Der Pakt der Frauen - Julia Kröhn - E-Book

Der Pakt der Frauen E-Book

Julia Kröhn

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Beschreibung

Zwei Frauen, zwei Leben – und eine Geschichte, die Mut macht

Wien 1976. Die junge Dozentin Katharina Adler sorgt bei den männlichen Kollegen regelmäßig für Schnappatmung. Selbstbewusst trägt sie knalligen Lippenstift und verbotenerweise im Hörsaal Hosen. Außerdem hat sie sich kein geringeres Ziel gesetzt, als die Geschichtswissenschaft zu revolutionieren. Dafür widmet sie sich Büchern, die von Frauen geschrieben wurden, speziell Kochbüchern. Als ihr dabei eine Rezeptsammlung aus der Feder ihrer Mutter Jule unterkommt, erkennt Katharina, dass sie erst die Geheimnisse ihrer eigenen Familie aufdecken muss, bevor sie die Welt verändern kann. Gemeinsam reisen sie und Jule nach Schlesien, an Katharinas Geburtsort. Dort lernt sie, dass es nichts Stärkeres gibt als Frauen, die zusammenhalten.

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Seitenzahl: 467

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DASBUCH

Wien 1976. Katharina Adler ist die einzige weibliche Dozentin am geschichtswissenschaftlichen Institut der Universität Wien. Sie will zeigen, dass Frauen schon immer ein wichtiger Teil unserer Geschichte waren, und widmet sich daher einem ungewöhnlichen Forschungsobjekt: Kochbüchern. Als ihr überraschend eines in die Hände fällt, das ihre Mutter geschrieben hat, erkennt Katharina, dass sie zuallererst ihrer eigenen Familiengeschichte auf den Grund gehen muss.

Hirschberg, Niederschlesien, 1943. Die frisch verheiratete Jule Adler zieht mit ihrem Mann Carl in das verschlafene Städtchen. Doch das Idyll trügt: In der Nähe liegt ein Lager, in dem Zwangsarbeiterinnen gefangen gehalten werden, die von den Nazis aus Osteuropa verschleppt wurden. Als Jule davon erfährt, versucht sie den Frauen im Lager zu helfen. Langsam, aber sicher werden aus Fremden Freundinnen, und aus Verzweiflung wird Hoffnung. Doch dafür wird in Kriegszeiten ein hoher Preis gezahlt.

DIEAUTORIN

Als studierte Historikerin liebt Julia Kröhn es, große Geschichten zu erzählen und dabei tief in die Vergangenheit von Orten und Menschen einzutauchen. Dabei lässt sie sich von ihrer Faszination für berührende Geschichten und beeindruckende Persönlichkeiten leiten. »Der Pakt der Frauen« ist dabei etwas ganz Besonderes: Hier verarbeitet sie Teile ihrer eigenen Familienbiografie. Bei Heyne sind bisher außerdem die Romane »Die Farbe des Nordwinds« und »Das Lied des Waldes« unter dem Pseudonym Klara Jahn erschienen. Die gebürtige Österreicherin und Mutter einer Tochter lebt seit 2001 in Frankfurt am Main.

JULIA KRÖHN

Der Pakt der Frauen

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 03/2024

Copyright © 2024 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Redaktion: Tamara Rapp

Umschlaggestaltung: FAVORITBÜRO, München,

unter Verwendung von © GettyImages (Westend61),

Shutterstock.com (AnnAnastasia)

Herstellung: Mariam En Nazer

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-30374-7V001

www.heyne.de

PROLOG

Sie räumte die Blechnäpfe ab, die so blank waren, als hätte man sie mit einem Scheuertuch gewienert. Die Frauen hatten sie nach dem Essen gierig abgeleckt, um keine Krume, keinen Tropfen zu verschwenden. Sie wusste trotzdem noch, welche Gerichte sich auf jedem einzelnen Blechnapf befunden hatten. Pierogi waren es in dem einen gewesen – dünne Teigtaschen mit einer schmackhaften Füllung aus Kartoffeln und Quark. Kürtöskalács in dem anderen – Baumstriezel aus Hefeteig, der, auf ein Stück Holz gerollt, über dem offenen Feuer gebacken und mit Zimt und Nüssen bestreut wurde. Ein weiteres Gericht waren Pelmeni gewesen – mit Hackfleisch, Zwiebeln, Sahne und Pfeffer gefüllte Küchlein. Nur die Butter, um sie darin zu schwenken, hatte gefehlt.

Obwohl sie so sauber schienen, waschen wollte sie die Näpfe trotzdem. Es gab in der Baracke kein ordentliches Waschbecken, lediglich einen unförmigen Trog, der einer Viehtränke glich und in dem aus einem Schlauch ein bräunliches Rinnsal floss. Sie schüttelte ihn in der Hoffnung, dass doch noch ein Schwall folgen würde, und bei der heftigen Bewegung entglitt ihr einer der Blechnäpfe.

Ein lautes Scheppern ertönte, als er auf dem Steinboden landete. Fast genauso laut klang ihr eigenes nervöses Auflachen. Sie biss sich sofort auf die Lippen und schalt sich, solchen Lärm gemacht zu haben. Doch ein prüfender Blick zum Kinderwagen verriet, dass ihre kleine Tochter unter dem Faltdach immer noch tief und fest schlief.

Was für ein Glück, dass sie keine Porzellanteller hatten – die hätten den Fall niemals heil überstanden. Gerade als sie den Napf aufheben wollte, zerriss ein ohrenbetäubendes Geräusch die Stille. Sie hatte das Gefühl, dass etwas in ihrem Inneren zerplatzte, und diesmal zuckte sie nicht bloß zusammen, sondern krümmte sich, als hätte sie einen Schlag in die Magengrube erhalten. Wieder ließ sie den Blechnapf los, wollte die Hände unwillkürlich auf die Ohren pressen, hielt mitten in der Bewegung inne.

War das ein Schuss gewesen? Oder war doch nur eine Tür zugefallen?

Obwohl immer noch kein Mucks aus dem Kinderwagen kam, hastete sie darauf zu und beugte sich darüber. Die Tochter atmete tief und regelmäßig, doch als sie die Hand heben, ihr zärtlich über die Wange streicheln wollte, tief den milchigen Geruch einatmen, etwas süßlich, etwas ranzig, tröstlich und wärmend, ertönte noch ein Schuss. Nein, eine ganze Salve.

Die Kleine riss Augen und Mund auf und gab ein Gebrüll von sich, das im Lärm der Schüsse unterging. Kurz darauf verstummte dieser, und aus dem Gebrüll wurde ein nadelspitzer Ton, der auch dann nicht abriss, als die Kleine den Mund zumachte. Er schien zwischen ihren Ohren gefangen zu sein wie eine blindwütige Fliege.

Sie stürzte zur Luke, die kaum breiter als ihre Hand war, starrte hinaus. Beim Anblick der Eiszapfen, die vor dem Fenster hingen, dick wie Gitterstäbe, erschauderte sie unwillkürlich. Nie in ihrem Leben hatte sie so gefroren wie in diesem bitterkalten Februar 1945. Kniehoch ragten draußen die Schneewehen auf, ein weißes Meer, in dem sie vorhin fast versunken war. Als der Mond nun hinter einer Wolke hervorgekrochen kam, konnte sie kurz die Spuren ihrer Stiefel sehen. Sie glichen dunklen Löchern, während die Schwarzpappeln und Ulmen, die das Grundstück begrenzten, vom Mondlicht versilbert wurden. Die Bäume standen nicht sehr dicht nebeneinander. Bei Tageslicht konnte man in der Ferne das Riesengebirge erahnen, das mit seinen grünen Armen weit ins schlesische Tiefland hineingriff. Und ganz in der Nähe erhoben sich die Türme von Hirschberg. Jetzt verlor sich alles in Schwärze. Eine Wolke schob sich gerade wieder vor den Mond, und eine andere Lichtquelle gab es nicht. Die Straßenlampen waren längst nicht mehr in Betrieb, die Fenster der nahen Häuser mit schwarzen Papierrollos abgedunkelt, wie es Vorschrift war. Und so spät am Abend waren auch keine Autos und Militärwagen mehr unterwegs, die sich tagsüber auf den Straßen stauten, gemeinsam mit unzähligen Pferdewagen, weil jeden Tag neue Flüchtlinge aus dem Osten eintrafen.

Unwillkürlich hielt sie den Atem an, sah nichts, hörte nur Katharinas Wimmern. Sie sollte sie auf den Arm nehmen, sie an sich pressen, ihr beruhigende Worte zuraunen.

Aber als sie sich von der Luke abwenden wollte, fiel plötzlich der Schein einer Taschenlampe auf die Schneewehen. Sie waren blutrot.

1. KAPITEL

1976

Sie war die einzige Frau hier. Irritiert starrte ein Meer von Männern in ihre Richtung, während sie erhaben über sie hinwegblickte. Oder gleichgültig – so genau ließ sich das nicht sagen, schließlich handelte es sich bei der Frau um eine Marmorstatue ohne differenziertes Mienenspiel. Während die männlichen Statuen im Arkadenhof der Universität Wien große Wissenschaftler darstellten, war sie Kastalia, jene Nymphe, die diese zu Dichtung und Weisheit inspirierte.

