Kinder des Feuers - Julia Kröhn - E-Book
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Kinder des Feuers E-Book

Julia Kröhn

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Beschreibung

Eine außergewöhnliche Liebesgeschichte vor der Kulisse der mittelalterlichen Normandie und Bretagne

Normandie, im Jahr 936: Als das Kloster Saint-Ambrose überfallen wird, finden alle Ordensfrauen den Tod. Nur zwei Menschen gelingt die Flucht: Mathilda, die vor vielen Jahren als Waisenkind im Kloster eine Heimat fand, und dem jungen Arvid, der dort wegen seiner Verwundung gepflegt wurde. Doch die Angreifer verfolgen sie unerbittlich - denn ihrer beider Herkunft ist ein großes Geheimnis ...

Julia Kröhn schreibt ihren Mittelalterroman mit außergewöhnlicher Erzählstimme: dicht und atmosphärisch.

Die Normannentrilogie von Julia Kröhn geht weiter mit Band 3: "Meisterin der Runen".

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Inhalt

Cover

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Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Zitat

Vorbemerkung

Karte

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

Epilog

Historische Anmerkung

Weitere Titel der Autorinbei beHEARTBEAT

Das Lied der Nebelinsel

Die Normannen-Trilogie:

Band 1: Tochter des Nordens

Band 3: Meisterin der Runen

Ebenfalls lieferbar:

Distel und Rose

Über dieses Buch

Eine außergewöhnliche Liebesgeschichte vor der Kulisse der mittelalterlichen Normandie und Bretagne

Normandie, im Jahr 936: Als das Kloster Saint-Ambrose überfallen wird, finden alle Ordensfrauen den Tod. Nur zwei Menschen gelingt die Flucht: Mathilda, die vor vielen Jahren als Waisenkind im Kloster eine Heimat fand, und dem jungen Arvid, der dort wegen seiner Verwundung gepflegt wurde. Doch die Angreifer verfolgen sie unerbittlich – denn ihrer beider Herkunft ist ein großes Geheimnis …

Julia Kröhn schreibt ihren Mittelalterroman mit außergewöhnlicher Erzählstimme: dicht und atmosphärisch.

E-Books von beHEARTBEAT – Herzklopfen garantiert.

Über die Autorin

Julia Kröhn wurde 1975 in Linz an der Donau geboren. Heute lebt die Fernsehjournalistin und Autorin in Frankfurt am Main. Sie veröffentlicht unter verschiedenen Pseudonymen sehr erfolgreich Kinder-, Fantasy- und Historische Romane. Unter dem Pseudonym Carla Federico erhielt die Bestsellerautorin im Jahr 2010 den internationalen Buchpreis CORINE für ihren Roman »Im Land der Feuerblume«.

Besuchen Sie die Autorin unter www.juliakroehn.de im Internet.

Julia Kröhn

KINDERDES FEUERS

Historischer Roman

beHEARTBEAT

Digitale Neuausgabe

»be« – Das E-Book-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2013 by Bastei Lübbe AG, Köln

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Melanie Blank-Schröder

Landkarte: Helmut W. Pesch

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München Verwendung von Motiven von © PixxWerk, München; © Shutterstock: Dudarev | Viktor Balaguer

E-Book-Produktion: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-8693-6

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Feuer seh ich brennen östlich der Burg,Kriegsbotschaft kommt, das verkündet die Glut.Ein Heer ist im Anzug, es dringt hier ein,und alsbald verbrennt es die fürstliche Burg.

Aus der »Edda«

Vorbemerkung

Seit dem neunten Jahrhundert suchen Wikinger aus Dänemark und Norwegen den Norden des Westfrankenreichs heim. Um der steten Bedrohung Herr zu werden, wird im Jahr 911 dem Wikingerführer Rollo ein Stück Land abgetreten: die spätere Normandie. Dafür schwört Rollo dem fränkischen König den Lehnseid und lässt sich taufen.

In der benachbarten Bretagne fallen immer wieder Wikinger ein, doch anders als Rollos Gefolge setzen sie nicht auf Anpassung an die christlich-fränkische Kultur, sondern bleiben heidnisch.

Im Jahr 936 ist die Normandie ein eigenes Herrschaftsgebiet und wird mittlerweile von Rollos Sohn Graf Wilhelm regiert, der von den fränkischen Nachbarn als ebenbürtig anerkannt ist.

In der Bretagne ist es Alanus Schiefbart, einem Nachfahren der christlichen Könige der Bretagne, gelungen, das Gebiet größtenteils von den Wikingern zurückzuerobern.

Wird die Normandie auch künftig ein »Nordmännerland« bleiben? Und kann Alanus Schiefbart dauerhaft verhindern, dass auch die Bretagne zu einem solchen wird?

ANDERBRETONISCHEN KÜSTEIM JAHR 936

Ihre Welt war arm an Farben: Da war das milchige Blau des Himmels, das dunstige Grau des Meeres, das rötliche Braun der Felsen, das schmutzige Weiß der Gischt. Der kreisrunde Wall aus über die Jahre verwittertem Holz, der inmitten dieser Einöde aufragte, bot kaum Schutz, und wenige Stöße hätten gereicht, den Wehrgang zum Einsturz zu bringen, doch immerhin kündete er vom Wirken menschlicher Hände.

Die Krieger erweiterten ihn gerade. Sie hatten ihre Waffen beiseitegelegt und schleppten Holz und Steine, einmal mehr bekundend, dass sich bei den Nordmännern niemand zu schade war, sich die Hände schmutzig zu machen. Sie arbeiteten entschlossen und trotzten dem Wissen, dass, was immer man hier errichtete, bald erneut von Wind und Meer zerfressen sein würde.

Hawisa sah den Männern gern beim Arbeiten zu. Jede Tat zupackender Hände, war sie auch noch so sinnlos, bestätigte, dass auf der Welt nur bestand, wer um Veränderung rang, anstatt sich aufs Abwarten zu verlegen.

Die zwei Männer, die eben zu ihr traten, arbeiteten nicht – das taten sie nie. Sie machten nur mit Worten Mut, die Heimtücken des Lebens zu ertragen und unbeirrt an ihrem Vorhaben festzuhalten – heute jedoch nicht einmal das. Stattdessen berichteten sie, dass Hasculf mit seiner Truppe zurückgekehrt war und Nachrichten brachte und dass diese Nachrichten keine guten waren.

Hawisa spannte sich kaum merklich an.

»Schon wieder sind zwei Städte gefallen«, wurden ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. »Allerorts unterwerfen sich die Menschen Alanus Schiefbart und begrüßen ihn mit lautem Jubel.«

»Das sind keine Menschen«, knurrte Hawisa, »das sind nur blökende Schafe.«

»So oder so sind wir hier nicht länger in Sicherheit.«

Der Mann, der zu ihr sprach, war blind. In der Sprache des Nordens hätte man ihn eigentlich Blindur nennen müssen, den Blinden, aber er bestand darauf, dass man ihn Dökkur rief, den Dunklen. Der Name passte zu ihm – nicht nur, weil seine Welt in Dunkelheit versunken war, sondern weil seine furchteinflößende Erscheinung vermittelte, er könnte kraft seines Willens sogar die Sonne dazu bringen, sich zu verstecken. Er war sehr groß und dürr, hatte schwarzes Haar, das verfilzt über seinen Rücken hing, und einen langen, ebenso ungepflegten Bart. Seine Nase war spitz, die Lippen schmal. Dökkur war nicht blind geboren worden, nach einer verlorenen Schlacht einige Jahre zuvor hatte man ihm die Augen ausgestochen. Mal trug er eine Binde über den Narben, die dunklen Löchern glichen, mal zeigte er sie jedem, um daran zu mahnen, wie schnell sich das Schicksal wenden konnte: Eben noch ein tapferer Krieger, hochgeboren und willens, das Erbe seines Bruder anzutreten, war er nun nicht länger fähig, zu kämpfen und zu führen.

Hawisa graute es vor seinem Anblick, doch während er andere verängstigte, erweckte er in ihr vor allem Trotz. So tief wie er wollte sie nie fallen.

»Ich fühle mich sicher hier«, erklärte sie.

»Trotzdem – wir sollten fliehen.«

»Ich werde nicht gehen. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben.«

Sie verbarg das Zittern in ihrer Stimme. Tagsüber gab sie sich gefasst, nur nachts hielt die Angst sie wach. Nicht die Angst vor dem Tod, sondern die davor, dass sie vor diesem Tod ihre Ziele nicht mehr erreichte, dass sie ihrem Leben keinen Sinn mehr geben konnte und ihr Name der einer Frau blieb, die gescheitert war, anstatt ein Reich zu erobern, zu einen und zu stärken. Seit einem Jahr begleitete sie diese Angst. Seit einem Jahr herrschte Krieg in der Bretagne.

»Hoffnung, du sprichst von Hoffnung?« Dökkur sprach das Wort verächtlich aus. Seine Kiefer knirschten, als wollte er es zermalmen.

Das ist aus uns geworden, dachte sie. Verspreche ich ihnen, morgen im eigenen Blut zu ersaufen, sie würden ihr Schicksal schultern wie die Männer am Wall die Baumstämme – fleißig, ohne zu murren, geübt zu ertragen. Verspreche ich ihnen hingegen Hoffnung, wirft man mir vor, sie zu verhöhnen.

»Ich weiß … ich weiß … die Bretagne bricht immer mehr auseinander.«

»Und jetzt ist auch noch Nantes an Alanus gefallen.«

Hawisa schloss die Augen. Nantes. Das sollte ihre Hauptstadt sein, nicht die des Widersachers.

