MERKUR  3/2023 -  - E-Book

MERKUR 3/2023 E-Book

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Beschreibung

Im Aufmacher fragt Claudia Gatzka, ob die Rechtsextremismus-Theorie, die Nationalismus am Rand der Gesellschaft verortet, nicht der Einsicht im Weg steht, dass er in deren Mitte ebenso existiert. Die Dichterin Monika Rinck sieht sich mit Gedichten eines Bots konfrontiert, der ihr eigenes Werk auf manchmal durchaus unheimliche Art imitiert. Carl Schmitts Theorie des Politischen mit ihrer Fixierung auf Feindschaft ist gerade wieder en vogue – Moritz Rudolph skizziert einen Gegenentwurf der politischen Freundschaft. In seinem neuen Buch "Der arbeitende Souverän" nimmt Axel Honneth das Verhältnis von Zusammenhängen der Arbeit und demokratischer Willensbildung in den Blick – und erklärt dabei auch, warum das bedingungslose Grundeinkommen keine Lösung für die existierenden Probleme ist. Fara Dabhoiwala hat die Autobiografie des indischen Wirtschaftsintellektuellen Amartya Sen gelesen. Für Bernhard Dotzlers Geschmack macht Geert Lovink in seinem neuesten Internet-Plattform-kritischen Buch zu viele halbe Sachen. Über die Diskussionen, die Russlands Krieg gegen die Ukraine bei den Vertreterinnen und Vertretern der Osteuropageschichte ausgelöst hat, informiert Andreas Hilger. Werner Krauß beobachtet Auswirkungen des Klimawandels vor Ort, nämlich in einem norddeutschen Dorf namens Büppel. Georg Vobruba skizziert die wesentlichen Züge des Verschwörungsdenkens. In David Gugerlis Schlusskolumne geht es um das, was verschwinden soll, aber nicht will.  

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Seitenzahl: 178

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Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken

Der Merkur ist eine Kulturzeitschrift, wobei der Begriff der Kultur in denkbar weitem Sinne zu verstehen ist. Er erscheint monatlich und wendet sich an ein anspruchsvolles und neugieriges Publikum, das an der bloßen Bestätigung der eigenen Ansichten nicht interessiert ist. Mit kenntnisreichen und pointierten Essays, Kommentaren und Rezensionen hält der Merkur gleichermaßen Distanz zum Feuilleton wie zu Fachzeitschriften. Die Unterzeile »Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken« formulierte bei der Gründung im Jahr 1947 das Bekenntnis zu einer weltanschaulich unabhängigen Form von Publizistik, die über kulturelle und nationale Grenzen hinweg alle intellektuell relevanten Debatten ihrer Zeit aufnehmen wollte. Auch wenn der Horizont für ein solches Unternehmen sich mittlerweile deutlich erweitert hat, trifft das noch immer den Kern des Selbstverständnisses der Zeitschrift.

Heft 886, März 2023, 77. Jahrgang

Herausgegeben von ChristianDemand und EkkehardKnörer

Gegründet 1947 von Hans Paeschke und Joachim Moras

Herausgeber 1979–1983 Hans Schwab-Felisch1984–2011 Karl Heinz Bohrer1991–2011 Kurt Scheel

Lektorat / Büro: Ina Andrae

Redaktionsanschrift: Mommsenstr. 27, 10629 Berlin

Telefon: (030) 32 70 94 14 Fax: (030) 32 70 94 15

Website: www.merkur-zeitschrift.de

E-Mail: [email protected]

Der Merkur wird unterstützt von der Ernst H. Klett Stiftung Merkur.

