seine entlanggekommen. Das war Anfang Mai. Es heißt, ihr Anführer sei ein gewisser Ásgeirr.«

Er sprach den Namen aus, als wäre er der des Teufels. Eine der Mägde bekreuzigte sich.

»Ja«, murmelte der Graf, »ja, das habe ich auch gehört. Sie sollen Rouen zerstört haben und die Abtei von Saint-Ouen. Aber der Bischof meinte, es sei eine Strafe Gottes für die Menschen dort, vor allem aber eine Strafe für den Grafen Lambert. Er hat die Normannen eingeladen, weil er mit ihrer Hilfe Nantes erobern wollte.« Er hielte inne, schüttelte kurz den Kopf. Unvorstellbar, dass ein Getaufter einen Pakt mit den wilden Heiden aus dem Norden schloss! »Aber nie«, setzte er rasch hinzu, »nie würden sie hierher nach Laon kommen.«

Audacer zuckte die Schultern. Die Erschütterung des Grafen, dass die Ordnung der Welt, so wie sie ein Mann Gottes erklärte, womöglich nicht galt, erreichte ihn nicht. »Nun, wir wissen nicht, woher diese Frau stammt. Sie sieht aus, als wäre sie tagelang unterwegs gewesen.«

»Mein Gott«, entfuhr es dem Grafen. Er gab der aufsteigenden Panik ohne Rücksicht auf die Frauen nach. »Wenn sie tatsächlich bis nach Laon kommen, dann ist das nicht nur die Strafe für die gottlosen Taten des Grafen Lambert, sondern auch für den unheiligen Bruderkrieg!«

Audacer seufzte. »Es ist nicht die Strafe, sondern die Folge. König Karl hat sämtliche Truppen für den Krieg gegen seinen Bruder Lothar gebraucht. Kein Wunder, dass er keine mehr hat, um sein Land gegen ... gegen die Normannen zu verteidigen.«

Getuschel brandete wieder auf, während der Graf seine Hände gegen die Schläfen presste. Er hatte die Ereignisse der letzten Monate mit Besorgnis beobachtet, doch nie hatte er sie in Zusammenhang mit den fürchterlichen Kriegern aus dem Norden gebracht. Von jenen wusste man, dass sie manches Kloster in Küstennähe überfielen, Schätze raubten und Gefangene nahmen, um sie entweder zu töten oder teuer freikaufen zu lassen. Doch dass sie tiefer in das Land vordringen würden, hatte er sich nicht vorstellen können. Schlimm genug, dass die Francia von König Karls machthungrigem Bruder Lothar bedroht gewesen war und jener das Land überfallen hatte. Zwar hatten sowohl König Karl als auch sein Bruder Ludwig, der die Germania beherrschte, sich jenem Streben nach Alleinherrschaft widersetzt, ihm den Krieg erklärt – und ihn gewonnen. Doch die Entscheidungsschlacht bei Fontenoy war ein schreckliches Blutbad gewesen, das auf allen Seiten Opfer gekostet hatte. Nie zuvor waren so viele Krieger in einer Schlacht gefallen.

»Selbst wenn sie hierherkommen«, sprach Audacer indessen, »bedenkt, dass Laon auf den Mauern eines römischen Castrum errichtet ist. Es ist uneinnehmbar!«

Der Graf achtete nicht auf ihn. »Bitte«, sagte er leise zu der verletzten Frau und versuchte, ihren Wunden keine Aufmerksamkeit zu schenken, »bitte sag, woher du stammst! Wir müssen es wissen, um uns gegen einen Angriff der Normannen zu schützen. Es waren doch Normannen, die dein Dorf überfallen haben?«

Die Frau rührte sich nicht; sie hatte aufgehört zu zittern. Indes trat Alpais zu ihrem Mann und legte ihm die Hand auf den Arm. »Quäl sie doch nicht«, murmelte sie. »Sie hat mir vorhin alles erzählt. Ihre ... ihre ganze Familie wurde ausgerottet, das Dorf verbrannt. Für sie zählt, was sie verloren hat, nicht, wer es tat.«

Der Graf schüttelte Alpais ab und beugte sich zu der Frau. »In welche Richtung sind sie danach gezogen?«, fragte er eindringlich. Er schrie beinahe.

