MERKUR  9/2023 -  - E-Book

MERKUR 9/2023 E-Book

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Beschreibung

Caroline Arni denkt im historischen Kontext über Feminismus, Mutterschaft und die Tücken der Naturalisierungskritik nach. Was der Krypto-Hype versprochen hat und wie die Sache in Wirklichkeit liegt, erklärt Trevor Jackson. In einem Vorabdruck aus Benjamín Labatuts neuem Buch geht es um eine der ersten großen KI-Kränkungen der Menschheit, nämlich den Sieg der Software gegen den Go-Meister Lee Sedol. Zum Jahrestag der Proteste in Iran informiert Nacim Ghanbari über viele Hintergründe und den Stand der Diskussionen. In seiner Ästhetikkolumne schreibt Jan von Brevern über die Fotografin Nan Goldin und den aktuellen Dokumentarfilm, den Laura Poitras mit ihr gedreht hat. Helmut Draxler nimmt sich Omri Boehms Versuch einer Verteidigung des philosophischen Universalismus vor. Hannes Bajohr sieht die apokalyptischen Warnungen vor Künstlicher Intelligenz als gezielte Ablenkungsmanöver vor den sehr realen Gefahren, die KI für die Demokratie bedeutet. Von einer Reise in die Westen der Ukraine berichtet Jochen Rack. Gabriel Yorans Text über ein Café in Providence, Rhode Island, ist zugleich eine Reflexion über Communitys und dritte Räume. In David Gugerlis Schlusskolumne geht es um Obsoletes.

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Seitenzahl: 193

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Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken

Der Merkur ist eine Kulturzeitschrift, wobei der Begriff der Kultur in denkbar weitem Sinne zu verstehen ist. Er erscheint monatlich und wendet sich an ein anspruchsvolles und neugieriges Publikum, das an der bloßen Bestätigung der eigenen Ansichten nicht interessiert ist. Mit kenntnisreichen und pointierten Essays, Kommentaren und Rezensionen hält der Merkur gleichermaßen Distanz zum Feuilleton wie zu Fachzeitschriften. Die Unterzeile »Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken« formulierte bei der Gründung im Jahr 1947 das Bekenntnis zu einer weltanschaulich unabhängigen Form von Publizistik, die über kulturelle und nationale Grenzen hinweg alle intellektuell relevanten Debatten ihrer Zeit aufnehmen wollte. Auch wenn der Horizont für ein solches Unternehmen sich mittlerweile deutlich erweitert hat, trifft das noch immer den Kern des Selbstverständnisses der Zeitschrift.

Heft 892, September 2023, 77. Jahrgang

Herausgegeben von ChristianDemand und EkkehardKnörer

Gegründet 1947 von Hans Paeschke und Joachim Moras

Herausgeber 1979–1983 Hans Schwab-Felisch1984–2011 Karl Heinz Bohrer1991–2011 Kurt Scheel

Lektorat / Büro: Ina Andrae

Redaktionsanschrift: Mommsenstr. 27, 10629 Berlin

Telefon: (030) 32 70 94 14 Fax: (030) 32 70 94 15

Website: www.merkur-zeitschrift.de

E-Mail: [email protected]

Der Merkur wird unterstützt von der Ernst H. Klett Stiftung Merkur.

Partner von Eurozine, www.eurozine.com

Verlag und Copyright: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Postfach 106 016, 70049 Stuttgart, Tel. (0711) 66 72-0, www.klett-cotta.de · Geschäftsführer: Dr. Andreas Falkinger, Philipp Haußmann, Tom Kraushaar.· Leiter Zeitschriften: Thomas Kleffner, [email protected] · Media-Daten: www.merkur-zeitschrift.de/media · Manuskripte: Für unverlangt und ohne Rückporto eingesandte Manuskripte kann keine Gewähr übernommen werden. · Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 3. August 2023 · Gestaltung: Erik Stein · Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann-Satz GmbH & Co. KG, Lemförde