Partner von Eurozine, www.eurozine.com

Verlag und Copyright: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Postfach 106 016, 70049 Stuttgart, Tel. (0711) 66 72-0, www.klett-cotta.de · Geschäftsführer: Dr. Andreas Falkinger, Philipp Haußmann, Tom Kraushaar. · Leiter Zeitschriften: Thomas Kleffner, [email protected] · Media-Daten: www.merkur-zeitschrift.de/media · Manuskripte: Für unverlangt und ohne Rückporto eingesandte Manuskripte kann keine Gewähr übernommen werden. · Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 1. Februar 2023 · Gestaltung: Erik Stein · Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann-Satz GmbH & Co. KG, Lemförde

Bezugsbedingungen: Der Merkur erscheint monatlich. Preis 15 €; im Abonnement jährlich 152 € / 176 sFr; für Studenten gegen Vorlage einer Bescheinigung 96 € / 114 sFr; alle Preise jeweils zzgl. Versandkosten. · Die elektronische Version dieser Zeitschrift mit der Möglichkeit zum Download von Artikeln und Heften finden Sie unter www.volltext.merkur-zeitschrift.de. Der Preis für das elektronische Abonnement (E-Only) beträgt 152 € / 176 sFr; für Studenten und Postdocs gegen Vorlage einer Bescheinigung 48 €; für Privatkunden, die gleichzeitig die gedruckte Version im Abonnement beziehen, 26 € / 36 sFr. Im jeweiligen Preis der elektronischen Abonnements ist der Zugriff auf sämtliche älteren digitalisierten Jahrgänge enthalten. Preise für Bibliotheken und Institutionen auf Anfrage. Alle genannten Preise enthalten die zum Zeitpunkt des Kaufs gültige Mehrwertsteuer. In Drittländern jenseits der Schweiz (und außerhalb der EU) gelten die angegebenen Preise netto. · Die Mindestbezugsdauer beträgt ein Jahr. Erfolgt keine Abbestellung spätestens vier Wochen vor Ende des Bezugszeitraumes, verlängert sich das Abonnement auf unbestimmte Zeit; dieses kann sodann jederzeit mit einer Frist von einem Monat gekündigt werden. Es gelten unsere allgemeinen Bezugsbedingungen für Zeitschriftenabonnements (ABBs).

Abonnementverwaltung (falls vorhanden, bitte Ihre Kundennummer angeben): Leserservice Verlag Klett-Cotta, Postfach 13 63, 82034 Deisenhofen, Telefon (0 89) 8 58 53-868, Fax (0 89) 8 58 53-6 28 68. E-Mail: [email protected]

(D) 15 €  (A) 15,80 €  (CH) 18 SFr

ISSN Print 0026-0096 / ISSN Online 2510-4179     www.merkur-zeitschrift.de

ISBN 978-3-608-12170-4

Inhalt

Autorinnen und Autoren

Zu diesem Heft

BEITRÄGE

Claudia Gatzka: Nationalismus in der Zeitgeschichte

Monika Rinck: Das Gespenst der Maschine, die mich schreibt

Gegenwart Gartenweg

Moritz Rudolph: Der große Freund

Axel Honneth: Politiken der Arbeit

KRITIK

Fara Dabhoiwala: Zuhause in der Welt

Zu Amartya Sens Erinnerungen

Bernhard J. Dotzler: Inverses Schönreden

Ein Kommentar zu Geert Lovinks »In der Plattformfalle«

Andreas Hilger: Ein Fach diskutiert über sich selbst

Der russische Krieg gegen die Ukraine und die Osteuropäische Geschichte in Deutschland

MARGINALIEN

Werner Krauß: Der Flachsweg

Klimakrise und Infrastruktur

Georg Vobruba: Verschwörungsdenken und Gewalttoleranz

David Gugerli: Eisen zu Eisen, PET zu PET?

Vorschau

ClaudiaGatzka, geb. 1985, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Universität Freiburg. 2019 erschien Die Demokratie der Wähler. Stadtgesellschaft und politische Kommunikation in Italien und der Bundesrepublik, 1944–1979. [email protected]

MonikaRinck, geb. 1969, Schriftstellerin. 2019 erschien Champagner für die Pferde. – Bei dem Text handelt es sich um die überarbeitete und leicht gekürzte Fassung der Lenzburger Poetikvorlesung, gehalten im Februar 2022. begriffsstudio.de

MoritzRudolph, 1989, Redakteur des Philosophie Magazin. 2021 erschien Der Weltgeist als Lachs. [email protected]

AxelHonneth, geb. 1949, Jack C. Weinstein Professor of the Humanities an der Columbia University in New York. – Bei dem Beitrag handelt es sich um einen Vorabdruck aus dem Buch Der arbeitende Souverän. Eine normative Theorie der Arbeit, das im März 2023 bei Suhrkamp erscheinen wird.

