Messer weg! - Alexander Kraft - E-Book

Messer weg! E-Book

Alexander Kraft

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Beschreibung

Immer noch werden Menschen mit Rückenschmerzen nicht adäquat behandelt. Oft stellen Ärzte Diagnosen, ohne Schmerz-geplagte ordentlich zu untersuchen. Schmerzmittel werden verschrieben, ohne die Ursachen der Erkrankung richtig abzuklären. Oder es wird zu schnell und zu häufig operiert. "Leider finden sich noch immer Ärzte, die die Rückenschmerzen ihrer Patienten banalisieren oder einfach zu wenig Ausbildung in der Diagnose und Therapie von Rückenschmerzen haben", klagt der Orthopäde Dr. Alexander Kraft an. "Sie verlassen sich nur noch auf MRT- und Röntgenbefunde, klären aber die Schmerzursachen nicht weiter ab." In seinem angriffigen Buch zeigt Kraft, dass so gut wie fast jedem Patienten mit Rückenschmerzen durchaus geholfen werden kann. Und zwar nachhaltig, mit konservativen Methoden. Ein Skalpell ist dazu nur in Ausnahmefällen erforderlich. Dr. Alexander Kraft ist Facharzt für Orthopädie in Wien. Er entwickelte in seiner Wiener Ordination eine eigene ganzheitliche Methode der ambulanten Behandlung von Schmerzpatienten („Vertebralia-Way“), bei der er einen besonderen Schwerpunkt auf die exakte Diagnose der Schmerzursachen und Patientenaufklärung legt.

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Dr. med. Alexander Kraft

MESSERWEG!

Rückenschmerzenrichtig diagnostizierenund behandeln –auch ohne OP

Ein Ratgeber für Leidgeprüfte,

die ihre Schmerzen endlich loswerden wollen

Mit Tipps zur Ärzteauswahl und Vorsorge-Übungen für den Alltag

Dr. med. Alexander Kraft

Messer weg!

Rückenschmerzen richtig diagnostizieren und behandeln – auch ohne OP

Ein Ratgeber für Leidgeprüfte,

die ihre Schmerzen endlich loswerden wollen

Mit Tipps zur Ärzteauswahl und Vorsorge-Übungen für den Alltag

1. Auflage 2019

ISBN: 978-3-903229-11-2

Verlag: delta X, Wien | www.deltax.at

Umschlaggestaltung: Ing. Angelika Steck

Satz, Bildbearbeitung & DTP: Ing. Angelika Steck, Franziska Urban

Coverfotos: © Juan Pablo Arenas/pexels.com,

© Dr. Alexander Kraft/Verlag delta X, © Jochen Pippir/pixabay.com

Fotos und Grafiken Innenteil: siehe Quellenliste auf Seite 166

Lektorat: Dr. Norbert Regitnig-Tillian

Korrektorat: Ing. Angelika Steck

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages vervielfältigt oder verbreitet werden. Das gilt insbesondere für die gewerbliche Vervielfältigung per Kopie, Übersetzungen sowie die Vervielfältigung auf elektronischen Datenträgern.

Warum ich dieses Buch verfasst habe

Rückenschmerzen sind eine der häufigsten Erkrankungen. In nicht unerheblichem Maße können sie sich zu einem chronischen Leiden entwickeln. Daran hat sich trotz des enormen Fortschrittes, den die Medizin in den letzten Jahren durchlaufen hat, nicht wirklich etwas verändert. Rückenschmerzen werden häufig immer noch bagatellisiert. Oft wird den davon Betroffenen nicht die Aufmerksamkeit entgegengebracht, die sie sich wünschen würden. Schon bei früheren Recherchen und Durchsicht der vielen für Laien verfassten Publikationen ist mir jedoch fast immer eine gewisse Einseitigkeit der Inhalte, je nach fachlicher Ausrichtung der Autoren, aufgefallen. Deshalb habe ich mich jetzt entschlossen, dieses Buch zu verfassen. Denn auch heute, Jahrzehnte nach meinem ersten Bandscheibenvorfall, gibt es noch immer keine klaren Richtlinien für Rückenschmerzbehandlungen, die wirklich erfolgreich anzuwenden sind.

