Menschsein lernen - Weiming Tu - E-Book

Menschsein lernen E-Book

Weiming Tu

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Beschreibung

Tu Weiming zählt zu den renommiertesten chinesischen Philosophen. Sein 2018 auf dem Weltkongress für Philosophie gehaltener Vortrag über einen neuen Humanismus, Menschsein lernen ist die Krönung seines lebenslangen Bemühens, den Konfuzianismus in einen Dialog mit den spirituellen Traditionen der Welt zu bringen und die Herausforderungen zu durchdenken, denen sich das 21. Jahrhundert stellen muss. Tu strebt danach, menschliche Subjektivität im Lichte der konfuzianischen Tradition neu zu bestimmen. Auf dieser Grundlage entwirft er die Vision eines allumfassenden, dicht geknüpften Lebensnetzes, das über die vier sich in einer ständigen Kreisbewegung aufeinander beziehenden Aspekte »Selbst«, »Gemeinschaft«, »Erde« und »Himmel« auch eine ethische Perspektive eröffnet. Tus »geistiger Humanismus« soll dabei helfen, Egoismus, Ethnozentrismus, Nationalismus, aber auch Anthropozentrismus zu überwinden, denn der konfuzianische Übungsweg will den Menschen befähigen, »ein würdiges Gegenüber im kosmischen Prozess zu werden«. Wer sich mit gegenwärtigem Denken beschäftigen möchte, in globaler Perspektive und jenseits altbekannter europäischer Geisteswelten, kommt an Tu Weiming nicht vorbei.

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Menschsein lernen

Fröhliche Wissenschaft 200

Tu Weiming

Menschsein lernen

Entwurf eines Humanismus im konfuzianischen Geist

Herausgegeben von Kai Marchal

Mit Beiträgen von Helwig Schmidt-Glintzer,Huang Kuan-min, Herta Nagl-Docekal,Hans van Ess, Jonathan Keir und Ralph Weber

Inhalt

Zur Einführung

Tu Weiming

Geistiger Humanismus:Selbst, Gemeinschaft, Erde und Himmel

Kommentare

Helwig Schmidt-Glintzer

Ein Wanderer zwischen den Welten

Huang Kuan-min

Differenz und Dynamik: Ausblick auf ein konfuzianisches Weltbürgertum

Herta Nagl-Docekal

Zwischen Nähe und Differenz:Eine parallele Lektüre von Tu Weimings »geistigem Humanismus« und Kants Tugendlehre

Hans van Ess

Zum Gegensatz von Konfuzianismus als geistiger Tradition und sozialer Praxis

Jonathan Keir

Tu Weimings »geistiger Humanismus«:Mehr Cervantes als Descartes

Ralph Weber

Tu Weiming und das politische Denken eines nichtpolitischen Denkers

Einige Nachgedanken von Kai Marchal

Danksagung

Anmerkungen

Verzeichnis der Beitragenden

Zur Einführung

Dieses Buch enthält die deutsche Fassung des Textes »Geistiger Humanismus: Selbst, Gemeinschaft, Erde und Himmel« von Tu Weiming (geb. 1940). Bei diesem Text handelt es sich um ein Vortragsmanuskript, das der bedeutende chinesisch-amerikanische Philosoph, Intellektuelle und emeritierte Professor der Harvard-Universität auf dem 24. Weltkongress für Philosophie im August 2018 in Beijing verlesen hat. Der Weltkongress für Philosophie, der auch dank Tu Weimings Engagement zum ersten Mal überhaupt in der Volksrepublik China stattfinden konnte, stand in jenem Jahr unter dem Motto »Learning to be Human«. In seinem Vortrag unternahm es Tu,1 aus konfuzianischer Sicht eine Antwort auf die grundsätzliche Frage zu formulieren, was es heißt, das Menschsein zu lernen. Der knapp fünfzigseitige Text bietet zugleich eine ideale Einführung in sein Denken.