Nun schaltete sich der Mann ein, der mit Dökkur zu ihr getreten war. Bis jetzt hatte er mit verschlagenem Gesicht gelauscht. Er war ein ehemaliger Mönch und seit Jahren ihr Sklave, doch er verhielt sich nicht unterwürfig wie ein solcher, sondern stets spöttisch. Meine Freiheit könnt ihr mir nehmen, schien er mit jedem Wort, mit jeder Geste zu sagen, aber meine Klugheit nicht.

»Alanus ruft alle Bretonen zu den Waffen, um ihn bei seinem Kampf zu unterstützen – die Grafen, Vizegrafen und die Machtierns, die Gemeindevorsteher. Es heißt, dass er an dem Tag, da er Nantes endgültig zurückerobert hat, eigenhändig den Weg zur Kathedrale mit Schwerthieben freigeschlagen hat. Im Turm hat er sich sein Quartier errichtet.«

Bruder Daniel sprach mit näselnder Stimme, gleich so, als hocke etwas Zähes in seiner Kehle, das ihn schwer atmen und nie laut werden ließ. Er stand stets mit geducktem Kopf da, wirkte aber nicht schwach und ängstlich, sondern bösartig.

Hawisa wandte sich ab, blickte auf das Meer und die hohen Felsen. Hier über die Klippen zu fallen hieß zu sterben. Der Stein war so glatt, als wäre er von Menschenhand gehauen. Möwen hatten die Klippen kreischend in Besitz genommen und trotzten dem Wind.

So ist die Natur, dachte Hawisa. Sie baut in unwegsamer Gegend unverwüstliche Burgen aus Stein, die noch in Hunderten von Jahren bestehen werden, während unser Wall schon morgen niedergerissen und abgebrannt werden könnte.

»Wie sollen wir ob all dieser Nachrichten noch Hoffnung haben?«, fragte Dökkur.

Hawisa antwortete nicht, sondern blickte Hasculf entgegen, jenem Krieger, der zuvor die Nachrichten überbracht hatte und jetzt auf sie zukam. Sein Gesicht war nicht finster wie das von Dökkur und bösartig wie das von Bruder Daniel, sondern vollkommen ausdruckslos.

»Ich bringe nicht nur Neuigkeiten von Alanus Schiefbart«, erklärte Hasculf, »sondern auch Neuigkeiten von … ihr.« Er hielt einen Moment feierlich inne. »Wir haben Mathilda gefunden.«

Wie immer zeigte sich Hawisa beherrscht. Sie zuckte nicht freudig zusammen, triumphierte nicht und brach auch nicht in Tränen aus, die von jahrzehntelangem Leid kündeten. Lediglich ein stilles Lächeln erschien auf ihren Lippen, als Hasculf nun von dem Kloster erzählte, in dem Mathilda lebte.

»Es ist dem heiligen Ambrosius geweiht«, schloss er, »und es liegt einsam inmitten von Wäldern.«

»Seht ihr!« Hawisa konnte ihre Begeisterung nicht länger zurückhalten. Sie wandte sich an Dökkur und Bruder Daniel. Der eine hatte sein Augenlicht verloren, der andere seine Freiheit, aber sie, sie würde nicht verlieren. »Es wird sich alles zum Guten wenden, jetzt, da wir Mathilda gefunden haben. Ihre ruhigen Tage im Kloster sind gezählt.«

I.

KLOSTER SAINT-AMBROSE

Mathilda sog tief den salzigen Geruch des rauschenden Meeres und zugleich den durchdringend süßen der bunten Blumen in sich ein. Wie ist es möglich, dachte sie, dass diese an einem Ort wachsen, an dem der Boden sandig und felsig ist und stets ein rauer Wind weht? Kann es tatsächlich einen Ort geben, der salzig und süß zugleich ist, schroff und zart, karg und farbenprächtig?

Das Glitzern des Meeres blendete sie, sodass sie die Augen schließen musste, als sie über die Blumenwiese direkt dem blonden Mann mit der gegerbten Haut entgegenlief, der dort groß und stolz am Ende der Klippe stand. Er wartete auf sie, bereit, sie aufzufangen, in die Luft zu werfen und dann, wenn sie vor Lachen kreischte, an seinen gestählten Körper zu pressen. Seine Hände würden über ihr Gesicht streicheln, Hände, die grob sein konnten, aber auch zärtlich und liebevoll.

Doch ehe Mathilda den Mann erreichte, spürte sie plötzlich eine Veränderung. Sie konnte den Geruch des Meeres und den der Blumen nicht mehr wahrnehmen. Erschrocken schlug sie die Augen auf, und das Lächeln schwand von ihren Lippen. Ein heiserer Schrei entfuhr ihrem Mund, denn sie erblickte anstelle des blonden Mannes das Gesicht einer Fremden. Sie schrie erneut auf, als Hände nach ihr fassten, ihre Schultern umklammerten, sie rüttelten.

»Mathilda! Was ist mit dir? Hast du schlecht geträumt?«

Nein, dachte sie, ich habe nicht schlecht geträumt, nur zu kurz. Im entscheidenden Augenblick wurde ich geweckt … ich konnte mich nicht mehr in die Arme des blonden Mannes retten …

Dann ging ihr auf, dass das Gesicht, in das sie starrte, nicht das einer Fremden war, sondern das von Schwester Maura, einer Nonne, wie sie eine war. Sie schlief im Dormitorium auf dem Strohsack neben ihr und verbrachte viele Stunden des Tages an ihrer Seite. Maura war eine Vertraute, deren Namen sie kannte. Den des blonden Mannes, gleichwohl auch er im Traum so vertraut gewirkt hatte, kannte sie nicht, desgleichen konnte sie den Namen des Ortes nicht benennen, an dem Blumen inmitten der Klippen am Meer wuchsen. Und warum trieb ihr die Sehnsucht Tränen in die Augen?

Das Licht, das durch die Luken ins Innere sickerte, war noch matt. Mathilda fühlte Mauras nachdenklichen Blick auf sich ruhen und wandte sich rasch ab. Durch die dicken Mauern des Dormitoriums hörte sie die Glocke läuten. Die Glocke läutete oft, sieben Mal am Tag.

»Du hast verschlafen«, murmelte Maura.

Mathilda fühlte keine Sehnsucht mehr nach dem Ort, der ihr immer fremder wurde, je mehr Leben in ihre steifen Glieder zurückkehrte. Scham stieg in ihr auf, denn sie erlaubte sich nur ungern eine Schwäche.

»Warum hast du mich nicht geweckt?«

»Ich wecke dich doch jetzt!«

»Zu spät, wie’s scheint!«

Maura zuckte die Schultern. Sie nahm es mit den Klosterregeln nicht ganz so genau, schon oft hatte sie verschlafen und hinterher nie jene Reue gezeigt, die Mathilda jetzt überkam.

»Sei nur ganz ruhig«, tröstete sie. »Nach der Aufregung der letzten Tage meinte die Äbtissin, du solltest dich ausruhen. Sie selbst hat mich davon abgehalten, dich zu wecken.«

Mathilda seufzte. In der Tat – in den letzten Tagen war mehr geschehen als in ihrem ganzen sechzehn Jahre währenden Leben zuvor. Einem Leben, das sie fast ausschließlich im Kloster zugebracht und Gott geweiht hatte. Sie war noch ein kleines Mädchen gewesen, als sie hergebracht wurde, von wem und warum, war immer bedeutungslos gewesen – zumindest, ehe sie begonnen hatte, von der Blumenwiese und von dem blonden Mann zu träumen und sich zu fragen, ob dies Ausgeburten ihrer Fantasie waren. Oder vielleicht Erinnerungen?

»Endlich ist wieder Frieden eingekehrt«, sagte Mathilda.

Sie erhob sich, fühlte sich aber nicht wirklich ausgeruht. Ihr Kopf schien zu schwer, und die Zunge war trocken. Als sie an Maura vorbeigehen wollte, hielt diese sie auf. »Du hast im Traum übrigens eine fremde Sprache gesprochen«, sagte sie.

Die junge Nonne war verwirrt. »Welche Sprache?«

»Hätte ich fremd gesagt, wenn ich sie verstanden hätte?«

Mathilda zuckte die Schultern und machte sich von Maura los. »Ich spreche Fränkisch und Latein«, erklärte sie entschieden, »sonst nichts. Das Sprechen habe ich doch erst hier erlernt.«

Der bittere Geschmack in ihrem Mund verging, aber die Verwirrung begleitete sie den ganzen Tag hindurch. Hier im Kloster war auf keinerlei Ablenkung zu hoffen. Für gewöhnlich war es zwar das beschauliche Gleichmaß der Tage, was sie an ihrem Leben am meisten schätzte, doch heute fand sie nicht einmal bei der Lektüre Besänftigung für ihr aufgewühltes Gemüt – weder bei der gemeinschaftlichen noch bei der persönlichen. Die übliche Neugier, welches Buch oder welchen Bibeltext man ihr zuteilen würde, auf dass sie später darüber Bericht erstattete, blieb aus.

Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, obwohl sie gern schrieb und noch lieber las. Nur selten beklagte sie sich über einen schmerzenden Rücken. Zwar hätte sie nie von sich aus das Skriptorium als jenen Ort erkoren, wo sie ihre Talente am besten leben konnte, aber als die Magistra sie dafür bestimmte, hatte sie es hingenommen. Sie war dankbar dafür, nicht stolz darauf – Stolz war schließlich eine Sünde, ihr Talent hingegen ein von Gott geschenktes, wenn auch ein seltenes. Es kam nicht oft vor, dass Gott Frauen mit der Gabe des Verstandes überreich ausstattete. Wenn es aber geschah – so schrieb es der heilige Hieronymus an seine Schülerin Laeta –, dann möge man es fördern, die Frauen nicht nur Spinnen, Weben und Schneidern zu lehren, sondern auch Lesen und Schreiben. Nicht zum Selbstzweck natürlich, sondern auf dass sie die Heiligen Schriften erlernen und verstehen würden.

Heute lernte und verstand Mathilda nichts. Die Lektürestunden vergingen, ihr Geist jedoch blieb leer. Später saß sie hinter dem Schreibpult, aber ihre Hand war wie gelähmt. Vor kurzem noch hatte sie sich über die Auszeichnung gefreut, nicht länger nur auf Wachstäfelchen schreiben zu müssen, sondern auch Pergament benutzen zu dürfen. Ehrfürchtig hatte sie darübergestrichen, sich vorgestellt, diese Seiten nicht nur mit Texten, sondern auch mit kunstvollen Zeichnungen zu versehen – so wie die Nonnen im berühmten Chelles, die im ganzen Land für ihre Bücher bekannt waren. Der Erzbischof von York hatte von ihnen gar ein Evangeliar mit goldener Farbe auf Purpurpergament schreiben lassen. Saint-Ambrose war zu arm, hier schrieben die Nonnen nicht mit Gold auf Purpur, aber Mathilda hatte sich oft gefragt, wie dergleichen wohl aussah.

Sie ließ ihren Blick durchs Skriptorium kreisen und versuchte, die Fragen zu verscheuchen, die ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen wollten, aber es gelang ihr nicht.

Wer bin ich? Woher stamme ich? Wer sind meine Eltern?

Die Schwestern, die im Skriptorium ihren Dienst versahen, waren nicht nur ihres Talentes wegen dafür auserwählt worden, sondern auch wegen ihrer hohen Abstammung. Je wohlhabender die Eltern waren, desto größeren Wert legten sie darauf, dass ihre Töchter nicht zu den niederen, sondern zu den angenehmeren Diensten im Kloster beordert wurden. Sie aber, Mathilda, wusste nicht einmal, wer ihre Eltern waren. Sie mussten vornehm sein, denn alle Ordensschwestern in Saint-Ambrose entstammten dem Adel, aber wie sie hießen und woher sie kamen, hatte sie nie erfahren. Früher hatte sie manchmal danach gefragt, aber keine brauchbare Antwort erhalten, man hatte ihr lediglich erklärt, dass, wer ins Kloster gehe, die alte Welt und sämtliche Bindungen hinter sich lasse und dass sie, als sie als kleines Mädchen ins Kloster kam, kein Wort gesprochen, sondern es erst hier erlernt habe.

Vielleicht war das eine Lüge, ging es ihr jetzt durch den Kopf, vielleicht habe ich sehr wohl gesprochen – in jener fremden Sprache aus dem Traum …

»Mathilda, wo hast du nur deine Gedanken?«

Mit schlechtem Gewissen blickte sie hoch. Die Magistra stand vor ihr, der die Erziehung und Ausbildung der jungen Mädchen oblag. Von ihr lernten sie Psalmen zu memorieren, erhielten Sprach- und Grammatikunterricht und wurden im Lesen und Schreiben unterwiesen.

»Es tut mir leid«, sagte sie hastig, »aber nach den Ereignissen der letzten Tage …«

Sie schämte sich sogleich, sich hinter diesem Vorwand zu verstecken, auch wenn es seine Wirkung nicht verfehlte. Die Magistra nickte hastig, suchte ihre eigene Aufgewühltheit zu verbergen und trat weg. Es stimmte, in den letzten Tagen war im Kloster viel Schreckliches geschehen, Mathilda erschauderte immer noch, wenn sie nur daran dachte. Nur an diesem Tag waren es nicht diese Ereignisse, sondern der Traum, der sie verwirrte. Allerdings, ging es ihr plötzlich durch den Sinn – vielleicht hatten die Träume sie nur deshalb heimzusuchen begonnen, weil ihr Gemüt so erschüttert war. Sie seufzte und entschied, wie sie die letzten Tage, vor allem aber den Traum, hinter sich lassen konnte: Sie musste mit der Äbtissin sprechen.

Doch schon als Mathilda nach dem kargen Mittagessen auf sie zutrat und um ein paar Worte bat, ging ihr auf, dass es ein Fehler sein könnte. Nach allem, was passiert war, war die Äbtissin nicht mehr sie selbst. Als einige Wochen zuvor jener verletzte junge Mann aufgetaucht und im Kloster gesund gepflegt worden war, war ihr gewohnter Gleichmut erschüttert worden, und als wenig später Krieger das Kloster überfallen hatten, hatte sie endgültig die Fassung verloren, sich die Schuld an allem gegeben und ihren Rücktritt verkündet. Die Männer hatten das Kloster nicht erstürmen können, waren vielmehr selbst durch Feindeshand gestorben – oder durch göttliches Eingreifen, Mathilda wusste es nicht so genau –, und die Äbtissin hatte ihr Amt behalten. Der geheimnisvolle Mann jedoch, Arvid mit Namen, der dies alles ausgelöst hatte, war immer noch im Kloster, und die Äbtissin wirkte immer noch verwirrt.

Nur zögernd stellte Mathilda ihr die Frage, die auf ihrer Seele lastete. »Denkt Ihr«, setzte sie unwillkürlich an, »denkt Ihr, ehrwürdige Mutter, mein Wille ist fest genug?«

Die Äbtissin sah an ihr vorbei. »Was meinst du?«

»Nun, meine Profess steht bald bevor!«

Nicht jede Nonne legte ihr Gelübde, keusch und arm zu bleiben, öffentlich und die Hand auf der Benediktregel ruhend ab. Viele lebten einfach in der Gemeinschaft, fügten sich den Geboten des Klosters und trugen die schwarze Kleidung als Zeichen von Enthaltsamkeit und Demut so lange, bis alle Welt sie als Nonne betrachtete. Mathilda aber hatte sich immer eine feierliche Profess gewünscht und die letzten Monate darauf hingelebt. Sie kannte kein anderes Leben als dieses, also war es das schönste, das sie sich vorstellen konnte, und sich laut und vor der Gemeinschaft dazu zu bekennen, würde ein Fest sein.

Die Äbtissin blickte sie jetzt verständnislos an. »Deine Profess …«

»Es könnte doch sein«, erklärte Mathilda ihre Sorge, »dass der Teufel die verbleibende Zeit vor meiner Profess benutzt, um meiner Seele habhaft zu werden. Viele fromme Menschen haben davon berichtet, dass sie gerade vor dem Eintritt ins Kloster Anfechtungen ausgesetzt waren.«

»Du lebst schon so lange im Kloster, Mathilda«, sagte die Äbtissin noch immer ein wenig abwesend. »Auch wenn du die Profess noch nicht abgelegt hast, beweist du jeden Tag die Tugenden einer Ordensschwester. Warum sollte der Teufel ausgerechnet jetzt eine Schwäche wittern?«

»Ich weiß nicht«, stammelte Mathilda, »ich weiß nur …«, sie biss sich auf die Lippen, zögerte kurz, »… ich hatte heute in der Nacht einen merkwürdigen Traum.«

»Und wovon hast du geträumt? Häufig sind Träume Botschaften von Gott, denk an Joseph in Ägypten.«

»Aber ich habe auch gelesen, dass der Teufel Träume nutzt, um die Seele des Menschen zu verwunden. Der Schlaf schwächt den Willen, seinen Verführungen zu trotzen. Ich will das nicht!« Heftig brach es aus Mathilda hervor: »Ich will nicht wissen, ob es jene Blumenwiese am Meer gibt! Ich will nicht wissen, welche Sprache ich im Traum gesprochen habe!«

Falls ihre Worte die Äbtissin verwirrten, ließ jene es sich nicht anmerken. »Du willst, dass nach allem, was geschehen ist, das Leben wieder in gewohnten Bahnen verläuft, dass die Welt mit all ihren Schrecknissen von den Mauern ausgeschlossen wird, dass wieder Frieden einkehrt – im Kloster und in deinem Herzen, nicht wahr?«

Die Miene der Äbtissin war verständnisvoll – jedoch auch ein wenig verächtlich.

»Ich will einfach nur eine gute Nonne sein«, murmelte Mathilda. »Und eine solche legt ihr altes Leben ab wie ein abgetragenes Kleid. Vielleicht … vielleicht kommt der Traum nicht wieder, wenn Ihr mich züchtigt. Ja, lasst mich bei Birnensaft fasten! Verbietet mir, im Skriptorium zu arbeiten, und lasst mich stattdessen die Latrinen reinigen! Befehlt mir, auf dem Boden der Kapelle zu knien, bis ich die Knie nicht mehr spüre und …«

Immer eifriger ging sie daran, mögliche Strafen aufzuzählen, bis die Äbtissin energisch ihre Hand hob.

