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Winfried Henke

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Winfried Henke | Hartmut Rothe

Menschwerdung

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Inhalt

GrundrissDie Herausforderung der EvolutionsbiologieDer Mensch als PrimatenartPrimaten – unsere nächsten VerwandtenPrimatenmerkmaleSozialisation und IndividuationBiogenese und TradigeneseDer ›dritte Schimpanse‹Fossile Belege der MenschwerdungPaläoanthropologie – mehr als nur FossilkundeAfrika – Wiege der MenschheitEtappen der MenschwerdungAufrichtung – Ernährungswandel – HirnentfaltungZweifel am Taxon Homo habilisHomo – Ein ErfolgsmodellKulturfähigkeit als QuantensprungHomo ergaster – ein WandererDie Levante – Kreuzungspunkt früher WanderungenFernasien – Sackgasse der Hominisation?Europa – Homo auf Eigenwegen?Transition versus VerdrängungDie Revolution, die keine warVertiefungenFossilienmtDNA- und y-Chromosom-AnalysenPopulationsgenetische ParameterVerwandtschaftsforschungSaisonalitätEvolutionsökologische ModelleSozialsysteme der MenschenaffenKooperation, Koalition, ArbeitsteilungWerkzeuggebrauch bei SchimpansenWerkzeugkulturenSprachevolutionAnhangGlossarLiteraturhinweiseAbbildungsnachweise:Stammbaum des Menschen nach [...]

Grundriss

Die Herausforderung der Evolutionsbiologie

Mit den knappen Worten »Licht wird fallen auf den Menschen und seine Geschichte« verwies der Begründer der Evolutions- und Selektionstheorie, Charles Darwin (1809–1882), in seinem 1859 erschienenen Hauptwerk The Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation offavoured Races in the Struggle for Life auf die anthropologische Bedeutung seiner bahnbrechenden evolutionsbiologischen Erkenntnisse. Dieser Passus, der in der 1. Auflage der deutschen Übersetzung sogar fehlt, lässt nur ahnen, wie sehr ihn die Vorstellung umtrieb, dass Arten wandelbar sind. Die revolutionäre Wirkung seiner Befunde auf das damalige Weltbild war ihm durchaus bewusst, wie eine Bemerkung aus dem Jahr 1844 belegt: »Mir ist, als gestehe ich einen Mord.«

Seine umfangreichen vergleichenden Studien zur Morphologie, Anatomie, Embryologie, Paläontologie, Geographie, Geologie sowie Haustierkunde und Verhaltensbiologie ließen nur einen Schluss zu: Die Entstehung der Organismen ist ein historischer Prozess. Dass der britische Naturforscher Alfred Russel Wallace (1823–1913) bereits 1858 unabhängig von Darwin die Grundgedanken einer Theorie der natürlichen Selektion entworfen hatte, schmälert weder Darwins Leistung, noch rechtfertigt es die Behauptung, der Gedanke der Evolutionstheorie habe ›in der Luft gelegen‹. Richtig ist jedoch, dass schon seit langem wachsende Zweifel an dem traditionellen, teleologisch-finalistischen Weltbild bestanden. So ist der Verzicht auf die kategorische Aussage ›nullae species novae‹ in der letzten Auflage des Systema naturae (1776) des schwedischen Naturforschers Carl von Linné (1707–1778) eine Kritik an der Konstanz der Arten, eine Abkehr von dem statischen Entstehungsprinzip der Vielfalt der Lebewesen. Auch der Großvater von Charles Darwin, Erasmus Darwin (1731–1802), vertrat bereits zu Ende des 18. Jahrhunderts die Ansicht, dass Arten sich im Laufe der Zeit verändern und neue Arten aus ihnen entstehen würden. Jedoch nahm er Umweltreize und Hybridisierungen als ursächlich an für eine allmähliche höhere Organisation und größere Vielfalt der Arten.

Weitaus bekannter wurde hingegen der Evolutionsgedanke des französischen Biologen Jean-Baptiste de Lamarck (1744–1829), der häufig auf die Formel ›Vererbung erworbener Eigenschaften‹ reduziert wird. Seine Theorie zur allmählichen Veränderung der Arten ist jedoch komplexer, denn seiner Ansicht nach werden die Organe durch die Bewegung von Gasen und Flüssigkeiten und erregende Ursachen wie Licht, Wärme oder Elektrizität gebildet und umgebildet. Der Grundgedanke war, dass ein Wandel der Umweltbedingungen die Bedürfnisse lebender Organismen verändere, die daraufhin ihr Verhalten umstellen, indem sie bestimmte Organe häufiger, andere seltener benutzen, was einen Gestaltwandel der Körperteile bewirken soll. Die so erworbenen Veränderungen sind nach de Lamarck erblich.