»Wünsch mir Glück«, flüsterte Katharina ihr zu.

Jedes Mal, wenn sie Kastalia so stoisch im Kreis der Männer stehen sah, tankte sie in ihrem Schatten Mut und Selbstbewusstsein. Und fast immer war ihr zum Scherzen zumute.

»Sei übrigens froh, dass du deinen Kopf behalten hast.«

Die Wiener Universität hatte im Krieg manchen Bombentreffer abbekommen, und anders als bei der Hofburg und der Staatsoper waren die Spuren immer noch gut zu erkennen. Kastalia hatte die Zeit heil überstanden – im Gegensatz zu Kaiser Franz Joseph, der in Form einer übermenschlich großen Steinfigur die Juristenstiege bewachte. Sein Kopf war abgebrochen, und obwohl man ihn mittlerweile wieder draufgesetzt hatte, ließ die gequälte Miene an heftige Genickschmerzen denken. Oder an die erdrückende Last, das riesige Habsburgerreich regieren zu müssen.

Kastalia wirkte dagegen etwas streng, als wollte sie fragen: Was stehst du hier rum, willst du etwa zu spät kommen?

Katharina musste lächeln, legte dann aber einen Zahn zu und nahm die knapp dreihundert Meter, die das Neue Institutsgebäude vom Hauptgebäude der Universität trennten, im Laufschritt. Bevor sie es betrat, verharrte sie kurz auch hier, um sich in einem der Fenster zu mustern. Sie musste sich nicht vergewissern, ob ihre Frisur saß, denn das nussbraune Haar war seit Kurzem nur mehr streichholzlang und konnte nicht mal vom Januarwind durcheinandergebracht werden. Und dass ihre Kleidung perfekt aufeinander abgestimmt war – zu orangefarbenen Lackstiefeln trug sie eine dunkelviolette Röhrenhose und einen Pullunder mit geometrischem Muster, das beide Farbtöne aufgriff –, hatte sie schon zu Hause überprüft. Nun zückte sie den knallroten Lippenstift, um sich die Lippen nachzuziehen. Sie war noch nicht fertig, als sie eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahrnahm.

Sanne Laser, eine junge Studentin im ersten Studienjahr. Sehr bemüht, sehr intelligent, sehr schüchtern. Hastig senkte sie den Kopf, als hätte sie Katharina bei einer zutiefst skandalösen Handlung ertappt. Nun gut, vielleicht waren rot geschminkte Lippen in ihren Augen genau das.

Sanne ihrerseits schien ein wenig aus der Zeit gefallen. Mit ihrer weißen Bluse und dem schwarzen Faltenrock wirkte sie, als hätte es die Achtundsechziger nie gegeben. Und wenn ein Professor den Hörsaal betrat, war sie die Einzige, die sich tatsächlich erhob, wie früher in der Mittelschule.

»Kriegsbemalung«, sagte Katharina und tat so, als würde sie die Verlegenheit der jungen Frau nicht bemerken. »Wussten Sie, dass sich früher vor allem Männer geschminkt haben? Die alten Ägypter zum Beispiel stellten Farbe aus Blüten, Baumrinden und Harzen her und dachten, dass sie so das Wohlgefallen der Götter erregen könnten. Oder die Wikinger, die ihre Augen schwarz mit Kohl umrandeten, einem Farbstoff aus gebrannten Mandeln und Blei, bevor sie in die Schlacht zogen.«

Sanne hob den Blick nicht, aber Katharina glaubte zu bemerken, wie ihre Mundwinkel zuckten. Als sie sich vom Fenster abwandte und das Neue Institutsgebäude betrat, folgte Sanne ihr hastig.

»Das wusste ich gar nicht.«

»Dass Geschichte so bunt sein kann? Tja, oft hört man das Vorurteil, dass wir Historikerinnen bloß in einer Mottenkiste Staub aufwühlen. Aber mir ist Geschichte nie grau erschienen, eher farbenfroh und abwechslungsreich wie ein Gemälde von Hieronymus Bosch. Wer sich damit befasst, sollte in meinen Augen nicht herumlaufen, als wäre er zu einem Begräbnis unterwegs.« Verspätet blieb ihr Blick an Sannes dunklem Faltenrock hängen. Sie biss sich auf die Lippen. »Das war ein bisschen überspitzt ausgedrückt. Entschuldigung.«

»Stimmt es, dass Sie heute …«, setzte Sanne an.

»Haben Sie diesen Bildwerfer bestellt?«, bellte in diesem Moment eine unwirsche Stimme. Zu dem üblichen knarzenden Ton des Paternosters, der in alle sieben Stockwerke führte, gesellte sich das Quietschen von Rädern.

Katharina fuhr herum und sah Josef Schrattenegger auf sie zukommen. Fast niemand nannte den Hausmeister beim Namen, die Leute sprachen von ihm als Hausdrachen, war er doch bekannt dafür, den Studenten die Hölle heißzumachen, wenn sie einen Kaugummi auszuspucken wagten oder – noch schlimmer – eine Zigarette unter den Schuhsohlen zertraten.

Katharina hatte nichts von beidem verbrochen, dennoch starrte Schrattenegger erst sie vorwurfsvoll an, dann das Corpus Delicti, das in diesem Fall viel größer war als ein Kaugummi oder eine Zigarette. Das, was er Bildwerfer nannte, war ein Overheadprojektor – Schrattenegger verwaltete die Geräte für Forschung und Lehre.

»Ja.« Trotz seiner finsteren Miene lächelte Katharina ihn freundlich an. »Er wird für die Vorlesung von Professor Holacek benötigt. Können Sie ihn bitte in den Hörsaal III im Keller schieben?«

Der pyknische Mann stemmte die Hände in die Hüften und atmete rasselnd ein. Sie war nicht sicher, ob er seine Erschöpfung bekunden wollte oder Luft für einen Wutanfall holte. Auch sein rotes Gesicht ließ beide Interpretationen zu. »Ein Overheadprojektor für eine Vorlesung, seit wann ist das denn notwendig? Die anderen Professoren brauchen so ein Brimborium doch auch nie. Sie sind die neue Sekretärin von Professor Holacek, oder? Sagen Sie ihm, dass die Lampe unter der Kondensorlinse sehr empfindlich ist, gut möglich, dass die nicht mehr lange funktioniert.«

Katharinas Lächeln schwand. »Herr Schrattenegger …«

»Wissen Sie denn nicht, dass Sie es mit Fräulein Dr. Katharina Adler zu tun haben?«, rief Sanne empört. Das vorhin noch so schüchterne Mädchen plusterte sich vor dem mürrischen Hausmeister auf und stemmte nun ebenfalls mit glühend rotem Gesicht die Hände in die Hüften.

Aus dem Konzept gebracht, zuckte Schrattenegger etwas hilflos die Schultern. »Und wenn man die Fokussierung oder den Umlenkspiegel verstellen will …«

»Fräulein Dr. Adler arbeitet schon seit Langem auf der Universität«, fiel Sanne nun ihm ins Wort. »Und das nicht als Sekretärin, sondern als Universitätsassistentin. Sie ist Expertin für Sozial-, Alltags- und Frauengeschichte, einer ganz neuen Disziplin in der Geschichtsforschung. Promoviert hat sie bereits mit fünfundzwanzig – natürlich mit Auszeichnung –, und nun schreibt sie an ihrer Habilitation. Vermutlich wird sie die jüngste Wissenschaftlerin Österreichs sein, die jemals eine solche Arbeit abgeschlossen hat. Letztes Jahr hat sie ein mehrmonatiges Stipendium in den USA bekommen, um von dort wichtige wissenschaftliche Impulse mit nach Österreich zu bringen.«

Der Stiernacken von Herrn Schrattenegger hatte sich einen Ton dunkler gefärbt, sein Gesicht war dagegen etwas blasser geworden. »Ein Verlängerungskabel brauchen Sie aber nicht?«, grummelte er. »Zwei Meter reichen?«

Sanne war noch nicht fertig. »Heute wird sie Professor Holacek vertreten, was bedeutet, dass sie zum ersten Mal hinter dem Katheder stehen wird, ein Anblick, an den wir uns schon bald gewöhnt haben werden.«

»Nach der Lehrveranstaltung lassen Sie das Gerät stehen, den Aufzug zum Lager darf nur ich benutzen«, murmelte Schrattenegger. Auch nachdem er verstummt war, bewegte sich sein Mund noch eine Weile, als wäre ausnahmsweise er derjenige, der einen Kaugummi kaute. Der Blick, den er über Katharina schweifen ließ, bewies, dass Sannes Ausführungen seine Achtung nicht gerade hatten wachsen lassen, im Gegenteil. Vielmehr betrachtete er sie ebenfalls wie ein Gerät, und zwar eines, auf das man gut und gern verzichten konnte und dessen Funktionstüchtigkeit unberechenbar war.

Wieder holte Sanne tief Luft.

»Ich glaube, er weiß jetzt, wer ich bin«, sagte Katharina leise.

Während Schrattenegger das Weite suchte und den Overheadprojektor einfach stehen ließ, wandte sich Sanne etwas beschämt an sie. »Ich habe doch nichts Falsches gesagt, oder?«

»Nein, nein. Nur sollten wir uns jetzt beeilen. Helfen Sie mir, den Projektor in den Hörsaal zu schieben?«

Katharina trat an das Katheder. Sie fühlte sich wie ein angehender Dirigent, der zu seiner ersten Wagneroper den Takt vorgibt.