»Still nun!«, rief sie. »Du verdienst doch keine Strafe! In den letzten Tagen hast du mir so oft beigestanden. Besonders, nachdem man … ihn ins Kloster brachte …«

Sie verstummte, und Mathilda folgte ihrem Blick, der hinaus auf den Hof schweifte. Man sah dem jungen Mann, der dort auf und ab ging, nicht länger an, wie schwer verletzt er gewesen war. Mathilda hatte zu jenen gehört, die ihn gepflegt und die alsbald geahnt hatten, dass das Leben der immer vorbildlichen Äbtissin mit dem des jungen Mannes irgendwie verknüpft war. Gemessen an der Vergangenheit der Äbtissin musste ihr wirrer Traum bedeutungslos sein. Kein Wunder, dass die Äbtissin sie nicht bestrafen wollte.

»Wie lange wird er denn noch bleiben?«, fragte Mathilda.

»Noch ist er nicht stark genug, um aufzubrechen …«, antwortete die Äbtissin.

Oder sie war nicht stark genug, ihn gehen zu lassen.

Die Äbtissin wandte sich ab.

»Bring ihm etwas zu essen!«, befahl sie knapp.

Mathilda runzelte die Stirn und wollte widersprechen. Sie war in ihrem Leben nicht vielen jungen Männern begegnet, und dieser eine hatte in den letzten Tagen ihre Welt derart durcheinandergebracht, dass sie gehofft hatte, ihn nach seiner Genesung meiden zu können. Was die Äbtissin nun verlangte, deuchte sie als Zumutung.

Doch dann schluckte sie ihre Widerworte. Vielleicht war der Befehl der Äbtissin keine Zumutung, sondern die Strafe, die sie selbst eingefordert hatte. Und was diese Strafe noch härter machte als Fasten, stundenlanges Knien oder das Reinigen von Latrinen, war, dass sie sich einen verbotenen Augenblick lang gar nicht wie eine solche anfühlte.

Mathilda ließ sich von der Schwester Cellerarin, die sich um die Vorratshaltung und die Essenszubereitung kümmerte, Brot und Käse geben, zögerte dann jedoch, den Hof zu betreten. Als sie sich endlich dazu durchrang, war Arvid nicht mehr dort. Sie hoffte schon, ihrer Pflicht entledigt zu sein, als sie ihn im Refektorium sah, jenem Raum gleich neben der Pforte, wo Gäste empfangen und bewirtet wurden. Er hockte gebückt und ließ seine Hand – so sah es zumindest aus der Ferne aus – auf merkwürdige Weise über dem Kopf kreisen. Hatte er Schmerzen? Seine Brust war doch verletzt gewesen, nicht sein Kopf.

Erst als sie den Raum betrat, erkannte Mathilda, dass der junge Mann sich eine Tonsur schor. Als er verletzt vor der Pforte zusammengebrochen war, hatte ihn diese als Mönch oder Novizen ausgewiesen. Mittlerweile war das braune dichte Haar nachgewachsen, und dass er es schor, bedeutete wohl, dass er möglichst bald in sein Kloster zurückkehren wollte.

Er blickte hoch, als sie näher kam, und sie schämte sich, dass sie errötete. Er ist ein Mann, gewiss, aber eben ein Mann Gottes, sagte sie sich. Solchen begegnete sie manchmal in Gestalt der Mönche vom Nachbarkloster, die kamen, um die Messe zu lesen, die Beichte abzunehmen und die Sterbenden zu segnen.

Mit vermeintlicher Gelassenheit hob sie ihm das Brett mit Brot und Käse entgegen. »Ich habe dir etwas zu essen gebracht.« Anstalten, es auf den Tisch zu stellen, machte sie keine.

Arvids Tonsur war schief geraten, das Lächeln, um das er sich nun bemühte, auch. Er schien sie nicht minder zu scheuen als sie ihn, doch anders als sie hatte er den Mut, das Unbehagen auszusprechen.

»Nicht mehr lange, und ihr seid von meiner Gegenwart befreit«, setzte er an, »und hier kehrt wieder Ruhe ein.«

Es war etwas anderes, dies heimlich zu hoffen, als es ihn sagen zu hören. Ihre Scheu vor ihm deutete Mathilda plötzlich als Zeichen von Schwäche. Wer fest im Glauben stand und den Anfechtungen des Fleisches widerstand, ließ sich von der Gegenwart eines Mannes nicht erschüttern.

»Wer an der Pforte klopft, dem wird aufgetan«, erklärte sie schnell, »wie lange er bleibt, liegt nicht an uns zu bestimmen.« Um ihre Worte zu bekräftigen fügte sie hinzu: »Vor zwei Jahren hat die Äbtissin eine Horde Bettler ins Kloster eingeladen, auf dass wir ihnen am Gründonnerstag die Füße waschen – so wie Jesus seinen Jüngern.«

Sie unterdrückte ein Schaudern, als sie daran dachte. Sie hatte sich vor den fremden fauligen Füßen geekelt und noch mehr vor den Gerüchen, dem Stimmengewirr, den verunstalteten Gesichtern – vernarbt bei den einen, faltig bei den anderen, in jedem Fall von einem ständigen Überlebenskampf kündend, den hier Kloster keiner zu führen hatte. Selbstverständlich hatte sie aber der Äbtissin gehorcht und den Widerwillen unterdrückt.

Käse und Brot wurden ihr mit einem Mal schwer in der Hand. Das Brett auf den Tisch zu stellen hätte aber bedeutet, dicht an Arvid vorbeizugehen. So stellte sie es auf den lehmgestampften Boden.

»Die Schwester Cellerarin meinte, dass du zum Abendessen auch einen Krug Wein haben kannst.«

Arvid senkte den Blick. »Habt alle Dank für eure Güte.«

Es gab nun keinen Grund mehr zu bleiben, aber dennoch verharrte Mathilda noch einen Augenblick. Sie dachte an die vielen Tuscheleien der letzten Tage. Fast alle Nonnen hatten Mutmaßungen über den jungen Mann angestellt – und Maura hatte gewagt, ihr vom schlimmsten und dunkelsten Gerücht zu erzählen, das die Runde machte: Demnach war Arvid niemand anderes als der Sohn der Äbtissin. Kurz nach seiner Geburt war sie ins Kloster eingetreten, um fortan ein frommes Leben zu führen, aber davor hatte sie gesündigt, wenn auch nur einmal. Nicht nur, dass Arvid der Sohn der Äbtissin war, war ein Geheimnis, sondern auch, als wessen Tochter diese geboren worden war. Nicht irgendeines Franken nämlich …

Nein, sie wollte es nicht einmal denken. So beharrlich sie ihren Traum vergessen und der Frage entgehen wollte, wer sie war und von wem sie abstammte, sollte sie sich auch seiner Herkunft gegenüber blind stellen. Doch als Mathilda sich aufraffte zu gehen, begann der junge Mann unvermittelt zu sprechen, anstatt sich nach Käse und Brot zu bücken.

»Ich weiß, dass über mich geredet wird. Und ich weiß auch, wie sehr euch meine Geschichte verwirren muss. Ich erfuhr ja selbst erst hier, dass …« Er brach ab, rang nach Worten. »Es ist schwierig«, gab er schließlich zu. »Es ist schwierig, wenn man nicht weiß, auf welcher Seite man steht …«

Sie verharrte, von etwas gehalten, das sie nicht deuten konnte. War es Neugier – ein Laster dieses, jedoch kein sonderlich schweres? War es Unbehagen, das leichter zu ertragen sein würde, wenn sie seine Andeutungen verstehen könnte? Oder war es womöglich etwas, das schwerer wog?

»Ich weiß, dass ihr Nonnen nichts auf Geschwätz geben dürft«, murmelte er, »aber gewiss habt ihr darüber geredet. Wie ich zur Äbtissin stehe. Ob sie tatsächlich meine Mutter ist. Und ob ich tatsächlich der Sohn eines Nordmannes bin.«

Es war zu viel – für ihn, all das zu verschweigen, für sie, es zu hören.

Es geht mich nichts an!, wollte sie schreien. Stattdessen erklärte sie: »Wir sind alle Kinder Gottes. Das ist das Einzige, was zählt.«

Immer noch begann er nicht zu essen. Mathilda starrte auf das Brett mit dem Käse, und plötzlich erwachte die Gier, ihn selbst zu verschlingen – nicht weil sie hungrig war, sondern weil sie schlucken wollte, was da in ihr aufstieg, die bange Frage nämlich, ob sie genauso entsetzt wie er sein würde, wenn sie wüsste, wessen Kind sie war.

Sie spürte seinen Blick auf sich ruhen und konnte ihn, als sie ihn erwiderte, nicht deuten. Hastig wandte sie sich ab.

»Ich werde bald nach Jumièges zurückkehren. Das ist das Kloster, aus dem ich stamme.«

Sie nickte. »Ich weiß. Es heißt, es sei das größte der Normandie.«

»Und wenn ich fort bin, herrscht hier wieder Frieden.«

»Gewiss«, sagte sie.

Sie wollte daran glauben, und kurz gelang es ihr, kurz fühlte sie jenen Frieden, den Stille und Einfachheit und ein fester Rhythmus schenken.

Dieser Friede währte nur drei Schritte lang, die Mathilda in Richtung Tür machte, dann brach draußen der Lärm los – just in dem Augenblick, da Arvid sich gebückt und das Brett mit Brot und Käse vom Boden aufgehoben hatte. Er erschrak, sodass es ihm aus seinen Händen glitt. Käse und Brot fielen auf den lehmigen Boden.

Schade um das Essen, dachte Mathilda noch. Aber als sie von Arvid gefolgt ins Freie stürzte und die Pferde sah, die Männer, die darauf saßen, und die Waffen, die sie schwangen, da dachte sie gar nichts mehr.