Dem lamarckistischen Erklärungsansatz stand die vehemente Kritik des Begründers der funktionellen Anatomie, Georges Cuvier (1769–1832), entgegen, der das Dogma der Konstanz der Arten als »notwendige Bedingung für die Existenz der wissenschaftlichen Naturgeschichte« ansah.

Das entscheidende Verdienst Darwins – und auch das seines Zeitgenossen Russel Wallace – war, das Faktorenproblem der Evolution gelöst und die Mechanismen aufgezeigt zu haben, die zu einer Anpassung der Lebewesen an die Umwelt führen. Die Variabilität und Diversität der Organismen erklärte die Evolutionstheorie wie folgt: Erstens besteht eine erbliche Variabilität bei den Individuen einer Art, zweitens werden mehr Nachkommen erzeugt, als die Elterngeneration ersetzen würden (bezogen auf zweigeschlechtliche Arten). Durch den Mechanismus der natürlichen Auslese (Selektion) werden in der Generationenfolge jene erblichen Varianten weitergegeben, die für die Arterhaltung optimal wirksam sind.

Obwohl schon Darwin auf das Prinzip der sexuellen Evolution hingewiesen hatte, auf Partnerwahlauslese und gleichgeschlechtliche Konkurrenz, also inter- und intrasexuelle Selektion, wurde dieser Schlüssel zum evolutiven Verständnis jedoch lange übersehen. Retrospektiv waren die weitreichenden Erkenntnisse Darwins verfrüht, das heißt noch nicht reif für die Viktorianische Zeit. Nur wenige Biologen erkannten damals, dass mit der Evolutionstheorie eine ›Theorie der Geschichtlichkeit der Natur‹ angeboten war. Sie waren, wie der Evolutionsbiologe und Theologe Günter Altner betont, noch zu sehr auf das mechanistische Paradigma der Newton’schen Physik fixiert, so dass die Betrachtung der ›Welt als offenes System‹ erst später erfolgte.

Die ganze Herausforderung der Evolutionstheorie, eben nicht nur die physische Evolution der Organismen, sondern auch die Verhaltensevolution von Tier und Mensch auf biologischer Grundlage zu erklären, erfolgte erst mit der Begründung der Soziobiologie unter anderem durch William D. Hamilton, Edward O. Wilson und Richard Dawkins. Da sie die Selektionsebene auf Genniveau ansiedelt, die Theorie eines ›Genegoismus‹ (selfish gene) vertritt, liefert sie in entscheidenden Fragen grundsätzlich andere Erklärungsmodelle als die zuvor von Ethologen angenommene Gruppenselektion und erlaubte die Überwindung des ›Darwin’schen Paradoxon‹. Wie, so hatte sich Darwin gefragt, können auf der Grundlage strikter individueller Konkurrenz, einer auf Steigerung der Konkurrenzfähigkeit ausgerichteten Selektion, überhaupt kooperative Sozialsysteme entstehen, wie ist Vergesellschaftung mit evolutionsbiologischen Prinzipien erklärbar, wie können über die Jungenaufzucht hinaus wechselseitige Fürsorge oder gar individuelle Selbstaufopferung entstehen? Durch das theoretische Konstrukt der Soziobiologie ist erstmals eine darwinistische Erklärung der Entstehung und des evolutiven Erfolgs von kooperativem und altruistischem Verhalten möglich (Kooperation). Das Bild vom ›Egoismus der Gene‹ und die Konstituierung einer soziobiologisch geprägten Verhaltensbiologie ermöglichten den umfassenden Paradigmenwechsel vom Schöpfungsglauben zu einem selbstorganisatorischen Entstehungsprinzip. Erst auf der Ebene der synthetischen Evolutionstheorie respektive der Systemtheorie der Evolution wurde es möglich, die dem Menschen zugesprochene Sonderstellung in der Natur gänzlich aufzulösen, indem nicht nur die körperlichen, sondern auch die verhaltensbiologischen Strukturen und selbst die Entstehung des ›Geistes‹ als evolutive Anpassungen erklärt werden. Die Evolutionsbiologie verfolgt die eherne Regel, dass eine Anpassung, das heißt eine detailliert beschreib- oder messbare morphologische, anatomische, physiologische oder ethologische Eigenschaft, nur dann zu verstehen ist, wenn ihre evolutionär entwickelte Funktion deutlich wird. Physische wie auch psycho-soziale Eigenschaften sind nach der darwinistischen Selektionstheorie als Überlebensvorteil durch natürliche Selektion oder als Fortpflanzungsvorteil via sexuelle Selektion zu betrachten. Will man eine Spezies als Produkt evolutiver Anpassungsprozesse begreifen, so gilt es, das während der Stammesgeschichte entwickelte einzigartige Merkmalsmosaik zu erklären, die jeweilige biologische Rolle der zahlreichen arttypischen Form-Funktions-Komplexe und Eigenschaften im evolutiven Kontext zu deuten. Nur vor dem Hintergrund biologischer Funktionalität ist die so verblüffende ›Passung‹ zwischen einem Organismus und seiner Umwelt zu verstehen. Der Evolutionsgenetiker Theodosius Dobzhansky brachte es auf den Punkt: »Nichts in der Biologie macht Sinn, außer im Lichte der Evolution.«

