MERKUR 2/2024, Jg.78 -  - E-Book

MERKUR 2/2024, Jg.78 E-Book

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Beschreibung

Im Aufmacher bemängelt Thomas Etzemüller ein Ungleichgewicht: In historischen Darstellungen der Zwischenkriegszeit kommen neben den Totalitarismen die durchaus vorhandenen mehr oder weniger stabilen Demokratien auf nicht ganz nachvollziehbare Weise zu kurz. Alexander Blankenagel schildert in düsteren Details die aktuelle Lage in Russland – Gründe zur Hoffnung scheinen dabei keine vorhanden. Von einer ein paar Jahre zurückliegenden Reise nach Armenien berichtet Bernhard Malkmus, mit stetem Bezug zum bedrohlichen Konflikt mit Aserbaidschan, nicht nur um Berg-Karabach. Die Entstehung und strategische Wandlung der Hisbollah schildert Zain Samir, nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines drohenden Krieges mit Israel.   Anders als Thomas Steinfeld in seiner Merkur-Rezension ist Eva Geulen ganz und gar nicht damit einverstanden, wie Erhard Schüttpelz in seinem Buch "Deutland" die Geschichte der Literaturwissenschaft seit mehr als hundert Jahren abzuräumen versucht. Mit der Rolle von Essens-, genauer: Besteckszenen als Klassismus-Anzeigern in der neueren Literatur beschäftigt sich Carlos Spoerhase.   Mit abstraktem soziologischem Instrumentarium nähert sich Stefan Hirschauer der Eskalation des Israel-Palästina-Konflikts dann doch immer wieder durchaus konkret. Sandro Paul Heidelbach wirft den Blick der Zukunft auf die Gegenwart des Anthropozän. Zugespitzte Physiognomien des Faschismus und des Nationalsozialismus entwirft Moritz Rudolph. In Susanne Neuffers Erzählung "Hingabe und Verzückung" kommt es zu einer Wiederbegegnung mit einem Angehimmelten bei einem Missionskongress.

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Seitenzahl: 185

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Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken

Der Merkur ist eine Kulturzeitschrift, wobei der Begriff der Kultur in denkbar weitem Sinne zu verstehen ist. Er erscheint monatlich und wendet sich an ein anspruchsvolles und neugieriges Publikum, das an der bloßen Bestätigung der eigenen Ansichten nicht interessiert ist. Mit kenntnisreichen und pointierten Essays, Kommentaren und Rezensionen hält der Merkur gleichermaßen Distanz zum Feuilleton wie zu Fachzeitschriften. Die Unterzeile »Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken« formulierte bei der Gründung im Jahr 1947 das Bekenntnis zu einer weltanschaulich unabhängigen Form von Publizistik, die über kulturelle und nationale Grenzen hinweg alle intellektuell relevanten Debatten ihrer Zeit aufnehmen wollte. Auch wenn der Horizont für ein solches Unternehmen sich mittlerweile deutlich erweitert hat, trifft das noch immer den Kern des Selbstverständnisses der Zeitschrift.

Heft 897, Februar 2024, 78. Jahrgang

Herausgegeben von ChristianDemand und EkkehardKnörer

Gegründet 1947 von Hans Paeschke und Joachim Moras

Herausgeber 1979–1983 Hans Schwab-Felisch1984–2011 Karl Heinz Bohrer1991–2011 Kurt Scheel

Lektorat / Büro: Ina Andrae

Redaktionsanschrift: Mommsenstr. 27, 10629 Berlin

Telefon: (030) 32 70 94 14 Fax: (030) 32 70 94 15

Website: www.merkur-zeitschrift.de

E-Mail: [email protected]

Der Merkur wird unterstützt von der Ernst H. Klett Stiftung Merkur.