Sie hatte gehört, dass die Heiden aus dem Norden wie Wölfe heulen würden, wenn sie Klöster überfielen, Feuer legten und Mauern zum Einsturz brachten, doch jetzt hörte sie nur ihren eigenen Herzschlag. Sie hatte gehört, dass Zeichen die Geißel Gottes ankündigten – Feuer in Form von Drachen, Flammen auf dem Meer, schreckliche Wirbelstürme und Kometen, doch sie kamen wie aus dem Nichts. Sie hatte gehört, dass sie Felle trügen wie Tiere, aber diese schienen auf den ersten Blick wie aus Eisen gemacht – in ihren Kettenpanzern, die nur die Unterarme freiließen, den kegelförmigen Helmen, dem Nasenschutz, der Kapuze aus metallenen Maschen gefertigt. Aus Eisen waren auch ihre Waffen – Lanzen, Streitäxte, Schwerter, Keulen.

Mathilda starrte die Männer an, begriff nicht, warum sie so anders aussahen als erwartet, und begriff noch weniger, wie sie durch die Pforte ins Kloster gelangen konnten. Die fränkischen Krieger, die das Kloster einige Tage zuvor auf der Suche nach Arvid überfallen hatten, waren auf ein verschlossenes Tor gestoßen und hatten vergebens dagegengehämmert. Erst nach einer Weile kam sie zum Schluss, dass heute das Tor wohl geschlossen, aber kein Riegel vorgeschoben gewesen war.

Der Gedanke erleichterte sie. Während die Welt im Chaos versank, gab es etwas, das der logischen Ordnung entsprach.

Durch das Gebrüll der Männer und das Gewieher der Pferde vernahm sie aus weiter Ferne schließlich eine Stimme, Arvids Stimme. »Komm mit!«, schrie er ihr zu.

Mathilda rührte sich nicht. Nicht nur Arvids Stimme hörte sie aus dem Lärm klar und deutlich heraus, auch die eines der Krieger. Er sprach nicht Fränkisch, nicht Latein und nicht Altgriechisch, und doch verstand sie ihn.

»Findet sie!«

Es war eine fremde Sprache, in der er redete – und ihr dennoch vertraut. Ebenso vertraut wie der Anblick der Wiese inmitten der Klippen am Meer, wie der blonde Mann, der sie in die Arme schließen wollte.

Doch als Arvid sie packte und fortzog, war auf der Welt plötzlich nichts Vertrautes mehr. Der Boden schien sich aufzutun, um alles zu verschlucken, was Mathilda kannte. Sie sah ihre Mitschwestern, die in den Hof gelaufen kamen, sah, wie sie von den fremden Kriegern gepackt und erschlagen wurden, und der Anblick, wie sie blutig zusammenbrachen, war so unwirklich, dass sie ihren Sinnen nicht länger traute. Das war nicht das Kloster, in dem sie aufgewachsen war.

Arvid zog sie zurück ins Refektorium, doch er blieb nicht lange dort, zerrte sie alsbald durch den Raum zu einer kleinen Luke. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals davorgestanden und hinausgeblickt zu haben. Ehe sie sah, was sich hinter der Luke befand, hatte er sie schon geöffnet und schob sie hindurch, sodass sie mit dem Kopf voran hinausfiel. Sie prallte auf der linken Schulter auf, spürte einen heftigen Schmerz, aber sie traute dem Schmerz nicht – er war nicht wirklich, er konnte nicht wirklich sein, nichts war mehr wirklich.

Arvid zog sie hoch. Wie fest sein Griff war!

»Beeil dich!«, rief er.

Ich darf mich nicht von einem Mann berühren lassen, fuhr es ihr durch den Kopf, aber bevor sie sich dagegen wehrte, schob sich ein anderer Gedanke in den Vordergrund: Ich will nicht sterben.

Mathilda blickte sich um. Das Kloster war plötzlich kein fremder Ort mehr. Gleich in der Nähe war das Haus der Äbtissin, gegenüber davon die Kapelle, von der aus der Weg frei war zu den Getreidekammern und dem Keller. Sie begriff jedoch nicht, warum die Krieger nicht längst schon in diesen Gebäuden wüteten, warum sie die Nonnen erschlugen, anstatt aus der Kapelle Monstranzen, Goldgefäße und Kruzifixe zu schleppen und aus den Vorratsräumen Fleisch, Mehl und Wein.

»Schneller!«, schrie Arvid. Er hatte sie ganz dicht an sich gezogen. Ihren eigenen Herzschlag hörte sie nicht mehr, aber seinen umso lauter, hörte auch seinen keuchenden Atem, spürte, wie schweißnass seine Hände waren.

Er lebte noch. Und sie auch.

Gemeinsam erreichten sie den Getreidespeicher. Die Abgaben, die die Pächter der umliegenden Klosterländereien brachten, wurden hier aufbewahrt – Säcke voller Mehl und Getreide, auch Strohballen. Arvid blickte sich suchend um, dann stieß er sie in Richtung der Ballen. Sie schwankte, fiel, und ehe sie sich aufrichten konnte, hatte er schon ein paar Ballen auf sie geworfen. Halme stachen ihr ins Gesicht, ihre Brust wurde eng.

»Bleib ruhig liegen!«, herrschte er sie an, als sie sich befreien wollte. »Vielleicht können wir uns hier verstecken.«

Sie erstarrte. Vielleicht … er hatte gesagt vielleicht …

Vielleicht sind wir hier in Sicherheit, vielleicht auch nicht. Vielleicht werden sie uns entdecken, werden mich schänden, werden mich töten oder zur Sklavin machen, vielleicht werden sie …

»Still!«, zischte Arvid.

Hatte sie etwa laut geredet?

»Sei doch still!«

Nein, er meinte etwas anderes – das laute Klappern ihrer Zähne.

Mit aller Macht presste sie die Kiefer aufeinander und versuchte, sich darauf zu konzentrieren, Luft zu bekommen. Unter dem Stroh begann ihr heiß zu werden, doch sie erstickte nicht, sie war noch fähig zu denken.

Die Normandie ist doch ein christlicher Ort, dachte sie. Die Heiden, die das Land einst überfallen haben, haben sich doch taufen lassen und werden vom gleichfalls christlichen Graf Wilhelm regiert, der das Land vor dem Eindringen neuer Banden schützt. Warum suchen diese Dämonen das Kloster heim? Und warum hat einer von ihnen, wahrscheinlich der Anführer, befohlen: »Findet sie!«?

Plötzlich ertönte ein Knistern, und als sie Arvid neben sich stöhnen hörte, wusste sie, was es zu bedeuten hatte. Die Krieger begnügten sich nicht länger damit, ihre Mitschwestern abzuschlachten, sondern hatten überdies ein Feuer gelegt. Wenn das Feuer auf die Strohballen übergriff, würden auch sie in Flammen aufgehen. Wenn sie aber vor dem Feuer flohen, würden sie den Männern in die Hände und somit direkt in ihr Verderben laufen.

Arvid hielt den Atem an und vermeinte kurz, auf diese Weise gleichsam die Zeit und den Lauf der Welt anzuhalten. Das Feuer würde sich nicht ausbreiten, die Männer nicht noch mehr Schwestern niederstrecken. Doch weder das Klirren der Waffen noch das Geschrei der Nonnen oder das Knistern erstarb. Es kam lediglich nicht näher.

Er atmete aus, wieder ein, glaubte, in der Hitze ersticken zu müssen. Anders als er zitterte Mathilda, die junge Nonne, am ganzen Leib. Nur ihr Zähneklappern hatte sie unterdrückt – und den Drang zu fliehen. Und wenn sie ihm widerstehen konnte, konnte er das auch.

Arvid drehte ein wenig den Kopf und sah in ihr blasses Gesicht mit den weit aufgerissenen dunklen Augen. Ohne recht zu wissen, was er tat und warum, tastete er nach ihrer Hand und drückte sie. Es kam kein Klagelaut über ihre Lippen, und es regte sich auch kein Widerstand in ihr. Ihr ging es wohl wie ihm: Jeden Schmerz wollte sie ertragen, jede befremdliche, weil nicht gestattete Nähe, solange sie nur nicht allein war.

Wie jung sie ist, dachte er, wie zart und wie schön, mit ihrem herzförmigen Gesicht, der hellen Haut, den großen tiefgründigen Augen. Ob auch die Haare unter dem Schleier dunkel waren?

Nie hätte er sich das zu fragen getraut, lägen sie nicht unter Strohballen begraben, nie hätte er sich über die Schönheit einer Frau Gedanken gemacht, teilte er mit dieser nicht die Todesangst. Aber jetzt brachte der Gedanke Labsal und kam ihm nicht als bösartige Einflüsterung des Teufels vor. Jetzt bedeutete, über die Farbe ihres Haars nachzudenken, nicht länger das Knistern der Flammen und Nonnen sterben zu hören.

Sie hockten Leib an Leib. Sie hielten sich an den Händen. Sie atmeten im Gleichtakt. Irgendwann war nichts anderes mehr zu hören als ihr Keuchen. Kein Knistern, kein Geschrei, kein Waffenlärm. So plötzlich wie die Hölle sich geöffnet hatte, schlossen sich ihre Tore wieder.

Arvid wartete noch eine Weile, denn er befürchtete eine List der Angreifer, aber die Stille wurde schließlich erdrückend wie das Stroh. Er stieß einen Ballen fort und schnappte so gierig nach frischer Luft, als hätte er nicht unter Stroh gelegen, sondern in tiefem, kaltem Wasser.