FaraDabhoiwala, geb. 1969, Historiker, Senior Research Scholar /Lecturer an der Universität Princeton. 2012 ist The Origins of Sex erschienen. – Der Beitrag erschien ursprünglich unter dem Titel Becoming Amartya Sen in der New York Review of Books vom 8. Dezember 2022.

Bernhard J.Dotzler, geb. 1963, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Regensburg. 2020 erschien Zurück zu Foucault.

AndreasHilger, geb. 1967, Osteuropa-Historiker, Stellvertretender Direktor in der Max Weber Stiftung. 2021 erschien Internationale Geschichte seit 1945. andreas-hilger.de

WernerKrauß, geb. 1957, Ethnologe, Senior Researcher bei dem Projekt »Climateeurope2« am artec Forschungszentrum Nachhaltigkeit der Universität Bremen. 2013 erschien Die Klimafalle (mit Hans von Storch).

GeorgVobruba, geb. 1948, Soziologe, emeritierter Professor an der Universität Leipzig. 2019 erschien Die Kritik der Leute. Einfachdenken gegen besseres Wissen.

DavidGugerli, geb. 1961, seit 1997 Professor für Technikgeschichte an der ETH Zürich.

Zu diesem Heft

DOI 10.21706/mr-77-3-3

Manch basale politische Deutungsmuster strukturieren den Debattenraum auf derart selbstverständliche und überzeugende Weise, dass sich die Frage, welche theoretischen Vorannahmen mit ihnen womöglich verbunden sein könnten, in aller Regel gar nicht erst stellt. Ein instruktives Beispiel dafür ist der Begriff des politischen »Extremismus«. Er unterstellt stillschweigend, dass das politische Feld in liberalen Demokratien im Normalfall aus sauber separierbaren Lagern bestehe: einer gemäßigten, die bestehende Ordnung grundsätzlich bejahenden gesellschaftlichen »Mitte« und aus den dieselbe Ordnung in unterschiedlichen Graden der Radikalität ablehnenden Gruppierungen und Kräften an ihren Rändern.

Diese in ihrer Bildhaftigkeit unmittelbar einleuchtende Vorstellung hat das Nachdenken über Geschichte, Wesen und Wirkung des politischen Radikalismus, und dabei insbesondere des Rechtsextremismus, seit den 1950er Jahren in der Bundesrepublik maßgeblich geprägt – allen Einwänden zum Trotz, die namentlich von Seiten der Kritischen Theorie von Anfang an dagegen vorgetragen wurden. Wie problematisch sie war und ist, wird deutlich, seit rechtsextreme Parteien nicht mehr ausschließlich als verfassungsfeindliche Fundamentalopposition auftreten, sondern ihre politische Agenda zunehmend auch im Rahmen der bestehenden liberaldemokratischen Strukturen durchzusetzen versuchen.

Wahlerfolge rechtsradikaler Parteien lassen sich, wie Claudia Gatzka überzeugend darlegt, dann nämlich »nur paradox als Resultat eines ›Rechtsextremismus der Mitte‹ fassen, der Aufstieg des Rechtspopulismus als eine Form der Radikalisierung der Mitte«. Produktiver, so Gatzka, wäre es, stattdessen darüber nachzudenken, »wie viel von Giorgia Meloni, Marine Le Pen oder Alice Weidel in den Institutionen der liberaldemokratischen Ordnung selber aufgehoben war, bevor diese eklatant an Zuspruch gewannen«.

CD / EK

Beiträge

DOI 10.21706/mr-77-3-5

Claudia Gatzka

Nationalismus in der Zeitgeschichte

Ich greife hier zahlreiche Überlegungen und Vorschläge auf, die aus Texten von und Gesprächen mit Dominik Rigoll stammen. Insbesondere: Dominik Rigoll /Yves Müller, Zeitgeschichte des Nationalismus. Für eine Historisierung von Nationalsozialismus und Rechtsradikalismus als politische Nationalismen. In: Archiv für Sozialgeschichte, Nr. 60, 2020.