Tu Weiming ist in der deutschsprachigen Welt längst nicht so bekannt wie in Nordamerika, wo er seit vielen Jahrzehnten als ein wichtiger Repräsentant der ostasiatischen Kultur wahrgenommen wird. Sein publizistisches Wirken steht für eine Hybridisierung des Denkens, wie sie in der Gegenwart oft eingefordert, doch nur selten überzeugend realisiert wird. Ein Hindernis für die Auseinandersetzung mit diesem Philosophen ist, dass die jahrtausendealte chinesische Geistesgeschichte, vor deren Hintergrund er seine Gedanken entwickelt, nur den wenigsten Leserinnen und Lesern in Europa vertraut sein dürfte. Die dem Vortrag angehängten sechs kurzen Essays von Sinologen, Philosophinnen, Politik- und Literaturwissenschaftlern haben daher zum Ziel, zentrale Gedanken Tus herauszuarbeiten, historische und gesellschaftliche Kontexte zu beleuchten und mögliche Einwände zu skizzieren. Zugleich machen sie Vorschläge, wie in dem sich allmählich herausbildenden Raum eines globalen Denkens, der nur zu leicht von unseren modernen Sehnsüchten nach Eindeutigkeit und kultureller Authentizität blockiert wird, in Zukunft weiterzudenken wäre.

Tu Weiming hat seinen Vortrag in englischer Sprache niedergeschrieben; im Rahmen des Weltkongresses wurde das Manuskript sodann ins Chinesische und in viele andere Weltsprachen übersetzt. Die vorliegende Übersetzung hält sich an das englische Original. Im Interesse der Lesbarkeit wurden einige englische Formulierungen behutsam dem deutschen Sprachgebrauch angepasst. Alle Anmerkungen in eckigen Klammern stammen vom Herausgeber. Für die des Chinesischen kundigen Leserinnen und Leser wurden die wichtigsten chinesischen Schriftzeichen eingefügt. Soweit nicht anders angezeigt, verweisen alle Seitenzahlen auf den Vortragstext.

Tu Weiming

Geistiger Humanismus:Selbst, Gemeinschaft, Erde und Himmel

Aus dem Englischen vonKai Marchal und Guje Kroh1

Konfuzius hat einen umfassenden, ja vollkommenen Weg aufgezeigt, wie wir das Menschsein erlernen können. Die konfuzianische Philosophie geht von dem konkreten, im Hier und Jetzt lebenden Menschen aus. Konkret bezieht sich auf die Ganzheit des Menschen, die Körper und Geist umfasst. Da ich hier Englisch verwende, ist ein Hinweis angebracht. Das Wort Körper (body) mutet unkompliziert an; es vermittelt indes, wie wir noch sehen werden, Bedeutungsnuancen, die über den physischen Körper hinausgehen. Das Wort Geist (mind) aber wäre im Kontext meiner Überlegungen wenig hilfreich, weil ich nicht allein die kognitive Funktion des Verstandes behandeln möchte, sondern auch die emotionale Funktion des Herzens.

Um Missverständnisse zu vermeiden, verwenden Wissenschaftler in der internationalen Konfuzia-nismusforschung häufig die englischen Komposita »mind-and-heart« oder »heart-and-mind« [als Übersetzung des chinesischen Wortes xin 心]. Ich ziehe »heart-and-mind« vor, um die Bedeutung des Gefühls in der konfuzianischen Tradition hervorzuheben. Tatsächlich ist es noch etwas komplizierter, denn der ganze Mensch in seiner Konkretheit umfasst nicht nur den physischen Körper, das Herz und den Verstand, sondern auch Seele und Lebensgeist [im englischen Original soul and spirit, in der chinesischen Übersetzung linghun he jingshen 靈魂和精神]. Wenn ich also das Wort konkret benutze, möchte ich keineswegs den Eindruck erwecken, als ob ich damit lediglich den physischen Körper meinte.