Partner von Eurozine, www.eurozine.com

Verlag und Copyright: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Postfach 106 016, 70049 Stuttgart, Tel. (0711) 66 72-0, www.klett-cotta.de · Geschäftsführer: Dr. Andreas Falkinger, Philipp Haußmann, Tom Kraushaar.· Leiter Zeitschriften: Thomas Kleffner, [email protected] · Media-Daten: www.merkur-zeitschrift.de/media · Manuskripte: Für unverlangt und ohne Rückporto eingesandte Manuskripte kann keine Gewähr übernommen werden. · Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 22. Dezember 2023 · Gestaltung: Erik Stein · Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann-Satz GmbH & Co. KG, Lemförde

Bezugsbedingungen: Der Merkur erscheint monatlich. Preis 15 €; im Abonnement jährlich 152 € / 176 sFr; für Studenten gegen Vorlage einer Bescheinigung 96 € / 114 sFr; alle Preise jeweils zzgl. Versandkosten. · Die elektronische Version dieser Zeitschrift mit der Möglichkeit zum Download von Artikeln und Heften finden Sie unter www.merkur-zeitschrift.de. Der Preis für das elektronische Abonnement (E-Only) beträgt 152 € / 176 sFr; für Studenten und Postdocs gegen Vorlage einer Bescheinigung 48 €; für Privatkunden, die gleichzeitig die gedruckte Version im Abonnement beziehen, 26 € / 36 sFr. Im jeweiligen Preis der elektronischen Abonnements ist der Zugriff auf sämtliche älteren digitalisierten Jahrgänge enthalten. Preise für Bibliotheken und Institutionen auf Anfrage. Alle genannten Preise enthalten die zum Zeitpunkt des Kaufs gültige Mehrwertsteuer. In Drittländern jenseits der Schweiz (und außerhalb der EU) gelten die angegebenen Preise netto. · Die Mindestbezugsdauer beträgt ein Jahr. Erfolgt keine Abbestellung spätestens vier Wochen vor Ende des Bezugszeitraumes, verlängert sich das Abonnement auf unbestimmte Zeit; dieses kann sodann jederzeit mit einer Frist von einem Monat gekündigt werden. Es gelten unsere allgemeinen Bezugsbedingungen für Zeitschriftenabonnements (ABBs).

Abonnementverwaltung (falls vorhanden, bitte Ihre Kundennummer angeben): Leserservice Verlag Klett-Cotta, Postfach 13 63, 82034 Deisenhofen, Telefon (0 89) 8 58 53-868, Fax (0 89) 8 58 53-6 28 68. E-Mail: [email protected]

(D) 15 €  (A) 15,80 €  (CH) 18 SFr

ISSN Print 0026-0096 / ISSN Online 2510-4179     www.merkur-zeitschrift.de

ISBN 978-3-608-12302-9

Inhalt

Autorinnen und Autoren

Zu diesem Heft

BEITRÄGE

Thomas Etzemüller: Demokratie in der Zwischenkriegszeit – die Mär eines europäischen Scheiterns

Eine irritierte Intervention

Alexander Blankenagel: Ach Russland, war’s das?

Bernhard Malkmus: Das Land der schreienden Steine und unser Schweigen

Im Schatten geopolitischer Großkonflikte wird Armenien von seinem historischen Trauma eingeholt

Zain Samir: Der Krieg der Hisbollah

KRITIK

Eva Geulen: Professionalisierungsschicksale der Neuphilologien

Replik auf Erhard Schüttpelz und Thomas Steinfeld

Carlos Spoerhase: Literarische Besteckszenen

Über den sozialen Aufstieg mit Messer und Gabel

MARGINALIEN

Stefan Hirschauer: Eskalationsspirale in Nahost. Eine konfliktsoziologische Perspektive

Sandro Paul Heidelbach: Die Zukunft ausgraben

Moritz Rudolph: Nationalsozialistisch, nicht faschistisch

Susanne Neuffer: Hingabe und Verzückung

Vorschau

ThomasEtzemüller, geb. 1966, Professor für Europäische Kulturgeschichte der Moderne an der Universität Oldenburg. 2021 erschien Henning von Rittersdorf – Das deutsche Schicksal. Erinnerungen eines Rasseanthropologen. Eine Doku-Fiktion; 2022 Landschaft und Nation: Rhein – Darlarna – England. https://uol.de/thomas-etzemueller/

AlexanderBlankenagel, geb. 1946, war Professor für öffentliches Recht, Russisches Recht und Rechtsvergleichung an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2014 erschien Den Verfassungsstaat nachdenken (Hrsg.). [email protected]

BernhardMalkmus, geb. 1973, Professor für Germanistik an der Newcastle University. 2016 erschien (zus. m. Heather Sullivan) The Challenge of Ecology to the Humanities. Posthumanism or Humanism? [email protected]

ZainSamir arbeitet als Journalist im Nahen Osten. – Der Beitrag erschien unter dem Titel Hizbullah’s War in der London Review of Books vom 30. November 2023.