Der 22. Oktober 2022 hätte ein hübscher Gedenktag weiblicher Emanzipation werden können. Mit Giorgia Meloni trat die erste Frau das Amt der italienischen Ministerpräsidentin an. Ihren Landsleuten galten Weiblichkeit und leadership, wie die Italiener das seit dem Tod des Duce nennen, die längste Zeit als inkommensurabel, weil die Art, wie hier Politik kommuniziert und ästhetisiert wird, männliche Gebärden begünstigt. Frauen kamen durchaus in staatstragende Positionen. Die kommunistische Spitzenpolitikerin Leonide »Nilde« Jotti machte seit 1979 als Parlamentspräsidentin vor, wie das ging.

Als sie 1992 abtrat, fand Giorgia Meloni gerade ihren Weg in die Jugendorganisation des Movimento Sociale Italiano, der neofaschistischen Partei der italienischen Republik. Während Jotti wie viele ihrer Generation aus der faschistischen Jugendorganisation in den antifaschistischen Widerstand wechselte (was Italiener gemeinhin als »la scelta«, als aktive Wahl bezeichnen), folgte Meloni dem Pfad ihrer Mutter hinein in die neofaschistische Organisation, vereint mit ihrer Schwester. Keine Abnabelung also, kein Moment der Katharsis, keine scelta, sondern Familientradition – so ließe sich der Weg Melonis ins Milieu beschreiben. Während sich Jotti programmatisch als progressive Demokratin verstand und die Staatsfrau gab, auch an der Seite ihres Lebenspartners, des KPI-Chefs Palmiro Togliatti, lernte Meloni das Trommeln, das Zürnen, das Inszenieren der Gegendemokratie. Sie bezeichnet sich am ehesten als Journalistin, so wie ihr Lebenspartner, und Journalisten blicken ihrem Ethos gemäß von außen auf den Staat.

Es war keine Überraschung, dass die Kommunistische Partei zur Feminisierung der italienischen Demokratie beitrug, auch wenn eine große Minderheit der Wählenden darin Frevel erblickte. Das edle Geschlecht Italiens werde an die Sowjets verkauft, so hieß es in antikommunistischen Kreisen. Die KPI verfügte über den mit Abstand größten Frauenanteil in Italien, etwa 25 Prozent, und sie gewöhnte den öffentlichen Raum an Politik unter weiblichen Vorzeichen. Einzig von ihrer eigenen Darstellungskraft waren Kommunistinnen wenig überzeugt. Sie fühlten sich auf der Piazza, am Mikrofon, vor den Massen eher deplatziert.1 Meloni dagegen kann das.

Programmatisch mag sie die Letzte sein, die in Italien für Feminismus eintritt. Wie um das anzuzeigen, hat sie entschieden, sich offiziell »il Presidente del Consiglio« zu nennen und nicht »la Presidente«. Sie repräsentiert Italien so ostentativ in einer zur Tradition erhobenen Männerrolle, doch setzt sie ihre Weiblichkeit dabei sehr gezielt ein: Haare, Make-up, Kleidung, Lächeln – die zornige Postfaschistin gibt nicht das Flintenweib, sondern die Lady. Während ihr bullig wirkender Konkurrent Matteo Salvini immer einen Schweißfilm auf der Haut zu tragen scheint, kann Meloni der politischen Rechten durchaus einen eleganten, wenn auch vielleicht nicht staatstragenden Anstrich geben. Entsprechend betont sie immer wieder ihre Seriosität.