Die Frau blickte auf, und erstmals deuchte ihn ihr Blick nicht nur von Grauen erfüllt, sondern wach. Sie zuckte die Schultern – eine Regung, die ihr unendliche Schmerzen zu bereiten schien, denn ihr Gesicht verzerrte sich, und sie griff nach den übervollen Brüsten. Der Graf blickte auf die sämige weiße Flüssigkeit, die von deren Spitzen tropfte und durch ihr zerfetztes Kleid drang.

»Wo ist dein Kind?«, fragte er. »Wo ist dein Kind? Du hast doch eben erst geboren!«

»Nicht ...«, stammelte sie. »Sprecht es nicht aus!« Sie presste ihre Hände auf die Brüste, sodass noch mehr Milch hervorquoll.

»Du musst es mir sagen«, drängte der Graf. »Du musst mir berichten, was geschehen ist. Es ist wichtig, hörst du?«

Die Frau schluchzte auf, und gleichwohl dieser Ton nicht minder durch Mark und Bein ging als all ihre Worte, klang er doch erstmals menschlich. Sie richtete sich auf.

»Mein Name ...«, stammelte sie, »mein Name ist Johanna.«

Es war edel, alles so unglaublich edel.

Sie wusste, dass es falsch war, dergleichen zu bestaunen und sich darüber Gedanken zu machen. Zumindest jetzt, da sie wieder wusste, wie sie hieß, und da der Graf verzweifelt darauf drang zu erfahren, was ihr zugestoßen war.

Doch sie konnte nicht anders, als ihn anzustarren, denn eine Kleidung, wie er sie trug, hatte sie noch nie gesehen: ein Leinenhemd von reinem Weiß, weder von Schweiß noch von Dreck befleckt. Genauso sauber und sorgfältig genäht waren die Hosen, die die Oberschenkel bedeckten. Während diese von mattem Grau waren, glänzte die Tunika in einem kräftigen Rot. Sie war mit Seide in einem Ockerton eingefasst – die gleiche Farbe, die auch die Schenkelbänder aufwiesen, die die Unterschenkel umhüllten. Der Graf trug Stiefel, fast kniehoch, aus glattem Leder. Sie saßen wie eine zweite Haut, als wären sie eigens für ihn gemacht worden, ebenso wie das Wams aus Otterfell, das eine goldene Spange an der Brust zusammenhielt.

Sie wusste, irgendwo hinter diesem Staunen lauerten bittere Erkenntnisse. Ich habe keine Heimat mehr. Ich habe meinen Mann verloren. Es gab ein Kind – aber jetzt ist es fort. Doch all das, es schmeckte nach nichts, es roch nach nichts.

Nicht so zumindest wie die Lampen mit Nussöl, die an den Wänden hingen und viel weniger bitteren Rauch verströmten als die Fackeln aus der Rinde von Birken, wie sie sie kannte, oder gar der Torf, mit dem sie ihre Hütte geheizt hatten, und der für mehr Gestank als Licht sorgte.

Hier hingegen, im Saal des Grafen von Laon, war es unglaublich hell. Als sie den Blick hob, sah sie von der Decke einen mehrarmigen Leuchter mit vielen kleinen brennenden Kerzen hängen. Er bestrahlte die feinen Bemalungen an den Steinwänden, wohingegen die Decke ihres Hauses stets vom Ruß verdunkelt gewesen war.

Als sie den Kopf senkte, fühlte sich ihr Leib an wie tot. »Es hat keinen Sinn, sie zu befragen«, murmelte der Mann, der die ganze Zeit über an der Seite des Grafen gestanden hatte. »Sie ist viel zu erschöpft. Sie braucht Ruhe.«

Der Graf zögerte einen Augenblick, dann beugte er sich dem Ratschlag und gab jener Frau einen Wink, die, wie Johanna mittlerweile wusste, Alpais hieß und seine Gattin war. Vorsichtig berührte die Frau Johanna an den Schultern, zog sie mit sich.

»Kannst du ... kannst du laufen?«, fragte sie. Ihre Stimme klang hoch und kraftlos wie das Fiepen einer Maus.