Wenn Sie meine Auffassung von konkret akzeptieren, möchte ich Sie auffordern, dem Wort lebendig Ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Selbstredend bezieht es sich nicht auf etwas, dem Leben oder Vitalität abgeht. Wenn ich außerdem das Wort konkret verwende, dürfte deutlich werden, dass es sich nicht nur um einen abstrakten Begriff handelt. Gleichwohl kann Konkretheit immer noch die Bedeutung nahelegen, dass etwas greifbar ist (wie ein Stein), aber nicht notwendigerweise lebendig. Natürlich deutet mein Hinweis auf Herz und Geist bereits darauf hin, dass das Konkrete, im Unterschied zu einem Stein oder sogar einem Baum, lebendig ist in der Art eines Tiers, z. B. eines Hunds oder eines Pferds. An dieser Stelle möchte ich also einen philosophischen Gedanken einführen, der für meine weitere Untersuchung von entscheidender Bedeutung sein wird, nämlich den der »lebendigen Konkretheit«. In jeder philosophischen Untersuchung sind abstrakte Begriffe unvermeidbar. Wenn ich hier das Wort konkret verwende, möchte ich betonen, dass es trotz der Unvermeidbarkeit abstrakter Begriffsbildung meine Absicht ist, das Konkrete sichtbar zu machen, das Unmittelbare und in der Erfahrung direkt Zugängliche. Selbst wenn ich nicht in der Lage sein werde, den Blick jederzeit auf das Konkrete zu richten, so wird sein Vorhandensein im Folgenden doch stets vorausgesetzt. Ich möchte deutlich machen, dass es eine bestimmte Art von Konkretheit ist, die mich hier interessiert. Diese Spezifizierung schließt praktisch alle Dinge abgesehen von den Lebewesen aus. Im unermesslichen Universum gibt es das Phänomen Leben nur äußerst selten. Bislang haben wir trotz unserer enormen Beobachtungskapazitäten nur feststellen können, dass allein unser Planet Erde über lebenssichernde Rahmenbedingungen verfügt. Und unter den konkreten Lebewesen gibt es eine kleine Menge, auf die ich mich mit dem Ausdruck »lebendige Konkretheit« beziehen werde. Wir könnten »lebendige Konkretheit« auch den Pflanzen und Tieren zuschreiben, doch möchte ich hier von der Hypothese ausgehen, dass nur Menschen sich ihrer lebendigen Konkretheit bewusst sind. Darüber hinaus werde ich das Wort Person verwenden, um das Menschsein mit etwas Textur zu versehen und es als vom Sein jedes tierischen Lebewesens unterschieden herauszustellen.2

Einer der elementarsten konfuzianischen Grundsätze besagt, dass Menschsein zu lernen bedeutet, eine Person werden zu lernen. Eine Person zu werden erfordert einen dynamischen Prozess der Verwandlung. Ein charakteristisches Merkmal des Menschseins ist, dass wir, obschon das Wachstum unvermeidlich scheint, erst durch das Lernen zu Personen werden. Wir lernen, mit unserem Körper vertraut zu werden: Jeder Akt des Essens, Sitzens, Gehens, Sprechens oder Schlafens erfordert ein stetes Lernen. Streng genommen besitzen wir unseren Körper gar nicht, sondern wir werden zu ihm. Der Körper ist nicht einfach fertig gegeben, sondern stellt eine Leistung dar, eine in der Tat erstaunliche Errungenschaft. Er entscheidet mit seinen verschiedenen Aspekten – physisch, physiologisch, emotional, psychologisch, mental, intellektuell und spirituell – ganzheitlich darüber, wer wir als lebendige Konkretheit sind.