Sosehr sie es gleich genießen würde, mit ihrem Vortrag zu beginnen, kostete sie doch die Augenblicke gespannter Stille aus, um sich zu sammeln. Das selbstbewusste »Meine sehr geehrten Damen und Herren« war mehr als nur eine Begrüßung, es war eine Ansage.

Bereits zu ihren Studienzeiten hatten ebenso viele junge Frauen wie Männer geisteswissenschaftliche Studiengänge belegt, doch das hielt viele Professoren nicht davon ab, weiterhin nur den Herren einen guten Morgen zu wünschen.

»Willkommen zu ›Geschichte, Quellenkunde und Methodologie‹. Ich weiß, dass Professor Holacek für seine heutige Vorlesung angekündigt hat, über die Kategorisierung von Primär- und Sekundärquellen zu referieren. In enger Absprache mit ihm habe ich mich für eine praktische Übung entschieden. Mithilfe konkreter Beispiele will ich demonstrieren, unter welchen Gesichtspunkten sich historische Quellen auswerten lassen.«

Schon dass sie vorhin den Hörsaal mit dem Projektor betreten hatte, hatte ihr manch verwunderten Blick eingebracht. Jetzt entging ihr nicht, dass etliche von den etwa fünfzig Studenten die Augen verdrehten, weil sie sich nicht ans Skript hielt.

Katharina wandte sich ungerührt dem Projektor zu und erweckte das Gerät mit einem hörbaren Surren zum Leben.

»Die Quellen, die ich Ihnen heute präsentieren möchte, stammen aus einem Ordner, den ich im Archiv der Universität Wien entdeckt habe. Die Schlagworte, mit denen dieser beschriftet wurde, verrate ich Ihnen natürlich nicht. Wir wollen schließlich gemeinsam erarbeiten, auf welchen Sachverhalt sie sich beziehen.«

Die erste Folie wurde auf die Wand über der grünen Tafel projiziert. Sie musste das Gerät etwas justieren, damit das obligatorische Kruzifix und das Porträt von Bundespräsident Rudolf Kirchschläger beim Lesen des maschinengeschriebenen Textes nicht störten. Auf das leise Murren folgten erstaunte Laute. Wenn sich die Studenten mit historischen Quellen befasst hatten, dann immer mit mittelalterlichen Urkunden oder altrömischen Grabinschriften.

»Dieser Text ist weder mit einem Datum noch einem Autorennamen versehen«, erklärte sie, »dennoch lässt eine gründliche Analyse diverse Rückschlüsse zu. Lassen Sie uns ihn zunächst gemeinsam lesen. Wer will ihn vortragen?«

Natürlich meldete sich Sanne als Erste.

»Übermäßige Gehirntätigkeit macht das Weib nicht nur verkehrt, sondern auch krank. (…) Ließe es sich machen, dass sich der weibliche Intellekt dem männlichen gleich entwickeln würde, so würden die Mutterorgane verkümmern, und wir würden einen hässlichen, nutzlosen Zwitter vor uns haben. Man soll vom Weibe nichts verlangen, als dass es ›gesund und dumm‹ sei. Das ist zwar grob ausgedrückt, aber es liegt in dem Paradoxon eine Wahrheit.«

Noch bevor Sanne die erste Zeile zu Ende gelesen hatte, war ein Kichern in der dritten Reihe zu hören gewesen. Am Ende war daraus ein unverhohlenes Lachen geworden. Katharina kannte den Studenten: Leopold Pichelsteiner.

Sie ignorierte ihn geflissentlich und musterte die Reihen ausdruckslos. »Was könnte uns Rückschlüsse auf die Datierung dieses Textes geben? Auf die Hintergründe seines Entstehens?«

Das Gelächter erstarb, auch sonst wurde es totenstill. Dass Lehrende während einer Frontalvorlesung Fragen stellten, war regelrecht ungeheuerlich.

Sanne meldete sich wieder, und zu Katharinas Erstaunen hob auch Leopold Pichelsteiner die Hand. Dass der überhaupt hier war! Normalerweise sah man ihn hinter Professor Pokorny herscharwenzeln, seines Zeichens Professor für Osteuropäische Geschichte mit Schwerpunkt Babenberger und Habsburger, der sich gerne in die Pose eines Kaisers oder Fürsterzbischofs warf, während Leopold wahlweise die Rolle des Hofschranzen oder Kreuzträgers zukam. Leopold hatte etwas zu große Zähne für seinen recht kleinen Mund und etwas zu viel Ehrgeiz für seine intellektuellen Möglichkeiten. In zwei Studien – Technik und Jura – war er krachend gescheitert, und in seinem Geschichtsstudium machte er fehlendes Faktenwissen gerne mit übertriebener Lobhudelei der Professoren wett.

Als Katharina in seine Richtung nickte, erklärte er mit nörgelndem Unterton: »Warum beschäftigen wir uns denn mit so einer merkwürdigen Quelle? Im Proseminar von Professor Pokorny haben wir uns mit der Monumenta Germaniae Historica und dem Babenberger Urkundenbuch befasst, um uns in Siegelkunde, Paläografie und Chronologie zu perfektionieren.«

Es mussten mindestens zwei weitere Hofschranzen anwesend sein, die Pokorny diese Aussage zutragen würden. Katharina machte sich nicht die Mühe, die entsprechenden Studenten ausfindig zu machen, stattdessen erklärte sie ruhig: »Alles, wirklich alles, ob ein Text, ein Bild oder ein Gebrauchsgegenstand, kann Auskunft über die Vergangenheit geben, nicht nur etwas, was in Minuskeln auf Pergament geschrieben und in einer beleuchteten Vitrine ausgestellt steht. Fräulein Laser?«

Sanne erhob sich wieder. »Dieser Text könnte im Zuge der Debatte verfasst worden sein, ob Österreich dem Beispiel Preußens folgt und Frauen zum Hochschulstudium zulässt – was erstmals 1897 passiert ist. Damals wurden Frauen aber nur zum Studium am Philosophischen Institut zugelassen. Es dauerte weitaus länger, bis sie auch Naturwissenschaften studieren durften, ebenfalls nach einer längeren Debatte. Der Text könnte also vor 1897 oder rund um das Jahr 1918 verfasst worden sein.«

Katharina nickte. »Ein durchaus einleuchtendes Argument. Allerdings: Jede Quelle ist wie ein Mosaikstein. Wenn wir vom Wiener Wald nur einen Baum sehen, können wir nicht bestimmen, ob der nicht vielleicht auch in der Steiermark wächst. Erst wenn wir einen größeren Ausschnitt des Gesamtbilds präsentiert bekommen, können wir Aussagen über die Umgebung treffen. Wir schauen uns also weitere Dokumente an, die ich in besagtem Ordner gefunden habe.«

Ehe sie die nächste Folie auf den Projektor legen konnte, gesellte sich zum üblichen Surren des Geräts ein unangenehmes Klackern, als würde sich ein Pulsschlag beschleunigen. Irrte sie sich, oder war das Licht, in dem der Staub tanzte, vorhin noch etwas heller gewesen?

Sie beschloss, die Geräusche zu ignorieren, und konzentrierte sich auf die Quellen: das eigenhändig ausgefüllte Inskriptionsblatt einer gewissen Elise Richter vom Sommersemester 1898, deren Ansuchen um einen Termin für ihr Rigorosum vom 30. April 1901, schließlich die Erlaubnis zur Lehre im Bereich Romanische Philologie, die ihr 1907 nach der erfolgreichen Habilitation verliehen wurde.

»Was verraten uns diese Dokumente?«

Leopold rutschte unruhig hin und her und platzte plötzlich und ohne sich vorher zu melden heraus: »Soll ich jetzt auch mein Volksschulzeugnis mitbringen? Oder eine Kindergartenzeichnung?«

Wieder ertönte Gekicher. Mit ungehaltenem Blick in seine Richtung erklärte Sanne: »Es scheint sich zu bestätigen, dass die Dokumente in Verbindung mit der Debatte rund ums Jahr 1918 stehen. Die Befürworter der Zulassung von Frauen zu naturwissenschaftlichen Studien haben das Argument von ihrer intellektueller Minderbegabung nicht gelten lassen, sondern auf erfolgreiche Absolventinnen wie Elise Richter verwiesen.«

Katharina nickte wieder. »Sehr gut, vielen Dank. Lassen Sie uns noch eine weitere Quelle betrachten, um eine dezidierte Einordnung vornehmen zu können.«

Diesmal las sie den Text, der auf die Wand projiziert wurde, selbst vor: »Die hormonellen Wellenbewegungen, die durch die Menstruation hervorgerufen werden, tangieren die weibliche Psyche dermaßen, dass man von einer Verminderung ihrer Verstandeskräfte ausgehen muss. Fragt man überdies die vergleichende Anatomie um Rat, so kommt diese eindeutig zum Schluss, dass das Gehirn, der Sitz des Verstandes, bei Frauen weniger ausgebildet ist als bei den Männern.«

Schon die ersten Worte waren in allgemeinem Raunen untergegangen. Noch nie hatte jemand in diesen Gemäuern das Wort »Menstruation« in den Mund genommen.

