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Das Wort "evangelikal" wird oft unzureichend definiert und ist mit manchem Ballast beladen. So stellen sich einige sogar die Frage, ob sie diese Bezeichnung nicht ganz aufgeben sollten. Michael Reeves argumentiert anhand der Bibel und der Kirchengeschichte, dass es nicht notwendig ist, das Wort zu verwerfen. Christen müssen jedoch zu den Wurzeln des Begriffs – zum euangélion, dem Evangelium – zurückkehren und verstehen, was er tatsächlich bedeutet. Reeves stellt darum die Theologie des Evangelikalismus und seine wesentlichen Lehren dar: die Offenbarung des Vaters in der Bibel, die Erlösung des Sohnes im Evangelium und die Erneuerung des Herzens durch den Heiligen Geist. Dabei ruft er die Gläubigen dazu auf, mit Integrität als Menschen des Evangeliums zu leben.
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Seitenzahl: 164
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über dnb.de abrufbar.
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Titel des englischen Originals:
Gospel People: A Call for Evangelical Integrity
© 2022 by Michael Reeves Published by Crossway a publishing ministry of Good News Publishers Wheaton, Illinois 60187, U. S. A.
This edition published by arrangement with Crossway.
All rights reserved.
Wenn nicht anders angegeben, wurde folgende Bibelübersetzung verwendet:
Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
© 2024 Verbum Medien gGmbH, Bad Oeynhausen
verbum-medien.de
Übersetzung:
Florian Gostner
Lektorat:
Samuel Wiebe
Buchgestaltung und Satz:
Samuel Hinterholzer
Druck und Bindung:
Finidr
1. Auflage 2024
Best.-Nr.8652 071
ISBN978-3-98665-071-1
E-Book978-3-98665-072-8
DOI: 10.54291/t664777493
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Michael Reeves
Wie fein und lieblich ist’s, wenn Brüder Seite an Seite für den Glauben des Evangeliums kämpfen (in Anlehnung an Ps 133, 1).
Für Dan
1Was sind Menschen des Evangeliums?
2Die Offenbarung durch den Vater
3Die Erlösung durch den Sohn
4Die Wiedergeburt durch den Geist
5Die Wichtigkeit dessen, Menschen des Evangeliums zu sein
6Unsere Integrität im Evangelium
Anhang 1:Kann der Evangelikalismus definiert werden?
Anhang 2:Hat der Evangelikalismus eine Geschichte?
Endnoten
Danksagungen
»Ihr Lieben, da es mich drängt, euch zu schreiben von unser aller Heil, halte ich’s für nötig, euch in meinem Brief zu ermahnen, dass ihr für den Glauben kämpft, der ein für alle Mal den Heiligen anvertraut ist.«
Judas 3
Dies ist ein Buch darüber, was es bedeutet, Menschen des Evangeliums zu sein. Mit anderen Worten ist es ein Buch darüber, was es heißt, evangelikal zu sein. Ich glaube, dass wir aus biblischer Sicht dafür argumentieren können, dass es wichtig und gut ist, evangelikal zu sein.
Dabei möchte ich keineswegs alles gutheißen, was sich selbst als »evangelikal« bezeichnet. Ganz im Gegenteil! Es scheint, als wäre der Evangelikalismus heute zwar viele Kilometer breit, aber nur ein paar Zentimeter tief. Wie Mark Noll es einmal formulierte: »Der Skandal des evangelikalen Denkens ist, dass es nicht viel evangelikales Denken gibt.«1 Der Erfolg der Bezeichnung »evangelikal« im 20. Jahrhundert führte dazu, dass immer mehr Menschen sie für sich in Anspruch nahmen. Das wiederum führte zu einer theologischen Entleerung dieser Bezeichnung. Überall auf der Welt gibt es Menschen, die sich selbst »evangelikal« nennen, ohne an den klassischen evangelikalen Überzeugungen festzuhalten. Hinzu kommt das Problem, dass heute evangelikal zu sein mit ganz bestimmten Gepflogenheiten, politischen Ansichten oder ethnischen Gruppen assoziiert wird.