Johanna nickte gedankenverloren. Sie hatte vergessen, dass ihre Füße bluteten; sie fühlten sich taub an wie der restliche Leib. Humpelnd verließ sie den Saal und stellte fest, dass der nicht der einzige beheizte Raum war. Viele weitere befanden sich rund um den Portikus, den Eingang – alle so riesig, dass ihre Bauernhütte mehrfach hineingepasst hätte –, und ein jeder hatte eine Türe mit einem Schloss daran. Ihre Hütte hatte man nicht versperren können. Sie hatten schließlich keine Reichtümer besessen, die sie vor den Nachbarn schützen mussten. Und hätte ein armseliges Schloss ausgereicht, um die Horden der Normannen aufzuhalten?

Neben dem Hauptgebäude, das sie nun verließen, gab es noch weitere Räumlichkeiten: die Wirtschaftsgebäude, darunter den Keller, Scheunen und Ställe, viele Holzhäuser und solche aus Fachwerk, in denen wohl die Leibeigenen und Dienstboten schliefen. Ein steinernes Tor verschloss den Hof. Johanna konnte sich nicht erinnern, vorher hindurchgetragen worden zu sein. Eigentlich wollte sie sich auch nicht erinnern, wollte an gar nichts denken, sich nur dem eigenen Staunen anheimgeben. Dieses Staunen verstärkte sich, als sie den Garten sah, übervoll mit Blumen – Lilien und Rosen, Hornklee und Frauenminze. Wie nutzlos, dachte sie, nichts davon kann man essen. Doch reiche Menschen wie der Graf, das wusste sie, hatten genug zu essen; sie konnten sich an der Schönheit von Gottes Schöpfung erfreuen, auch ohne dass diese ihnen Nutzen einbrachte.

Der Garten war schäbig klein, gemessen an der riesigen Küche, die sie alsbald durchschritt und die voll war von Feuerböcken, Ketten und Haken, vielen Kochkesseln aus Kupfer und Eisen, Salzfässern und Brotkästen. Mannshoch waren die Schränke, in denen das Geschirr aufbewahrt war: Krüge aus Zinn und Blei, Keramikschüsseln und Silberplatten.

»Hast du Hunger?«, fragte Alpais. Ihre Stimme klang nicht mehr quietschend hoch, sondern warm und sanft. Johanna nickte, und dann stand schon eine Schüssel vor ihr – eine Schüssel, ganz für sie allein. So etwas hatte sie noch nie gehabt. Sie nahm den ersten Bissen, er schmeckte fremd. Die letzte Mahlzeit, an die sie sich erinnern konnte, war ein Eintopf aus Erbsen, Wicken und Saubohnen gewesen, wie die Bauern ihn aßen. Das jetzige Gericht hingegen war eine kräftige Brühe mit ganzen Fleischstücken, so fein, dass sie auf ihren Lippen zergingen. Obgleich ihr Hunger groß und das Mahl köstlich war, fiel es ihr schwer, zu essen. Nicht mehr unerträgliche Schmerzen hielten ihren Körper gefangen, aber Müdigkeit. Sie konnte kaum den hölzernen Löffel zum Mund führen, so schwer war ihr der Arm.

»Ihr solltet ihr vielleicht besser einen Trank aus Bohnen, Reismehl und Milch geben«, hörte sie eine fremde Stimme zu der Gräfin sagen. »Eine Amme darf keine scharf gewürzten oder sauren Speisen zu sich nehmen, schon gar keine Zwiebeln, keinen Kohl und Lauch.«

»Sie muss doch wieder zu Kräften kommen«, antwortete Alpais sanft.

Johanna bezog das Gerede nicht auf sich. Als sie die Hälfte der Schüssel geleert hatte, gaben ihre Lider nach, und als sie die Augen wieder öffnete, saß sie nicht mehr in der Küche, sondern lag in einem Bett.

Verwirrt strich sie über die feinen Decken und Federkissen.

»Es ist alles gut«, drang Alpais’ Stimme zu ihr. »Du kannst dich ausruhen.«

Sie spürte ihren Blick. Er war freundlich, als kümmerte sie sich gern um sie, und zugleich ausdruckslos, als dränge sie kein echtes Mitleid dazu, sondern die christliche Verpflichtung, derzufolge man einen Flüchtigen eben aufzunehmen hatte.

»Ich ...«, stammelte Johanna, »ich ...«

»Wir haben deine Wunden gereinigt und deine Füße verbunden. Und wir haben die verkohlten Strähnen deiner Haare geschoren.«

Johanna war zu schwach, um ihre Hand zu heben und den Kopf zu betasten.