Traurig ist dabei vor allem folgende Situation: Sieht man die Ergebnisse der sogenannten Cochrane Collaboration durch, einer Organisation, die versucht, aus der Zusammenschau aller vorhandenen medizinischen Studien die besten Therapien abzuleiten, müsste man sofort in einen therapeutischen Nihilismus verfallen. Denn für keine der gängigen bekannten Behandlungen von Rückenschmerzen konnte bislang ein eindeutiger Nachweis für deren Wirksamkeit gefunden werden.

Streng genommen dürften wir als Ärzte also keine der allseits bekannten Therapien anwenden. Denn nur Behandlungen, deren Wirksamkeit in prospektiven, also „vorausschauenden“ Studien bewiesen wurde, sollen durchgeführt und somit von den Krankenversicherungen bezahlt werden.

Da also für die Therapie von Rückenleiden keine einheitlichen, auf Evidenz basierenden Vorschläge vorliegen, sind wir auf die Erfahrung angewiesen. Auf die Erfahrung der auf diesem Gebiet tätigen Ärzte und Therapeuten, aber natürlich auch auf die Erfahrungen derer, die darunter leiden: der Patienten.

Meine vieljährige Erfahrung habe ich in diesem Buch zusammengefasst. Sie soll Ihnen helfen, Rückenschmerzen zu verstehen, die Ursachen Ihrer Beschwerden erklären und Wege zur Gesundung aufzeigen. Es sei nochmals erwähnt, dass in diesem Buch ausschließlich die Meinung des Autors, der allerdings fast 40 Jahre Erfahrung vorweisen kann, wiedergegeben wird.

Aufgrund der Komplexität dieses Themas werde ich hier die im Alltag häufig auftretenden Probleme besprechen. Selten vorkommende Erkrankungen, wie Tumore und schwere Verletzungen, etwa Frakturen mit Querschnittslähmungen, sind nicht Thema dieses Buches.

Inhaltsverzeichnis

Warum ich dieses Buch verfasst habe

Einleitung

1.WAS LÄUFT FALSCH?

Die Bagatellisierung des „unspezifischen Rückenschmerzes“

Fragwürdige Studien

Unzureichende Diagnostik

Zu viele Ärzte – zu viele Meinungen

Zu viele Operationen

2.UNSEREN RÜCKEN VERSTEHEN LERNEN

Ein kleiner Ausflug in die Anatomie und Funktion der Wirbelsäule

3.DIE FACHGERECHTE DIAGNOSE IHRER RÜCKENSCHMERZEN

Best practice bei der Untersuchung Ihrer schmerzhaften Rückenerkrankung

4.DIE URSACHEN IHRER RÜCKENSCHMERZEN

Die häufigsten Schmerzursachen, leicht verständlich erklärt

Verspannungen

Oberer Teil des Rückens

Lendenwirbelsäulenbereich

Behandlung muskulär bedingter Rückenschmerzen

Psyche und Stress

Fehlhaltungen

Reversible Gelenkblockaden

Entwicklungsstörungen der jugendlichen Wirbelsäule

Morbus Scheuermann

Wirbelgleiten

Skoliose

Degenerative Veränderungen

Bandscheibe

Der Bandscheibenvorfall (Prolaps)

Alterung der Bandscheibe – Segmentale Instabilität

Das Facettengelenk

Die spinale Stenose – Degenerative Skoliose

Osteoporose – Osteoporotischer Wirbelkörpereinbruch

Das Kreuz-Darmbein-Gelenk (Iliosakralgelenk)

Postoperative Narbenverwachsungen

Weitergeleiteter Schmerz

Rückenschmerzen und innere Erkrankungen

5.DIE THERAPIE IHRER RÜCKENSCHMERZEN

Eine Bewertung der gängigsten und erfolgversprechendsten Behandlungen

Konservative (nicht-operative) Therapien

Medikamente

Neuraltherapie

Krankengymnastik

Heilmassagen

Manuelle Therapie, Chirotherapie, Chiropraktik

Osteopathie

Atlastherapie

Physikalische Therapie

Elektrophysikalische Therapie

TENS

Akupunktur

Spineliner

Orthesen, Mieder

Interventionelle Schmerztherapie

Facettenblockade

Facettendenervation

Nervenwurzelblockade

Epiduralblockaden

Minimalinvasive Verfahren

Racz-Katheter

Vertebroplastie und Kyphoplastik

Intradiskale Verfahren/Nukleolyse

Endoskopische Verfahren

Intradiskal

Transforaminal

Eine integrierte Behandlungsphilosophie – Der „Vertebralia-Way“

Ambulant oder stationär?