Sogar Sanne schien es kurz die Sprache verschlagen zu haben, nur Leopold rief spöttelnd: »Das dürfte ein Zeitgenosse verfasst haben, der sich recht gut mit Frauen auskennt.«

Sanne warf ihm einen giftigen Blick zu, Katharina blieb gelassen. »Dass er auf die Anatomie verweist, lässt Rückschlüsse auf seinen Hintergrund zu. Dieser Text stammt offensichtlich aus der Feder eines Arztes. Gut möglich, dass er Professor am Medizinischen Institut war. Was bedeuten könnte, dass damals nicht nur allgemein der Zugang von Frauen zu naturwissenschaftlichen Fächern, sondern zum Medizinstudium diskutiert wurde. Schauen wir, ob die nächste Quelle diese Vermutung bestätigt.«

Nun wanderte ein Prüfungsprotokoll auf den Overheadprojektor. Täuschte sie sich, oder flackerte das Licht mittlerweile? Unauffällig kontrollierte Katharina das Stromkabel, aber es schien fest verankert.

»Hier haben wir das Zeugnis einer gewissen Gabriele Possanner nach dem Ablegen ihrer mündlichen Prüfungen. Sie hat in der Schweiz Medizin studiert, wie der Verweis am Ende des Zeugnisses zeigt. Dort war es für Frauen schon länger möglich, Medizin zu studieren. Im Fach Chirurgie hat sie eine Fünf bekommen, in Geburtshilfe mit Einschluss der Frauenkrankheiten ebenfalls eine Fünf, in Hygiene eine Fünf und in Gerichtlicher Medizin eine Fünf.«

Pichelsteiner klopfte auf das Pult, wie es Studenten normalerweise nach der Vorlesung als Zeichen des Respekts machten. »Na also, quod erat demonstrandum! Frauen sind für ein Medizinstudium nicht geeignet. Wie denn auch, man nennt sie ja nicht grundlos das schwächere Geschlecht.« Wieder ertönte das Trommeln, während Sanne ihre Hände zu Fäusten ballte.

»Ich freue mich, dass Sie sich langsam für Quellen jenseits der Babenberger Urkunden erwärmen«, warf Katharina ein. »Aber ob das hier wirklich die Rückschlüsse zulässt, die Sie ziehen, bezweifle ich. Fällt noch jemandem etwas dazu ein?«

Sie sah förmlich, wie es in Sannes Kopf ratterte und wie verzweifelt sie sich wünschte, etwas beizutragen, doch vor ihr meldete sich eine Studentin in der letzten Reihe. »Wie Sie schon sagten, das Zeugnis wurde in der Schweiz ausgestellt, was bedeutet, dass es sich hierbei um ein eidgenössisches Diplom handelt. Und das Notensystem ist dort diametral zu unserem. Die Note Fünf ist in Wahrheit ein Sehr gut.«

»Und das bedeutet …«

»Das bedeutet, dass Gabriele Possanner ihre Prüfung mit Auszeichnung abgelegt hat, nämlich ausschließlich mit Bestnoten«, rief Sanne.

»Das bedeutet, dass wir heute anstelle einer normalen Vorlesung nur Emanzengeschwafel geboten bekommen«, grummelte Pichelsteiner.

»Ich bitte doch sehr, ernsthafte Forschungen nicht als Geschwafel zu diskreditieren«, mahnte Katharina kühl. »In unserem Kreis befindet sich schließlich kein Fachfremder. Der Historiker weiß, dass das Quellenstudium nicht nur Fundament unserer Disziplin, sondern eine exakte Wissenschaft ist. Es geht darum, diese Quelle einzuordnen, nicht etwas in sie hineinzuinterpretieren. In der Tat handelt es sich bei dem einen Text um das Gutachten eines medizinischen Professors für den Akademischen Senat. Bei der Frage, ob Frauen Medizin studieren dürfen, bedient er sich wie viele seiner Zeitgenossen des Arguments der ›zerebralen Unterkapazität‹, aber …«

Sanne blieb ausnahmsweise sitzen, als sie ihr ins Wort fiel: »Aber der Akademische Senat machte nicht nur dieses Gutachten zur Grundlage seiner Entscheidung. Die Fürsprecher des Frauenstudiums verwiesen zum einen auf die erste österreichische Studentin, die derart hochbegabt war, dass sie nicht nur überdurchschnittlich schnell die Doktorwürde, sondern sogar eine Lehrerlaubnis erlangte. Und zum anderen auf eine der ersten Medizinerinnen des deutschsprachigen Raums, die auf dem Feld der Naturwissenschaften Großes zu leisten imstande war.«

Katharina nickte. »Eine sehr gute Zusammenfassung. Dem ist nichts weiter hinzuzufügen. Damals war es ungewohnt, Frauen im Hörsaal anzutreffen, aber aus guten Gründen hat sich ihre Präsenz durchgesetzt. Sehen wir uns die nächste Quelle an.«

Sie war noch dabei, eine weitere Folie aus ihrer Mappe zu ziehen, als das Summen und Klackern des Geräts plötzlich verstummten. Stattdessen war eine Art verzweifeltes Quieken zu hören. Nicht nur begann der Umlenkspiegel, der das Bild auf die Wand projizierte, mit einem Mal zu sinken, auch die Lampe zuckte wie eine Kerze im Zugwind – und dann war es schlagartig finster. Das Kruzifix und Bundespräsident Kirchschläger hatten die Wand wieder für sich allein. Den Umlenkspiegel wieder zu fixieren war für Katharina ein Leichtes, aber das Gerät blieb auch tot, nachdem sie die Stromverbindung überprüft und es mehrfach ein- und ausgeschaltet hatte.

»Frauen und Technik halt.«

Sie musste nicht aufschauen, um zu wissen, dass Leopold Pichelsteiner grinste.

Sie grinste ebenfalls. »Und dabei wollte ich Ihnen gerade ein handschriftliches Dokument von Käthe Böhm präsentieren. Sie war die erste Studentin, die an der Technischen Hochschule Wien das Studium Elektrotechnik abgeschlossen hat und zu einer der größten Expertinnen in Sachen Elektrifizierung wurde. In den USA hat sie dieses Thema erforscht, später die neuesten Elektrogeräte nach Wien gebracht – die Waschmaschine, den Kühlschrank, den Staubsauger, den Mixer und ja, auch den Vorläufer des Overheadprojektors. Ich gestehe, mir fehlt die entsprechende Kompetenz hierfür, deswegen muss ich mich wohl mit der Tafel begnügen. Herr Pichelsteiner, Sie sind doch sicher so nett, den Projektor nach der Vorlesung zu Herrn Schrattenegger zurückzubringen und ihm in meinem Auftrag mitzuteilen, dass er leider beschädigt wurde? Er wird ein wenig ärgerlich sein, aber da Sie zum starken Geschlecht gehören, bin ich überzeugt, Sie treten ihm heldenhaft entgegen.«

Hilflos sah Leopold Pichelsteiner sich nach Verbündeten um, doch niemand bot ihm an, sich an seiner statt mit einem kaputten Gerät vor den Hausdrachen zu wagen. Die strebsame Sanne lachte unterdrückt, und Katharina entging es nicht, dass auch viele andere grinsten.

»Bevor wir uns der nächsten Quelle widmen, möchte ich Ihnen eine wichtige Lektion mitgeben«, fuhr Katharina mit gleichmütiger Miene fort. »Legen Sie den Tunnelblick ab. Nicht nur alte Chroniken und Annalen, die bewusst für die Nachwelt verfasst wurden, sind wertvolle Quellen, nicht nur die Mächtigen, ob Könige und Kaiser oder Päpste, Objekt der Geschichtswissenschaft. Bei mir lernen Sie nicht Herrschergeschichte, sondern Menschengeschichte, und ich fühle mich nicht erst in meinem Element, wenn ich ein Museum betrete. Ja, bringen Sie ein Volksschulzeugnis oder eine Bedienungsanleitung für eine Trockenhaube, einen Liebesbrief Ihrer Urgroßmutter oder ein altes Kochbuch mit. Nichts davon ist wertlos. All das sollten wir vorurteilsfrei betrachten, um herauszufinden, was es uns über die Vergangenheit erzählen kann.«

2. KAPITEL

1932 – 1936

Jule lernte an ein und demselben Tag zu lesen und einen Apfelstrudel zu backen.

Das Lesen lernte sie nicht von ihrer Lehrerin. Die war streng und ungeduldig. Wenn ein Mädchen etwas nicht sofort begriff, strafte sie es, indem sie an seinen Zöpfen zog. Jules Zöpfe waren lang und glänzend, an denen zog sie besonders gern. Jule schluckte dann die Tränen hinunter – und die Wörter gleich mit dazu. Buchstaben blieben für sie ein riesiger Heuhaufen aus Strichen und Kreisen. In einem Heuhaufen konnte man keine Stecknadel finden, im Buchstabenberg keinen Sinn.

Backen lernte sie nicht von ihrer Mutter. Die war zwar nicht streng, aber ungeduldig. Ruckzuck musste alles gehen.

»Wer weiß, was er vom Leben will, der fackelt nicht lange«, sagte Lia Gartner oft.