Mit anderen Worten steht der Evangelikalismus gegenwärtig vor einer Integritätskrise. »Die Evangelikalen« werden sowohl von anderen als auch von sich selbst durch andere Dinge definiert als durch das Evangelium. Um wirklich Menschen des Evangeliums zu werden, müssen wir zu unserem Ausgangspunkt zurückkehren – zu dem Glauben, »der ein für alle Mal den Heiligen anvertraut ist«.
Was sollten wir also darunter verstehen, evangelikal, Menschen des Evangeliums, zu sein? Wir können den Begriff nicht einfach anhand dessen definieren, was wir heute im »Evangelikalismus« sehen. Um den Evangelikalismus richtig zu verstehen und zu definieren, müssen wir tun, was Evangelikale seit jeher getan haben: Wir müssen den Begriff an seine Wortherkunft aus dem »evangel« zurückführen. Der Evangelikalismus wird durch das »evangel« definiert (euangelion ist das griechische Wort für »gute Nachricht«). Evangelikale sind »Evangeliums-Menschen« oder »Menschen des Evangeliums«. Manche von ihnen mögen den Begriff »evangelikal« vielleicht nicht, andere hingegen verwenden diese Bezeichnung, ohne selbst Menschen des Evangeliums zu sein. Doch den Begriff auf eine andere Weise zu definieren, ist eine Verzerrung der eigentlichen Bedeutung des Wortes »evangelikal«. Evangelikal zu sein heißt per Definition, nicht einer bestimmten Ethnie oder Partei anzugehören, sondern dem Evangelium.
Der Evangelikalismus muss also theologisch definiert werden. Evangelikal zu sein bedeutet, nicht aus kulturellen oder politischen, sondern aus theologischen und biblischen Überzeugungen heraus zu handeln. Gegenstand des Evangelikalismus ist das Evangelium, das durch die Schrift offenbart ist. Möchte man es technisch ausdrücken, so könnte man sagen: Sein Materialprinzip ist das Evangelium, und sein Formalprinzip ist die Wahrheit und die Überlegenheit der Heiligen Schrift, in der dieses Evangelium gefunden wird. Es ist ein Bekenntnis zur Guten Nachricht von Jesus Christus, die wir in der Bibel finden. Er ist der Kern des klassischen Christentums. Das bedeutet, dass Menschen, die vom Evangelium durchdrungen sind, evangelikal sind – unabhängig davon, ob sie diese Bezeichnung benutzen oder nicht. Es bedeutet jedoch auch, dass jemand, der sich selbst als »Evangelikaler« identifiziert oder von den Medien so bezeichnet wird, aber nicht gemäß dem Evangelium lebt, nicht evangelikal ist. Das bedeutet nicht, dass der Evangelikalismus substanzlos oder verschwommen wäre, sondern vielmehr, dass die Bezeichnung nicht mehr korrekt verwendet wird.
So etwas wie das evangelikale Glaubensbekenntnis gibt es nicht. Gibt es also so etwas wie evangelikale Theologie überhaupt? Wie wir festgestellt haben, muss das Evangelium per Definition Zentrum und Hauptgegenstand des Evangelikalismus sein. Daraus folgt, dass sein formales Prinzip (oder die Art und Weise, wie der Gegenstand – der Evangelikalismus – bekannt ist) die Wahrheit und Vorrangstellung der Schrift sein muss, in dem dieses Evangelium gefunden wird. Aber können wir noch mehr sagen, ohne gleich eine politische Agenda fördern zu müssen? Um diese Frage zu beantworten, sehen wir uns an, wie der Apostel Paulus vom Evangelium spricht. Nehmen wir zum Beispiel die ersten Zeilen seines Briefes an die Römer:
»Paulus, ein Knecht Christi Jesu, berufen zum Apostel, ausgesondert zu predigen das Evangelium Gottes, das er zuvor verheißen hat durch seine Propheten in der Heiligen Schrift, von seinem Sohn, der geboren ist aus dem Geschlecht Davids nach dem Fleisch, der eingesetzt ist als Sohn Gottes in Kraft nach dem Geist, der da heiligt, durch die Auferstehung von den Toten – Jesus Christus, unserm Herrn.« (Röm 1, 1–4)
Für Paulus ist das Evangelium demnach
1.trinitarisch: Es ist die Frohe Botschaft des Vaters über den Sohn, der als Sohn Gottes eingesetzt ist in Kraft nach dem Heiligen Geist (vgl. Röm 1, 4).