Wir können uns eine konkrete, lebendige Person vorstellen, weil wir so viele von ihnen getroffen haben – von den uns nächsten Familienangehörigen bis hin zur flüchtigsten Bekanntschaft. Doch bezieht sich »hier und jetzt« auf eine räumliche und zeitliche Realität, die wir anerkennen müssen, denn sie ist nicht eine vorgestellte Möglichkeit, sondern eine reale Präsenz. Aber was heißt es genau, sich mit einer konkreten, lebendigen Person im Hier und Jetzt zu befassen? Wie wir diese Frage beantworten, zeigt an, in welchem Maße wir uns unserer eigenen Existenz bewusst sind. Gewiss kann ich mir vorstellen, dass die konkrete, lebendige Person hier und jetzt ein Anderer sei; höchstwahrscheinlich werde ich diese Person aber als mich selbst identifizieren. Andere Menschen mögen meiner Gegenwart gelegentlich gewahr werden, aber ich allein bin mir meiner Gegenwart hier und jetzt immer bewusst. Mit der Erklärung, dass die konfuzianische Philosophie von der konkreten, lebendigen Person im Hier und Jetzt ausgeht, soll der Stellenwert des Selbstbewusstseins [self-awareness; ziwo yishi 自我意識] unterstrichen werden.3

Indes, wenn Sie nun meinen, dass es das eigentliche Anliegen des Konfuzius sei, die Frage zu beantworten, was für Menschen wir werden sollten, damit wir von Nutzen sind für die Gesellschaft, dann haben Sie ein anderes Verständnis des konfuzianischen Projekts als ich (obwohl ich gern einräume, dass die soziale Harmonie auch davon abhängt, auf welche Weise und durch was für ein Lernen wir zu Individuen werden; und dass wirkliche Menschen es gelernt haben müssen, gesellschaftlich wünschenswert zu sein und benötigt zu werden). [Einem gängigen Konfuzius-Bild zufolge] sind Menschen relationale, situierte und funktional verschiedene Wesen, die unterschiedliche gesellschaftliche Rollen zu übernehmen lernen; wenn sie ihre Rollen angemessen, effizient und kompetent ausfüllen, tragen sie zum Allgemeinwohl bei und verbessern das Wohlbefinden der Gesellschaft.

Aus dieser Sicht muss der Gedanke der konkreten, lebendigen Person im Hier und Jetzt, mit dem Selbstbewusstsein als zentralem Element, als zu egozentrisch erscheinen. Denn wir scheinen auf diese Weise nur zu leicht in die Falle des Individualismus zu tappen: Es kann passieren, dass eine Person sich isoliert, von anderen entfremdet und sich auf den Bereich eines privaten Egos beschränkt. In diesem Sinne wäre die stark psychologisierende Deutung des konfuzianischen Herz-Geists, wie sie bei Menzius [ca. 370–290 v. Chr.] anzutreffen ist, von einem ausgewogenen konfuzianischen Ansatz des »menschheitlichen Gedeihens« abgewichen; ein unglückliches Ergebnis dieser Deutung wäre es nämlich, dass das Streben nach dem inneren Selbst auf Kosten der gesellschaftlichen Verpflichtung ginge. Gemäß dieser Argumentationslinie stellte Xunzis [ca. 310–235 v. Chr.] Beharren auf disziplinierenden äußeren Beschränkungen durch Ritual und Gesetz ein angemessenes Korrektiv dar.

Ich werde Sie nicht mit den unterschiedlichen Entwicklungen der Selbstkultivierungslehre innerhalb der konfuzianischen Tradition belästigen. Meine Entscheidung, [trotz dieser Einwände] Menzius’ Formulierung bezüglich des wesentlichen Unterschieds zwischen menschlicher und animalischer Natur zu folgen,4 verdankt sich der Überlegung, dass auf diese Weise der Vorrang des Selbstbewusstseins überzeugend begründet werden kann. Ich erkenne voll und ganz an, dass Xunzis Verständnis des Geistes reichhaltige Ressourcen bereithält und dass seine Ermahnung zum Lernen auch von Menzius geteilt wird. Oberflächlich betrachtet steht seine Theorie der menschlichen Natur im Widerspruch zu Menzius’ Sicht, dass das moralische Empfinden angeboren sei;5 tatsächlich konvergieren ihre Positionen in vielen Punkten. Beide, Menzius und Xunzi, hatten Vertrauen in die Vervollkommnungsfähigkeit der menschlichen Natur, die transformative Kraft des Lernens, die Wirksamkeit der Selbstkultivierung, die Tradition der Weisen sowie in eine verantwortungsbewusste Regierungsführung durch rituelle Angemessenheit. Beide glaubten, dass Menschen niemals nur statische Gebilde sind, sondern stets dynamische und kreative Prozesse des Werdens.