Rückenschmerzen im höheren Lebensalter

Chirurgische Therapien

Operation beim Bandscheibenvorfall

Die Standardoperation: Mikrodiskektomie

Operation bei Vertrebrostenose und Instabilität

6.RICHTIG TRAINIEREN UND BEWEGEN

Das A und O für Ihren Rücken

Bewegung ist Leben

Training zur Vorbeugung und Behandlung

Sport und Rückenschmerzen

7.ÜBUNGSTEIL: SO HALTEN SIE IHREN RÜCKEN FIT

Übungen für Nacken & Schultern

Mini-Work-out fürs Büro

Übungen für die Lendenwirbelsäule

ANHANG

Quellenangaben/Literaturverzeichnis

Bildquellen/Credits für Fotos und Grafiken

Weitere Informationen

Über den Autor

Einleitung

Gardasee 1977. Ich gleite bei Windstärke 5 auf meinem Surfboard, voll mit Glückshormonen über die Wellen des Sees, als mir eine Sturmbö das Segel entreißt. Ich tue, was ich schon hunderte Male getan habe – ich ziehe das Rigg auf. In diesem Moment durchzuckt ein unbeschreiblicher Schmerz meinen Rücken und eine lange Leidensgeschichte beginnt.

Ich schaffe es gerade noch auf mein Board zu kommen und treibe zwei Stunden hilflos bei meterhohen Wellen, mitten im nördlichen Gardasee. Als endlich ein Motorboot vorbeikommt, schaffe ich es kaum vom Board ins Boot. Die Diagnose ist von mir und meinen mich begleitenden Freund, seines Zeichens Facharzt der Neurochirurgie rasch gestellt: Bandscheibenvorfall L4/5 mit leichter Fußheberschwäche. Mein lieber Freund bietet mir sofort eine Operation an. Da jedoch einen Monat zuvor einer meiner Kollegen an der Bandscheibe operiert wurde und durch diese Operation keine wesentliche Besserung erfahren hat, mache ich trotz eines leichten motorischen Ausfalls vom Angebot meines Freundes keinen Gebrauch. Drei Monate später war ich wieder schmerzfrei und kann wieder surfen gehen. Mein operierter Kollege jedoch ging nach wie vor gebeugt mit starken Rückenschmerzen.

Ein weiterer Bandscheibenvorfall, neun Jahre später, setzte mich abermals wochenlang außer Gefecht. Auch diesmal verzichtete ich auf eine Operation, da ich mich nunmehr intensiver mit dieser Thematik auseinandergesetzt hatte. Bei Professor Hans Tilscher, dem Doyen der konservativen Orthopädie, hatte ich im Rahmen der Ausbildung zur manuellen Medizin viel über die Systematik der Rückenerkrankungen erfahren.

Beim Literaturstudium stieß ich außerdem auf die Möglichkeit der sogenannten Epiduralblockade, welche mir bei meinem dritten Bandscheibenvorfall, sieben Jahre später, Schmerzfreiheit innerhalb weniger Tage ermöglichte.

Der zur damaligen Zeit ziemlich hilflose Umgang mit dieser, teilweise unglaublich schmerzhaften, Erkrankung war für mich äußerst unbefriedigend. Zum einen wegen der im Vergleich zu anderen orthopädisch chirurgischen Eingriffen unsicheren Ergebnisse offener Bandscheibenoperationen, zum anderen wegen der sehr eingeschränkten Kenntnisse über die Möglichkeiten konservativer Behandlungen von Bandscheibenvorfällen. Das veranlasste mich, dem Problem Rückenschmerz genauer auf den Grund zu gehen – und nach Alternativen zur Operation und Erweiterungen des konservativen Spektrums zu suchen. 1990 etablierte ich daher die orthopädische Tagesklinik Vertebralia in Wien. In Zusammenarbeit mit Experten aus Fachgebieten, die ebenfalls mit Rückenschmerzen zu tun hatten, entwickelten wir ein integriertes interdisziplinäres Konzept zur konservativen und minimal-invasiven Behandlung von Wirbelsäulen- und Bandscheibenleiden, den Vertebralia-Way.