Die historischen Phasen der Entwicklung der synthetischen Evolutionstheorie

Der Mensch als Primatenart

Primaten – unsere nächsten Verwandten

Stammt der Mensch vom Affen ab? – Das ist die den Anthropologen am häufigsten gestellte Frage. Lange vor der Erkenntnis eines realhistorisch-genetischen Zusammenhangs aller Lebewesen wurde von Naturgeschichtlern des Altertums und Mittelalters auf Ähnlichkeiten zwischen Affen und Menschen hingewiesen. Die Feststellung basierte jedoch nur auf dem oberflächlichen Vergleich der verschiedenen Erscheinungsformen, war also rein phänomenologisch. Im Rahmen der Evolutionstheorie stellten sich die Probleme:

wer unsere nächsten lebenden Verwandten in der Primatenordnung sind,

wann und wo, das heißt an welcher Stelle im Primatenstammbaum die zum Menschen führende Stammlinie abzweigte,

welche speziellen evolutionsökologischen Rahmenbedingungen es waren, die den Prozess der Menschwerdung ermöglichten,

wie viele fossile menschliche Vorläuferformen es gab, und

wie die Hominisation, die evolutive Herausbildung unseres spezifisch menschlichen Merkmalsgefüges, verlief.

Die Kernfrage lautet: Wie konnte via natürliche und sexuelle Selektion ein kulturfähiges Wesen entstehen, bei dem »Kultur zum natürlichen Rüstzeug gehört« (Hubert Markl)? Die Objekt-Subjekt-Identität macht deren Erforschung zu einem schwierigen Unterfangen. Wir sind nämlich erforschtes Objekt und forschendes Subjekt in einem; kein Wunder, dass die Befangenheit bei diesem heißen Eisen, wie Darwin es ausdrückte, anhält. Heute ist dagegen das Entsetzen über unsere Affenverwandtschaft abgeklungen.

»Die Frage aller Fragen für die Menschheit – das Problem, welches allen übrigen zu Grunde liegt und welches tiefer interessiert als irgendein anderes –, ist die Bestimmung der Stellung, welche der Mensch in der Natur einnimmt, und seiner Beziehungen zu der Gesamtheit der Dinge«, schrieb der Zoologe Thomas Henry Huxley, aufgrund seiner Spitzzüngigkeit auch »Darwins Bulldogge« genannt, bereits 1863 in seinem Werk Evidences as to Man’s Place in Nature. Es war die erste Studie, die auf vergleichend-primatologischer Grundlage schloss, »dass die Affenform, welche dem Menschen in der Gesammtheit des ganzen Baues am nächsten kommt, entweder der Chimpanze oder der Gorilla ist …« Heute bestehen keine Zweifel mehr, dass die afrikanischen Menschenaffen unsere engsten phylogenetischen Verwandten sind, die Beweise sind eindeutig. Molekulargenetiker sind neuerdings sogar in der Lage, die Übereinstimmung des Erbguts von Schimpanse und Mensch mit 98,8 Prozent zu beziffern, was bedeutet, dass 1,2 Prozent unterschiedliches Genmaterial die Divergenz zwischen Schimpanse und Mensch prägen. Dieser Wert relativiert sich, wenn man berücksichtigt, dass die Gemeinsamkeit des Genoms von Fruchtfliege und Mensch bei 75 Prozent liegt. Ein 98 %-Schimpanse zu sein, klingt zwar nach einem verschwindend geringen Abstand zwischen Tier und Mensch, addiert sich aber nach Aussagen von Evolutionsgenetikern auf 39 Millionen mögliche Unterschiede.