Vor allem wusste sie, was sie vom Leben nicht wollte – eine dumme, arme, ausgebeutete Frau bleiben wie so viele Fabrikarbeiterinnen in Niklasdorf, jenem kleinen Ort in der Steiermark, wo sie geboren war und sterben würde. Sie las viel, engagierte sich für die Partei, hasste es zu warten. Waren die Kirschen im Garten im August noch nicht rot, verfluchte sie den Baum und begann die noch grünen zu pflücken. Wenn die Hasen, die allesamt Hansi hießen und vor Kurzem noch liebevoll von Lia gestreichelt worden waren, groß und rund waren, hielt sie sich nicht mit Sentimentalitäten auf. »Zeit wird’s«, sagte sie und drehte ihnen das Genick um. Verweigerten die Töchter den Hasenbraten, den Lia aus ihren geliebten Haustieren gemacht hatte, knallte sie ihnen die volle Gabel gegen die Zähne. »Gegessen wird.«

Nur einmal bedauerte sie eine Entscheidung. Nach zwei Töchtern sollte es keine weiteren Kinder geben. Die Kirschen, die Hasen, der karge Lohn in der Fabrik, das alles reichte nicht für mehr Nachwuchs. Ruckzuck griff sie dann immer zur Stricknadel – »Wenn’s sein muss« –, ruckzuck kam’s zur Blutung, und die leidige Sache war erledigt. Eine Schwangerschaft aber hatte sie zu lange übersehen. Wie dumm – als würde man dunkelrote Kirschen am Baum hängen lassen. Wieder griff sie zur Stricknadel, musste etwas stärker als sonst die Zähne zusammenbeißen und deutlich länger warten, bis die Blutung einsetzte. Das Kind war groß genug, um zu erkennen, dass es jener Sohn gewesen wäre, den sie sich immer gewünscht hatte.

Ausnahmsweise nahm sie sich die Zeit, den Ungeborenen unterm Kirschbaum zu vergraben, sonst landeten die Klumpen im Plumpsklo. Und sie nahm sich Zeit zu weinen, verlor allerdings bald die Geduld mit den Tränen. Wofür brauchte sie einen Sohn, solange sie ihre Hasen hatte und ihren Mann, den Franzl, ja auch.

Nein, in ihrem Leben fehlte es nicht an Männern, sondern an Unterhaltung. Von klein auf hatte sie gerne Fortsetzungsromane in Zeitungen gelesen, jetzt gründete sie die erste Arbeiterinnenbibliothek von Niklasdorf.

»Und die Jule kann noch gar nicht lesen?«, fragten die hämischen Verwandten.

Ein paarmal knallte die Mutter ihr die Buchstaben um die Ohren – wie die Gabel gegen die Zähne. Bei der Gabel nutzte es etwas, die Schranke im Kopf blieb.

»Wird schon werden«, sagte Lia und fand, dass das im Grunde nicht ihre Angelegenheit war. Sie sorgte dafür, dass ihre Töchter genug zu essen bekamen und immer sauber gekleidet waren, das musste reichen.

»Und die Jule kann noch gar nicht backen?«, fragte die Verwandtschaft noch hämischer, das war 1932, als Jule acht war.

Die Mutter zuckte die Schultern. Mit dem Backen hatte sie keine Freud, erst recht nicht, wenn’s um Apfelstrudel ging. Mit so viel Bedacht musste man Zutaten abwiegen, verkneten, behutsam den Strudelteig ausziehen. Kirschmarmelade einkochen – darin war sie besser, das machte nicht so viele Umstände. Sie übersah dabei sowohl Kerne als auch Würmer, und wenn die Töchter darüber klagten, sagte sie: »Schluck’s oder spuck’s aus.« Sie selbst hielt es mit allem, was ihr das Leben auftischte, schließlich auch so und kam bestens durch damit. Nach der ersten Arbeiterinnenbibliothek rief sie das erste sozialistische Arbeiterinnentheater ins Leben und spielte begeistert Bäuerinnen und Wirtinnen.

Die Großmutter war sanfter. Sie weihte Jule in die Geheimnisse des Apfelstrudels ein, als die sie einmal in Bruck an der Mur besuchte. Von Niklasdorf war es ein langer Fußweg dorthin, nicht ungefährlich, manchmal traf man fahrendes Volk auf der Straße, von dem es hieß, dass es kleine, blonde Mädchen raubte.

Jule kam sicher in Bruck an.

»Schau«, sagte die Großmutter und zeigte ihr das alte Rezeptbuch, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Eigentlich hatte sie es längst ihrer Tochter geben wollen, aber die interessierte sich nur für ihre Fortsetzungsromane. Sehnsüchtig schaute die Enkeltochter auf die Bilder und traurig auf die Buchstaben.

»Ich kann doch noch nicht lesen.«

»Dann lese ich dir eben vor. Und danach backen wir gemeinsam den Strudel.«

Sorgfältig vermischte sie Weizenmehl, Wasser, Öl und Salz, knetete alles zu einem weichen Teig, wischte den Küchentisch blitzblank, stäubte Mehl darauf und begann den Teig erst auszuwalken, dann auszuziehen. »Strudelteig ist erst dann dünn genug, wenn er auf allen Seiten über der Tischkante hängt und man eine Zeitung darunter lesen kann. Immer weiter muss man daran ziehen, ganz vorsichtig, damit er nicht reißt. Willst du es probieren?«

Ganz langsam wurde der Teig immer dünner, während die Großmutter Äpfel entkernte und fein schnitt – die eine Hälfte war frisch, die andere Hälfte lange im Keller gelagert und darum schon mürbe. Außerdem mahlte sie Brösel aus zwei Tage alten Semmeln und verrührte sie mit Zimt, Zucker und Butter und natürlich Rosinen.

Als die Füllung fertig zubereitet war, schob Jule eine Zeitung unter den Teig.

»Da steht, dass am 24. April 1932 die Nationalsozialisten bei den Gemeinderatswahlen in der Steiermark starke Stimmengewinne eingefahren haben.«

Die Großmutter ließ fast die Schüssel mit der Strudelfüllung fallen. »Du lieber Himmel, du kannst ja lesen!«

»Ja«, sagte Jule stolz, »weil der Teig dünn genug ist.« Und weil die Buchstaben plötzlich einen Sinn ergaben. Nun ja, fast. Wer die Nationalsozialisten waren, wusste sie nicht.

Sie verteilten die Füllung auf dem Teig, rollten ihn vorsichtig ein, bestrichen ihn mit Butter, und im Backrohr färbte er sich langsam goldgelb. So knusprig war der Teig, so saftig und süß das Innere.

Feierlich übergab die Großmutter ihrer talentierten Enkelin das Familienkochbuch. Und Jule machte weiter – mit dem Lesen und mit dem Backen.

Die Lehrerin zog Jule immer noch an den Zöpfen. Zwar konnte diese jetzt lesen, mit der Zeit auch halbwegs flüssig, aber sie schrieb nicht schön. Das kleine B geriet zu dickbäuchig, das kleine I war fast so lang wie das L. Sie schluckte Schmerzenslaute und Tränen hinunter, aber ihre Hände verkrampften sich. Die nächsten Buchstaben waren dann nicht mehr zu dick und zu lang, sondern klein und gekrümmt. Mit dem Lineal schlug die Lehrerin ihr auf die Finger.

Diese hörten nur zu schmerzen auf, wenn sie einen Teig kneteten. Es war so viel leichter, ihm die richtige Form zu geben als den Buchstaben. Ihre Finger kneteten in den Teig Eier und Mehl, Butter und Zucker, Leid und Freud. Das Kochbuch der Großmutter kannte Jule irgendwann auswendig, und schon früh machte sie die Erfahrung, dass die meisten Frauen Kochbücher auf zwei Beinen waren. Jede hatte mindestens ein Lieblingsrezept im Kopf, das von Generation zu Generation weitergegeben wurde, und wenn Jule mit schüchternem Lächeln danach fragte, wurde nicht nur das Rezept preisgegeben, sondern auch eine ganze Menge an Lebensgeschichten. Wie der Tropfen Mandellikör im Rahmschmarrn verliehen sie dem Gericht erst seinen unvergleichlichen Geschmack.

Eine ihrer Tanten war bekannt für ihren köstlichen Heidelbeerkuchen. Einen hatte sie gebacken, als ihre kleine Schwester Martha nach Amerika ausgewandert war. Hier in Niklasdorf hätte sie keine Zukunft gehabt, die Männer soffen und prügelten sich zu viel und verdienten zu wenig in der Fabrik – oder waren leidenschaftliche politische Schwafler wie Jules Vater Franz, der gerne erzählte, dass Jesus der erste Kommunist gewesen sei und auf der Welt Frieden herrschen würde, wenn alle die gleiche Sprache sprächen, weswegen er Esperanto lernte. Jules Mutter jagte ihn kurzerhand aus dem Haus, wenn ihr seine Vorträge zu bunt wurden. Dann machte er sich auf zu langen Märschen auf der Mugel, dem höchsten Berg in der Nähe, was für Stille im Haus sorgte, aber nicht für Geld.