Warum aber auf dem Selbstbewusstsein als Ausgangspunkt [des Entwicklungs- und Übungsweges] beharren? Weil es auf dieser Grundlage möglich sein wird, eine kohärente Perspektive zu entwickeln, aus der die Rücksicht auf die anderen Vorrang vor der Rücksicht auf das Selbst besitzt. Weil wir uns der anderen bewusst sind, werden wir unserer selbst bewusst. Ohne die Existenz der anderen anzuerkennen, könnte ich mir nicht bewusst sein, dass ich existiere. Es ist sogar denkbar, dass meine Beziehung zu den anderen meinem Selbstbewusstsein vorausgeht. In der konfuzianischen Tradition gibt es viele Beispiele, die sich zitieren ließen, um eine solche Sichtweise zu plausibilisieren. Der Wert der kindlichen Pietät und die Verpflichtung des Kindes gegenüber den Eltern sind genau deshalb zentral für die Menschlichkeit, weil die Liebe der Eltern zu ihrem Kind natürlich ist. Indem wir lernen, unsere Verpflichtung gegenüber den anderen anzuerkennen, erfahren wir den Wert der Gegenseitigkeit. Im Laufe der Jahre werden wir uns zunehmend bewusst, wie viel Rücksichtnahme auf andere in Gedanken und Handlungen wir hätten kultivieren sollen, um ihnen unsere Dankbarkeit zu bekunden; und manchmal wird diese Einsicht zu spät kommen.

Eine Person stellt ein Zentrum von Beziehungen dar. Es ist nicht möglich, sich das Zentrum als völlig isoliert von seinen Beziehungen vorzustellen. Sie erst verleihen diesem Zentrum, d. h. der konkreten, lebendigen Person, Farbe, Klang, Perspektive und Textur. Die lebendige Konkretheit einer Person, die notwendigerweise einzigartig ist, schließt Ethnizität, Geschlecht, Sprache, Alter, Geburtsort, Gesellschaftsschicht und Glaube ein, ganz zu schweigen von den Persönlichkeitsmerkmalen. Jede dieser Eigenschaften symbolisiert ein umfangreiches Netzwerk, das tausend und abertausend Menschen umfasst. Jeder von ihnen hat eine Bedeutung für mich in einem je nach Gegebenheiten verschiedenen Grad an Intensität.

Das Wort Selbstbewusstsein soll nicht nahelegen, dass wir uns all dieser bezeichnenden Merkmale bewusst sind, während wir uns in unsere Beziehungen einbringen. Vielmehr befähigt uns das Selbstbewusstsein dazu, zentriert zu bleiben, ohne dem Chaos völliger Auflösung und Zersplitterung anheimzufallen. Es gibt uns Orientierungssinn, ja Halt; es ist ein Kompass, der uns hilft, unruhige Gewässer zu befahren. Dies könnte auch der Grund dafür sein, dass Konfuzius uns aufgefordert hat, »um des Selbst willen zu lernen« [learning for oneself; wei ji zhi xue 為己之學].6