Eine vergleichende Genomanalyse ergab, dass die Expression von Genen und die Proteinsynthese bei Mensch und Schimpanse sich insbesondere im Gehirn dramatisch unterscheiden, während die Expressionsmuster in Leber und Blut kaum divergieren. Da jede Körperzelle das gesamte Genom in ihrem Kern trägt, wird eine spezifische Zelle, ob Leber-, Darm- oder Gehirnzelle, erst zu dem, was sie ist, indem spezifische Gene an- und abgeschaltet werden. Die jüngsten Befunde weisen auf deutliche Abweichungen zwischen Schimpanse und Mensch bezüglich der Anzahl der aktivierten Gene hin. Die offensichtlichen Unterschiede in der kognitiven Leistungsfähigkeit der Gehirne beider Arten sind auch molekularbiologisch nachzuweisen. Zweifellos ein bahnbrechender Befund, der enorme Perspektiven für das Verständnis evolutiver Prozesse eröffnet, indem mit der Transkriptionsanalyse funktionell relevante genetische Unterschiede zwischen den Arten aufgezeigt werden können. Das Ergebnis ist insofern nicht unerwartet, als über fünf bis sechs Millionen Jahre Eigenweg zwischen den zu Pan troglodytes und Homo sapiens führenden Stammlinien liegen. Bereits in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts wiesen die amerikanischen Molekularbiologen Morris Goodman und Vince Sarich mittels der ›molekularen Uhr‹ eine sehr späte Aufspaltung von Mensch und afrikanischen Menschenaffen nach. Dieser Befund stand lange im Gegensatz zu dem der Paläoanthropologen, die für eine frühe Aufspaltung plädierten und somit eine rund doppelt so lange Entwicklungsdauer annahmen. Bezogen auf 4,5 Milliarden Jahre Entwicklung von Leben auf der Erde erscheint der Mensch offenbar erst in letzter Sekunde auf unserem Planeten.

Mit moderner Genchip-Technologie gewonnene Resultate werden eingefleischte Evolutionsskeptiker nicht dazu bringen, den Menschen nur als einen Menschenaffen ›eigener Art‹ zu sehen und den traditionell angenommenen Rubikon zwischen Mensch und Tier zu negieren. Während Primatologen einerseits die Kontraste thematisieren und analysieren und andererseits die Übereinstimmungen zwischen den Primatenarten beschreiben und zu erklären versuchen, fokussieren Kulturwissenschaftler offenbar nur auf das Trennende, die Kultur.

Der Verhaltensforscher Wolfgang Köhler (1887–1967) untersuchte in seiner Affenstation auf Teneriffa schon 1921 durch ›Intelligenzprüfungen an Menschenaffen‹ das Leistungspotential unserer stammesgeschichtlichen Vettern, aber erst die Freilandstudien von George Schaller, Diane Fossey (Gorilla), Jane Goodall, Yukimaru Sugiyama, Christophe Boesch (Schimpanse) und Takayoshi Kano (Bonobo) sowie Birute Galdikas (Orang-Utan) machten das breite verhaltensbiologische Spektrum der Menschenaffen deutlich (Sozialsysteme der Menschenaffen, Werkzeuggebrauch bei Schimpansen). Ferner gaben experimentelle Studien zur Kommunikation und Kognition höherer Primaten verblüffende Einblicke in deren hohes Leistungspotential. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass die heutigen Menschenaffen nicht unsere Vorfahren sein können. Sie haben wie wir ebenfalls eine lange eigenständige Entwicklung durchlaufen und teilen mit dem Menschen gemeinsame Vorfahren.