EvaGeulen, geb. 1962, Germanistin, Direktorin des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin. 2016 erschien Aus dem Leben der Form. Goethes Morphologie und die Nager. www.zfl-berlin.org

CarlosSpoerhase, geb. 1974, Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 2022 erschien Geistesarbeit: Eine Praxeologie der Geisteswissenschaften (zus. m. Steffen Martus). [email protected]

StefanHirschauer, geb. 1960, Professor für Soziologie an der Universität Mainz, Sprecher des SFB Humandifferenzierung. 2017 erschien Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung (Hrsg.). [email protected]

Sandro PaulHeidelbach, geb. 1996, Student. [email protected]

MoritzRudolph, geb. 1989, Redakteur des Philosophie Magazins. 2021 erschien Der Weltgeist als Lachs. [email protected]

SusanneNeuffer, geb. 1951, Autorin. 2019 erschien Im Schuppen ein Mann; 2022 Sandstein. Zwei Novellen. www.susanne-neuffer.de

Zu diesem Heft

DOI 10.21706/mr-78-2-3

Die Welt bleibt von Krisen geschüttelt. Russlands Innenpolitik nähert sich im Krieg den wahrlich finsteren Zeiten unter Stalin, wie Alexander Blankenagel in seinem Überblick über die Lage der Dinge feststellen muss. Zu Optimismus für eine dauerhafte Lösung des Israel-Palästina-Konflikts besteht nach dem Terrormassaker der Hamas und dem massiven Gaza-Feldzug der Netanyahu-Regierung kein Anlass. Stefan Hirschauer tritt als Soziologe einen Schritt zurück und beobachtet die Mechanismen, die den Konflikt schüren und jede mögliche Einigung hintertreiben. Im Schatten der großen Kriege ereignen sich Verbrechen wie Aserbaidschans ethnische Säuberungen in Bergkarabach, denen die Weltöffentlichkeit wenig Aufmerksamkeit schenkt, während der Westen das Land nicht sanktioniert, weil es als Lieferant fossiler Energie dringend gebraucht wird. Davon berichtet Bernhard Malkmus in seinem Text, der Reportage mit Analyse verbindet. In Deutschland gewinnt eine Partei im Osten kommunale Ämter und erzielt auch im Westen enorme Umfragen- und Stimmengewinne, bei der sich die Frage stellt, ob man ihr Denken und Wirken am Ende näher am Faschismus oder am Nationalsozialismus ansiedeln will. Dazu macht sich Moritz Rudolph seine wie stets wenig orthodoxen Gedanken. Sandro Paul Heidelbach antizipiert eine künftigen Rückblick auf die Epoche des Anthropozän – auch der stimmt nicht wirklich heiter.

Thomas Etzemüller immerhin malt in seinem Essay nicht schwarz in schwarz. Vielmehr stellt er die Frage, ob die Historikerinnen und Historiker beim Blick auf die Zeit zwischen den zwei Weltkriegen vielleicht doch etwas zu sehr auf das Sterben der Demokratien und die bitteren Triumphe des Diktatorischen und Totalitären fixiert sind. Immerhin sei es einigen Demokratien doch durchaus gelungen, die Stabilität zu wahren. Wäre es nicht gerade in Zeiten, in denen die Wiederholung des Unheils droht, sinnvoll, sich genauer anzusehen, was die Bedingungen der Möglichkeit ihres Fortbestands trotz aller Anfechtungen waren? In der Hoffnung, dass es dieser Teil der Geschichte ist, aus dem wir am Ende das Entscheidende lernen?