Bezugsbedingungen: Der Merkur erscheint monatlich. Preis 15 €; im Abonnement jährlich 152 € / 176 sFr; für Studenten gegen Vorlage einer Bescheinigung 96 € / 114 sFr; alle Preise jeweils zzgl. Versandkosten. · Die elektronische Version dieser Zeitschrift mit der Möglichkeit zum Download von Artikeln und Heften finden Sie unter www.merkur-zeitschrift.de. Der Preis für das elektronische Abonnement (E-Only) beträgt 152 € / 176 sFr; für Studenten und Postdocs gegen Vorlage einer Bescheinigung 48 €; für Privatkunden, die gleichzeitig die gedruckte Version im Abonnement beziehen, 26 € / 36 sFr. Im jeweiligen Preis der elektronischen Abonnements ist der Zugriff auf sämtliche älteren digitalisierten Jahrgänge enthalten. Preise für Bibliotheken und Institutionen auf Anfrage. Alle genannten Preise enthalten die zum Zeitpunkt des Kaufs gültige Mehrwertsteuer. In Drittländern jenseits der Schweiz (und außerhalb der EU) gelten die angegebenen Preise netto. · Die Mindestbezugsdauer beträgt ein Jahr. Erfolgt keine Abbestellung spätestens vier Wochen vor Ende des Bezugszeitraumes, verlängert sich das Abonnement auf unbestimmte Zeit; dieses kann sodann jederzeit mit einer Frist von einem Monat gekündigt werden. Es gelten unsere allgemeinen Bezugsbedingungen für Zeitschriftenabonnements (ABBs).

Abonnementverwaltung (falls vorhanden, bitte Ihre Kundennummer angeben): Leserservice Verlag Klett-Cotta, Postfach 13 63, 82034 Deisenhofen, Telefon (0 89) 8 58 53-868, Fax (0 89) 8 58 53-6 28 68. E-Mail: [email protected]

(D) 15 €  (A) 15,80 €  (CH) 18 SFr

ISSN Print 0026-0096 / ISSN Online 2510-4179     www.merkur-zeitschrift.de

ISBN 978-3-608-12176-6

Inhalt

Autorinnen und Autoren

Zu diesem Heft

BEITRÄGE

Caroline Arni: Die Reichtümer des Körpers

Versuch einer Kritik der Naturalisierungskritik

Trevor Jackson: Der Preis für Krypto

Benjamín Labatut: Ein verwegener Zug

KRITIK

Nacim Ghanbari: How to Support a Revolution

»Frau, Leben, Freiheit – emanzipatorische Potenziale«

Jan von Brevern: Ästhetikkolumne

Museen und Opioide

Helmut Draxler: Würde kann es nur für alle geben

Zu Omri Boehms »Radikaler Universalismus«

MARGINALIEN

Hannes Bajohr: Wer die Sprachmodelle beherrscht, beherrscht auch die Politik

Jochen Rack: »Nach dem Sieg« – Kriegsalltag in der Westukraine

Gabriel Yoran: Sie haben jetzt auch Cold Brew in Berlin

David Gugerli: Obsoletes

Vorschau

CarolineArni, geb. 1970, Professorin für Allgemeine Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Universität Basel. 2021 erschien Lauter Frauen. Zwölf historische Porträts. dg.philhist.unibas.ch/de/personen/caroline-arni/

TrevorJackson, Wirtschaftshistoriker an der University of California, Berkeley. 2023 erschien Impunity and Capitalism. The Afterlives of European Financial Crises, 1690–1830. – Der Beitrag erschien unter dem Titel The Price of Crypto in der New York Review of Books vom 8. Juni 2023.

BenjamínLabatut, geb. 1980, Schriftsteller. 2020 erschien Das blinde Licht. Irrfahrten der Wissenschaft. – Bei dem Beitrag handelt es sich um einen Vorabdruck von zwei Kapiteln aus dem Roman MANIAC, der Ende September bei Suhrkamp erscheint.

NacimGhanbari, geb. 1979, Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Siegen. Im Frühjahr 2024 erscheint Patronage und deutsche Literatur im 18. Jahrhundert. [email protected]

Janvon Brevern, geb. 1975, Heisenberg-Professor für Kunst- und Kulturgeschichte an der Bauhaus-Universität Weimar. [email protected]

HelmutDraxler, geb. 1956, Professor für Kunsttheorie an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2021 erschien Die Wahrheit der Niederländischen Malerei. Eine Archäologie der Gegenwartskunst.