Der Blick liberaler Medien auf Giorgia Meloni sucht aus verständlichen Gründen das Rechtsextreme, Rechtsradikale, Ultrarechte an ihr hervorzuheben, verbrieft durch ihre neofaschistische Herkunft. Die Bezeichnungen variieren, doch Melonis Regierungspolitik wird bisher und wohl auch in Zukunft primär daraufhin gelesen, was es heißt, im Herzen Westeuropas, in einem führenden Industriestaat, in einer liberalen Nachkriegsdemokratie, die auf den Trümmern des Faschismus errichtet wurde, Politik von rechts zu betreiben. Allerdings werden der Aufstieg und die Wirkungsmacht von Figuren wie Meloni nicht umfassend verständlich, wenn man sie nur als rechtsextrem begreift. Um sie historisch einordnen zu können, muss gerade das Angepasste, das Nichtrechtsextreme an ihnen in den Blick kommen, wofür Weiblichkeit eine Referenz und eine symbolische Formensprache zur Verfügung stellt.

Gerade im deutschen Kontext ist das aber gar nicht so einfach, weil sich hier nach 1945 ein normativer Modus entwickelt hat, über extreme Rechte zu sprechen, der diese am Rand der Gesellschaft (und gemeinhin als männlich) verortet. Methodologische Marginalisierung führt aber leicht dazu, die Bündnisfähigkeit und Anschlussfähigkeit der politischen Rechten in der liberalen Demokratie aus den Augen zu verlieren, die in der Geschichte der europäischen Rechten übrigens lange Zeit selbst als weiblich imaginiert wurde. Wahlsiege wie jenen der Fratelli d’Italia, Melonis Partei, werden Zeithistoriker erst erklären können, wenn sie lernen, die Spuren jener Rechten zu lesen, die wie Frauen häufig unsichtbar blieben in der Geschichte von Politik und Öffentlichkeit.

Rechtsextremismus und Demokratie

Ist Meloni eine rechtsextreme Regierungschefin, gar ein rechtsextremer Ministerpräsident? Legt man die gängige politikwissenschaftliche Definition von Hans-Gerd Jaschke zugrunde, dann ist rechtsextreme Regierungspolitik im Rahmen der liberalen Demokratie eine contradictio in adiecto. Denn Rechtsextremismus ist als Protestform klassifiziert. Jaschke und andere subsumieren darunter all jene Einstellungen, Zielsetzungen und Aktionen, die diesen Protest klar als aggressive Negation der liberalen, auf Menschenrechten und Gleichheitsgrundsätzen fußenden Demokratie markieren.2 Wer Rechtsextremismus sagt, meint damit in aller Regel also eine antidemokratische Bewegung, die alle Pfeiler der liberaldemokratischen Ordnung zerstören will. In der Tat evoziert der Begriff so eher das Bild männlich dominierter Horden mit schwarz-weiß-roten Fahnen in staatsfernen Räumen Ostsachsens. Die Pressefotos im Zusammenhang mit dem Suchbegriff »Rechtsextremismus« in gängigen Suchmaschinen können das illustrieren.

Was das Konzept des Rechtsextremismus so nur schwer erfassen kann, sind (extreme) Rechte, die in die liberaldemokratische Ordnung integriert sind. Es lässt qua definitionem rechte Politik unberücksichtigt, die praktisch aufgehört hat, Opposition zum demokratischen System zu sein, oder die das ohnehin nie war, weil sie in Verflechtung mit liberaldemokratischen Institutionen auftrat. Giorgia Meloni ist, wie sie selber betont, ein Beispiel für eine solche Verflechtung. In der traditionellen Pressekonferenz zum Jahresende, wo sie in Schwarz-Weiß zwischen roten Weihnachtssternen saß und drei Stunden artig die nicht enden wollenden Fragen der Journalisten beantwortete, stellte sie die These auf, der Movimento Sociale Italiano habe eine »sehr wichtige Rolle im republikanischen Italien« gespielt und Millionen von Italienern eine Brücke in die Demokratie gebaut. Die Neofaschisten hätten sich bei der Eindämmung von politischer Gewalt und Terrorismus bewährt – eine besonders bizarre Verdrehung der Tatsachen, denn von ihnen ging die politische Gewalt im Nachkriegsitalien wesentlich aus – und sich im »Kampf gegen Antisemitismus« klar positioniert. Meloni erzählt im Grunde dieselbe Geschichte über die neofaschistische Partei, die deutsche Zeithistoriker über die Unions-Parteien erzählen: Indem sie Rechten, darunter auch »Ex«-Faschisten und »Ex«-Nazis, eine neue politische Heimat gaben, neutralisierten sie deren Extremismus und integrierten diese in den liberalen Verfassungsstaat.