»Meine Brüste«, stammelte sie, »meine Brüste schmerzen.«

Sie spürte warme Flüssigkeit, die von den Warzen auf ihren Bauch lief. Es fiel ihr ein, dass es noch nicht lange her war, seitdem sie geboren hatte. Ihr Kind war klein, unendlich klein und schutzlos, kaum zwei Wochen alt, wo war ihr Kind?

Da hörte sie plötzlich das quäkende Wimmern eines Säuglings, roch dessen milchigen Duft, spürte einen feinen, leichten, warmen Körper, der an ihren gehalten wurde. Er war in Tücher gehüllt und mit Bändern umwickelt, damit er gerade liegen und wachsen konnte.

Johanna versuchte, sich zu erheben. »Das ist nicht mein Kind ...«, murmelte sie. Der Säugling war rotgesichtig, die Augen zu Schlitzen zusammengepresst.

»Das ist Balduin, Audacers Sohn«, erklärte Alpais. »Der Name des Kindes mag dir ungewöhnlich erscheinen, weil er nicht mit den Silben von dem seines Vaters beginnt, aber Audacer ... wollte das nicht. Die Mutter Hildegund ist bei der Geburt gestorben, und Audacer hat noch keine Amme für ihn gefunden. Und da der Graf, mein Gatte, Balduins Pate ist, sind wir dazu verpflichtet, uns seiner anzunehmen.« Alpais’ Stimme klang plötzlich gepresst, als würde sie nur mit Mühe ein Schluchzen unterdrücken.

Unendlich groß war die Erleichterung, als der grässliche Druck in Johannas Brüsten nachließ, sobald das Kind schmatzend daran saugte. Doch zugleich überkam sie ein Weh, das übervolle Brüste und blutende Füße allein niemals ausgelöst hätten. Ihre Augen schienen zu zerrinnen, so viele Tränen stürzten gleichzeitig aus ihnen hervor.

»Nicht!«, drang Alpais’ Mahnung zu ihr. »Du darfst nicht weinen! Die Milch wird sauer, wenn du weinst!«

»Ich kann nicht anders.«

»Beruhige dich. Du musst ganz ruhig sein. Du darfst schlafen, essen und trinken, wann immer du willst, damit du genügend Milch hast. Ist dein Kind ein Sohn gewesen? Eine Amme, die einen Sohn geboren hat, ist besser als eine, die einer Tochter das Leben geschenkt hat. Du darfst dich nicht erregen, dein Charakter färbt auf das Kind ab, und du bist doch jetzt seine Nutrix.«

Johanna wollte sich wehren, sie bäumte sich auf, um das Kind wegzuschieben. Doch dabei stießen ihre Beine an den Wärmestein, der in ihr Bett gelegt worden war. Sie sank auf die Federkissen zurück und ließ das Kind weiternuckeln.

Noch nie hat man mich so umsorgt, dachte sie, und ihre Tränen versiegten. Noch nie habe ich in einem solch edlen Bett geschlafen.

III. Kapitel

Zum ersten Mal nahm Johanna wahr, wie die anderen Frauen über sie sprachen. Das Gesinde hatte zwar schon früher über sie getuschelt – einige Monate waren vergangen, seitdem sie als Amme des kleinen Balduin in Laon lebte –, aber es war ebenso an ihr abgeprallt wie die vielen Fragen, mit denen der Graf sie bedrängte, und Alpais’ Freundlichkeit, die nicht über ihre grundsätzliche Steifheit hinwegzutäuschen vermochte. All das, selbst das Nuckeln des Kindes an ihren übervollen, trotz der Schrecken ihrer Flucht nie versiegenden Brüsten, hatte sie über sich ergehen lassen, ohne es wirklich wahrzunehmen.

Aber die Worte der beiden Mägde hörte sie nun, vielleicht, weil sie so absonderlich waren.