In Amerika hingegen wuchs das Geld auf der Straße. Nur bücken müsse man sich und es aufheben. Das behauptete jedenfalls der windige Geselle, der in Niklasdorf auftauchte und Martha umgarnte, dem sie erst ihr Herz anvertraute, dann die heimlichen Ersparnisse und zuletzt ihre Zukunft. »Er heiratet mich und nimmt mich mit nach Amerika«, verkündete sie.

Die Familie ahnte, dass das nicht gut ausgehen würde, vor allem, als nur mehr vom Mitnehmen die Rede war, nicht mehr vom Heiraten. Davon abbringen ließ Martha sich trotzdem nicht, also backte die Tante einen ihren viel gerühmten Heidelbeerkuchen und gab ein großes Fest für sie. Wieder soffen und prügelten sich die Männer, Jules Vater hielt seine Reden. Nur konnte Lia ihn diesmal nicht auf die Mugel schicken, denn von dort war er gerade erst heimgekommen. Die Heidelbeeren hatte er mitgebracht, kein Heidelbeerkuchen schmeckte so gut wie der mit den Beeren von der Mugel. Von nun an stiegen der Tante immer Tränen in den Augen, wenn sie diesen Kuchen backte. Aus Genua hatte Martha noch eine letzte Postkarte geschickt, danach hörten sie nie wieder von ihr.

Eine weitere Tante, die einen hellsichtigen Mann hatte, kannte das Rezept für herrliche Nusspotize. Kurz bevor ihr Bruder bei einem Fabrikunfall starb, hatte ihr Mann ihn an seinem Bett stehen sehen, und dass der Schwager zwischen Auto und Friedhofsmauer eingeklemmt wurde, hatte ihm bereits eine weitere Vision verraten, als er eine Woche zuvor die Stiefmütterchen am Grab der Mutter gießen gegangen war. Der Tante war das unheimlich. Welcher Mann sah solche Dinge? Welcher Mann goss Stiefmütterchen am mütterlichen Grab? Welcher Mann heulte so viel? Denn schwermütig war er auch. Manchmal band er sich einen Strick um den Hals, stellte sich auf den Tisch in der Stube und machte den Strick am Lampenhaken fest. Kam seine Frau dazu, schrie sie jedes Mal entsetzt auf und flehte ihn an, sie nicht allein zu lassen. Heulend schnitt er dann den Strick durch, und sie machte ihm Nusspotize mit Nüssen und Kürbiskernen.

Eines Tages war es anders. Jules Tante war seiner schon recht überdrüssig, weil er die Toten besser sah als die Lebenden. Sie zumindest sah er nicht, erst recht nicht all die Lasten, die sie trug, um die Familie zu ernähren. Als er einmal mehr auf dem Küchentisch stand, sagte sie daher trocken: »Dann bring dich halt um, aber die Lampe ist leichter als du, der Haken wird nicht halten.«

Da wurde er wütend. Mit dem Strick um den Hals sprang er vom Küchentisch und verpasste ihr eine Ohrfeige. Noch nie hatte er sie geschlagen, doch sosehr es auch schmerzte, insgeheim war die Tante erleichtert. Ein Mann, der seine Frau schlug, war normaler als einer, der Stiefmütterchen goss, Tote sah und weinte. Nun weinte sie, und er tröstete sie hilflos. Die Nusspotize, die sie an diesem Abend mit besonders vielen Nüssen und Kürbiskernen machte, schmeckte so köstlich wie noch nie.

Jule hatte keine Mühe, sich all die Rezepte zu merken und nachzubacken. Doch als sie zwölf war, kam der Tag, als Hildchen starb, ihre Lieblingscousine. Zum Spielen hatte Hildchen nie Lust, und so schwammen sie gern in der eiskalten Mur, jenem Fluss, der Niklasdorf teilte, ließen den jeweiligen Hansi von Lia auf der Wiese Löwenzahn mümmeln, jagten ihm hinterher, wenn er ausbüxte, und plünderten heimlich die Speisekammer der Mutter. Es gab nicht viel zu plündern, die Kirschmarmelade mit Kernen und Würmern hasste auch Hildchen. Dafür mochte sie den Ribiselsaft, obwohl der sauer war, weil die Mutter immer am Zucker sparte. Hildchen brauchte Süße so wenig wie Wärme oder einen festen Boden unter den Füßen. Sie liebte es, auf den Kirschbaum zu klettern, und als Jule den Mut gefasst hatte, ihr auf den höchsten Ast zu folgen, schlug ihr Hildchen einen Pakt vor.

»Dass wir zusammenhalten, egal was kommt.«

Für Jule war das selbstverständlich, dafür musste sie keinen Pakt schließen. Sie tat es dennoch, weil Hildchen darauf beharrte. Ihrerseits wollte sie Hildchens Rezept für ihren Lieblingskuchen wissen.

»Nach Rezept zu backen ist doch langweilig!«, rief Hildchen. Dann eilte sie in die Küche, um frei nach Lust und Laune zusammenzuschütten, was immer ihr in die Hände kam, und heraus kam ein wunderbarer Gugelhupf.

»Siehst du? Manchmal muss man sich auf ein Abenteuer einlassen!« Sie aßen den Kuchen schmatzend, und Jule verschwieg, dass sie heimlich die Mengen im Kopf überschlagen und sie sich gemerkt hatte.

Sie backte den Gugelhupf am Tag von Hildchens Beerdigung. Irgendwann hatte diese es nicht mehr in der kalten Mur ausgehalten und es auch mit dem ausbüxenden Hasen nicht mehr aufnehmen können. Leukämie, diagnostizierte der Arzt.

Einen ganzen Sommer noch hatte es den Anschein, als würde es der Cousine wieder besser gehen und sie zu alten Kräften kommen, doch am Ende war sie, die sie immer schneller gewesen war als die Hansis, selbst der Hase. So viele Haken sie auch schlug, der Tod packte sie am Genick und zog ihr das Fell ab. Ruckzuck.

Draufgängerin hatte man Hildchen oft genannt, und Jule hatte gedacht, damit seien besonders unbezähmbare, mutige, starke Frauen gemeint. Nun erst verstand sie, was Draufgehen bedeutete.

Bei Rezepten gab es solche Mehrdeutigkeiten nicht. Drei Esslöffel Zucker waren drei Esslöffel Zucker. Jules Brust verkrampfte sich, doch ihre Hände arbeiteten weiter und backten gegen den Schmerz an. Der Gugelhupf, den sie nach Hildchens Tod zubereitete, schmeckte genauso, wie diese ihn damals frei nach Lust und Laune gebacken hatte, was bedeutete, dass sie die Mengen noch richtig im Kopf hatte. Um sie nicht doch noch zu vergessen, setzte sie sich hin und schrieb das erste Rezept ihres Lebens auf. Ihre Buchstaben waren so schwungvoll und schön wie noch nie.

»Aber im Rechnen bist du immer noch schlecht«, sagte die Lehrerin und zog sie so lange an den Zöpfen, bis ihr alles Unbezähmbare, Starke, Mutige, das sie sich von Hildchen abgeschaut hatte, verging.

3. KAPITEL

1976

Katharina wollte Professor Holacek so schnell wie möglich berichten, dass die Vorlesung hervorragend gelaufen war. Sie wartete nicht auf den Paternoster, sondern stieg zu Fuß in den sechsten Stock hoch – lagen die Geschichtsinstitute doch unter dem Dach. Schwungvoll öffnete sie die schwere Glastür, die zum Institut für Sozialkunde führte. Die erste Tür stand wie immer weit geöffnet, und schon schallte ihr von dort eine Stimme entgegen.

»Sie können jetzt nicht zu Professor Holacek!«

Katharina verharrte an der Schwelle des Vorraums von Professor Holaceks Büro. Dies war das Reich von Gertrud Schiller, der Institutssekretärin, auf deren Schreibtisch stets alles millimetergenau in Position gerückt war: die Adressiermaschine, das Telefon, außerdem eine elektrische Schreibmaschine, um die sie manche Kollegin, die sich immer noch auf der mechanischen die Fingernägel ruinierte, glühend beneidete. Mit gleicher Akribie kümmerte sich Gertrud Schiller um ihr Erscheinungsbild: Zum schwarzen Kostüm trug sie stets eine hochgeschlossene weiße Bluse, an der Katharina nie auch nur die kleinste Falte entdeckt hatte, und das sorgfältig ondulierte graue Haar war zum unbeweglichen Helm niedergesprayt. Ihre Miene war so streng, dass man unweigerlich an eine Zeremonienmeisterin in der Hofburg denken musste, die den Kaiser höchstselbst zur strikten Einhaltung des Protokolls gemahnte.

Die Professoren waren dafür zuständig, die Studenten zu bilden. Gertrud Schiller hingegen war diejenige, die sie erzog, und das mit einer Unbarmherzigkeit, die sogar einen Adolph Knigge nervös gemacht hätte.

Katharina hatte schon mehrmals die Geschichte eines Erstsemesters gehört, den es nach der Inskription hierherverschlagen hatte. »I wü mi fiers Prosöminar onmölden.«

Gertrud Schiller, ohne hochzublicken: »Draußen neben der Tür.«

Wenig später war besagter Erstsemestriger zurückgekehrt. »Durt hengt ober gor ka Zettl.«

»Nein, aber dort bleiben Sie stehen und denken über Ihr schlechtes Benehmen nach, ehe Sie es noch einmal versuchen. Sie klopfen, bevor Sie den Raum betreten. Sie sprechen, nachdem ich es Ihnen erlaube. Und Sie bedenken, dass die Konversation auf einer Universität ausschließlich auf Hochdeutsch erfolgt.« Sie sprach stets seelenruhig, aber mit einer Messerschärfe, die selbst den eingebildetsten Schnösel zurechtstutzte.