HannesBajohr, geb. 1984, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Medienwissenschaft der Universität Basel. 2022 erschien Blumenbergs Verfahren. Neue Zugänge zum Werk (Hrsg. zus. m. Eva Geulen), 2023 erscheint der KI-generierte Roman (Berlin, Miami). [email protected]

JochenRack, geb. 1963, Autor, Mitarbeiter des Bayerischen Rundfunks. 2016 erschien der Roman Glück allein. [email protected]

GabrielYoran, geb. 1978, Unternehmer und Autor. 2021 erschien The Interfact: On Structure and Compatibility in Object-Oriented Ontology. www.yoran.com

DavidGugerli, geb. 1961, seit 1997 Professor für Technikgeschichte an der ETH Zürich.

Zu diesem Heft

DOI 10.21706/mr-77-9-3

Im August hat Paola Lopez die Möglichkeiten und Grenzen von Künstlicher Intelligenz am Beispiel von ChatGPT diskutiert. Eine Beobachtung dabei: Die Userinnen und User haben weder Kontrolle über die Inhalte, die Künstliche Intelligenz produziert, noch haben sie wirklich Einblick in deren Arbeitsweise. Genau daran schließt Hannes Bajohr in seinem Essay an: Was bedeutet es für Politik und Zivilgesellschaft, wenn solche Technologien in Zukunft eine wichtige Rolle als unsichtbare Akteure im öffentlichen Diskurs spielen? Schließlich bilden Sprachmodelle, so Bajohr, ihre Ausgaben den digitalisierten Texten nach, auf die sie trainiert wurden. Diese Quellen aber sind ideologisch alles andere als neutral, sie transportieren vielmehr stets Wert- und Weltbilder, die idealerweise ein Gegenstand kritischer öffentlicher Reflexion sein sollten. »Aus diesem Grund sollte es uns beunruhigen, dass Entscheidungen über den gesellschaftlichen Entwurf, den Sprachmodelle artikulieren, in den Händen einiger weniger Unternehmen liegen, die keiner demokratischen Kontrolle unterstehen und niemandem gegenüber rechenschaftspflichtig sind außer ihren Anteilseignern.«

Wenn Historiker dereinst auf unsere Zeit zurückblicken, meint Benjamín Labatut, und versuchen, den ersten Schimmer einer echten Künstlichen Intelligenz auszumachen, finden sie ihn womöglich im März 2016 in einem einzigen Zug einer Partie des Brettspiels Go. Damals trat der Südkoreaner Lee Sedol, der beste Spieler der Welt, gegen ein Programm namens Alpha-Go an. Es galt als sicher, dass die Maschine keine Chance haben würde, schließlich sind die möglichen Züge des Spiels ungleich schwerer vorauszuberechnen als beim Schach. Und tatsächlich schien Lee Sedol lange Zeit hoffnungslos überlegen. Dann kam Zug 102: »Ihm klappte die Kinnlade herunter, der Mund für zwanzig Sekunden offen, ein karikatureskes Bild, der Oberkörper kerzengerade, während seine Arme herabbaumelten, als hätte er seine Muskeln nicht mehr im Griff. Er war so baff, dass er anfing, in seinem Sessel vor- und zurückzuschaukeln, mit seinem locker sitzenden Anzug und seinem Topfschnitt sah er aus wie eine abgemagerte Playmobil-Figur.«

CD /EK

Beiträge

DOI 10.21706/mr-77-9-5

Caroline Arni

Die Reichtümer des Körpers

Versuch einer Kritik der Naturalisierungskritik

Es verhält sich in den Köpfen nicht anders als auf den Schreibtischen: Je höher die Stapel werden, desto mehr geraten sie durcheinander. Aufräumen wäre deshalb hin und wieder angebracht, aber vielleicht mehr noch: Sichtung einer Konstellation – denn jedes Durcheinander hat ja seine heimliche Logik. Was also gehört wie zusammen? Dieser Text ist der Versuch, die Konstellation aus drei Stapeln auf meinem inneren Schreibtisch zu sichten.