Ergebnisse von Untersuchungen an berühmten Menschenaffen wie Sarah, Washoe, Lana, Kanzi und ihren namenlosen Artgenossen können nicht widerlegen, dass wir einzigartig sind. Sie machen aber zunehmend eines deutlich, dass Kulturfähigkeit und Kultur nicht auf den Menschen beschränkt sind, sie zeigen, dass die Dichotomie Kultur versus Natur nicht gilt. Dass das Kulturwesen Mensch auch Natur hat, daran zweifelt wohl keiner, aber dass das Naturwesen Menschenaffe auch Kulturfähigkeit und Kultur haben soll, wird kaum wahrgenommen.

Skizze des Stammbaums der Primaten, die Darwin einem Brief an T.H. Huxley beifügte (links: Original, rechts: Erläuterung)

Primatenmerkmale

Das Jahr 1863 gilt als das Geburtsjahr der wissenschaftlichen Primatenkunde (Primatologie), da damals nicht nur das erwähnte Werk von Thomas H. Huxley erschienen war, sondern auch wegweisende Beiträge von Charles Lyell (1797–1875; Aktualitätsprinzip), Ernst Haeckel (1834–1919; erste Stammbäume) und Karl Vogt (1817–1895; vergleichende Anatomie) die Belege für eine gemeinsame stammesgeschichtliche Wurzel von Mensch und Tierprimaten lieferten. Alle vergleichenden Befunde stellten den Menschen zu den Altweltaffen, wie bereits ein frühes Stammbaumschema von Darwin zeigt. Die Klassifikation von Homo sapiens als Wirbeltier (Stamm Vertebrata), als Säugetier (Klasse Mammalia), als Herrentier oder Affe (Ordnung Primates), als echter Affe (Unterordnung Simii) und innerhalb dieser zu den Altwelt- oder Schmalnasenaffen (Zwischenordnung Catarrhini) und darin zu den Menschenartigen (Überfamilie Hominoidea) hat auch heute noch Gültigkeit. Demnach hat der Mensch mit seinen nächsten Verwandten phylogenetisch gleiche Evolutionsschritte durchlaufen, die sich bei näherer Betrachtung als Präadaptationen respektive Prädispositionen zur Menschwerdung verstehen lassen. Letztere sind im weitesten Sinne Eigenschaften eines Organismus, die für noch nicht realisierte Situationen oder Funktionen – wieder im weitesten Sinne – Adaptationswert besitzen. In der Stammlinie der Primaten zeichnen sich im Rückblick Entwicklungskanalisierungen ab, die im Sinne des englischen Biologen Julian Huxley (1887–1975) als ›konstitutionelle Präadaptation‹ zu verstehen sind, das heißt es ist nicht nur eine Struktur, ein Organ, eine Verhaltensweise oder eine Funktion an eine neue Lebensweise angepasst, sondern ein ganzer Organismus in seiner vielfältigen Komplexität. Der entscheidende Faktor für die komplexe, konstitutionelle Präadaptation ist der alte Lebensraum oder der alte Funktionskreis. Dieser muss zufällig so beschaffen sein, dass die dort erworbenen Anpassungen (Postadaptationen) gleichzeitig eine komplexe Präadaptation für einen andersartigen Lebensraum oder eine andersartige Funktion ergeben. Die Anpassungsvorgänge in der subhumanen Primatenevolution lassen sich als Voranpassungen zur Menschwerdung (Hominisation) verstehen.

Reich (Regnum) ▸ Zoa (Tiere)

Unterreich (Subregnum) ▸ Metazoa (Vielzeller)

Stamm (Phylum) ▸ Chordatiere (Rückensaitentiere)

Unterstamm (Subphylum) ▸ Vertebrata (Wirbeltiere)

Klasse (Classis) ▸ Mammalia (Säugetiere)

Unterklasse (Subclassis) ▸ Eutheria (Plazentatiere)

Ordnung (Ordo) ▸ Primates (Herrentiere)

Unterordnung (Subordo) ▸ Haplorhini (Trockennasenaffen)

Teilordnung (Infraordo) ▸ Catarrhini (Schmalnasenaffen)

Überfamilie (Superfamilia) ▸ Hominoidea (Menschenartige)

Familie (Familia) ▸ Hominidae (Menschenaffen u.Menschen)

Unterfamilie (Subfamilia) ▸ Homininae (afrikanische Menschenaffen u.Menschen)

Gattungsgruppe (Tribus) ▸ Hominini (Menschen)

Gattung (Genus) ▸Homo (Menschen i.e.S.)