Katharina hatte es während der eigenen Studentenzeit geschafft, ihren Unmut nicht auf sich zu ziehen, doch bei ihrer ersten Begegnung als Universitätsassistentin war sie weniger glimpflich davongekommen. Gertrud Schiller hatte sie von oben bis unten gemustert.

»Hosen sind für das Personal nicht vorgesehen. Ich bin verpflichtet, Sie darauf hinzuweisen.«

Katharina hatte schlucken müssen. Frau Schiller erinnerte sie an ihre Mittelschuldirektorin, die die Mädchen gerne in einer Reihe antreten ließ und sie zusammenstauchte, wenn um ihren Hals eine jener langen Halsketten baumelte, wie sie gerade in Mode waren. Katharina wiederum war das erste Mädchen gewesen, das sich je in Hosen vor sie wagte.

»Eines Tages wird aus dir ein Blaustrumpf«, hatte die Direktorin mit derart vernichtender Stimme verkündet, als spräche sie ein Todesurteil aus.

Katharina hatte an das strikte Gebot gedacht, wonach die Mädchen selbst im Hochsommer Strümpfe zu tragen hatten. »Wenn ich es mir aussuchen könnte, wäre ich lieber ein Ohnestrumpf.« Das hatte sie aber erst genuschelt, als die Direktorin schon fünf Schritte weitergegangen war und sie nicht mehr hören konnte.

Gegenüber Gertrud Schiller hatte sie sich als mutiger erwiesen.

»Das Personal darf also keine Hosen tragen?«, hatte sie betont nachdenklich gefragt. »Ich würde Herrn Professor Holacek natürlich gerne im Schottenrock sehen, aber da ich meinerseits so freundlich bin zu ignorieren, dass er einen schwarzen Anzug bevorzugt, hoffe ich auch selber auf Nachsicht.«

Gertrud Schiller hatte ihre Miene genauso im Griff gehabt wie ihr Haar. »Ich sprach selbstverständlich vom weiblichen Personal.«

»Mir wurde an meinem ersten Arbeitstag erklärt, dass alle Frauen an der Universität einen männlichen Amtstitel zu führen haben – ob auf dem Türschild oder dem offiziellen Briefpapier. Wenn ich eines Tages endlich eine Frau Universitätsassistentin sein kann, überlege ich es mir mit dem Rock.«

Einmal mehr hatte Gertrud Schillers Contenance die Irritation aufgewogen, aber Katharina fragte sich seitdem manchmal, ob sie sich mit ihrer vorlauten Art womöglich eine Feindin gemacht hatte. Allerdings hatte sie an genügend anderen Fronten weit tödlicheren Pfeilen auszuweichen gelernt und fand es nicht weiter tragisch, bei der Zuteilung von Büroklammern womöglich als Letzte vom Platz zu gehen.

Und vor Kurzem hatte Gertrud Schiller sie immerhin vor Professor Holacek in Schutz genommen.

An seiner Lobeshymne, weil sie ihn bei einem Artikel über Quantifizierung und Makroanalyse als neue Methoden der historischen Sozialwissenschaft unterstützt hatte, hatte sie zwar nichts auszusetzen gehabt, umso mehr aber daran, dass diese mit einem vertraulichen »Mein Mädchen« geendet hatte. Er konnte es sich einfach nicht abgewöhnen, sie so zu nennen, obwohl Katharina es schon häufig moniert hatte.

»Katharina Adler ist ein Fräulein Doktor, kein Mädchen«, hatte sie schneidend verkündet.

»O ja, richtig, Frau Schiller, was wäre ich nur ohne Sie. Ich würde mich andauernd danebenbenehmen.«

Obwohl er so tat, als wäre das »Mädchen« eine Unart wie eine schlecht gebundene Krawatte, für die er bekannt war und auf die Frau Schiller ihn beharrlich hinwies – kaum war er mit Katharina allein, kehrte er wieder zu dieser Anrede zurück. »Frau Schiller hört ja nicht zu.«

Sie ärgerte sich zwar darüber, war heute aber so begierig darauf, über die Vorlesung zu berichten, dass sie das Mädchen geflissentlich überhören würde.

»Ich muss dringend mit Professor Holacek sprechen«, erklärte sie.

»Er hat darum gebeten, nicht gestört zu werden.«

Katharinas Blick wanderte zur Uhr. »Die Sprechstunde ist doch schon vorbei.«

Für diese kam Professor Holacek regelmäßig auf die Uni. Seine Forschungen hingegen verfolgte er in seiner Privatwohnung, die wie eine riesige Bibliothek aussah – und wie eine Altkleidersammlung, weil er, der eiserne Junggeselle, sämtliche Stuhlrücken so lange mit seinen Anzugjacken behängte, bis sich sein kompletter Schrank geleert hatte.

»Herr Professor Pokorny hat um eine Unterredung gebeten. Eine sehr dringende.« Gertrud Schiller machte eine kurze Pause. »Es geht um Sie«, fügte sie schließlich hinzu.

Unwillkürlich sank Katharina an den Türrahmen von Frau Schillers Büro. Neben dem Tipp-Ex stand eine Kaffeetasse, deren Inhalt so schwarz war wie Gertrud Schillers Kostüm. Sie war immer exakt zu zwei Dritteln gefüllt, als wäre sie bloß eine Attrappe.

»Um mich?«, fragte Katharina und ärgerte sich wegen des bangen Untertons.

Sie wusste natürlich, dass sie Professor Pokorny, dem Leiter des Instituts für Osteuropäische Geschichte, ein Dorn im Auge war. In den letzten Wochen hatte er sich oft darüber echauffiert, dass der Posten der Assistenzprofessur, vom Bildungsministerium jüngst neu geschaffen, an das Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte und folglich an sie gehen sollte, damit sie sich in Ruhe habilitieren und mehr eigene Lehrveranstaltungen leiten konnte.

Sollte er ruhig schimpfen. Selbst Historikerfürsten wie er, voller Sehnsucht nach Zeiten, in denen noch von Lehrkanzeln herab doziert worden war, mussten einsehen, dass sich die Geschichtswissenschaft im Wandel befand. Mochte er weiterhin im Jahreszahlenkarussell sitzen und um Kaiserwahlen, Kriege und Fürstenhochzeiten kreisen – die fortschrittlichen Kollegen wussten, dass nicht bloß die Geschichte gekrönter Häupter zählte, sondern die der einfachen Leute. Es war nicht mehr die Zeit der grauen Eminenzen, endlich waren die bunten Vögel an der Reihe. So zumindest hatte er sie einmal abfällig genannt – was sie allerdings gar nicht als Beleidigung empfand.

Während sie noch überlegte, ob sie hier oder in ihrem Büro warten sollte, öffnete sich die Tür zu Holaceks Büro, und ein misstrauisch dreinblickender Professor Pokorny trat in den Vorraum. Wortlos schritt er auf den Gang zu.

Katharina widerstand dem Impuls zu grüßen. Gertrud Schiller hingegen konnte nicht aus ihrer Haut. Sie erhob sich sogar.

»Grüß Gott, Herr Professor Pokorny.«

Keine Reaktion.

»Einen schönen Tag noch, Herr Professor Pokorny.«

Weg war er. Er hatte nicht einmal ordentlich die schwere Glastür hinter sich geschlossen, sondern sie einfach zufallen lasen. Gertrud Schillers Lippen bebten.

»Unmöglicher Typ!«, rutschte es Katharina heraus.

Frau Schillers Gesicht wurde rasch wieder ausdruckslos. »Es steht mir nicht zu, das Verhalten von Professor Pokorny zu beurteilen.« Als sie sich wieder setzte, nahm sie zu Katharinas Erstaunen einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse. Also befand sich darin doch echter Kaffee, nicht nur mit schwarzer Tinte gefärbtes Wasser, wie manche Studenten schon wegen des stets gleichbleibenden Pegels spöttisch gemutmaßt hatten.

Im nächsten Augenblick war der Kaffee vergessen, denn Holacek erschien auf der Schwelle seines Büros. Die Krawatte war wieder einmal falsch gebunden, das Hemd aus dem Hosenbund gerutscht, weil der zu locker saß.

»Ich fürchte, wir haben ein Problem, mein Mädchen.«

Wie betäubt stand sie hinterher auf dem Gang. Gegenüber Holacek hatte sie noch um Fassung gerungen, zumal er sich mit der gleichen Unbeholfenheit um Zuversicht bemühte wie um den richtigen Krawattenknoten.