CD / EK

Beiträge

DOI 10.21706/mr-78-2-5

Thomas Etzemüller

Demokratie in der Zwischenkriegszeit – die Mär eines europäischen Scheiterns

Eine irritierte Intervention

Geschichte wiederholt sich. Nach dem Ersten Weltkrieg sind eine ganze Reihe demokratischer Staaten über die Klinge gesprungen und von rechtspopulistischen Regimes oder autoritären Diktaturen abgelöst worden. Genau dasselbe droht ganz offenkundig heute wieder. Von daher ist es kein Wunder, dass die historische Forschung zum Zerfall von Demokratien im 20. Jahrhundert Konjunktur hat. Wieder scheint eine komplexe, multiple Krisensituation moderne Gesellschaften zu überfordern. Damals aufgrund der Folgen des Weltkriegs, von Inflation und der unkontrollierbaren Weltwirtschaftskrise, die im Mittleren Westen der USA mit einer ökologischen Katastrophe einherging. Heute Klimawandel, Kriege und Flüchtlingskrise. Die Zeit politischer Utopie scheint beendet, und mit zahllosen Feuerwehraktionen bekommen die westlichen Gesellschaften ihre Wald- und politischen Brände nur noch mühsam und kurzfristig unter Kontrolle.

Politologen beschäftigen sich ebenfalls mit der Demokratie der Zwischenkriegszeit – interessanterweise aber mit den Bedingungen ihres Überlebens. Warum haben die schweren Verwerfungen und der Zweite Weltkrieg eigentlich nicht alle Demokratien hinweggefegt? Warum haben Demokratien, warum hat zumindest demokratisches Denken selbst unter nationalsozialistischer Besatzung Bestand gehabt? Wie soll man also die Zwischenkriegszeit interpretieren? Etwa die Hälfte der Demokratien hat überlebt, die Hälfte ist gescheitert. Was ist nun historisch und demokratietheoretisch wichtiger gewesen: Waren der Misserfolg die Regel und die überlebenden Demokratien marginale Fälle? Oder ist ihre Robustheit doch nicht so überraschend gewesen, die gescheiterten jedoch waren ein Irrtum der Geschichte?

Ein Credo des Soziologen Niklas Luhmann lautet, dank zahlloser Variationsmöglichkeiten in modernen, komplexen Gesellschaften sei es eher unwahrscheinlich, dass sich Relationen stabilisieren. Deshalb sei die Frage doch viel interessanter und schwerer zu beantworten, warum etwas funktioniere, als warum nicht. Übertragen auf Geschichte und Gegenwart hieße das: Von welchen Gesellschaften können wir größeren Aufschluss für die Gegenwart gewinnen, von denen, die ihre Demokratie zerstört, oder denjenigen, die sie bewahrt haben? Lernen wir mehr von Historikern oder Politologen?

Natürlich ist diese Gegenüberstellung unterkomplex. Aber zumindest sollte man über die Perspektive reflektieren. Ich möchte das mit einem impressionistischen Durchlauf durch einige historische Darstellungen und politologische Analysen versuchen. Ich bin eher zufällig auf diese Opposition gestoßen, und zwar bei der Arbeit an einem Buch über die »heroische Moderne« (Heinz Dieter Kittsteiner) und die Frage, was die »Ambivalenz« dieser Moderne (Zygmunt Bauman) eigentlich ausgemacht hat, also das »Janusgesicht« (Detlev K. Peukert) von Fortschritt und Vernichtung.1

Historiker spitzen die europäische Geschichte tendenziell auf das rückwärtsgewandte Gesicht zu, auf den Holocaust und damit zugleich auf das fast schon notwendige Ende der Demokratie.2 Eine ganze Reihe einflussreicher und vielgelesener Historiker hat Synthesen zur Geschichte Europas im 20. Jahrhundert vorgelegt, aus denen jede Ambivalenz eliminiert ist. Die Titel sind sprechend: Age of Extremes (Eric J. Hobsbawm), Höllensturz (Ian Kershaw), The Dark Valley (Piers Brendon), Das Europa der Diktaturen (Gerhard Besier). In solchen Darstellungen wird die europäische Geschichte latent in eine Korridorperspektive gezwängt: Der politische Gegensatz von Demokratie und Diktatur zieht sich von der (stalinistischen) Sowjetunion über das Deutschland des (totalitären) »Sonderwegs« hinüber zum demokratischen Großbritannien, nebenan Frankreich, im Hintergrund die USA. Länder jenseits des Korridors, die dieses Bild modifizieren würden, und die zentraleuropäischen, etwas eigentümlichen Demokratien der Niederlande oder Belgiens, die ihre Konflikte damals erfolgreich in »Säulen« gegossen oder in ein permanentes Krisenmanagement transformiert hatten, werden in der Regel ignoriert.