Übrigens: Seit dem letzten Bandscheibenvorfall bin ich völlig beschwerdefrei. Das ist nicht zuletzt auf eine intensive Trainingstherapie zurückzuführen, mit der ich unmittelbar nach Abklingen der Akutschmerzen begonnen habe.

1. Was läuft falsch?

DIE BAGATELLISIERUNG DES „UNSPEZIFISCHEN RÜCKENSCHMERZES“

Rückenschmerzen zählen zu den immer wiederkehrenden Ärgernissen der Menschen. Das Leiden ist so verbreitet wie Schnupfen, tut so weh wie Hämorrhoiden und führt mitunter zu so starken Behinderungen wie bei einem Schlaganfall. Rückenschmerzen sind wie eine stille Pandemie, vier von fünf Menschen sind weltweit zumindest einmal im Leben davon betroffen.

Die Krux dabei: Trotz unzähliger in den letzten Jahren publizierter wissenschaftlicher Arbeiten gibt uns das Problem Rückenschmerzen nach wie vor viele Rätsel auf. Warum haben zum Beispiel manche Menschen mit extremen Abnützungerscheinungen der Wirbelsäule keine Schmerzen? Warum können sich aber andere mit einem völlig normalen Röntgenbefund kaum rühren? Warum verschwinden Schmerzen auch nach Operationen nicht? Wie sinnvoll sind Operationen überhaupt? Diesen Fragen werden wir in diesem Buch nachgehen.

Faktum ist jedenfalls: So wie ich erleiden 80 Prozent aller Menschen unserer postindustriellen Gesellschaft zumindest einmal in ihrem Leben eine größere Rückenschmerzattacke. Fast jeder Zweite laboriert einmal an Nackenschmerzen. Jeder Fünfte leidet an Schmerzen im Bereich der Brustwirbelsäule und drei von vier Menschen erleben zumindest einmal in ihrem Leben eine heftige Kreuzschmerzattacke. Rückenleiden sind neben Krankheiten des Atmungssystemes der häufigste Grund für Arbeitsausfälle. Rein statistisch ist in Deutschland und Österreich jeder Vierte bis Fünfte Krankenstandstag einem schmerzenden Rücken geschuldet.1 Bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist es nur etwa jeder Zwölfte. Durchschnittlich 15,6 Tage fehlte ein Rückenschmerzpatient 2017 in Österreich am Arbeitsplatz.2

Besonders betroffen sind vor allem 45- bis 59-Jährige.

Rückenschmerzen haben eine Vielzahl von Ursachen. Häufig beginnen sie in der zweiten Hälfte des dritten Lebensjahrzehnts. Zu diesem Zeitpunkt sind es meist nur schmerzhafte Muskelverspannungen, die sich langsam aus Haltungsfehlern, Fehlbelastungen und Bewegungsmangel entwickelt haben. Mit zunehmendem Lebensalter kommen dann Abnützungen der Wirbelsäule dazu: Bandscheibenschäden sowie Degenerationen und Arthrosen der kleinen Wirbelgelenke. Übergewicht und untrainierte Muskelgruppen können dann noch das ihre dazu beitragen, dass Ihr Rücken nicht zur Ruhe kommt.

Aber nicht nur körperliche Belastungen spielen bei der Entstehung von Rückenschmerzen eine Rolle. Auch die Psyche lässt den Rücken schmerzen, sowohl ursächlich als auch begleitend.

Obwohl Rückenschmerzen eine so ungeheure finanzielle Auswirkung auf unsere Gesundheitssysteme haben, wird ihnen noch immer nicht die Aufmerksamkeit zuteil, die ihnen aufgrund der Kosten, die sie verursachen, eigentlich zustehen würde. Zwar gibt es immer wieder Initiativen, aber an der „Wurzel“ wurde das Problem noch immer nicht gelöst.

Das kommt wahrscheinlich unter anderem daher, dass rund 80 Prozent der Patienten, die wegen sogenannter unspezifischer Rückenschmerzen in den Krankenstand gehen, innerhalb weniger Wochen wieder zurück am Arbeitsplatz sind. Daher wird – durchaus auch von Ärzten – fälschlicherweise angenommen, die Patienten hätten sich nach diesem Zeitraum vollständig erholt. Das stimmt freilich nur teilweise. Zwar verschwinden bei zwei von drei Patienten die Schmerzen tatsächlich vollständig – bei einem von drei Patienten werden sie aber chronisch.