Erstens ist das mein Interesse an feministischen Konzeptionen von Mutterschaft: Ich hatte ursprünglich die Idee, verschiedene solcher Konzeptionen über die Zeit hinweg miteinander zu vergleichen – seither bin ich bei einer einzigen hängengeblieben. Nämlich bei den Umrissen einer politischen Ökonomie der Mutterschaft, wie ich sie bei einer Handvoll proletarisch-feministischer Autorinnen im Paris der 1830er und 1840er Jahre gefunden habe und die hier den historischen Stoff für meine Überlegungen abgeben werden. Diese Frauen forderten zwei Dinge: dass das Kind den Namen der Mutter trage und dass der Staat an Mütter eine Rente ausrichte.

Aus zwei Gründen bin ich bei dieser Konzeption hängengeblieben: Zum einen denke ich, dass mit ihr eine Ressource für die Care-Debatten der Gegenwart vorliegt. Es reicht ja nicht, die ökonomische und politische Relevanz bestimmter Tätigkeiten zu beziffern und dafür einen englischen Namen zu finden: Sie muss auch auf Begriffe gebracht werden. Was meine Akteurinnen dazu sagen, scheint mir intellektuell umso reizvoller, als es für die Gegenwart provokativ ist. Denn ihre politische Ökonomie der Mutterschaft geht vom mütterlichen Körper aus. Zum andern lässt mich dieser Schauplatz nicht los, weil ich denke, dass diese Mutterschaftskonzeption gerade deshalb aktualisierbar ist, weil sie historisch spezifisch und damit in der Gegenwart ein Fremdling ist.

Zweitens: In den Debatten um den ontological turn in der Sozialanthropologie wird dieses letztere Argument als ein Verfahren der »rekursiven Bewegung« diskutiert. Was ist damit gemeint? Äußerungen der Akteure werden in einem ersten Schritt nicht als andere (in meinem Fall: vergangene) Deutungen desselben Dings interpretiert, sondern als Konzeptionen anderer Dinge (in der Vergangenheit), aus denen sich in einem zweiten Schritt analytische Konzepte für das Eigene (in meinem Fall: die Gegenwart) gewinnen lassen.1 Das wäre die konkrete Umsetzung der in dieser Debatte in Begriffen der Symmetrisierung angestrebten Äquivalenzbeziehung zwischen Subjekt und Objekt der Forschung.

Tatsächlich hat sich mir mein Interesse an Mutterschafts-Konzepten zunehmend verknüpft mit meinen sozialanthropologischen Lektüren.2 Oft fällt der Einwand, die ontologische Wende sei letztlich neuer Wein in alten Kultur- (oder gar Hermeneutik-)Schläuchen. Ich halte diesen Einwand nicht für falsch, aber für zu kurz gegriffen. Richtig ist, dass eine auf Symmetrie sensibilisierte Heuristik (und um Heuristik geht es mir) in der Geschichtswissenschaft durchaus etwas Vertrautes erneuert: nämlich die, wie es in den 1980er und 1990er Jahren hieß, »akteurszentrierte Geschichte«. Aber der theoretische Zusammenhang ist ein anderer. Es geht nicht um ein Austarieren der Gewichte im Handlungs-Struktur-Problem (wie verhalten sich Handlungsmacht der Individuen und strukturelle Handlungsbedingungen zueinander?), sondern um die Gegenstandsbestimmung in der historiografischen Untersuchung.

Der dritte Stapel betrifft ein wachsendes Unbehagen an der mir reflexhaft erscheinenden Art und Weise, mit der in der Frauen- und Geschlechtergeschichte sowie generell in der feministischen Kritik Essentialismus beziehungsweise Naturalisierung gewittert wird: nämlich als generalisierter Verdacht, der immer dann greift, wenn es um Dinge geht, die irgendwie mit dem zu tun haben, was wir »Biologie« nennen. Das ist in einer feministischen Wissenschaft ziemlich Grundlegendes, wie zum Beispiel der Körper oder die Mutterschaft – oder gar: der mütterliche Körper. Der Versuch einer Kritik dieses Verdachts ist hier Fluchtpunkt meiner Überlegungen.