»Doch, es stimmt!«, sagte die eine. »Es gibt kein wirksameres Mittel, um einen Mann für sich zu gewinnen. Eine Frau muss einen lebenden Fisch in ihre Scham einführen und ihn festhalten, bis er tot ist. Und wenn sie ihn hernach kocht und dem Liebsten vorsetzt, so wird er sein Leben lang nie wieder von ihr ablassen können.«

Die andere brummte etwas Unverständliches, ehe sie hinzusetzte: »Kann mir nicht vorstellen, dass gerade ein Fisch eine solch leidenschaftliche Glut erwecken kann. Fische haben kalte, tote Augen ...«

»So wie sie«, wechselte Erstere unvermittelt das Thema. »Hab ihr gestern frische Kleidung gebracht, und sie hat kein Wort des Dankes gesagt, sondern mich einfach nur angestarrt. Ach, kalt über den Buckel ist’s mir gelaufen!«

»Jetzt bild dir bloß nichts ein!«, entgegnete die andere schroff. »Sie ist nicht ... böse, sie ist nur vollkommen verwirrt.«

»Du hast viel zu viel Mitleid mit ihr!«

»Du weißt doch, was ihr zugestoßen ist!«

»Na und?«, erwiderte die andere barsch. »Jeder hat seine Last zu tragen. Aber sie, glaub mir, sie hat es eigentlich gut getroffen.«

Johanna blickte nachdenklich auf. Sie sprechen über mich, kam es ihr in den Sinn.

Kurz wusste sie nicht, was sie mehr überraschte – dass sie die Worte überhaupt wahrgenommen hatte oder dass die beiden Frauen so ungeniert über sie schwatzten, obgleich sie doch hier in der Küche nicht weit von ihnen saß. Zweimal am Tag kam sie hierher, um die Mahlzeiten einzunehmen, dann flüchtete sie sich rasch wieder in das Gemach, das sie mit dem Kind teilte. Meist saß sie völlig versunken über die Schüssel gebeugt und aß hastig und ohne richtig zu kauen, was später oft für schmerzliches Magendrücken sorgte. Doch zum einen konnte sie seit ihrer Flucht die Gier auf jedweden nahrhaften Bissen nicht beherrschen und verschlang hemmungslos alles, was ihr vorgesetzt wurde, und zum anderen wollte sie so wenig Zeit wie möglich mit anderen Menschen verbringen.

»Ja«, bekräftigte eine der Mägde, »wenn man sie sich anschaut, dann muss doch jeder feststellen, dass sie es gut getroffen hat.«

Johanna ließ den Löffel sinken und blickte unwillkürlich an sich herab. Am Tag nach ihrer Ankunft hatte sie ein Kleid bekommen, das aus Schafwolle gewebt war, und – für kältere Tage – einen Umhang aus Fuchsfell, beides so weich, dass sie oft stundenlang mit der Hand darüberstrich. Zudem hatte man ihr eigene Schuhe aus der gegerbten Haut eines Schafbockes gegeben.

»Ach Gudula, wie kannst du nur ...«

»Lass mich weiterreden, Adallinda«, fiel die andere ihr erneut ins Wort. »Wir wissen nichts darüber, woher sie kommt, aber es fällt leicht, mancherlei Schlüsse zu ziehen. Sieh sie dir doch an! Sie hat die Hände einer Bäuerin, vernarbt und schwielig und feist. Ihr Rücken ist gekrümmt von all der schweren Arbeit, die sie tun musste. Früher wohlgemerkt, jetzt nicht mehr. Sie schläft in einem weichen Bett, sie trägt edle Kleidung, sie bekommt genug zu essen – und all das nur, weil sie dem Kind ihre Brust gibt.«

»So hat es der Graf beschlossen. Der Graf ist dem Kinde ehrlich zugetan, er ist schließlich sein Pate.«

»Das mag ja gut und richtig sein, zumal er keine eigenen Kinder hat. Und sie hat viel Milch, das muss man ihr lassen. Ja, als Amme taugt sie. Aber sag ehrlich: War es nicht ein gewaltiger Aufstieg für sie? Hat sie nicht mehr erreicht als sämtliche anderen Weiber ihres Standes? Nein, ich habe kein Mitleid mit ihr. Das Unglück, das sie traf, ist nicht größer als das Glück, das sie hier fand!«

Johanna erhob sich langsam. Als von ihren Brüsten gesprochen wurde, hatte sich dort ein schmerzliches Ziehen ausgebreitet, aber das musste warten. Nun wusste sie, warum sie ausgerechnet diese Worte wahrgenommen hatte, alle anderen aber bislang nicht. Weil sie wahr waren. Weil sie unerträglich waren. Weil sie sie an das erinnerten, was ihr zugestoßen war ... und was sie selbst getan hatte, um sich zu retten.