Das Dumme daran ist, dass wir nicht sicher vorhersehen können, bei wem aus einer kurzen Lumbago, so nennt man eine Kreuzschmerzattacke, eine chronische Erkrankung wird.

In der Medizin bedient man sich daher einiger Hilfsmittel, um abschätzen zu können, ob irgendwelche Anzeichen auf eine Wiederkehr der Schmerzen hindeuten könnten. Dafür gibt es diagnostische Algorithmen, durch die man versucht, rechtzeitig eine drohende Chronifizierung zu erkennen und gegebenenfalls abzuwenden. Sie werden als „Yellow Flags“ oder „Red Flags“ bezeichnet. Die „gelben“ und die „roten Flaggen“ sind jedoch nicht einheitlich und dienen eher dazu, gefährliche Erkrankungen frühzeitig als Ursache der Rückenschmerzen auszuschließen. Im Klartext heißt das: Als behandelnder Arzt kann man sich auf diese diagnostischen Hilfsmittel nicht wirklich verlassen.

Besonders problematisch ist, dass jede zusätzliche Rückenschmerz-Episode die Wahrscheinlichkeit der Chronifizierung erhöht, und zwar in einem bislang viel zu unterschätztem, ja geradezu ignoriertem Ausmaß. Gefährdet sind dabei besonders Patienten, die entweder ständig unter Rückenschmerzen leiden oder unter immer wieder auftretenden moderaten bis schweren Schmerzattacken, obwohl die meisten medizinische Hilfe auf irgendeine Art und Weise erhalten haben.

INFO

DIAGNOSE „UNSPEZIFISCHER RÜCKENSCHMERZ“

Ich habe in meiner fast 40-jährigen Praxis als Orthopäde Legionen von Patienten gesehen, die mit der Diagnose „unspezifischer Rückenschmerz“ schon monatelang an Schmerzen litten, um dann erstmals in meiner Ordination zu erscheinen.

Mit manueller Untersuchung waren die Schmerzursachen zumeist rasch zu erkennen. Oftmals handelte es sich nur um eine banale aber hartnäckige Wirbelgelenkblockade, die nach zwei bis drei Behandlungen beschwerdefrei war. Die im Anschluss verordnete Gymnastik konnten Patienten dann schmerzfrei und mit wesentlich effektiverem Ergebnis durchführen. Hätten sie diese Behandlung gleich in den ersten zwei Wochen erhalten, hätten sie sich nicht nur einiges an Unannehmlichkeiten erspart. Auch das Risiko einer Chronifizierung der Schmerzen wäre wesentlich geringer gewesen.

Was ich mit diesem Beispiel sagen möchte: Ja, es ist durchaus möglich, die Schmerzursache beim sogenannten banalen unspezifischen Kreuzschmerz zu finden und diese entsprechend und zum Wohle des Patienten zu behandeln.

Es gibt auch noch einen anderen Grund für ein erhöhtes Chronifizierungs-Risiko. Viele Patienten mit Rückenschmerzen suchen erst spät oder überhaupt nie einen Facharzt auf. Rückenschmerzen werden oft einfach unterschätzt. Zu Unrecht. Denn sie sind oft ein Signal, dass „etwas nicht stimmt“. Viele Menschen behandeln sich gegebenenfalls irgendwie selbst. Die Therapie besteht meist in der Einnahme von entzündungshemmenden Medikamenten und physikalischen Maßnahmen.