Eine politische Ökonomie der Mutterschaft

Den historischen Stoff für meine Überlegungen beziehe ich aus zwei Schriften von Egérie Casaubon. Wenig ist über die Autorin bekannt, sicher bewegte sie sich im Kreis der Saint-Simonisten, eine der vielen Fraktionen des französischen Frühsozialismus. Sie bezeichnet sich selbst als »Tochter armer Leute«; einem materialistischen oder proletarischen Feminismus rechne ich sie aber vor allem mit Blick auf ihr emanzipatorisches Credo zu: »Die Befreiung der Frau kann sich nur dann vollständig verwirklichen, wenn alle ihre materiellen Bedürfnisse gestillt sind.«3

Die erwähnten Schriften sind beide im selben Jahr 1834 erschienen, zuerst La femme est la famille, dann Le nouveau contrat social. Erstere ist an die Frauen gerichtet und leitet eine politische Ökonomie der Mutterschaft her. Zweitere entwickelt den Gedanken weiter und adressiert dazu die Männer beziehungsweise den König und das Parlament. Die Herleitung habe ich andernorts ausführlich dargestellt, hier will ich den Argumentationsgang nur rekapitulieren.4

Erstens ist Ausgangspunkt eine Auffassung von Mutterschaft als Arbeit im Sinn von produktiver Tätigkeit: Die Mutter »macht« das Kind – und mit diesem auch Beziehungen: die Mutter-Kind-Beziehung und die Geschwisterschaft. Doch diese Arbeit ist nicht Arbeit wie jede andere, insbesondere funktioniert sie nicht nach dem Prinzip der Lohnarbeit. Ein Kind ist kein Produkt, und Mutterschaft ist nicht entäußerbare Arbeitskraft. Vielmehr ist sie eine Ressource, aus der das Kind entsteht, das mit der Mutter in ebendiesem Zusammenhang steht: Sie macht das Kind »aus ihrem Leben«. Deshalb ist es »Enteignung«, wenn das Kind durch den Vaternamen aus der mütterlichen Filiation in die väterliche Genealogie überführt wird; wobei das Objekt der Enteignung die Mutterarbeit ist, während das Kind erst durch diesen Akt zu einem proprietär gedachten Gut wird (was es in Beziehung zur Mutter nicht ist).

Zweitens kann eine so konzipierte Mutterarbeit nicht durch Lohn entgolten werden, stattdessen begründet sie das Recht auf Existenzsicherung in Form einer Rente, die den Lebensunterhalt der Mutter und ihrer Kinder sichert. Casaubon konzipiert diesen, wie sie es nennt, »Muttertribut« (tribut de la mère) als ein vom Staat gewährtes beziehungsweise organisiertes Recht auf die Nutznießung von Boden. In gewissem Sinn zahlt die Gesellschaft also Pacht für die Ressource Mutterschaft, indem sie der Mutter die Ressource Boden verpachtet, wofür diese den Preis durch Mutterarbeit entrichtet.

Drittens ergibt sich an dieser Stelle ein Bogen zurück zum Ausgangspunkt, indem nämlich die Enteignung der Mütter als Denkmodell dient für die Ausbeutung der Arbeiter. Das heißt: Mutterschaft ist nicht Arbeit wie jede andere, vielmehr ist umgekehrt jede Arbeit wie die Mutterschaft, nämlich im Grunde ebenfalls nicht entäußerbar – beziehungsweise nur um den Preis von Unfreiheit. Implizit entlarvt diese Gleichsetzung von Arbeit mit Mutterschaft bereits die Fiktion der veräußerbaren Arbeitskraft, wie sie in der sozialistischen Kritik des 19. Jahrhunderts als »Lohnsklaverei« denunziert werden wird.

Soweit in groben Strichen die Grundzüge einer politischen Ökonomie der Mutterschaft. Wer nun in CasaubonsLa femme est la famille auf die Nachbemerkung vertraut,5 in der die Autorin die Publikation »einiger Ideen politisch-ökonomischer Art zur Umsetzung des Muttertributs« ankündigt und dann diese Folgeschrift, den Nouveau contrat social, aufschlägt, kann enttäuscht werden. Fast verschwunden scheint die ökonomische Semantik aus der ersten Schrift, die durchsetzt ist mit Begriffen wie »Kosten«, »Beschlagnahmung« oder »Investition«. Stattdessen ist nun die Rede von »Sonne« und »Ernte«, von der »Mutterbrust« und nährenden Säften. Es lässt sich auch leicht übersehen, wie die Autorin ihr Versprechen auf eine politische Ökonomie hält – denn nun ist die Rede von Natur. Und das Natürliche, so heißt es, sei das Andere des Politischen. Dass es bei Casaubon durch den Mutterkörper spricht, macht die Zumutung nicht kleiner.