»Es ist ja noch nichts endgültig entschieden, wir müssen uns jetzt noch keine Sorgen machen. Wir denken erst einmal in Ruhe nach, wie wir damit umgehen. Wir wissen ja, es ist ein unhaltbarer Zustand, dass sich unter den sechzehn Professoren am Historischen Institut keine einzige Frau befindet.«

Katharina war nicht sicher, wen das »Wir« im letzten Satz einschloss. Die anderen fünfzehn Professoren wohl nicht. Nie hatte sie einen von ihnen daran Anstoß nehmen hören, dass die Zahl weiblicher Studentinnen zwar rasant wuchs, die der weiblichen Assistenten aber nur extrem langsam und die der Professorinnen gar nicht. Und der Besetzung der Assistenzprofessur durch Katharina hatten sie nur zugestimmt, weil sich kein anderer Kandidat fand. Also eher aus Gleichgültigkeit – und nicht, weil sie geschlossen hinter Holacek und seinem Wunsch, sie zu fördern, standen.

»Ja, ja, es stimmt schon«, hatte Holacek zunehmend kleinlaut gestammelt und sich gewunden. »Wir waren uns unserer Sache wohl zu sicher. Haben nicht erwartet, dass es einen Kampf um die Stelle geben würde. Professor Pokorny hat beim Bildungsministerium Einspruch dagegen erhoben, dass sie unserem Institut zugesprochen wird. Und konnte dabei einen Trumpf ausspielen. Schließlich hat nicht nur unser Institut, sondern auch das für Osteuropäische Geschichte seit Langem Anspruch auf eine Stelle. Und dort, so hat er behauptet, gelte es, den neuen Schwerpunkt unserer Fakultät zu stärken, die Erforschung der Zeitgeschichte.«

Die Geschichte des 20. Jahrhunderts war für einen Pokorny eigentlich wie eine Badewanne für einen Tiefseetaucher. Auf deren Grund konnte ein kleines Kind schauen, der wahre Forscher hingegen tauchte mit angehaltenem Atem in tiefste Schwärze, um die Perlen herauszufischen. Wer nicht mindestens ein paar Jahrhunderte zurückging, landete womöglich in den Untiefen aktueller politischer Diskussionen, und über die fühlte sich jemand wie ein Pokorny erhaben.

Aber wenn man die Gelegenheit hatte, nicht nur die Erforschung der Zeitgeschichte, sondern auch den männlichen Personalschlüssel zu stärken, war dies eine Pille, die man zu schlucken bereit war. Hauptsache, dieses Fräulein da, das nach akademischen Weihen strebte, trieb weiterhin auf der Oberfläche wie ein Korken, dem vielleicht nicht der lange Atem, jedoch das notwendige Gewicht fehlte, um zum Meeresgrund vorzustoßen.

»Wie … wie gehen wir denn nun weiter vor?«, hatte Katharina gefragt.

Das »Wir« erwies sich wie befürchtet als etwas brüchig. Holacek begann unsicher an seiner Krawatte zu zupfen und sein Hemd in die Hose zu stopfen. Bei aller Liebe zu seinem Mädchen – Personalbesetzungen, Intrigen und überhaupt Menschen waren vor allem eins: ein Hindernis, das zwischen ihm und seinen Forschungen stand.

»Ich muss jetzt wieder zurück an die Arbeit … Sie wissen ja, ich schreibe an einem Aufsatz über Wiener Stadtgeschichte, aber nein, nein, mein Mädchen, nicht traurig sein, wir finden schon eine Lösung. Welchen Monat haben wir jetzt, Dezember?«

»Januar«, antwortete Katharina und unterdrückte ein Seufzen. Bei Wochentagen lag er meist um zwei daneben.

»Na also, dann haben wir noch Zeit. Die endgültige Personalentscheidung fällt erst Ende des Sommersemesters. Solange können wir uns beweisen … das heißt, Sie können sich beweisen.«

»Nämlich wie?«

Seine Worte wurden erst wirrer, dann knapper, schließlich schob er sie aus seinem Büro.

Als sie im Gang stand, sagte sich Katharina, dass sie sich eigentlich freuen sollte. Immerhin hatte Holacek ihr soeben eine eigene Übung angeboten – jene Form der Lehrveranstaltung, die man, anders als das klassische Seminar, auch als Assistentin leiten durfte. Und wenn sich erst einmal herumsprach, dass sie nicht nur in Sachen Forschung, sondern auch in der Lehre brillierte, würde die Mehrheit des Professorenkollegiums doch ihr die Stimme geben, nicht Pokornys Schützling.

Allerdings: Wann hatten gute, nein, sehr gute, nein, außergewöhnliche Leistungen sie je vor Verachtung und männlicher Arroganz geschützt? All dem war sie im Laufe ihrer Karriere immer wieder begegnet, egal wie unantastbar ihre wissenschaftliche Arbeit war, wie souverän ihr Auftreten, wie stabil ihr Selbstbewusstsein.

Mit der Enttäuschung, dass es mit der Stellenbesetzung nicht glattlief, wäre sie fertiggeworden. Der große Klumpen in der Kehle, die kalten Hände, dieser Druck auf der Brust rührten schlichtweg von der Ohnmacht.

Ohnmacht, wie sie sie schon in der achten Klasse erlebt hatte.

Damals hatten sie einen Aufsatz zum Thema »So denke ich mir mein Leben« schreiben müssen. Die meisten Klassenkameradinnen gingen danach von der Schule ab. Sie schrieben, dass sie für ein paar Jahre als Sekretärin oder Verkäuferin arbeiten, bald aber einen lieben Mann kennenlernen und Hausfrau und Mutter werden wollten. Katharina schrieb, dass sie immer nur die besten Noten abliefern wollte, um dann die Matura zu absolvieren, zu studieren und Hochschulprofessorin zu werden.

Bei den Rechtschreibfehlern der anderen drückte die Lehrerin beide Augen zu. »Sehr gut«, meinte sie begeistert.

Katharina hingegen bekam für ihren Aufsatz nur eine Zwei. Sie hatte keinen einzigen Rechtschreibfehler gemacht, aber vergessen, das Löschblatt einzulegen, und das gab – leider, leider – eine schlechtere Note.

Und als sie dann später auf ihrer Olympia Monika an ihrer Dissertation geschrieben hatte … Eine hoch konzentrierte Angelegenheit war das, die sie ganze Nächte wach hielt. Nicht so sehr der Inhalt war die Herausforderung, sondern vielmehr, dass sie die Arbeit in dreifacher Ausfertigung abgeben musste. Nicht selten verrutschten Originalseite, Kohlepapier und Durchschlagpapiere, sodass sich Zeilen verschoben oder das Kohlepapier dunkle Flecken hinterließ. Besonders schlimm war, dass man einen Tippfehler nur auf der Originalseite mit Tipp-Ex korrigieren konnte, nicht auf dem Durchschlag. Ein Fehler in der letzten Zeile bedeutete, dass sie alles noch einmal schreiben musste.

Wenn sie nach Mitternacht immer noch auf die Tasten einhämmerte, stand gerne der Nachbar vor der Tür. Jetzt sei es doch mal gut, bei diesem Lärm könne keiner schlafen, den Liebesbrief könne sie auch morgen schreiben.

Katharina entschuldigte sich vielfach und versuchte ihm begreiflich zu machen, dass sie keinen Liebesbrief schrieb, sondern ihre Dissertation.

Es blickte sie verständnislos an.

»Na, meine Doktorarbeit.«

»Für was brauchen Sie denn so was? Sie sind doch recht hübsch.«

Von da an drohte er ab 22 Uhr wegen Ruhestörung mit der Polizei. Einen Liebesbrief hätte er ihr ja noch nachgesehen, aber das …

Idiot, dachte Katharina. Wer schrieb denn Liebesbriefe auf einer Schreibmaschine?

Als ihre Dissertation fertig war, galt es, sie im Rigorosum vor einer Runde Professoren zu verteidigen. Ein Experte aus Deutschland wurde ebenfalls hinzugezogen. Die ganze Zeit lächelte er anzüglich. Schließlich erklärte er, an der Arbeit könne er nichts aussetzen, und ja, es stimme schon, von allen eingereichten Dissertationen der Universitätsassistenten sei ihre die beste. »Aber bitte versprechen Sie mir, dass Sie’s jetzt gut sein lassen. Für ein kluges, anständiges Mädel mag die Uni der rechte Ort sein, sich nach Heiratskandidaten umzuschauen. Aber wenn man zu lange bleibt, dann endet man noch als Dekanin. In Heidelberg gibt’s gerade eine, die ist eine solche Katastrophe.«

Nun lächelte er nicht mehr, und alle anderen starrten verlegen auf die Tischplatte, widersprechen wollte niemand. Das tat man erst, als er hinzufügte: »Ich finde, die hübschen, häuslichen Studentinnen, die im Allgemeinen ohnehin bald weggeheiratet werden, müssten eigentliche höhere Gebühren bezahlen, da die für sie verausgabten Staatsgelder ja keine Gegenleistung erbringen werden.«

»Aber, aber, werter Herr Kollege, in Österreich wurden die Studiengebühren kürzlich abgeschafft.«

»Ein Verlustgeschäft bleibt es trotzdem.«

»Nicht in meinem Fall«, warf Katharina ein. »Ich strebe weiterhin eine wissenschaftliche Laufbahn an.«

Nun kehrte das Lächeln zurück, diesmal mitleidig. »Sie wollen doch wohl nicht ein Leben lang einem Ordinarius dabei helfen, seine Bücher zu schreiben? Wenn Sie schon nicht heiraten, gehen Sie in den Lehrberuf, da sind Sie selbstständig und gut aufgehoben.«