Ihn schwindelte, als er sich aufrichtete. Erst jetzt wurde er gewahr, dass sie nicht nur wenige Augenblicke hier gelegen hatten, sondern Stunden. Ja, stundenlang hatte er ihre Hand umkrampft gehalten. Als er sie losließ, rieb Mathilda sie und starrte darauf, als gehörte sie nicht länger zu ihrem Körper.

Sein eigener Körper fühlte sich nicht minder fremd an. Er konnte aufstehen, spürte Blut in seinen Füßen kribbeln, konnte gehen, sich umschauen – und war doch merkwürdig weggetreten, als würde ein Teil von ihm unter dem Stroh liegen bleiben, während der andere vorsichtig zum Tor der Vorratskammer trat, nach draußen lugte, Rauchschwaden sah, aber kein loderndes Feuer, viele Tote, aber keine Lebenden. Ihr Anblick war grässlich – und zugleich eine Erleichterung, verhieß er doch, dass da niemand mehr war, der ihn mit dem Schwert niederstrecken konnte, das Feuer erneut entzünden, mit Fäusten auf ihn eindreschen.

Mathilda war ihm gefolgt und schrie nun auf, ein kläglicher Laut, der mehr an eine Katze erinnerte als einen Menschen. Während er noch starr verharrte, stürzte sie hinaus zu den Toten.

»Schwester Magistra, Schwester Portaria, Schwester Cellerarin!«

Ihre Schreie wurden lauter, die Ohren der Toten jedoch blieben taub. Es waren so viele – junge und alte, gleichmütige und verschrobene, freundliche und ernste, geschwätzige und verschwiegene. Im Leben hatten sie sich unterschieden, im Tod waren sie alle vom gleichen Blut befleckt.

»Maura«, stieß Mathilda aus, »Maura ist nicht dabei, vielleicht konnte sie fliehen.«

»Wer ist Maura?«, fragte Arvid verständnislos.

»Sie schlief im Dormitorium stets neben mir, sie ist meine … Freundin.«

Nur zögerlich sprach sie dieses Wort aus. Im Kloster, so belehrten die Oberen junge Schwestern oft, sollte man keine Freunde haben und niemanden bevorzugen. Sie alle waren Brüder und Schwester im Herrn und somit alle gleich. Über das Refektorium betraten sie den Hof und stießen auf weitere Tote.

»Ich kann Maura immer noch nicht sehen, sie muss tatsächlich …«

Arvid war auf einmal taub für ihre Worte. Eine der Ordensschwestern, die dort lag, regte sich noch. Der Schleier war ihr vom Kopf gerutscht, das Haar darunter schütter und weiß. Eben noch hatte er Mühe gehabt, sich zu bewegen, als gehörten Kopf und Glieder nicht zusammen. Nun stürzte er zu der Nonne, ging in die Knie und ergriff ihre Hand so fest, wie er zuvor Mathildas gehalten hatte. Erfreut stellte er fest, dass sie noch warm war, um dann zu erkennen, dass sie mit jedem Atemzug kälter zu werden schien.

»Mutter …«, stammelte er, »Mutter …«

Nie hätte er sie so genannt, wenn er sicher gewesen wäre, dass sie weiterleben würde. Doch im Augenblick ihres Todes gingen die Worte ihm leicht von den Lippen. Und der Tod würde kommen – das sah er an ihrer gelblichen Haut, dem schmerverzogenen Mund, den eingefallenen Wangen. Sie öffnete die Augen und richtete nun voller Liebe den Blick auf ihn.

»Du lebst«, murmelte die Äbtissin von Saint-Ambrose erleichtert. »O Arvid, du musst fliehen! Diese Männer, sie waren doch hinter dir her, nicht wahr?« Sie begann erstaunlich klar zu sprechen, aber wurde mit jedem Wort schwächer.

»Es waren keine Franken, sie sahen eher aus wie Nordmänner«, murmelte er. »Warum wollten ausgerechnet sie mich töten? Wer kann sie geschickt haben?«

»Flieh!«, wiederholte sie.

»Ich verstehe es nicht. Ich verstehe es einfach nicht.«

Er verstand so vieles nicht, was ihm in den letzten Wochen widerfahren war. Er hatte im Kloster von Jumièges gelebt, friedlich wie Mathilda in ihrem, als plötzlich Männer dort aufgetaucht und nach seinem Leben getrachtet hatten. Er war geflohen, eingeholt und verwundet worden, hatte es schließlich doch hierher geschafft, um zwar zu genesen, zugleich aber zu erfahren, dass die Äbtissin Gisla nicht nur seine Mutter war, sondern Tochter des Karolingerkönigs Karl. Und, was noch schlimmer war, dass sein leiblicher Vater ein Nordmann war, der seine Mutter einst geschändet hatte.

»Vielleicht hat Ludwig auch diese Truppe geschickt …«, brachte die Äbtissin keuchend hervor.

Ludwig war der Sohn von König Karl, Gislas Halbbruder und seit kurzem Frankenkönig. Er war also Arvids Onkel, und er sah eine Bedrohung in Arvid. Auch wenn von einem zukünftigen Mönch keine Machtgelüste zu erwarten waren – als Sohn einer fränkischen Prinzessin und eines Nordmannes könnte er Ansprüche auf die Normandie erheben, eine Grafschaft, nach der es Ludwig selbst gelüstete, war sie doch erst wenige Jahrzehnte zuvor an die Scharen aus dem Norden gefallen.

»Nun geh endlich!«

Arvid brachte es nicht über sich, ihre Hand loszulassen. »Ich kann dich nicht allein sterben lassen.«

»Ich bin zeit meines Lebens so oft allein gewesen. Und Mathilda … kümmere dich um Mathilda.«

Arvid blickte hoch. Mathilda war in der Mitte des Hofs zusammengebrochen und weinte. Auch ihm stiegen Tränen in die Augen, doch ehe sie seinen Blick verschleierten, sah er ein Schwert dort liegen, das einem der Angreifer gehört haben musste. Nie hatte er eine solche Waffe gehalten, nie hatte er gewünscht, es zu tun. Doch nun wurde er vom Zorn gepackt, hätte am liebsten das Schwert erhoben, hätte gekämpft, blutige Wunden geschlagen und zerstört. Vor allem hätte er es gern gegen den Tod erhoben, der nach seiner Mutter gierte, schwarz und kalt. Oh, er wollte ihn zerstückeln, er wollte auf ihn einschlagen, bis die Flamme seines Zornes das Schwarz verzehrte und die Kälte unter den Schlägen glühte. Ja, sein Zorn war rot und heiß. Sein Zorn war der gleiche, der in seinem heidnischen Vater gewütet haben musste. Von wem sonst hätte er ihn geerbt, gewiss nicht von der zarten Gisla, aus der das Leben schwand. Dieser Zorn war wild, heidnisch, gottlos. Und entsetzte ihn zutiefst.

»Nun flieh endlich!«

Die Äbtissin hob die Hand und schlug ein Kreuzzeichen, um ihn zu segnen. Ihre Augen schlossen sich, vielleicht vor Schwäche, vielleicht weil sie wusste, dass er ihre Hand nicht loslassen und nicht gehen konnte, solange sie ihn ansah.

So aber erhob er sich, trat zu Mathilda und half ihr hoch.

»Wir müssen fort von hier.«

Schwarze Vögel kreisten über ihnen, als sie verstört zur Pforte stolperten und sich auf den Weg machten.

Das Herbstlaub raschelte unter ihren Füßen, als Arvid Mathilda immer tiefer in den Wald trieb. Um das Kloster herum stand er licht, nach einer Weile wurde er immer dunkler. Die Blätter der Bäume waren fahl, doch das ängstigte ihn nicht. Als Hohn wäre ihm erschienen, wenn die Welt mit Farben geprahlt hätte. Dass sie stattdessen verblasst waren, war an einem Tag wie diesem nur gerecht.

Rot, tiefrot war einzig seine Erinnerung an das viele Blut. Auch Mathilda war blutbefleckt – ihre Hände als auch ihr Kleid. Erst jetzt, da sie kurz stehen blieben und sie an sich herabstarrte, bemerkte sie es, und voller Ekel begann sie, an ihrer Kutte zu zerren, um sie sich vom Leib zu reißen.

»Nicht!«, schrie Arvid. »Wir haben nur mehr das, was wir am Leib tragen. Wir dürfen es nicht auch noch verlieren.«

Sie hielt inne, aber Panik stand ihr im Gesicht geschrieben.

Mathilda zu beschwichtigen half ihm, selbst ruhig zu werden. »Denk nicht an das Blut, das an dir haftet, denk nicht an die Toten!« Er atmete tief durch und sah, dass auch sie es endlich tat. »Sie waren hinter mir her«, sagte er schließlich, »aber wir sind ihnen entkommen. Wir leben noch.«

»Die Sprache«, stammelte sie, »welche Sprache haben sie gesprochen?«

»Ich glaube … Bretonisch.«

»Aber das ist unmöglich!«, stieß sie aus.

Arvid war nicht sicher, was sie meinte – doch dass sie die Worte klar aussprechen konnte, anstatt nur wie besinnungslos zu schreien, genügte fürs Erste. Genügte, ihm zu versichern, dass sie nicht gleich zusammenbrach. Genügte, um dann einen Moment zu verharren, sich hinzuhocken und an den feuchten Blättern die Hände abzuwischen.