In Gebieten mit einer geringeren Arztdichte werden auch nach wie vor jahrhundertealte Hausmittel und teilweise sehr exzentrische Eigenbehandlungen praktiziert. Insofern die Beschwerden nach einigen Wochen komplett verschwunden sind, ist das auch völlig in Ordnung. Gehen die Schmerzen allerdings nicht weg, ist immer eine ärztliche Konsultation empfehlenswert. Doch selbst wenn ein Arzt aufgesucht wird, bekommen Patienten mit Rückenschmerzen leider häufig nicht die Hilfe, die sie brauchen. Auch heute noch wird eine klare Diagnose mangels entsprechender Untersuchung beim ersten ärztlichen Kontakt nur selten oder gar nicht gestellt. Die meist als „Lumbago“, „Zervikalsyndrom“ oder „Ischialgie“ bezeichnete Erkrankung ist aber eigentlich noch keine Diagnose, sondern bestenfalls eine topografische Schmerzzuordnung. Sie bedeutet im Prinzip nichts anderes als: „Ja, da gibt es einen Schmerz im Rücken“. Dieser Schmerzzuordnung kommt aber – wie gesagt – noch keine diagnostische Bedeutung zu. Sogar in der medizinischen Literatur wird von „unspezifischen Kreuzschmerzen“ gesprochen. Das heißt, dass die Ursache des Schmerzes angeblich nicht identifiziert werden kann. Es gibt für das Symptom „Kreuzschmerz“ aber durchaus Ursachen. Und die können auch richtig diagnostiziert werden.

Um hier ein wenig ins Detail zu gehen, muss man zuerst einmal eine Frage beantworten:

Was versteht man unter „unspezifischen Kreuz- oder Rückenschmerzen“? Als unspezifisch werden Rückenschmerzen dann eingestuft, wenn Infektionen, Osteoporose (also Knochenschwund), Wirbelbrüche, Tumore oder andere, seltene Schmerzursachen ausgeschlossen werden können. Die Rate der unspezifischen Kreuzschmerzen beträgt, abhängig von der Literatur, zwischen 60 und 80 Prozent.

INFO

Das heißt: Bei drei bis vier von fünf Patienten kann angeblich keine ursächliche Diagnose bei Rückenschmerzen gegeben werden. Das wäre ja eigentlich unglaublich und würde einem Offenbarungseid der Medizin gleichkommen. Aber ist dem wirklich so? Diese Aussage vom „unspezifischen Rückenschmerz“ wird zwar in allen einschlägigen Beiträgen völlig unkritisch und ungeprüft zitiert, sie ist meines Erachtens aber nicht nur unrichtig, sondern auch unbefriedigend, unwissenschaftlich oder schlichtweg falsch. Sie beruht nämlich auf einem viel zu wenig beachteten Faktum: Bei den meisten Patienten, die die „Diagnose“ unspezifischer Rückenschmerz bekommen haben, wurde keine adäquate Untersuchung durchgeführt. Dass die Schmerzursache daher nicht identifiziert werden konnte, ist nicht weiter verwunderlich. Vermeintlich „unspezifische“ Rückenschmerzen können nämlich durchaus genauer, das heißt „spezifischer“ diagnostiziert werden. Dafür müssen aber Diagnosemethoden angewandt werden, die nicht mit der Gerätemedizin abgedeckt werden können. Oder anders gesagt: Einen Blick aufs Röntgenbild zu werfen, ist keine Untersuchung!

Die falsche, aber als sakrosankt angesehene Bezeichnung „unspezifisch“ hat vielmehr enorm dazu beigetragen, dass es für die häufigsten Formen der Rückenschmerzen bislang keine wissenschaftlich abgesicherten Therapieprogramme gibt. Für Rückenschmerzpatienten ist die Diagnose „unspezifisch“ daher äußerst unbefriedigend – ist es doch der dezidierte Wunsch der Patienten, dass der Grund ihrer Schmerzen erfasst, die Krankheit kuriert und eine Wiederholung des schmerzhaften Geschehens vermieden wird.

Werden die Ursachen vermeintlich unspezifischer Schmerzen aber nicht richtig diagnostiziert, kann auch keine spezifische, also nachhaltig wirksame, Therapie verordnet werden. Unter Umständen kommen dann die Schmerzen wieder, kommen häufiger und chronifizieren sich. Das ist mehr als unbefriedigend – sowohl für Patienten als auch für die Gesellschaft. Man muss leider häufig zur Kenntnis nehmen, dass Rückenschmerzpatienten nicht in gleichem Maße ernstgenommen werden wie zum Beispiel Herzpatienten. Denn das „Organversagen“ des „Organs Wirbelsäule“ führt nicht zwangsläufig zum Tode – und ist daher von der Schwere des Krankheitsbildes nicht zu vergleichen mit dem Versagen innerer Organe wie dem Herzen, der Leber oder Niere. Für den internistischen Patienten steht sofort ein aufwendiges Untersuchungsprozedere zu Verfügung. Der Rückenschmerzpatient bekommt – meist ohne jegliche Untersuchung – ein schmerz- oder entzündungshemmendes Medikament verordnet, um dann – eventuell noch mit der Aufforderung, etwas Gymnastik zu betreiben – aus der Praxis entlassen zu werden.