Lernen im gewöhnlichen Sinne bedeutet, Wissen zu erwerben und Fertigkeiten auszubilden. Wissen und Fertigkeiten können als Lernen um des Selbst willen verstanden werden; und doch, was Konfuzius im Sinn hatte, unterscheidet sich davon erheblich. Ihm zufolge können Wissen und Fertigkeiten uns verwandeln, indem sie zu integralen Bestandteilen unseres Körpers werden. Der Einfachheit halber möchte ich das »Lernen um des Selbst willen« definieren als »verkörpertes Lernen«.7 Lassen Sie mich das anhand des Erlernens einer Fertigkeit veranschaulichen. Wenn wir lernen, ein Musikinstrument zu spielen, etwa eine Geige, dann müssen wir sehr viel Zeit investieren, um uns mit Bogen und Fingersatz vertraut zu machen, bis wir tatsächlich in der Lage sind, einigermaßen angenehme Töne zu erzeugen. Wenn wir Talent besitzen und willens sind, uns voll und ganz der Musik zu verschreiben, werden wir diesem Instrument unser Leben widmen. Sollten wir eines Tages tatsächlich zu einem Virtuosen geworden sein, dann würde die Geige quasi eine Erweiterung unseres Körpers darstellen. Wir würden sie nicht länger wie ein Instrument bespielen, sondern mit ihrer Hilfe unser künstlerisches Feingefühl ausdrücken. Kurz gesagt: Wir besäßen ein verkörpertes Wissen von der Geige. Das passiert natürlich in seltenen Fällen, und nur wenige großartige Musiker können an diesen Punkt gelangen. Dennoch können wir uns vorstellen, was es heißt, dass wir nicht ein Instrument wie die Geige erlernen sollen, sondern uns selbst bzw. unseren ganzheitlich verstandenen Körper.

Das »Lernen um des Selbst willen« ist von großer Bedeutung, weil unser ganzes Leben auf dem Spiel steht. Die Frage ist nicht einfach, welchen Beruf ich gerne hätte, wie erfolgreich ich sein möchte, wie ich mein Ziel erreichen, welche soziale Rolle mich am meisten zufriedenstellen oder wie ich reich und berühmt werden könnte. Angesichts des Umstands, dass ich eine konkrete, lebendige Person bin, hier und jetzt, muss die Frage vielmehr lauten, was für ein Mensch ich werden möchte.

Ein so verstandenes Selbstbewusstsein schließt gewiss auch Wissen und Fertigkeiten mit ein, doch ist es primär ein transformativer Akt, der in dem ursprünglichen Gewahrsein unseres Menschseins gründet. Die Einzigartigkeit des Menschseins zeigt sich auf dieser Ebene in ihrer ursprünglichen Form, in aller Klarheit, ja mit einer gewissen Wärme. Genau darauf bezieht sich Menzius mit der Formulierung »großer Körper« [da ti 大體].8 In diesem Zusammenhang ist aber auch die berühmte Parabel von dem Kind erwähnenswert, das in einen Brunnen zu fallen droht und deshalb bei den Zuschauern Mitgefühl hervorruft.9 Sie könnte so verstanden werden, als ob wir durch einen Schreck zu der Einsicht gebracht werden sollen, dass wir alle Mitgefühl (Sympathie, Empathie, Anteilnahme) besitzen. Tatsächlich lautet ihre Botschaft jedoch: Mitgefühl ist so gewöhnlich, dass wir, wenn wir es einmal nicht mehr spüren sollten, nicht länger menschlich sind.

Lernen um des Selbst willen ist charakterbildend. Es ist problemlos vereinbar mit unserem beruflichen Ehrgeiz, unserem Streben nach Exzellenz, unserem Drang, unsere Situation zu verbessern, unserer Bereitschaft, zur gesellschaftlichen Harmonie beizutragen, und unserem Wunsch, anerkannt zu sein und ein angenehmes Leben zu führen. Es geht bei dieser Art des Lernens nämlich um eine grundlegendere Dimension unserer Existenz: den Sinn des Lebens. Der Begriff des Selbst als eines Zentrums von Beziehungen impliziert Subjektivität. Entscheidend ist, dass wir das Zentrum nicht auf seine Beziehungen reduzieren. Eine konkrete lebendige Person besteht aus einer Vielzahl von Beziehungen. Doch selbst aufaddiert können sie die Person nicht vollständig ausmachen. Und sogar die ursprünglichen Bindungen wie Rasse, Geschlecht, Sprache, Alter usw. können das Zentrum des Selbst nicht setzen. Natürlich sind sie alle wichtig und bedeutungsvoll, und zwar indem sie sowohl einschränkend als auch ermöglichend wirken. Anders gesagt handelt es sich bei diesen Bindungen um ermöglichende Einschränkungen. Der letzte Satz erfordert eine Erklärung.