Der Mutterkörper und die Natur

Wenn Casaubon in Contrat social von Mutterarbeit spricht, dann meint sie das durch und durch körperlich. Die Mutter nämlich »trägt die Kinder aus; unter Schmerzen kommt sie mit ihnen nieder, und nicht ohne Grund bezeichnen die meisten Sprachen diesen Akt ihres Lebens als die Arbeit der Niederkunft (le travail de l’enfantement)«.6 Dass er Arbeit verrichtet, stellt den Mutterkörper nicht in Opposition zur Natur. Im Gegenteil: Tatsächlich ist Mutterarbeit bei Casaubon naturhaft. Im Kontext der Mutterrente ist sie sogar eine »Pflicht an der Natur«. Was heißt das? Die Bemerkung zielt, erstens, nicht auf eine Verpflichtung aller Frauen an die Mutterschaft, was Casaubon explizit zurückweist: Frauen haben viele Talente. Sie zielt, zweitens, auch nicht auf eine Reduktion von Weiblichkeit auf Mütterlichkeit. Ebenso explizit fordert Casaubon politische und kirchliche Rechte und Ämter für Frauen ein. Die Bemerkung ist in der historischen Situation konkret zu verstehen und meint deshalb zunächst: Eine Frau, die schwanger wird, kann sich der Mutterschaft als travail de l’enfantement zumindest im Prinzip nicht entziehen. Vor allem aber artikuliert die Wendung »Pflicht an der Natur« ein bestimmtes Verhältnis zwischen Mutter und Natur: nämlich ein Verhältnis der wechselseitigen Rechte und Pflichten. Wenn Casaubon von Pflicht spricht, geht es ihr entsprechend auch um ein Recht. In ihrer Schrift lassen sich zwei Zusammenhänge ausmachen, die dieses Verhältnis stiften.

Erstens ist das ein Tauschzusammenhang: Die Erde mit ihren natürlichen Erträgen ist bei Casaubon eine »apanage«, also eine Unterhaltszuwendung, ausgerichtet von Gott – vorgestellt übrigens als Einheit von Vater und Mutter – an die Menschen. Bekanntlich fallen Letzteren diese Erträge nicht in den Schoß, vielmehr bedingen sie Arbeit; das ist die Verpflichtung der Menschen an die Natur, die dafür ihre Früchte hergibt. In diesem Tausch von Arbeit gegen Ertrag entrichten die Mütter Arbeit als Mutterarbeit und berechtigen sich so zur Versorgung aus den natürlichen Erträgen. Diese stehen ihnen so zu, »wie die Ernte demjenigen gehört, der das Land bebaut hat, unter der Bedingung, dass er den Pachtzins entrichtet hat: nun aber ist der Pachtzins, den die Frau entrichtet, ihre Pflicht gegenüber der Natur«. Verständlich wird nun auch, warum Casaubon von der Mutterrente als einem »Tribut« spricht: Nicht nur die Natur hat von der Mutter, sondern auch die Mutter von der Natur etwas zu fordern.

Neben diesem Tauschzusammenhang von Mutterschaft und Natur formuliert Casaubon in Contrat social einen Analogiezusammenhang von Mutterkörper und Erde: »Gerade so wie der Säugling die Brust seiner Mutter presst, um sich die Milch, von der er spürt, dass er sie braucht, umso reichlicher zu verschaffen, gerade so ringt der Mensch der Erde, dieser Mutter aller, nährende Säfte zur Ernährung aller ab.« Die Brust also ist für das Kind, was die Erde für die Menschen, beide versorgen beziehungsweise nähren. Für beide gilt auch, wiederum, dass sie ihren Reichtum nicht einfach so hergeben: Der Säugling muss pressen, der Mensch muss kultivieren. Doch auch mit diesen Mühen ist es noch nicht getan. Was die Erde abwirft, ist wohl von »Menschenhand« miterarbeitet, doch »sie ist nicht der alleinige Antrieb für reiche Ernte; die Sonne eilt herbei, erwärmt und belebt die Vegetation; ohne sie wäre alle Mühe vergebens: diese Arbeit, die nicht von menschlicher Willkür erwirkt ist, stammt von Gott«.