»Aber sie hat doch ihre Familie verloren!«, warf Adallinda ein. »Sie war verheiratet, und ihr Mann ist tot. Wahrscheinlich haben ihn die Normannen«, Johanna sah, wie sie rasch ein Kreuzzeichen machte, »erschlagen oder verbrannt oder aufgehängt. Sie hat geboren, und das Kind ... nun, das Kind muss auch tot sein, sonst würde sie es doch bei sich haben.«

»Das leugne ich alles nicht«, entgegnete Gudula, »aber der Tod eines Gatten ist doch leichter zu ertragen, wenn man ein Kleid für vierzig Denare trägt, anstelle dieses abgerissenen Fetzens, mit dem sie hier ankam. Und der Tod eines Kindes ...«

Ihre Worte rissen ab, ihre Augen weiteten sich schreckerfüllt. Beide Frauen hatten Johanna nicht kommen sehen. Fast lautlos hatte sie sich angeschlichen, um dann mit einer Handbewegung an Gudulas Kehle zu fassen und jene langsam zuzudrücken, sodass die andere erst rot, dann blau im Gesicht wurde. Bis zu diesem Augenblick hatte Johanna vergessen, wie kräftig sie war. Jetzt erfüllte es sie mit einem diebischen Vergnügen, dass Gudula mit letzter, aufbäumender Verzweiflung an ihrem Handgelenk zu rütteln versuchte, aber nichts gegen sie auszurichten vermochte.

Adallinda schrie entsetzt auf. »Nicht!«, rief sie. »Nicht! Du bringst sie noch um!«

Johannas Griff lockerte sich, jedoch nur ein klein wenig.

»Hör mir gut zu«, sagte sie zu Gudula, und ihre Stimme war kaum mehr als ein Raunen. »Wenn du dergleichen noch einmal sagst, bist du tot.«

Kaum war ihr letztes Wort verklungen, löste sie ebenso rasch, wie sie zugepackt hatte, die Hand von Gudulas Kehle. Röchelnd sackte die Frau auf die Knie, rang nach Luft und gewann langsam die gesunde Gesichtsfarbe wieder. Ängstlich trat Adallinda zurück. »Wir wollten doch nicht ...«, stammelte sie hilflos.

»Sag es auch allen anderen Frauen«, meinte Johanna kalt. »Wer jemals behauptet, ich hätte es gut getroffen, der stirbt durch meine Hand.«

Noch ehe Adallinda nicken konnte, hatte sich Johanna schon abgewandt, um das Küchengebäude zu verlassen. Als sie draußen im Hof in die Sonne trat, spürte sie, wie kräftig das Blut plötzlich durch ihre Adern rann, wie heftig ihr Herz pochte, wie entschieden sich sämtliche Muskeln und Sehnen anspannten – so als hätte es die Todesstarre nie gegeben, in der sie in den letzten Monaten gefangen schien. Kurz war es eine Wohltat, so viel Leben in sich zu spüren, doch im nächsten Augenblick schien es ihr unerträglich. Was immer diese Kraft in ihren Leib pumpte, es setzte auch ihre Gedanken in Gang. All die Worte, die in den letzten Monaten an sie gerichtet gewesen waren, denen sie sich jedoch verweigert hatte, prasselten nun auf sie ein, in einem wilden, fast unverständlichen Chor – die Worte jener Menschen, die sie befragt und die über sie getuschelt hatten, all das ängstliche Gerede über die Normannen.

»Sag, was geschehen ist in deinem Dorf ...«

»Denkt ihr, die Normannen werden auch hierher nach Laon kommen?«

»Nein, nein, sie haben die Seine wieder verlassen, sind zurück in ihre Heimat gekehrt!«

»Was ist mit deinem Mann geschehen, Weib? Was haben sie mit deinem Kind gemacht?«

»Gütiger Himmel! Es gibt nun eine neue Gruppe von Normannen, die raubend und brandschatzend durchs Land zieht, diesmal sind sie über die Loire gekommen!«

»Ja, aber diesmal hat König Karl nicht versäumt, sein Land zu schützen. Er hat die Verteidigung an Renaud de Nantes übergeben, und der hat sie vertrieben.«

»Großer Gott, steh uns bei!«

»Gott hat sie uns doch geschickt! Sie kommen als Geißel, um uns zu strafen: wegen der Sünden des Volkes, der Unwürdigkeit der Geistlichen und der Großen.«

»Denkt Ihr, dass auch diese Frau hier gesündigt hat, wenn sie Heimat und Familie verloren hat?«

Johanna verschloss die Augen vor der grellen Sonne und schlug ihre Hände über die Ohren, auf dass sie nichts mehr hören musste. Wie blind und taub lief sie über den Hof zurück in das Hauptgebäude, schnell und atemlos, bis die vielen Stimmen leiser wurden. Es war, als würden sie nicht in ihrem Kopf toben, sondern als könnte sie vor ihnen flüchten.