2.biblisch: Es wird in der Heiligen Schrift verkündet.
3.christuszentriert: Es geht dabei um den Sohn Gottes.
4.Geist-gewirkt: Der Sohn wird durch den Heiligen Geist offenbart.
Dieselben Bestandteile sehen wir auch in Paulus’ Brief an die Korinther:
»Denn Christus hat mich nicht gesandt zu taufen, sondern das Evangelium zu predigen – nicht mit weiser Rede, auf dass nicht das Kreuz Christi zunichtewerde.
Denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist es Gottes Kraft. Denn es steht geschrieben:
›Ich will zunichtemachen die Weisheit der Weisen, und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen.‹
Wo sind die Klugen? Wo sind die Schriftgelehrten? Wo sind die Weisen dieser Welt? Hat nicht Gott die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht? Denn weil die Welt durch ihre Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch die Torheit der Predigt selig zu machen, die da glauben. Denn die Juden fordern Zeichen und die Griechen fragen nach Weisheit, wir aber predigen Christus, den Gekreuzigten …
Auch ich, meine Brüder und Schwestern, als ich zu euch kam, kam ich nicht mit hohen Worten oder hoher Weisheit, euch das Geheimnis Gottes zu predigen. Denn ich hielt es für richtig, unter euch nichts zu wissen als allein Jesus Christus, ihn, den Gekreuzigten. Und ich war bei euch in Schwachheit und in Furcht und mit großem Zittern; und mein Wort und meine Predigt geschahen nicht mit überredenden Worten der Weisheit, sondern im Erweis des Geistes und der Kraft, auf dass euer Glaube nicht stehe auf Menschenweisheit, sondern auf Gottes Kraft.« (1 Kor 1, 17–23; 2, 1–5)
Auch hier macht Paulus deutlich, dass das Evangelium
1.nicht menschliche Weisheit, sondern Gottes geoffenbarte Weisheit ist.
2.sich um Jesus Christus, den Gekreuzigten, dreht.
3.durch die Kraft des Heiligen Geistes wirksam wird.
Später im 1. Korintherbrief wendet der Apostel sich wieder den Angelegenheiten »von größter Bedeutung« (so übersetzt die englische ESV »als Erstes« in Vers 3; Anm. d. Übers.) zu und setzt ähnliche Schwerpunkte:
»Ich erinnere euch aber, Brüder und Schwestern, an das Evangelium, das ich euch verkündigt habe, das ihr auch angenommen habt, in dem ihr auch fest steht, durch das ihr auch selig werdet, wenn ihr’s so festhaltet, wie ich es euch verkündigt habe; es sei denn, dass ihr’s umsonst geglaubt hättet.
Denn als Erstes habe ich euch weitergegeben, was ich auch empfangen habe: Dass Christus gestorben ist für unsre Sünden nach der Schrift; und dass er begraben worden ist; und dass er auferweckt worden ist am dritten Tage nach der Schrift.« (1 Kor 15, 1–4)
Wie zuvor wird das Evangelium von Paulus auch hier beschrieben als
1.biblisch: Es steht im Einklang mit der Heiligen Schrift.
2.christuszentriert: Es dreht sich um Christus und sein Erlösungswerk – vor allem um seinen Tod und seine Auferstehung.
3.neues Leben schaffend: Obwohl der Geist nicht ausdrücklich erwähnt wird, wird vom Evangelium nicht als bloße Information, sondern als Botschaft des persönlichen Heils geredet.
Ich möchte nur noch ein Beispiel aus dem Brief an die Galater anführen. Paulus schreibt, um das Evangelium gegenüber Menschen zu verteidigen, die sich »zu einem andern Evangelium« wenden (1, 6).