Dieser letzte Punkt zeigt, wie Casaubon das Mensch-Natur-Verhältnis verfasst – nämlich als ein Kooperationsverhältnis. Es gibt nicht hier Natur als passive Materie und da Menschenarbeit als aktive Tätigkeit, sondern gemeinsame Arbeit von Mensch und Natur. Für die Mutterschaft bedeutet das: Wenn der Mutterkörper wie der Boden ist, dann ist Mutterarbeit eine Einheit von schaffender Natur und menschlicher Tätigkeit. Und diese Mutterarbeit endet nicht mit der Geburt, sondern sie setzt sich fort ins Aufziehen des Kindes: Weiterhin leistet die Mutter Arbeit und wird dafür versorgt. Als Einheit von Natur und Tätigkeit ist Mutterschaft auch ein Kontinuum, das mit Empfängnis und Schwangerschaft beginnt, sich über Geburt und Stillen bis zum Aufziehen des Kindes fortsetzt und einen Zusammenhang aus Nähren, Pflegen und Erziehen bildet.

Wie aber sähe eine Praxis konkret aus, die nach diesen Prinzipien verführe? Casaubon wird dazu ziemlich konkret. Zunächst ist Voraussetzung die – generell im Saint-Simonismus geforderte – Abschaffung des Erbrechts: Es gibt zwar ein Individualrecht auf Eigentum, aber dieses kann nicht vererbt werden; das gilt insbesondere für den Boden, der grundsätzlich ein »unteilbares« Gemeingut ist und dessen Nutzung zur Hälfte den Frauen zusteht. Wenn eine Frau nun Mutter ist und Kinder aufzieht, wird ihr Boden von einem Gefährten, der Vater der Kinder sein kann, aber nicht muss, bewirtschaftet – entschädigt wird dieser dafür übrigens mit der »Liebe seiner Gefährtin«. Damit erübrigt sich die Ehe als ökonomisch-genealogisches Arrangement. Casaubon spricht von der Überwindung der »petite famille«, die auch die Männer entlaste. Sicher sind die Mütter befreit aus dem, was konkreter Erfahrungshintergrund der Autorin und ihrer Gefährtinnen ist: die Alternative zwischen ökonomischer Abhängigkeit von einem Ehemann oder Zwang zu ausbeuterischer Lohnarbeit in Doppelschicht zur Mutterarbeit.

Man kann nun all das ideengeschichtlich situieren. Nebst der saint-simonistischen Ökonomie, die Casaubon verarbeitet, spielen hier auch Vorstellungen der generatio als schöpferischer Erzeugung von Kindern, embryologische Lehren von Schwangerschaft als Nährvorgang, außerdem physiokratische Ideen der Wertschöpfung durch Natur beziehungsweise Landwirtschaft, auch mutterzentrierte Gesellschaftsvorstellungen frühchristlicher Sekten und anderes mehr eine Rolle. Hier aber interessiert mich weiterhin das Spezifische in Casaubons Schriften, und deshalb schaue ich in die zeitlich andere Richtung: nämlich zur Rezeption durch die Historiografie.

Zurück also zum Stand meiner Analyse. Ich habe argumentiert, dass Casaubon Mutterarbeit auf Körper zentriert beziehungsweise als Kontinuum davon ausgehen lässt und dass sie den Mutterkörper mit der landwirtschaftlich genutzten Erde analogisiert. Daraus ergibt sich die Konzeption von Mutterarbeit als Einheit von schaffender Natur und menschlicher Tätigkeit. Es ist nun genau diese Konzeption, die aus Mutterschaft eine Frage der politischen Ökonomie macht, leitet sich doch daraus ein Recht auf materielle Versorgung in Form eines Tauschs ab. Es ist auch diese Konzeption oder vielmehr die Assoziation von Mutterschaft mit Natur, die die Schriften der Saint-Simonistinnen dem Vorwurf des Essentialismus ausgesetzt hat, seit sie von der feministischen Historiografie wiederentdeckt worden sind.