»Bitte nicht!«, stammelte sie, und ihre flehende Stimme hatte nichts gemein mit der heiseren Drohung, die sie eben noch wider Gudula ausgestoßen hatte. »Bitte nicht!«

Die Stimmen waren gnädig, wurden leiser und leiser, erstarben wieder – ebenso wie ihre Kräfte. Ihre Knie schlotterten, ihre Hände wurden schweißnass. Unmöglich schien es ihr, noch einen weiteren Schritt zu tun, geschweige denn, ein Weib wie Gudula zu packen und beinahe zu erwürgen.

Außer Atem hatte sie das Gemach erreicht, sie musste nur noch eintreten, die Türe schließen und alles wegsperren, was ihren Seelenfrieden bedrohte. Doch als sie in den Raum kam, traf sie nicht nur auf den schlafenden Balduin, sondern auch auf eine fremde Gestalt.

Johanna schreckte zurück. Vor den Stimmen hatte sie fliehen können, nicht jedoch vor diesem Mann.

»Er ist größer geworden«, stellte Audacer fest. Seine Stimme klang nicht bewundernd oder gerührt, sondern grollend, als wäre jenes Gesetz der Zeit, wonach Säuglinge nicht Säuglinge bleiben und Kinder nicht Kinder, eine Zumutung.

Johanna wusste, wer er war. Zu ihrem eigenen Erstaunen hatte sie sich sogar seinen Namen eingeprägt. Warum er jedoch hier war, konnte sie sich nicht recht erklären. Der Graf kam oft, betrachtete sein Patenkind dann liebevoll, hatte es sogar mehrmals hochgehoben, gleichwohl dies für einen Mann ein durch und durch absonderliches Verhalten war. Ein gutmütiges und irgendwie dümmliches Lächeln war dabei auf seinem Gesicht erschienen. Auch Alpais, seine frömmelnde und meist schweigende Gattin, der Gott der Allmächtige keine Kinder geschenkt hatte und die ihr Schicksal mit demütiger Miene trug – irgendwie auch mit einer trägen, als wäre sie zu faul, das Walten des Schicksals zu hinterfragen –, ja, auch diese überwachte das Gedeihen des kleinen Balduin. Sie berührte ihn nie, sondern blieb stets in einigem Abstand stehen, als gelte es, sich vor der dreisten Lebendigkeit zu schützen, die ein gesunder Säugling versprüht. Aber ihre Miene war nie verbittert. Entweder weil ihr nichts anderes einfiel oder weil sie eben eine durch und durch gottesfürchtige Frau war, hob sie des Öfteren die Hand und schlug ein segnendes Kreuzzeichen über der Wiege.

Audacer hingegen – der Einzige, der mit dem kleinen Jungen blutsverwandt war – blickte nun missgünstig auf seinen Sohn hinab.

»Er hat meine Frau getötet«, sagte er schließlich.

Johanna hob den Kopf. Sie sehnte sich so sehr nach Ruhe und Gleichgültigkeit, doch seine Worte schreckten sie auf. Nicht wegen der Verzweiflung und Wehmut, die in ihnen mitschwangen, sondern wegen des Übermaßes an Trotz, mit dem Audacer sich nicht nur jeder Regung von väterlicher Liebe widersetzte, sondern auch dem schlichten Gesetz, wonach der Herr nimmt, der Herr gibt und man Ihn trotz allem zu loben und zu preisen hat.

Plötzlich ließ sein starrer Blick das Kind los und saugte sich an Johanna fest.