»Ich habe sie verstanden«, keuchte Mathilda, als sie sich wieder erhoben, und ihre Panik wich Verwirrung. »Ich habe verstanden, was sie gerufen haben. ›Findet sie!‹ Ja, das war es, was sie riefen. Warum verstehe ich die bretonische Sprache?«

»Nein, nein«, er schüttelte den Kopf, »was immer du zu verstehen glaubtest, du hast es falsch gedeutet. Falls überhaupt, haben sie gerufen: ›Findet ihn!‹ Es ging um mich.«

Sie hatte begonnen, hin- und herzulaufen, nun stellte er sich ihr in den Weg und zwang sie, ihn anzusehen.

»Ist es wahr?«, fragte sie. »Dass deine Mutter nicht irgendeine Fränkin ist, sondern die Tochter von König Karl?«

Dieses Geheimnis, erst vor kurzem enthüllt, hatte ihn in den letzten Tagen tief beschämt. Jetzt machte es ihm nichts aus, dass sie es aussprach. Jetzt war nichts schrecklicher als die Erinnerung an die toten Ordensschwestern.

»So ist es«, gab er unumwunden zu, »und der jetzige König Ludwig, dem Blut nach mein Onkel, sieht offenbar eine Bedrohung in mir. Er hat erst fränkische Krieger ausgeschickt, mich zu töten, und nun … Bretonen.«

»Seit wann dienen Bretonen König Ludwig?«

Dies war in der Tat seltsam. Aber er hatte in letzter Zeit zu oft gedroht, an der Welt verrückt zu werden, um sich nun über etwas zu wundern, was eigentlich nicht sein konnte. Alles konnte sein. Nichts schenkte letztgültige Sicherheit.

»Ich weiß es nicht«, murmelte er.

Das Blut auf Mathildas Kutte war eingetrocknet und hatte sich dunkel verfärbt. Wenn man nicht wusste, was geschehen war, hätte man meinen können, sie wäre gestürzt und mit Erde beschmutzt.

»Und nun«, fragte sie, »wie geht es weiter? Nicht weit von hier ist das Nachbarkloster der Mönche.«

Arvid lauschte, vernahm ein Knacken, dann ein Rascheln. Menschen?

Er schüttelte den Kopf. »Wer weiß, ob sie dieses nicht auch überfallen haben. Wir müssen im Wald bleiben. Hier sind wir geschützt, falls sie uns verfolgen.«

Er starrte auf die Bäume, die feindselig wirkten und einer dunklen Wand glichen, die eher einsperrte denn vor Feinden bewahrte.

»Komm!«, rief er trotzdem.

Wieder zog er sie weiter, und wider Erwarten griffen die Äste nicht nach ihnen. Der Wald war doch nicht feindselig, sondern gleichgültig, und er war ein Labyrinth, kein Gefängnis.

»Wer immer diese Krieger schickte und warum«, stammelte Mathilda, »es waren keine Christen, sondern Heiden. Sonst hätten sie niemals so brutal Nonnen getötet!«

Arvid war sich dessen nicht mehr so sicher. In den letzten Wochen hatte er nicht nur erfahren, wer er war, sondern auch, dass selbst fromme Christen töteten … Aber ob Christen oder nicht – warum waren es Bretonen?

»Vielleicht haben sich einige Bretonen mit Ludwig verbündet«, murmelte er.

»Ich weiß nichts über die Bretagne. Warum habe ich trotzdem die Sprache verstanden, die dort gesprochen wird?«

Arvid zuckte die Schultern. Ganz gleich, in welcher Sprache – es tat gut zu reden. Es tat gut, den Beweis anzutreten, dass sie nach allem noch Menschen waren, die denken konnten, Wissen weitergeben und Entscheidungen treffen.

»Die Bretagne war einst ein mächtiges Herzogtum. Doch nach dem Tod des letzten großen Herrschers ist das Land zerfallen. Die mächtigen Familien lagen so lange miteinander im Streit um sein Erbe, dass sie schließlich zu geschwächt waren, den Nordmännern, die das Land erobern wollten, etwas entgegenzusetzen. Sie gingen reihenweise ins Exil. Auch von den dortigen Klöstern heißt es, sie seien verwüstet und stünden leer, weil die Mönche ihre Reliquien eingepackt und in den Osten geflohen sind.«

Mathilda schluchzte plötzlich auf, gewiss nicht vom Schicksal der bretonischen Mönche bewegt, sondern vom eigenen, das deren glich – nur dass sie keine Zeit mehr gehabt hatten, Reliquien mitzunehmen, und es auch nicht gewiss war, in welche Himmelsrichtung sie flohen. Sie wussten nicht, wo Osten war, die Sonne stand tief um diese Jahreszeit, und der Wald war zu dicht, um ihren Stand ausmachen zu können. Sie wussten nicht, wie es weitergehen sollte.

Arvid lief dennoch unbeirrt weiter. Solange er lief, hatte er das Gefühl, Herr der Lage zu sein. Und solange er sprach, hatte er das Gefühl, den Ereignissen nicht hilflos ausgeliefert zu sein. »Auch die Nordmänner konnten sich nicht lange in der Bretagne halten, denn …«

Er verstummte, als er ein Geräusch vernahm, das sich vom Rascheln und Knacken unterschied. Da war … Hufgetrappel.

Mathilda wurde blass und öffnete den Mund, um zu schreien, doch rasch presste Arvid seine Hand auf ihre Lippen, um den Laut zu ersticken. Ihre Haut war so kalt und ihre Lippen waren so weich.

Das Hufgetrappel kam näher. Erst als der Boden unter ihren Füßen vibrierte, löste er sich aus der Starre und zerrte Mathilda ins Dickicht. Blätter klatschten ihnen ins Gesicht, dornige Ranken blieben am rauen Stoff der Kutte hängen, aber das Moos dämpfte ihre Schritte, und die dichten Sträucher schlossen sie ins Dunkel ein, als wäre es Abend. Bald sahen sie kaum mehr die eigene Hand vorm Gesicht.

Und das ließ hoffen, dass auch sie nicht gesehen wurden.

Hasculf war kalt vor Wut. Die Wut galt seinen Männern, aber auch sich selbst. Das Töten hatte sie blind gemacht, ganz und gar hatten sie sich der Gier nach fremdem Blut überlassen, danach, alles zu zerstören, was Leben verhieß. Und er hatte es verstanden. Auch er war tief befriedigt gewesen, endlich nicht länger warten zu müssen, sich nicht länger hinter dem Wall an der Küste zu verstecken, stets abzuwägen, welcher Schritt als Nächstes ratsam wäre und welcher nicht. Nein, er konnte etwas tun – und sei es nur, Zerstörung zu bringen. Und so war es geschehen, dass er sich wie seine Männer von jenem roten Dunst aus Schweiß und Blut den Verstand hatte vernebeln lassen, sich jenem Takt einer schaurigen Musik aus Ächzen, Klirren und Schreien unterworfen und sich kurz an der Wärme erfreut hatte, die, von der Erregung erzeugt, seinen Körper ganz und gar durchdrang.

Doch jetzt war das fremde Blut erkaltet, die Welt noch die alte, und sein Verstand nicht länger betäubt genug, um sich der Einsicht zu verwehren: Mit dem Töten allein war sein Ziel nicht erreicht.

»Fast alle Nonnen sind tot«, rief er, »aber wo … sie ist, wissen wir nicht. Ihr hättet sie nicht entkommen lassen dürfen!«

»Vielleicht ist sie gar nicht entkommen. Vielleicht versteckt sie sich noch im Kloster, und du hast es nur nicht gründlich genug durchsucht.«

Hasculf kniff die Lippen zusammen. Seine Männer mussten ihm die Scham über die eigene Schwäche ansehen, um ihn so zu kritisieren. Nie hätten sie es gewagt, wenn er nicht selbst an sich gezweifelt hätte. Hatte er wirklich überall im Kloster gründlich Ausschau gehalten? Oder hatte er verfrüht sein Pferd und seine Truppe in den Wald gedrängt, um dort nach ihr zu suchen?

Er überlegte, ob er den Befehl geben sollte, umzukehren, doch während er noch zögerte, fiel sein Blick auf den Boden … auf etwas, was sein Gemüt augenblicklich aufhellte.

Er sprang vom Pferd und bückte sich, verwundert darüber, dass seine Glieder nicht länger steif waren von der Anstrengung zu töten.

»Was ist das?«, fragte einer der Männer.

Hasculf lächelte. »Das sind Spuren … und sie stammen nicht von Tieren.«

»Dann ist Mathilda tatsächlich in den Wald geflohen?«

»Nicht nur Mathilda – sie scheinen zu zweit zu sein. Und so groß wie die Abdrücke der Schuhe sind, ist dieser Zweite ein Mann.«

Als er den Blick hob, erwiderten die anderen sein Lächeln. Ein einzelner Mann würde keine Chance gegen sie haben. Und ein unerfahrenes junges Mädchen würde sich nicht lange vor ihnen im Wald verstecken können.

Hasculf war nicht länger kalt.

Arvid wusste: Wer im Wald überleben wollte, durfte nicht in die weite Ferne blicken, sondern musste sich auf den nächsten Schritt konzentrieren. Er unterdrückte den Gedanken an die Hoffnung, irgendwann wieder in einem friedlichen Kloster zum Gleichmaß der Tage zurückzufinden, und beschloss, sich stattdessen kleine Ziele zu setzen.