So weit, so schlecht. Aber warum kommen Rückenschmerzen der Gesellschaft dann so teuer zu stehen?

Der Grund für diese Situation liegt in einer irrigen Annahme. Es stimmt einfach nicht, dass Rückenschmerzen zum Großteil „unspezifisch“ seien und es stimmt auch nicht, dass sie „nur“ auf Befindlichkeitsstörungen beruhen, die wir Ärzte nur ja nicht zu ernst nehmen sollten, um den Patienten nur ja kein Krankheitsgefühl zu vermitteln. Aber zur Sicherheit schicken wir sie mit Medikamenten nach Hause, an deren Nebenwirkungen jährlich mehrere Tausend sterben.

Allerdings stimmt es schon, dass aus vermeintlich unspezifischen „Befindlichkeitsstörungen“ sehr schnell echte Rückenkrankheiten werden können, die die Gesellschaft dann teuer zu stehen kommen – durch hohe Behandlungskosten und einer exorbitanten Anzahl an Krankenstandstagen.

Die gute Nachricht: Das ließe sich leicht ändern. Mit mehr Patientenaufklärung, besserer Prävention und mit einer exakteren, rasch einsetzenden und sehr preisgünstigen manuellen Diagnostik, die bei Bedarf durch bildgebende Verfahren unterstützt werden kann.

Basierend auf einer ausführlichen Diagnose kann, falls erforderlich und selbstverständlich mit Aufklärung und Zustimmung des Patienten, mit einer diagnoserelevanten Behandlung begonnen werden. Dafür aber ist eine möglichst exakte Abklärung der Schmerzursache wichtig. Diese erreicht man aber nicht mit einem Mehr an bildgebenden Verfahren, also mehr Röntgenbilder und mehr Untersuchungen mittels Magnetresonanztomografie. Des Rätsels Lösung bringt die manuelle Untersuchung der Patienten, also das Abtasten, Berühren und Begreifen der Patienten!

Gewiss: In einer Zeit, in der so viel Wert auf Gerätemedizin gelegt wird, klingt das in manchen Ohren antiquiert. Aber die manuelle Untersuchung eines geschulten Arztes kann mehr Aussagekraft haben, als alle Röntgen- und MRT-Bilder zusammen. Dabei wäre die manuelle Untersuchung gar nicht einmal so unzeitgemäß wie sie auf den ersten Blick erscheint. Sie bietet Patienten Aufklärung über die Ursachen ihrer Leiden und das ganz im Sinne eines modernen Arzt-Patienten-Verhältnisses, in dem Patienten immer mehr über die Ursachen ihrer Leiden aufgeklärt werden wollen. Ein aufgeklärter Patient, der seine Krankheit und die daraus abgeleitete Behandlung versteht, wird dann die ihm vom Arzt angebotene Therapie auch eher annehmen.

In der Realität schaut es freilich häufig anders aus. Das gängige Therapieprozedere ist widersinnig. Auch wenn Rückenleiden zum Teil sehr schmerzhafte und die Lebensqualität entscheidend limitierende Erkrankungen sind, wird oft sechs bis zwölf Wochen abgewartet und auf Besserung gehofft. Patienten werden beruhigt, manchmal Bewegung und eventuell auch schmerzstillende Medikamente verordnet. Diese Vorgangsweise mag für den Hausarzt angenehm sein. Es kostet wenig und macht damit auch die Krankenkassen – vorerst – glücklich. Dieses Prozedere ist aber gleichzeitig auch als Entmündigung des Patienten anzusehen. Denn höchstwahrscheinlich wünscht sich ein schmerzgeplagter Patient eine angemessene Therapie, die ihn rasch von seiner Last befreien könnte. Trotzdem ist dieser therapeutische „wait and see“-Nihilismus, der im Übrigen leider auch von der WHO empfohlen wird, häufig anzutreffen.