Piers Brendons »Panorama der 1930er Jahre« beispielsweise präsentiert Krisen und Diktaturen, die europäischen Demokratien erwähnt er nicht einmal (von Großbritannien und Frankreich abgesehen).3 Für Mark Mazower haben sich Demokratien mühelos in Diktaturen verwandelt. »Nur am Nordrand des Kontinents konnte sich eine effektive parlamentarische Regierungsform halten« – das war’s zu diesem Thema.4 In Edgar Wolfrums und Cord Arendes’ Globale Geschichte des 20. Jahrhunderts besteht die Zwischenkriegszeit praktisch ausschließlich aus Scheitern,5 und es ist frappierend, Wolfrums Welt im Zwiespalt zu lesen, der für das Jahr 1940 die Zahl der Demokratien auf fünf reduziert, ohne zu erwähnen, dass mehrere von ihnen nicht vermorscht zusammengebrochen sind, sondern von der deutschen Besatzung suspendiert worden waren.6Ian Kershaws Europa ist ein reines Desaster, ein »verwilderter Kontinent«,7 in dem Demokratien nur in Ausnahmefällen funktionierten. Die Begriffe in seinen Kapitelüberschriften lauten »Selbstzerstörung«, »Abgrund«, »Katastrophe«, »Tanz auf dem Vulkan«, »Düstere Wolken«, »Der Hölle entgegen«, »Hölle auf Erden« und so weiter. Dem skandinavischen Weg widmet Kershaw eine beiläufige Seite, dem Stalinismus unter der ironischen Überschrift »Die Alternative« hingegen gute sieben Seiten.

James Sheehan hat immerhin gefragt, warum Europa im späten 20. Jahrhundert ein friedlicher Kontinent war.8 Aber seine Kapitel eins und zwei handeln von Krieg, Gewalt und Militarismus. Bezeichnend ist die Übersetzung des Haupttitels: Aus Where Have All the Soldiers Gone? wurde Kontinent der Gewalt. So wird der Ton gesetzt. Das ist ein spezielles Framing. Deshalb erklärt Kershaw über Seiten hinweg, warum Demokratien gescheitert sind, kaum aber, warum einige stabil blieben. Gerhard Besier will wissen, wieso Kontinentaleuropa im 20. Jahrhundert ein »Europa der Diktaturen« werden konnte.9 Mit dem »Dritten Reich« vor Augen legt sich über die europäische Geschichte offenbar ein blutiger Schleier. Eine von Eckart Conze und anderen herausgegebene Reihe heißt »Historische Grundlagen der Moderne. Autoritäre Regime und Diktaturen«. Wie soll dort ein Buch über Skandinavien erscheinen? In einem jüngsten Sammelband zu Krisen der Demokratie in den 1920er und 1930er Jahren werden ausschließlich Diktaturen behandelt. Die Auswahl wird nicht begründet, es gibt keinen Literaturbericht, keine konzeptionellen Überlegungen zu Demokratie und Diktatur, und in einer Rezension des Bands ist folgerichtig von der Demokratie die Rede, die in der Zwischenkriegszeit gescheitert sei.10

Unbestreitbar ist das große zu Erklärende die nationalsozialistische Vernichtungspolitik, wie es dazu kommen konnte, dass Millionen von Menschen aktiv oder passiv daran mitgewirkt haben, Millionen anderer Menschen zu ermorden. Das ist noch lange nicht vollständig erforscht. Und gerade die letzten Jahre haben gezeigt, wie wenig die angeblich unabänderlichen »Ewigkeitsklauseln« im Grundgesetz und in anderen Verfassungen gelten, wenn politische Extremisten sie beseitigen wollen. Aber sollte man nicht gerade deshalb die Frage nach den Bedingungen stellen, unter denen Demokratien stabil bleiben konnten, statt ex post die gesamte europäische Geschichte auf eigenartige Weise in die Geiselhaft totalitärer Diktaturen zu nehmen? Ich befürchte, dass Historiker der gegenwärtigen Demokratieverachtung Vorschub leisten, wenn sie die damals durchaus funktionierenden Demokratien aus der Geschichte herausschreiben. Denn das macht die autoritären Systeme und Diktaturen des 20. Jahrhunderts zu etwas Schicksalhaftem und scheint – mit dem Prädikat der Wissenschaftlichkeit versehen – zu belegen, dass Demokratien letztlich den großen Problemen nicht gewachsen sind.