Man mag die demokratische Rhetorik für Mimikry halten und für Blendung. Man mag davon ausgehen, dass liberaldemokratische Normen und Institutionen den Rechtsextremen immer nur zum Aufstieg dienen und dann langsam, aber sicher von ihnen ausgehöhlt werden. Doch man kann sich auch der normativen Herausforderung stellen, die praktische, obgleich normativ unerwünschte Kompatibilität rechtsextremer Politik und liberaldemokratischer Strukturen genauer zu untersuchen. Das Paradox, dass Personen, die als rechtsextrem gelten, liberale Demokratien repräsentieren können, wäre ein geeigneter Ausgangspunkt für eine historische Spurensuche.

Diese jedoch benötigt spezielle Werkzeuge, also geschichtswissenschaftliche Analysebegriffe, um Verschränkungen sichtbar zu machen, die durch die herkömmliche Nomenklatur unsichtbar bleiben. Begriffe wie »Rechtsextremismus«, »Rechtsradikalismus« und »Neonazismus« dienten in der Bundesrepublik seit den 1950er Jahren zur Kennzeichnung gewisser Organisationen und Personen als Gegner der »freiheitlich-demokratischen Grundordnung«. Sie dienten der Unterscheidung zwischen jenen, die vom Staats- und Verfassungsschutz überwacht werden sollten, und jenen, denen man vertraute oder zu vertrauen vorgab. Der Begriff evoziert die Vorstellung einer gemäßigten »Mitte« (bisweilen gleichgesetzt mit »Gesellschaft«), an deren Rand nach einem Korridor der »Radikalität« schließlich die Grenze zu den Extremen gezogen ist. Wahlsiege wie der Melonis lassen sich dann nur paradox als Resultat eines »Rechtsextremismus der Mitte« fassen, der Aufstieg des Rechtspopulismus als eine Form der Radikalisierung der Mitte.

Um den Erfolg der Rechten erklären und seine Wirkungen analysieren zu können, ist es aber notwendig, die Allianzen und Hybriditäten zu untersuchen, die sie mit der liberaldemokratischen Ordnung verweben. Dazu ist es sinnvoll, sich vom Bild der Mitte und den Rändern zu lösen. Relationalen Konzepten wie Rechtsextremismus und Rechtsradikalismus wäre ein absolutes Konzept zur Seite zu stellen, das es erlaubt, Areale der liberalen Demokratie auszumachen, wo Rechtsextremismus zwar offiziell exkludiert war, ähnliche Inhalte aber dennoch ihren Ort haben konnten. Areale, wo Rechte aufhörten, klar als Verfassungsfeinde erkennbar zu sein, wo sie nicht »am Rand« standen, sondern sich als Teil »der Mitte« in liberaldemokratischen Strukturen zu bewegen wussten oder als Teil einer organisierten Minderheit Einfluss auf das Framing politischer Probleme, auf die Debatten des Gemeinwesens und auf die Ausrichtung der Mehrheitsparteien nehmen konnten.3

Die Zeitgeschichte könnte diese integrierten Rechten einfach Nationalisten nennen, wie Dominik Rigoll, Yves Müller und Laura Haßler vorgeschlagen haben. Sie sprechen treffend von politischem Nationalismus, um die Handlungs- und Wirkungsmacht dieser Akteure und ihr Zusammenspiel mit organisierten Rechten – also jenen, die als »Rechtsextreme« untersucht werden – historisch erforschen zu können.4 Historikerinnen und Historiker haben seit den späten 1970er Jahren wichtige Beiträge zum Verständnis von Nationalismus geliefert, aber die Zeitgeschichte dabei häufig stiefmütterlich behandelt. Sie waren von der Hoffnung getragen, die große Zeit des Nationalismus sei 1945 zu Ende gegangen, das Konzept durch Hitler in Europa diskreditiert gewesen.5