Unter Essentialismus-Verdacht

Beim Thema Mutterschaft ist der Verdacht auf Essentialismus rasch zur Hand: Er regt sich schon dann, wenn sie anders denn als Emanzipationshindernis behandelt wird. In den Schriften der Saint-Simonistinnen ist das ausgeprägt der Fall. Nicht zufällig hat Leslie Rabine diese Frauen 1989 zum Ausgangspunkt einer Reflexion über das Verhältnis von Essentialismus und Anti-Essentialismus in der feministischen Kritik gemacht.7 Dieses Verhältnis, argumentiert Rabine, müsse nicht als Opposition gesehen werden, die essentialistische Argumente automatisch als unproduktiv ausweise. Vielmehr handle es sich um ein dynamisches Hin und Her, das feministische Artikulation zugleich verneine und ermögliche.

Diese Interpretation war aufschlussreich, aber sie verblieb in einem konzeptuellen Rahmen, der erstens Essentialismus an ein Argumentieren mit Natur knüpft und zweitens Natur als das bestimmt, was mit Referenz auf, wie es Rabine formuliert, »Biologie und/oder Gott« als unveränderbar angesehen wird. Da Mutterschaft eben die körperliche Dimension hat, die seit dem 19. Jahrhundert als »biologischer« Sachverhalt konzeptualisiert wird, handelt sich ihre Affirmation zwangsläufig Essentialismus ein. Verschärft gilt das für die Saint-Simonistinnen, deren gesellschaftstheoretische Fragmente auch noch ausgeprägt religiös aufgeladen waren.

Natürlich ist dieser Rahmen nicht zufällig robust. Schließlich ist die feministische Wissenschaft aus historischen wie systematischen Gründen grundsätzlich einem anti-essentialistischen Programm verpflichtet: nämlich der Kritik an der Naturalisierung von Geschlechterverhältnissen und Geschlechterdifferenz, die in der Vergangenheit in massivem Ausmaß Ungleichheit legitimiert hat. Naturalisierungskritik oder auch »Entnaturalisierung« ist entsprechend die grundlegende Operation der feministischen Analyse, wo sie außerdem mit Historisierung identifiziert wird. »Entnaturalisierung« führe, so Eve Rosenhaft in einer paradigmatischen Formulierung, »logischerweise zur Historisierung, zumal wenn dies im Rahmen eines feministischen Projekts geschieht, das auf eine Verwandlung bestehender Verhältnisse hinsteuert und dabei auf der Wandelbarkeit aller Verhältnisse insistiert«.8

Was aber heißt »entnaturalisieren«? Es heißt zunächst »entverselbständlichen«. »Natur« steht hier im übertragenen Sinn für, mit Roland Barthes formuliert, das, was sich von selbst versteht (ce qui va de soi). Indes ist dieser Wortsinn nicht unabhängig von »Natur« als Gegenstandsbezeichnung. So erläutert Barthes denn auch weiter sein Unbehagen am scheinbar Selbstverständlichen als Kritik einer permanenten »Verwechslung« von »Natur und Geschichte« (die er »Mythos« nennt).9 In einem zweiten Wortsinn meint deshalb Entnaturalisierung die konkrete Überführung von Wissensgegenständen aus dem Reich der Natur, dem sie zugeschrieben werden, in das Reich der Kultur, aus dem sie erklärt werden müssen. Diese Prozedur steckt knietief in dem, was Philippe Descola als epochalen Prozess der »großen Trennung« beschrieben hat, der mit der Etablierung der Kulturwissenschaften im 20. Jahrhundert seinen Abschluss gefunden hat: die Aufteilung aller Phänomene in einen Bereich autonomer Gesetzmäßigkeit (den die Naturwissenschaften erklären) und einen Bereich der menschlichen Willkür (den die Kulturwissenschaften deuten).10

Verwechslungen von Natur und Geschichte freilich sind historisch real, und deshalb sind ihr Anstrengungen der Entnaturalisierung gleichursprünglich; dies gilt insbesondere für die feministische Naturalisierungskritik: Sie reagiert ja darauf, wie spätestens seit dem 19. Jahrhundert eine als das Andere von Kultur und Geschichte verstandene Natur zur Legitimation für Herrschaft geworden ist – beispielsweise indem die politische Rechtlosigkeit der Frauen mit ihrer Physiologie begründet wurde. Es stellt sich vor diesem Hintergrund tatsächlich die Frage, ob überhaupt jenseits des naturalisierungskritischen Rahmens emanzipatorisch argumentiert werden kann. Auf diesen Kontext verweist ein Vorschlag, den Noel Sturgeon