Immerhin ein Historiker, Stefan Plaggenborg, hat zugespitzt gefragt: »Sind Mörderregime geschichtlich relevanter als andere, die sich nicht in Massenvernichtung von Menschenleben und Rassismus historisch manifestierten und deswegen historiographisch immer im Schatten der großen Verbrechersysteme stehen?« Und seine Antwort lautete: »Um in der deutschen Geschichtswissenschaft wahrgenommen zu werden, bedarf es eines Völkermords. Sonst braucht man über das Land nicht viel zu wissen.«11 Ähnlich hat es auch Mazower in Der dunkle Kontinent formuliert: »Wenn diese Erfolge [die Lösung diverser Konflikte in der Zwischenkriegszeit] heute in Vergessenheit geraten sind, so deshalb, weil sie auf zu friedliche Weise erzielt wurden, um in die Geschichtsbücher zu kommen.« Kann es sein, dass die bisherigen Ergebnisse der Totalitarismusforschung sich zu einer Chiffre verdichtet haben, die dann andere empirische Darstellungen über Gebühr prägt? So dass »Ambivalenz« primär von den Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts her gedacht wird, »Ordnung« zu sehr vom Terror her?12

Derselbe Stefan Plaggenborg hat allerdings zutreffend konstatiert, dass man Gewalt nicht aus der Moderne herausrechnen dürfe. Das ging gegen eine idealisierende Modernisierungstheorie, die die Sowjetunion als »vormodern« klassifizierte, um sie aus der per se »guten« Moderne zu katapultieren.13 Die europäische Geschichte darf in der Tat nicht auf nett frisiert werden. Die skandinavischen Demokratien mit ihren (Zwangs)Sterilisierungen »geistesschwacher« und »asozialer« Menschen und der harten Minderheitenpolitik gegenüber Sami oder Inuit waren keineswegs gewaltfrei, von der brutalen belgischen und niederländischen Kolonialpolitik ganz zu schweigen. Laut Michael Hanchard ist Exklusion konstitutiv für Demokratien.14 Doch wie will man die Moderne konturieren, wenn man nicht zu erklären versucht, warum einige dieser Gesellschaften trotz Kolonialismus, Unsicherheit und Exklusion seinerzeit nicht in die Diktatur abgerutscht sind?

Ein suggestives Beispiel: Am selben 30. Januar 1933, als in Berlin der Fackelzug vor Hitler defilierte, der gerade die Macht »ergriffen« hatte, wurde in Kopenhagen ein wegweisendes Abkommen geschlossen, das »Abkommen der Kanzlerstraße« (Kanslergadeforliget). Wer kennt es? Es war nach dem Wohnsitz des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Thorvald Stauning benannt, und seine Bedeutung war bahnbrechend. Da rauften sich nämlich eine sozialistische Arbeitnehmer- und eine konservative Produzentenpartei zusammen. Die Bauern wurden durch die Abwertung der Krone und andere Maßnahmen unterstützt, ein einjähriges Verbot von Streiks und Aussperrungen verhinderte einen schweren Arbeitskonflikt, und die Regierung konnte den Aufbau eines modernen Sozialstaats in Angriff nehmen. Gut drei Jahre darauf wiederholten die Schweden und die Finnen diesen Coup.