»Denn ich tue euch kund, Brüder und Schwestern, dass das Evangelium, das von mir gepredigt ist, nicht von menschlicher Art ist. Denn ich habe es nicht von einem Menschen empfangen oder gelernt, sondern durch eine Offenbarung Jesu Christi.« (1, 11–12)
Den Brief schließt er eindringlich mit diesen Worten:
»Seht, mit wie großen Buchstaben ich euch schreibe mit eigener Hand! Die Ansehen haben wollen nach dem Fleisch, die zwingen euch zur Beschneidung, nur damit sie nicht um des Kreuzes Christi willen verfolgt werden. Denn nicht einmal sie selbst, die sich beschneiden lassen, halten das Gesetz, sondern sie wollen, dass ihr euch beschneiden lasst, damit sie sich eures Fleisches rühmen können. Es sei aber fern von mir, mich zu rühmen als allein des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus, durch den mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt. Denn es gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein, sondern die neue Schöpfung.« (6, 11–15)
Wie in seinen Briefen an die Römer und Korinther spricht Paulus auch hier vom Evangelium als
1.Offenbarung: Es handelt sich nicht um ein Evangelium von Menschen, sondern es wurde von Gott geoffenbart.
2.Erlösung: Es geht um das Kreuz unseres Herrn Jesus Christus.
3.Wiedergeburt: Es bringt die völlige Erneuerung einer neuen Schöpfung mit sich.
Jede Definition des »evangel« und damit des Evangelikalismus muss sich an die Lehre der Apostel halten und deswegen diese Elemente beinhalten: die Trinität, die Begründung anhand der Schrift, Christus als das Zentrum und die Wiedergeburt durch den Geist. Es muss daher Gott-zentriert sein als das »Evangelium Gottes« (Röm 1, 1) über den Vater, den Sohn und den Geist sowie das Werk des Vaters, des Sohnes und des Geistes. Um dem apostolischen Evangelium treu zu sein, muss es das Anliegen von Paulus für diese drei unentbehrlichen Dinge teilen: Offenbarung, Erlösung und Wiedergeburt.
In Anbetracht dessen argumentiere ich, dass der wahre Evangelikalismus eine klare Theologie hat, in deren Zentrum drei essentielle Lehren verankert sind, aus denen sich alles Weitere ergibt:
1.Die Offenbarung durch den Vater in der Bibel
2.Die Erlösung durch den Sohn im Evangelium
3.Die Wiedergeburt durch den Geist in unseren Herzen2
Wir können diese drei Elemente als »Inhaltsverzeichnis« für den Evangelikalismus verstehen. Es ist wichtig zu erwähnen, dass dieses Schema sowohl dem Nicänischen als auch dem Apostolischen Glaubensbekenntnis folgt. Damit wird deutlich, dass Evangelikalismus nicht nur versucht, einfaches, biblisches Christentum zu sein, sondern auch bekennendes, katholisches (im Sinne von allgemein, universal; Anm. d. Übers.) Christentum.
Das ist bloß die Kurzfassung. Mein Ziel in den nächsten drei Kapiteln ist es nun, ein evangelikales, biblisches Verständnis dieser Lehren zu entfalten, das in diesem Diagramm zusammengefasst ist:
Wenn wir dann die grundlegende Theologie des Evangelikalismus betrachtet haben, werden wir in der Lage sein, zu erkennen, wie der Römerbrief die Wichtigkeit des Evangelikalismus unterstreicht.
»Evangelikalismus« wird ein fadenscheiniges, verschwommenes Relikt bleiben, solange er auf einem anderen Fundament als diesem apostolischen Evangelium fußt. Wo Menschen jedoch diesem Evangelium verpflichtet sind, werden wir etwas von himmlischer Schönheit und Fruchtbarkeit sehen: eine aufrichtige Einheit im (sowie ein gemeinsames Streben für den) Glauben, der ein für alle Mal den Heiligen anvertraut ist.
»Das erste Hauptmerkmal evangelikalen Glaubens«, schrieb J. C. Ryle, »ist die absolute Vorrangstellung, die er der Heiligen Schrift einräumt, als einziger Richtschnur des Glaubens und Lebens, als einzigem Prüfstein der Wahrheit, als einzigem Richter im Streitfall.«1 Warum? Ganz einfach deshalb, weil Jesus lehrte, dass wir genau so die Wahrheit erkennen können.