Für weite Teile der liberalen, konservativen und sozialistischen Eliten mag das zutreffen, doch stellt dies für eben diese Gruppen kein Spezifikum der Zeitgeschichte dar. Wie ein Blick auf die Debatten im deutschen Reichstag zeigt, war die Rede von »nationalistischen« Tendenzen, die um 1900 aufkam, stets von einem pejorativen Grundton begleitet. Nationalistisch waren in der Wahrnehmung deutscher Politiker vor 1914 im Grunde immer nur die Anderen – etwa die Franzosen, die in Elsaß-Lothringen gegen die Deutschen agitierten. Zu einer »nationalen« Politik mussten sich zunehmend alle Politiker irgendwie bekennen, doch »nationalistisch« wollte kaum jemand sein, auch nicht das Gros der Monarchisten. Denn »nationalistisch« bezeichnete nicht nur einen übersteigerten, gefährlichen und politisch unverantwortlichen Nationalstolz, es bezeichnete auch einen politischen Stil, den man als unbürgerlich verachtete und außerhalb des Parlaments verortete. Nationalismus, das war Sache der »Bierbankpolitiker«, die hetzten, schrien und aufpeitschten. Im Weimarer Reichstag wurde die Unterscheidung zwischen »national« und »nationalistisch« zum eingeführten Sprechakt im interfraktionellen Diskurs, um miteinander sprechfähig zu bleiben, und »nationalistisch« galt allen als Schimpfwort. Hitler oder die Gebrüder Jünger, die sich zu ihm bekannten, popularisierten dann sicherlich den Begriff, doch positiv besetzt war er im politischen Sprachgebrauch wohl nie – dafür sagte man »national«.

Diese doppelte Präsenz des politischen Nationsbezugs – einmal als das exkludierte Andere, einmal als das inkludierte Eigene – adressiert eine neue Zeitgeschichte des Nationalismus. Sie erforscht die Grenzen zwischen »nationaler« und »nationalistischer« Politik sowie deren Schnittstellen in der liberalen Demokratie, und sie fragt nach Nationalisierungsprozessen, die stattfinden konnten, ohne dass damit eine Legitimierung des Nationalismus einhergehen musste. Nationalisierung hörte nicht mit der Nationalstaatsgründung auf, die der frühe und häufig als links oder demokratisch gefasste Nationalismus seit 1800 anstrebte und nicht selten im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts durchsetzte. Politischer Nationalismus bedeutete, die Nation auch nach der Gründung des Nationalstaats weiterhin zum Telos des eigenen politischen Handelns zu machen – durch weitere Nationalisierung des Staates und seiner Bevölkerung, ihrer Rhetoriken und Denkweisen.6

Politischer Nationalismus

Nationalismus ist ein komplexer historischer Analysebegriff, doch gerade darin liegt sein Potential für die Erklärung und Beschreibung von Phänomenen, die durch Rekurs auf den Rechtsextremismusansatz nicht hinreichend begriffen werden können. Die Geschichtswissenschaft unterscheidet zwischen Nationalismus als Weltbild, das zur Ideologie werden kann, und Nationalismus als politischer Bewegung. Eine weitere Differenzierung betrifft den Grad der »Radikalität«.7 Wenn Historiker zwischen gemäßigten und radikalen Nationalisten unterscheiden, etablieren sie eine relationale, normative Nomenklatur. Sie wirft die Frage auf, wo das Maßvolle aufhört und das Radikale anfängt, und überlässt die Antwort einem nicht näher explizierten Commonsense der Historiker. Die darin gründende Problematik, einen »dunklen« Nationalismus von einem »hellen« Patriotismus zu unterscheiden, haben Dieter Langewiesche und jüngst wieder Christian Jansen und Marianne Zepp diskutiert.8 Sie betonen, dass die Idee einer Welt der Nationen, die als Hauptquellen von Identität fungieren, den Keim der Konflikte schon in sich trägt, die das Zeitalter der Nationen kennzeichnet: die Frage nämlich, wer dazugehört und wer nicht dazugehört und wo die territorialen Grenzen zwischen den Nationalstaaten verlaufen.