»Sie war ein gutes Weib«, sagte er. »Hildegund meine ich. Sie hat nicht zu viel geredet, sie hat nie über die Arbeit geklagt, sie war weder hoffärtig noch habgierig. Sie merkte von allein, was die Menschen sich wünschten. An ihrer Seite ... an ihrer Seite konnte ich friedlich leben.«

Er trat näher, und Johanna erkannte, dass ihm solch ein friedliches Leben nun nicht mehr gegönnt war. Nicht nur, weil seine Augen blutunterlaufen waren und sein Atem schlecht roch – so wie bei all jenen, die sich beim Genuss von Bier keine Grenzen auferlegten. Obendrein kündeten eine blaue Geschwulst an der Wange, eine blutige Kruste auf der Stirn und ein Riss im Ohr davon, dass er in irgendwelche Händel geraten sein musste, wie sie sich unter Männern manchmal zutrugen. Er ballte seine Hände zu Fäusten. Etwas Rohes, Unbeherrschtes ging davon aus, das sie ängstigte.

Unwillkürlich trat sie zu der Wiege und hob das Kind heraus. Es hatte den Besuch seines Vaters verschlafen, erst jetzt öffnete es seine wasserblauen Äuglein. Nie hatte sie sich bisher zu etwas anderem verpflichtet gefühlt, als ihm die Brust zu reichen und es zu versorgen, wie es einer Nutrix oblag. Zum ersten Mal regte sich nun der Wunsch, es zu beschützen.

»Er ist so klein ...«, stammelte sie, und sie wusste den Schmerz nicht zu deuten, der plötzlich in ihr aufwallte. Er war stechender als das Unbehagen, das sie verspürt hatte, als die Frauen über sie tratschten, quälender als die Sehnsucht nach Stille. Er kündete davon, dass da ein verwundbares Wesen ihrer Obhut anvertraut war und sie nicht sicher sein konnte, ob sie es tatsächlich von der grausamen Welt abschirmen konnte. Vertraut war dieses Gefühl – ebenso wie jenes, darin zu scheitern.

Doch Audacer verstärkte seine bedrohlichen Gesten nicht. Seine Fäuste öffneten sich wieder.

»Nun gut«, sagte er plötzlich, und es klang fast wehleidig, »ich will ihn nicht haben, der Graf hingegen schon. Er braucht einen Sohn, weil seine Frau ihm keinen gebären kann. Und ich, ich kann gut und gern auf ihn verzichten.«

Johanna schloss die Arme fester um das Kind. Es blickte sie schlaftrunken an, gab aber keinen Mucks von sich.

»Er ist Euer Kind«, murmelte sie, und anders als in den letzten Monaten fiel ihr das Reden nicht schwer. »Gott hat es Euch geschenkt.«

»Und ich schenke ihn eben weiter«, entgegnete Audacer hart, als handelte es sich dabei um ein Pferd oder um einen prächtigen Sattel für eben ein solches. »Was ist daran schlimm?«

Es wäre nicht schlimm gewesen, hätte er diese Entscheidung zum Wohle des Knaben gefällt. Doch Johanna wusste, dass Audacer das alles nicht tat, weil er seinem Sohn weniger bieten konnte als der Graf, sondern weil er ihm ganz offensichtlich weniger bieten wollte.

»Wie könnt Ihr ein kleines, unschuldiges Kind derart hassen?«, entfuhr es ihr. Die Wahl ihrer Worte deuchte sie fast zu hart.

Doch Audacer stritt nichts ab. Er lächelte schief, auf eine ebenso schmerzliche wie bösartige Weise. »Wir können so wenig in unserem Leben selbst bestimmen, warum soll ich nicht das bisschen Freiheit nutzen, das mir noch bleibt? Ich habe mir nicht ausgesucht, dass mein Weib mit fünfzehn Jahren im Kindbett starb. Aber wie ich zu meinem Sohn stehe, das ist und bleibt meine eigene Wahl.«

Er zuckte die Schultern, wandte sich zu gehen. Der Nähe des Kindes war er wohl schon zuvor überdrüssig gewesen, nun schien er es obendrein leid, sich vor ihr zu rechtfertigen. Johanna starrte ihm nach, erleichtert, dass er ging, dass die Sache ausgestanden war, dass nicht länger eine Bedrohung von ihm ausging.

Doch kaum hatte sie sein Gesicht nicht mehr vor Augen, nur mehr seinen breiten, aufrechten Rücken, da traf sie wieder der vorherige Schmerz, der von Hilflosigkeit zeugte und von einer Verzweiflung, die nichts mit diesem Kind hier und seinem Vater zu tun hatte.