Art (Spezies) ▸Homo sapiens (vernunftbegabter Mensch)

Unterart (Subspezies) ▸Homo sapiens sapiens (anat.-moderner Mensch)

Tab. 1 Klassifikation von Homo sapiens

Während sich die Halbaffen (Prosimii) noch durch eine Reihe ursprünglicher Merkmale auszeichnen, jedoch gegenüber Nicht-Primaten bereits eindeutig evolviert sind, gilt für höhere Primaten folgende Kennzeichnung:

erhebliche Beweglichkeit der Gliedmaßen;

Abspreizbarkeit sowie freie Dreh- und Opponierbarkeit von Daumen und Großzehe gegenüber den anderen Fingern und Zehen (beim Menschen jedoch sekundäre Reduktion durch Standfußentwicklung);

großer Hirnschädel, Reduktion der Schnauze (bei Pavianen aber sekundäre Schnauzenverlängerung);

nach vorn gerichtete Augenhöhlen;

maximal 36 Zähne bei Neuweltaffen, 32 bei Altweltaffen;

mäßig entwickelter Geruchssinn, entsprechend geringer Riechhirnanteil;

optischer Sinn dominierende Sinnesmodalität, Befähigung zum stereoskopischen Sehen, Farbsehvermögen;

große, komplex strukturierte Sehrinde im Hinterhauptslappen des Großhirns mit anderen Hirnregionen vernetzt;

hoch empfindliche Tastorgane auf Hand- und Fußfläche (Hautleisten) und besonders empfindliche Lippenregion; Nägel statt Krallen;

akustischer Sinn (Gehör) gut ausgeprägt im relativ niederen Frequenzbereich;

gut entwickelter Geschmackssinn;

große, stark gefurchte neue Großhirnrinde (Neocortex); sekundäre und tertiäre Sinneszentren (Assoziations- und Integrationsareale), erhebliche Anzahl neuronaler Verschaltungen, große Speicherkapazität für Informationen (Gedächtnis und Sinneseindrücke);

hoch differenziertes Kleinhirn (Cerebellum) als Voraussetzung für feinste Bewegungskontrollen, unter anderem der Hand (Manipulationen);

lange Trächtigkeitsphase (beziehungsweise Schwangerschaftsdauer), hohes elterliches Investment während der Kindheit und Jugendzeit, monatlicher Sexualzyklus und Organisation in Sozialverbänden.

Sozialisation und Individuation

Der Mensch durchläuft in seiner Individualentwicklung (Ontogenese) eine komplexe Sozialisation. Darunter versteht man den Prozess, durch den Individuen soziale Kompetenz entwickeln, die für wirksames Planen und Handeln in der Gesellschaft, in der sie leben, unabdingbar ist. Daneben ist Individuation, der Prozess der Reifung und Differenzierung des Individuums zu einer Persönlichkeit, ebenso essentiell.

Höhere Primaten durchlaufen aufgrund ihrer verzögerten physischen und psychischen Reifung und ihrer hohen Lernbegabung gepaart mit einem ausgeprägten Neugierverhalten und dem verstärkten Einbau von erlernten (tradierten) Verhaltenskomponenten in das ausreifendeVerhaltensrepertoire eine komplexe individuelle Entwicklung, die also durch tradi- und biogenetische Komponenten geprägt ist.

Der evolutive Prozess fördert einerseits die individuelle Innovationsfähigkeit, andererseits verstärkt er aber auch die soziale Abhängigkeit. Entzug des sozialen Umfeldes führt zu irreparablen Entwicklungsstörungen. Vielseitiges Lernen, Innovationsfähigkeit und Verhaltensflexibilität werden in der Primatenevolution zur entscheidenden Existenzbedingung.

Laborversuche und Feldstudien an Primaten belegen, dass die Vielseitigkeit und Komplexität von Lernleistungen mit deren Evolutionshöhe steigen. Da in freier Wildbahn auch Traditionsbildungen und verblüffend komplexe Problemlösungsstrategien höherer Primaten zu beobachten sind, liegt die Frage nahe, ob sie zu kulturellen Leistungen befähigt sind. Der japanische Primatologe Masao Kawai definiert unter Bezug auf die traditionelle Diskussion Kultur als »eine Lebensweise, die zu einer Verhaltensweise wurde, die erworben, geteilt, sozial vererbt und unter den Mitgliedern derselben Gesellschaft fixiert wird«.