Ein bezeichnendes Merkmal des konfuzianischen Humanismus ist die Einsicht, dass wir alle dazu bestimmt sind, eine besondere Person zu sein. Alle unsere ursprünglichen Bindungen sind in gewissem Sinne gegeben. Wir mögen in der Lage sein, einige von ihnen willentlich zu verändern, wie etwa Geschlecht und Sprache, aber im Großen und Ganzen sind sie festgelegt. In vielen großen religiösen Traditionen wird diese Tatsache des Lebens bestenfalls als einengend betrachtet. Sie beschränkt unsere Wahl und Handlungsfreiheit. Wir hoffen, sie zu verändern, wenn nicht sogar sie ganz aufzuheben. Zumindest sind wir in diesen Traditionen angehalten, uns von solchen Einschränkungen zu befreien, selbst wenn diese Anweisungen oft nur partiell durchgesetzt werden. So soll im Christentum die Zugehörigkeit zur wahren Gemeinschaft des Glaubens Vorrang vor familiären Bindungen haben. Andere Traditionen sind noch restriktiver. Von buddhistischen Mönchen wird oft verlangt, dass sie alle familiären Beziehungen durchtrennen. Im Konfuzianismus ist das anders. Der Umstand, dass wir alle dazu bestimmt sind, eine besondere Person zu werden, soll im Konfuzianismus akzeptiert und in vollem Umfang anerkannt werden. Die je eigene Biografie wird vielleicht nicht immer als Geschenk wahrgenommen, doch verlangt sie auf jeden Fall nach positiver Anerkennung; vielleicht sollte sie sogar gefeiert werden. Vermeintliche Einschränkungen sind zugleich auch Mittel oder Werkzeuge der Selbstverwirklichung. Deshalb sind sie nicht einfach Einschränkungen, sondern auch Ermöglichungen. Und in der Tat sind es diese ermöglichenden Einschränkungen, die uns zu konkreten, lebendigen Personen machen. In der konfuzianischen Selbstkultivierungslehre geht es darum, Einschränkungen durch eigene Anstrengung umfassend in Ermöglichungen zu verwandeln.

Ich habe einige Texte veröffentlicht, in denen ich die erkenntnistheoretischen, ethischen, ästhetischen und religiösen Implikationen der Selbstkultivierung als eine Form des Wissens untersuche. Darüber hinaus habe ich einen chinesischen Begriff geprägt, um dieses weit verbreitete und doch selten analysierte Konzept der traditionellen chinesischen Kultur zu vermitteln: »verkörpertes Wissen« [embodied knowing; tizhi 體知].10 Dieser Begriff ist weder identisch mit »knowing that« noch mit »knowing how«, sondern bezeichnet eine dritte Art von Wissen, das sich notwendigerweise als ein transformativer Akt vollzieht. Im erweiterten Sinne schließt diese Form des Wissens nicht nur das Gehirn und den Geist mit ein, sondern auch den Körper in einer holistischen und integrativen Weise. Körperlicher Einsatz sowie die kognitive Tätigkeit des Geistes und die emotionale Reaktion des Herzens sind dazu erforderlich. Konfuzius führte das Bogenschießen als ein Beispiel an.11 Verfehlen wir bei diesem das Ziel, müssen wir die Haltung unseres Körpers und unseren geistigen Zustand hier und jetzt dementsprechend ändern. Um die Kunst des Bogenschießens zu erlernen, ist unsere ganze Präsenz erforderlich.