In der schwedischen Zeitung Dagens Nyheter gibt es einen Bericht, der die Differenz zu Deutschland noch deutlicher macht. Am 31. Januar 1933 wurde das Abkommen im dänischen Parlament verhandelt, und es war durchaus umstritten. Siebenhundert bis achthundert protestierende Kommunisten hatten sich vor dem Reichstag eingefunden, der von zwanzig Polizisten mit Schlagstöcken bewacht wurde. Als einer der Demonstranten eine Rede halten wollte, wurde er weggeschoben. Es kam zum Tumult, und zum ersten Mal in ihrer Geschichte setzte die dänische Polizei zwei Tränengasgranaten ein. Sie wurden allerdings zurückgeworfen, dann flogen sie hin und her, bis sie in der Tür des Reichstags explodierten. Allen flossen die Tränen, berichtete die Zeitung. Die Polizei erhielt Verstärkung und drängte die angewachsene Schar der Protestierenden zurück, die Steine warfen und drei Beamte verletzten. Bei dieser Mischung aus Slapstick und Gewalt blieb es dann, das Gesetz wurde verabschiedet.15 Auch visuell ist dieses Datum bezeichnend eingefangen: Die Fotos des riesigen Aufmarschs in Berlin stehen plakativ für den Anfang der Barbarei. Eine Fotografie des Kanslergade-Abkommens zeigt einen mit Papier beladenen Schreibtisch, um den herum drei gesetzte Herren stehen, darunter Stauning mit seinem Rauschebart und der runden Brille. Diesem Bild fehlt jede dramatisierende Wirkung, es taucht in den Gesamtdarstellungen der europäischen Geschichte nicht auf. Vielleicht hat Mazower ja Recht: Das ist zu zivilisiert, demokratisch und konstruktiv.

Aber es gab eben diese beiden Optionen, mit der Dynamik der Moderne umzugehen. Und heute gibt es offenbar zwei wissenschaftliche Perspektiven auf Demokratien in der europäischen Zwischenkriegszeit. Dabei kommt es, zugegeben, auch etwas darauf an, wie man rechnet. Für Thomas Ertman haben sich acht von zwölf der westeuropäischen Demokratien, die mit Ende des Ersten Weltkriegs begründet wurden, als resistent erwiesen. Giovanni Capoccia kam zu dem Schluss, dass deren Zahl zwischen 1920 und 1939 von vierundzwanzig auf elf gesunken sei. Ian Kershaw meinte, dass die eine Hälfte der europäischen Nationen aus demokratischen Staaten bestand, die andere aus autoritären Regimes, die teils nicht einmal an politischer Verfolgung oder Führerkult interessiert gewesen seien.16 Nach anderen Berechnungen standen 1938 elf Demokratien neben sechzehn unvollständigen Demokratien oder autoritären Regierungen aller Schattierungen.17

Die radikalste Form autoritären Regierens, der Faschismus, war jedenfalls in den wenigsten Ländern erfolgreich.18 Die demokratischen Staaten mit ihren je unterschiedlichen Modellen des sozialen Ausgleichs, der Konfliktbewältigung und der Konsensbildung hätten vielleicht doch Vorbild sein können. Die autoritären Regimes hätten sich mit dem Aufschwung nach Ende der Weltwirtschaftskrise eventuell doch in Demokratien (rück)-transformieren können. Vielleicht sogar in Deutschland? Neben der mörderischen Entgrenzung im »Dritten Reich« sollte man auch die – ebenfalls erklärungsbedürftige – Nichtentgrenzung in den Blick nehmen.

Weniger hilfreich ist es, die Leistungen der Demokratien zu marginalisieren. So behauptet Thomas Simon, die stabilen Demokratien seien klein beziehungsweise politisch bedeutungslos gewesen. Allerdings begründet er das Scheitern europäischer Demokratien viel zu stark mit deutschen Spezifika und mit unzulässigen Pauschalisierungen, wenn er von »dem« Bürgertum oder »den« Monarchen spricht. Angeblich hätten sich mit dem Erstarken der Sozialdemokratie weite Teile des bürgerlichen Lagers von der parlamentarischen Demokratie abgewandt. Warum das nicht überall in Europa geschah und warum dieses Lager in Preußen bis 1932 gemeinsam mit den Sozialdemokraten die Demokratie stabilisierte, erklärt er nicht.19

Andere Autoren dagegen haben höchstens rudimentäre Kenntnisse von Geschichte und Gesellschaftsordnung der skandinavischen Länder. Jan-Werner Müller beispielsweise behauptet in seiner »politischen Ideengeschichte Europas«, die Allianz aus Bauern und Sozialdemokraten in Schweden habe sich »glücklichen Umständen« verdankt.20 Diese Demokratie baute jedoch nicht auf Glück, sondern gründete tief in demokratischen Praktiken und belegt, dass die Geschichte der Brendons und Wolfrums nicht die Autorität historischer Wahrheit für sich beanspruchen kann.