So beschreibt Markus die Kontroverse zwischen Jesus und den Pharisäern über die Schrift und ihre Autorität:
»Und es versammelten sich bei ihm die Pharisäer und einige von den Schriftgelehrten, die aus Jerusalem gekommen waren. Und sie sahen, dass einige seiner Jünger mit unreinen, das heißt ungewaschenen Händen das Brot aßen. Denn die Pharisäer und alle Juden essen nicht, wenn sie nicht die Hände mit einer Handvoll Wasser gewaschen haben, und halten so an der Überlieferung der Ältesten fest; und wenn sie vom Markt kommen, essen sie nicht, bevor sie sich gewaschen haben. Und es gibt viele andre Dinge, die sie zu halten angenommen haben, wie: Becher und Krüge und Kessel und Bänke zu waschen. Da fragten ihn die Pharisäer und die Schriftgelehrten: Warum wandeln deine Jünger nicht nach der Überlieferung der Ältesten, sondern essen das Brot mit unreinen Händen? Er aber sprach zu ihnen: Richtig hat von euch Heuchlern Jesaja geweissagt, wie geschrieben steht:
›Dies Volk ehrt mich mit den Lippen,
aber ihr Herz ist fern von mir.
Vergeblich dienen sie mir,
weil sie lehren solche Lehren,
die nichts sind als Menschengebote.‹
Ihr verlasst Gottes Gebot und haltet an der Überlieferung der Menschen fest.
Und er sprach zu ihnen: Trefflich hebt ihr Gottes Gebot auf, damit ihr eure Überlieferung aufrichtet! Denn Mose hat gesagt: ›Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren‹, und: ›Wer Vater oder Mutter schmäht, der soll des Todes sterben.‹ Ihr aber lehrt: Wenn einer zu Vater oder Mutter sagt: Korban, das heißt: Opfergabe, soll sein, was dir von mir zusteht, so lasst ihr ihn nichts mehr tun für seinen Vater oder seine Mutter und hebt so Gottes Wort auf durch eure Überlieferung, die ihr weitergegeben habt; und dergleichen tut ihr viel.« (Mk 7, 1–13)
Der Streit entzündete sich an der einfachen Frage des Händewaschens. Dabei ging es jedoch nicht um Körperpflege oder Hygiene. Die Pharisäer und Schriftgelehrten bekundeten nicht nur ihre Abneigung gegenüber Schmutzfinken am Esstisch.
Ihre Sorge war religiöser Natur. Sie wollten nicht »unrein« werden (V. 2). Deshalb bestanden sie auf einer zeremoniellen Handwaschung, um an der »Überlieferung der Ältesten« festzuhalten (V. 3). Nun warfen sie Jesus vor, dass seine Jünger sich nicht an diese Tradition hielten (V. 5). Darauf antwortete Jesus: »Ihr verlasst Gottes Gebot und haltet an der Überlieferung der Menschen fest« (V. 8). Offensichtlich ist die Schrift in Jesu Augen von Gott, während die Tradition von Menschen stammt. Und es ist pure Heuchelei, »eure Überlieferung« mit »Gottes Gebot« gleichzusetzen (V. 7–9).
Anschließend erläutert Jesus seine Auffassung von Bibel und Tradition, indem er die Lehre der Pharisäer über den Korban infrage stellt. »Korban« ist ein hebräisches Wort für ein Geschenk an Gott. Offensichtlich entstand dazu die Tradition, dass etwas, das einmal als Korban vorgesehen war, nie für etwas anderes verwendet werden konnte. Jesus führt das Beispiel eines jungen Mannes an, der etwas Geld als Korban beiseitegelegt hat. Später stellt er fest, dass seine betagten Eltern in Not sind. In dieser Situation, so argumentiert Jesus, würden die Pharisäer ihn aufgrund der Überlieferungen zum Korban »nichts mehr tun [lassen] für seinen Vater oder seine Mutter« (V. 12). Dadurch würden sie den jungen Mann aber gegen das Gesetz Moses verstoßen lassen: »Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren« (2 Mose 20, 12), und: »Wer Vater oder Mutter flucht, der soll des Todes sterben« (2 Mose 21, 17). So sündigten sie, indem sie das Wort Gottes ablehnten, um die Tradition der Ältesten aufrechtzuerhalten. Genau genommen hatten sie damit sogar eine Autorität beansprucht, die über Gottes Wort steht. Immerhin verboten sie etwas, das die Bibel befahl.