Das erste war, die Verfolger abzuschütteln, und das bedeutete, immer weiter ins Dickicht vorzudringen. Bald waren ihre Gesichter und Hände voller Kratzer, sie waren müde, aber es war kein Pferdegetrappel mehr zu hören. Das zweite Ziel war, die Kälte bis zum nächsten Tag zu überstehen – sie froren erbärmlich.

Arvid blieb abrupt stehen, sodass Mathilda, die er an der Hand mit sich gezerrt hatte, in ihn hineinlief. Er fühlte, wie sich ihr Körper kurz an seinen Rücken presste, und auch, wie sie dann zurückzuckte.

»Wir müssen überlegen, wie wir an Essen kommen.«

Sie blickte sich zweifelnd um. »Hier?«

»Meine Ziehmutter … sie hieß Runa … sie kam aus dem Norden, sie hat gewusst, wie man im Wald überlebt.«

In den letzten Tagen hatte er oft an seine Ziehmutter gedacht, der Gisla ihr Kind als Säugling anvertraut hatte. Runa war einst Gislas enge Gefährtin gewesen, und Arvid hatte seiner leiblichen Mutter alles über ihre letzten Lebensjahre erzählt: Dass sie mit viel Geschicklichkeit und Durchhaltevermögen um ihr eigenes Überleben und das des Ziehsohnes gekämpft hatte, indem sie jagte oder bei Bauern schuftete wie ein Mann. Dass sie sich zwar immer der vielen Tücken gewiss war, die ein rauer Alltag mit sich bringt, aber trotzdem die tröstliche Zuversicht vermittelte, sämtliche Hindernisse überwinden zu können. Dass ihr – selbst als Krankheit und Auszehrung sie schwächten – das Lächeln leichtfiel, sobald ihr Blick auf ihm ruhte. Noch als sie am Fieber litt, das ihr den Tod brachte und schwächliche Gemüter verzagt gestimmt hätte, zuckte sie gleichgültig die Schultern und hielt eisern daran fest, dass ihr Leben ein glückliches gewesen war. »Ich habe meine Heimat im Norden verloren, aber hier eine neue gefunden«, hatte sie gesagt, »ich habe keine eigenen Kinder geboren, aber dich wie einen Sohn geliebt. Ich habe getötet, aber darf selbst friedlich in einem Bett sterben. Ich habe hungrige Tage durchstanden und eisig kalte, aber jetzt … jetzt ist mir warm. Untersteh dich zu weinen und freu dich, dass ich so alt werden durfte! Ich hatte ein gutes Leben – trotz allem.«

Ja, Runa war eine Meisterin des »Trotz allem« gewesen, und es verhieß Trost, sich ihr Gesicht auszumalen, ihrer Entschlossenheit nachzuspüren und sich dessen zu besinnen, was er von ihr gelernt hatte, lange bevor Taurin, sein Ziehvater und ein ehemaliger Mönch, sich um seine Erziehung gekümmert und ihn zu einem guten Christenmenschen gemacht hatte. Immer hatte Arvid gedacht, dass das Wissen, das Taurin ihm vermittelt hatte – zu lesen und zu schreiben, zu beten und Latein zu übersetzen – wertvoller war und er auf die von Runa erlernten Fähigkeiten gut verzichten konnte, doch jetzt brachten sie ihm ungleich mehr Nutzen.

Er hatte von Runa gelernt, wie man Käse machte, wie man Fleisch auf Spießen briet und wie man Ziegenmilch zu Skyr, einer Art Dickmilch, verarbeitete. Auch, wie man auf heißem Stein dünne Fladen buk, wie man Fisch räucherte und aus der Rinde von Birken einen Brotteig kneten konnte.

Hier im Wald gab es weder Milch noch Mehl noch Fische noch Ziegen, nicht einmal Birken wuchsen. Aber dank Runa wusste er, dass man auch im tiefsten Schatten der Bäume Nahrung finden konnte, gerade jetzt im Herbst: Hagebutten, Blau- und Preiselbeeren, Pilze und Nüsse, sogar Honig und Äpfel, die im Winter das Pökelfleisch ergänzten.

Von Mathilda gefolgt kämpfte er sich weiter durchs Dickicht, bis sie eine winzige Lichtung erreicht hatten, gerade groß genug, um aufrecht stehen zu können.

»Ich gehe etwas zu essen suchen – du machst Feuer«, befahl er.

Sie blickte ihn entsetzt an. »Wie soll ich das tun? Wir haben doch keinen Feuerstein!«

Er schnaubte, so wie wohl auch Runa geschnaubt hätte. Schweigend schichtete er Steine, trockenes Laub und Ästchen aufeinander und erklärte ihr, wie man wieder und wieder Holzstäbchen an einem Stein rieb, um Funken zu erzeugen. Sie hörte zu, wohl weniger aus Hoffnung auf Wärme, sondern weil sie zu müde war, Fragen zu stellen. Während sie sich vergebens mühte und der ersehnte Rauch nicht aufsteigen wollte, riss er Fäden und kleinere Stofffetzen aus seiner Kutte und suchte weitere Steine.

»Was machst du damit?«

»Eine Steinschleuder. Um Tiere zu jagen.«

Mathilda starrte Arvid verständnislos an. Wahrscheinlich hatte sie schon Wild gegessen, das die Pächter der Ländereien dem Kloster übergaben, aber sich nie gefragt, wie man dieses Wild erjagte. Er hatte keine Muße, es ihr zu erklären, zeigte ihr nur, wie man das Holzstäbchen schneller rieb, und verschwand dann rasch zwischen den Bäumen. So auf ihre Aufgabe konzentriert vergaß sie selbst, ihn anzuflehen, sie nicht allein zu lassen. Arvid hingegen wurde bei jedem Schritt unbehaglicher zumute. Er war nicht sicher, ob er je wieder zu Mathilda zurückfinden würde, und noch weniger, ob er je wieder dem Wald entkommen könnte. Aber zu überleben hieß nicht nur, in kleinen Schritten zu denken, sondern manchmal auch, den Verstand ganz und gar auszuschalten und allein auf den Instinkt zu setzen, und das tat er nun. Er verbat sich jeden Gedanken.

Es war eine ganze Weile vergangen, ehe Arvid zur Lichtung zurückkehrte. Mathilda hatte es nicht geschafft, Feuer zu machen. Verzagt und mit Blasen an den Händen hockte sie vor dem Haufen Holz und Steine.

»Gott, warum bringst du nichts zustande?«, herrschte er sie an.

Die Wut herauszulassen machte es ihm leichter, das eigene Versagen zu ertragen. Er hatte nichts Nahrhaftes gefunden, alle Hasen waren ihm entwischt, seine einzige Beute war ein winziges Eichhörnchen. Im Augenblick, da er es getroffen hatte, hatte ihn ein heißes Glücksgefühl durchströmt. Auch er konnte ein Jäger sein – nicht nur ein Gejagter fremder Verfolger. Auch er konnte töten – und war nicht nur ein Opfer fremder Widersacher. Doch der Triumph war rasch erkaltet: Ein Tier zu erlegen hieß noch lange nicht, dass man vor der Gefahr in Sicherheit war. Es hieß noch nicht einmal, dass man satt wurde. An dem kleinen Eichhörnchen war kaum Fleisch, und sie hatten nicht einmal ein Messer, um das Fell über diesem Fleisch abzuziehen. Mathilda erschrak ob Arvids grober Worte. Er setzte sich neben sie und versuchte seinerseits, Feuer zu machen. Auch ihm gelang es nicht, das Holz war zu klamm.

»Ohne Feuer können wir das hier nicht essen.« Sie deutete mit angewidertem Gesicht auf das Eichhörnchen und schien fast erleichtert, obwohl auch ihr Magen knurrte.

»Lieber Himmel, bist du verweichlicht!«, schimpfte er. »Fleisch kann man auch roh essen!« Es ekelte ihn selbst davor, aber das gestand er ihr nicht ein.

Tränen traten Mathilda in die Augen, aber sie liefen nicht über ihre Wangen. Sie zitterte auch nicht mehr, saß vielmehr so steif, als wäre sie schon erfroren. Wenn er sie nicht wärmte, wäre sie morgen tot.

Arvid unterdrückte Wut und Scheu, warf das Eichhörnchen auf den Boden und zog sie nah an sich heran. Nach einer Weile begann sie zu sprechen.

»Es stimmt also, dass dein Vater ein Nordmann war?«

In jeder anderen Lage hätte er es geleugnet. Doch gemessen an der Ohnmacht, weder Hunger noch Kälte Herr zu werden, war das Grauen, das ihn nach Gislas Enthüllungen befallen hatte, lächerlich gering.

»Er hieß Thure«, sagte er. »Er hat meine Mutter geschändet. Kurz nachdem sie mich geboren hat, hat sie sich ins Kloster zurückgezogen, aber dort nie wieder ein Wort über ihre Vergangenheit verloren.«

Gisla hatte lange gezögert, ihm Thures Namen anzuvertrauen, hatte auch nur angedeutet, wie bösartig jener Thure gewesen war, wie wahnsinnig. Im Kloster war es ihm unerträglich gewesen, darüber nachzudenken, hier nicht. Bösartigkeit und Wahnsinn erschienen ihm hier nicht als die größten Gefahren für die unsterbliche Seele und den wachen Verstand. Das war vielmehr die alles umfassende Angst zu sterben – und jene konnten bösartige, wahnsinnige Menschen wohl leichter abschütteln.