Ein Problem stellt die Frage dar, wie man bestimmt, welches Land als Demokratie einzustufen ist. Thomas Ertman hat gefordert, das Zusammenspiel sozialer Bewegungen und politischer Parteien in den Blick zu nehmen, um die je unterschiedliche Ausgestaltung und Stabilität von Demokratien zu verstehen. Das läuft eher auf qualitative Analysen hinaus. Andere Politologen nutzen umfangreiche Datensätze, die während der letzten Jahrzehnte erstellt worden sind, etwa von Seymour Martin Lipset, Tatu Vanhanen, Gregory Luebbert, dem European Consortium for Political Research und anderen. Diese Datensätze versuchen mithilfe von drei bis zehn Variablen – die meisten sind bei vier bis fünf eingependelt –, die Differenz zwischen Demokratie, unvollständiger Demokratie und autoritärem System zu bestimmen. Die Anzahl der Variablen ist höchst unterschiedlich, sie sind inhaltlich sehr disparat und lassen mehrheitlich nur binäre Optionen zu, von denen mir nicht bei allen einleuchtet, wie sie begründet sind.

Ein paar Beispiele: Stehen mehrere Parteien zur Wahl? Verhindert ein Staat Wahlbetrug? Ist die Regierung gegenüber dem Parlament verantwortlich? Liegen das Bruttosozialprodukt unter oder über 200 Dollar, der Urbanisierungsgrad unter oder über 50 Prozent, die Alphabetisierungsquote unter oder über 75 Prozent? Sind mindestens 50 Prozent der Erwachsenen – oder der Männer – wahlberechtigt? Schon mit dem Kriterium »universales Wahlrecht« könnte man »die USA erst ab 1920, Großbritannien erst ab 1928 und etwa Belgien, Frankreich und die Schweiz in der Zwischenkriegszeit zu keinem Zeitpunkt als Demokratien einstufen«.21 Deshalb macht der Politologe Steffen Kailitz für diese Zeit gar keine vollendete Demokratie aus. In einigen Fällen werden die Variablen dann mit 0/1 codiert und je Land eine Summe gezogen, die den Grad der Demokratisierung anzeigt. Warum aber beispielsweise viermal eine Eins für das eine Land eine Null, für das andere eine Eins als Ergebnis haben können, bleibt mir bei solchen Erhebungen unklar.22 Trotz dieser Unzulänglichkeiten, die Politologen selbst thematisieren und durch Metastudien zu korrigieren versuchen: Ihre Auseinandersetzung mit Demokratien in der Zwischenkriegszeit ist deutlich differenzierter, als es die erwähnten geschichtswissenschaftlichen Synthesen sind.

Das Bild bleibt allerdings mehrdeutig. Steffen Kailitz stellte fest, dass sich damals »Demokratien in einer Grauzone zwischen Scheitern und Überleben bewegen« konnten. In den Niederlanden, Skandinavien oder der Tschechoslowakei war man nach 1918 von der Idee der parlamentarischen Demokratie erst einmal nicht wirklich überzeugt.23 Elisabeth Dietermann behauptet, dass sich die Demokratie in den Niederlanden durchgesetzt habe, weil sich die Eliten auf keine bessere Alternative einigen konnten. In der Tschechoslowakei war man ebenfalls skeptisch, dort bildete sich eine merkwürdige präsidiale Diktatur auf Zeit heraus, die eine echte Volksherrschaft ermöglichen sollte. Für die Dänen wiederum war es entscheidend, Demokratie nicht mit Parlamentarismus und Parteienherrschaft zu identifizieren, dafür aber mit dem Willen des Volkes. Der Theologe und Kirchenhistoriker Hal Koch hat seinerzeit das politische Credo so formuliert: »Der Grundgedanke im Ganzen ist ja gerade der, dass niemand von uns Recht hat.«24 Eindringlicher kann man die Pflicht zum Konsens wohl kaum formulieren. In der letzten Folge der dritten Staffel der dänischen Serie Borgen erringt die ehemalige Ministerpräsidentin mit einer neuen Partei auf Anhieb dreizehn Sitze – von 179. Trotzdem wird ihr aus taktischen Gründen von anderen Parteien das Amt der Regierungschefin angetragen. Wäre das irgendwo anderswo auf dem Kontinent auch nur denkbar? In den USA