Jesu Standpunkt ist klar: Die Schrift ist göttlichen Ursprungs, auch wenn Mose die Worte sprach. Was »Mose [gesagt] hat« (V. 10), ist »Gottes Wort« (V. 13). Darum ist die Autorität der Heiligen Schrift unübertrefflich.
Jedes menschliche Denken und alle menschlichen Traditionen sind der Heiligen Schrift untergeordnet. Darum müssen wir alle Überlegungen und Gebräuche ablehnen, die mit der Heiligen Schrift in Konflikt stehen – nicht umgekehrt! Das Wort Gottes und die Worte bloßer Geschöpfe sind nicht und können nicht ebenbürtige Autoritäten sein. Wenn also das göttliche Wort mit menschlichen Worten im Widerspruch steht, muss die Bibel beachtet und die Tradition verworfen werden. Jesus verdeutlichte dies, wann immer er fragte: »Habt ihr nicht gelesen …?«, oder: »Was steht im Gesetz geschrieben?« Er hielt die Schrift für die höchste, genugsame Autorität, die alle unsere Worte und Gedanken überstimmen muss.
Seit der Verfassung des Neuen Testaments hat die Kirche dieses evangelikale Grundprinzip der Schrift als höchster Autorität wieder und wieder bekräftigt. Im 2. Jahrhundert stellte Irenäus die Autorität der Heiligen Schrift ins Zentrum seiner Reaktion auf den Gnostizismus. Die Schrift, so erklärte er, sei »das Fundament und die Grundsäule unseres Glaubens«.2 Er sah den Hauptfehler der Gnostiker darin, die Bibel durch außerbiblische Prinzipien zu lesen und sie damit in eine fremde Form zu zwängen. Die Schrift kann nicht auf diese Weise gelesen werden, sondern muss durch die Schrift interpretiert werden. Keine andere Kenntnis, kein theologisches System und keine mündliche Überlieferung kann die wahre Bedeutung der Heiligen Schrift exakt vermitteln.3 Knapp zwei Jahrhunderte später schrieb Athanasius über die kanonischen Bücher der Schrift: »Dieses sind die Quellen des Heiles, welche den Dürstenden mit ihren Worten erfüllen; in diesen allein wird die Lehre der Frömmigkeit verkündet. Niemand darf diesen etwas beifügen, und Niemand von diesen etwas wegnehmen.«4 Eine Generation später formulierte Gregor von Nyssa (335–395 n. Chr.) den gleichen Glauben an die uneingeschränkte Autorität der Bibel:
»Wir halten es nicht für richtig, ihre gängigen Bräuche zum Gesetz und zur Regel einer soliden Lehre zu machen. Denn wenn die Tradition als Beweis für Richtigkeit gelten soll, können auch wir unsere vorherrschende Tradition vorbringen; und wenn sie unsere ablehnen, sind wir sicher nicht verpflichtet, ihrer zu folgen. Lasst also die inspirierte Heilige Schrift unser Schiedsrichter sein, und die Stimme der Wahrheit wird sicher denen gegeben, deren Dogmen mit den göttlichen Worten übereinstimmen.«5
Eine Generation danach schrieb Augustinus: »Denn die Überlegungen von Menschen, auch wenn sie katholisch und von hohem Ansehen sind, dürfen von uns nicht so behandelt werden wie die kanonischen Schriften.«6
Ein ganzes Jahrtausend später, zur Zeit der Reformation, kam die Debatte über die Vorrangstellung der Schrift erneut auf. Dazu kam es, weil Martin Luther die römisch-katholische Kirche herausforderte, welche die Autorität der Heiligen Schrift zwar bestätigte, aber nicht glaubte, dass die Schrift die höchste Autorität besitze. Sylvester Prierias war der erste Theologe, der vom Papst dazu ernannt wurde, Luther zu disputieren, und er brachte die römisch-katholische Position unmissverständlich auf den Punkt: »Wer sich nicht an die Lehre der römischen Kirche und des Papstes hält als an die unfehlbare Glaubensregel, von der auch die Heilige Schrift ihre Kraft und Autorität bezieht, der ist ein Ketzer.«7 Und auch heute noch lehrt der Katechismus der Katholischen Kirche, dass »›die Kirche‹, der die Weitergabe und Auslegung der Offenbarung anvertraut ist, ›ihre Gewißheit