Statt zwischen gemäßigten und radikalen Nationalisten zu unterscheiden, ließe sich idealtypisch ein ganzheitlicher oder programmatischer von einem partiellen oder akzidentiellen Nationalismus unterscheiden. Nationalismus wäre dabei wie Konservatismus, Sozialismus oder Liberalismus als eine Ideologie zu verstehen, die Fratelli d’Italia, die Alternative für Deutschland, der Rassemblement National oder die Schwedendemokraten als deren programmatische Exponenten. Freilich verfügen sie in der empirischen Wirklichkeit auch über konservative, (wirtschafts)liberale und sozialistische Anteile, ebenso wie sozialistische Parteien auch liberale Anteile aufweisen oder konservative Parteien sich sozialistischen Forderungen geöffnet haben. Doch Dreh- und Angelpunkt ihrer Politik ist die Idee der Nation, nicht die Idee der Freiheit, der Gleichheit oder der Beharrung. Nach dem Ziel und dem Sinn ihrer Regierungspolitik befragt, antwortet Giorgia Meloni mit »Italien«. Sie meint damit nicht den politischen Verband, dem sie vorsteht und der auch eine Stadt oder eine Region sein könnte, sondern die Vorstellung einer Nation, die sie als reell, überzeitlich und sakrosankt begreift.

Als ein Modus der Verzeitlichung – also als eine bestimmte Weise, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zueinander in Bezug zu setzen – entstand Nationalismus, wie die anderen genannten Ismen, um 1800, als mit den Revolutionen auch die Geschichtlichkeit Einzug in die Erfahrungswelt der Zeitgenossen hielt. Wie Liberalismus, Konservatismus und Kommunismus stellt Nationalismus eine seit Beginn des 19. Jahrhunderts eingeübte Strategie dar, mit Kontingenz umzugehen – also sich dessen bewusst zu sein, dass das Morgen anders aussehen wird als das Gestern und das Heute. Der Liberalismus verband die eigene Gegenwart mit einer positiven Zukunftsprojektion. Der Konservatismus begründete eine natürliche Kontinuität und richtete so die Gegenwart und Zukunft eher auf die Vergangenheit aus. Der Kommunismus verknüpfte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einer Gesellschafts- und Geschichtsutopie. Und der Nationalismus versprach Erlösung durch das Zusammenfallen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Nation.9

Nationalismus trat häufig als Befreiungsnationalismus auf, der sich gegen ein Imperium oder gegen ein Besatzungsregime richtete und sämtliche politischen Strömungen erfassen konnte – zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegen das Napoleonische Empire, aber auch in den 1940er Jahren gegen das kriegerisch expandierende »Dritte Reich«. Dieser Nationalismus drängt auf nationale Einheit und nationale Autonomie. Nationalisierung meint hier die Schaffung oder Wiederherstellung und die Integration des eigenen Nationalstaats.

Der programmatische Nationalismus hingegen, mit dem sich die Zeitgeschichte primär zu befassen hat, drängt auf eine Nationalisierung auf Basis des Nationalstaates beziehungsweise auf eine Abwehr von Denationalisierungsprozessen etwa in Phasen der Globalisierung. Er gründet auf der Vorstellung einer bedrohten Einheit und Autonomie der Nation, wie sie um 1900 im Kontext der ersten kapitalistischen Globalisierung entstand, die durch massenhafte Migrationsbewegungen und hohe grenzüberschreitende Arbeitsmobilität gekennzeichnet war. Nationalisten, die sich nun politisch zu organisieren begannen, nachdem sie vorher im liberalen und konservativen Lager integriert gewesen waren, schrieben sich die Rettung und die Stärkung der Nation auf die Fahnen, samt ihrer Sprache. Deshalb sagten sie im Deutschen eher »Volk« statt »Nation« und nannten sich bis 1945 »völkisch« statt »nationalistisch«, auch um der schlechten Presse zu entgehen. In dieser Tradition standen die Faschisten und die Nazis nach 1918, und in dieser Tradition stehen Giorgia Meloni, Marine Le Pen oder Alice Weidel heute, ganz gleich ob sie ihren Nationalismus internalisiert oder zu Machtzwecken angeeignet haben.10