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Michael Diers

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Beschreibung

Gegen den Strich. Die Kunst und ihre politischen Formen handelt von wegweisenden künstlerischen Projekten, die in den vergangenen Jahren aktuelle gesellschaftliche Themen aufgegriffen und dabei teils heftige Kontroversen ausgelöst haben – oder zumindest missverstanden worden sind. Ziel der Untersuchung in Form exemplarischer Analysen ist es, die verbleibenden Freiräume und Qualitäten der politischen Kunst der Gegenwart auszuloten, die mehr und mehr von Identitätspolitik, Cancel Culture und Zensur geprägt ist. In elf Kapiteln werden Werke von Lothar Baumgarten, Christoph Büchel, Sam Durant, Gelitin, David Hammons, Thomas Hirschhorn, Taring Padi, Wermke/Leinkauf, Mark Wallinger und dem Zentrum für Politische Schönheit diskutiert. Sie repräsentieren das breite Spektrum einer Kunst, die sich kritisch einmischt und sich nicht mit Selbstbezüglichkeit oder Dekoration zufriedengibt. Eine ebenso gründliche wie scharfsinnige Studie zur politischen Ikonografie der Gegenwart. Michael Diers gehört zu den profiliertesten deutschen Kunsthistorikern und Hochschullehrern. Als Autor und Herausgeber hat er umfangreich zur Geschichte und Theorie der Kunst und des Bildes sowie zur politischen Ikonografie publiziert. Er ist Mitherausgeber der Gesammelten Schriften Aby Warburgs.

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Gegen den Strich

Gegen den Strich

Die Kunst und ihre

politischen Formen

Michael Diers

Inhalt

»KUNST POLITISCH MACHEN« – Ein Vorwort

DIE VITRINE – David Hammons, »Untitled (Hidden from view)« und Lothar Baumgarten, »Unsettled Objects« oder Show Case Studies

DER BALKON – Gelatin, »The B-Thing« oder Mit dem Kopf durch die Wand

DER ZAUN – Mark Wallinger, »State Britain« oder Im Bannkreis der Kunst

DIE BRÜCKE – Wermke/Leinkauf, »White American Flags« oder Kunstalarm in New York

DER BAU – Christoph Büchel, »The Mosque« oder Ein Bethaus für Gott (und die Kunst)

DER KÄFIG – Versuch über das Zentrum für Politische Schönheit und die eine oder andere Grenzüberschreitung

DAS GERÜST – Sam Durant, »Scaffold« oder Erinnerung an ein zerstörtes Kunstwerk

DIE MAUER – Christoph Büchel, »Prototypes« oder »Build it big, build it beautiful!«

DAS BOOT – Christoph Büchel, »Barca Nostra« oder Schiffbruch mit Zuschauern

DAS TRÜMMERFELD – Ruine (und Torso) bei Thomas Demand und Thomas Hirschhorn

DAS BANNER– Der Streit um das Tuchbild »People’s Justice« von Taring Padi auf der »documenta fifteen«

Anmerkungen

Bildnachweis

Dank

»KUNST POLITISCH MACHEN«

Ein Vorwort

»The power of art is unlimited. It is absolutely unlimited and transcendent because it can do what no institution, no structure, can do. Its purpose is to go beyond structure, to question institutions, to change them. That’s what it does and defines what an art work is. So, the power of art is unlimited for social change.«

— Adrian Piper, 20151

I

Auf der Suche nach einem Titel für das vorliegende Buch, das – auf den Feldern von Ästhetik und Politik – von Anstoß gebenden und Anstoß erregenden Kunstwerken handelt, hat sich ziemlich rasch die Redewendung »gegen den Strich« eingestellt.2 Der Strich, der Streich und auch der Streik gehören wortgeschichtlich eng zusammen. Sie haben ihre gemeinsame sprachliche Wurzel in dem mittelhochdeutschen Verb »strīchen«, das für »streifen, streichen, striegeln« steht. Wer mag, kann in dieser Verwandtschaft, welche die gezeichnete Linie mit dem Landstrich und dem Landstreicher, Hieb und Schlag mit dem Hand- oder Staatsstreich und schließlich den Ausstand und die Revolte in semantischen Einklang bringt, ein politisches Profil erkennen. Wenn einem etwas gegen den Strich geht, sind Missfallen oder Widerstreben im Spiel.

Gleichzeitig gilt im Zusammenhang des geflügelten Wortes auch der Satz, dass, wer eine Sache gegen den Strich bürste, sie verfehle. Als praktisches Beispiel dafür dient der Samt eines Zylinders, der in die haarsträubende statt in die glättende Richtung gestrichen wird und daher an diesen Stellen seinen Glanz verliert. In Sebastian Brants berühmtem »Narrenschiff« zählt ein Mensch, der den Striegel nicht richtig zu nutzen weiß, sogar zu den Dummköpfen. Dürers den Topos illustrierender Holzschnitt zeigt den Spaßvogel in Begleitung zweier Maulesel vor den Toren einer Stadt [Abb. 1].3 Die Kratzbürste in seiner Hand dient der Pflege des Tierfells, das zunächst leicht gegen den Strich zu bürsten und hernach wieder sanft zu glätten ist.4 Wer den Striegel jedoch falsch handhabt, muss damit rechnen, dass das Tier bockt oder, im Fall einer Katze, sogar angriffslustig buckelt.

1 Albrecht Dürer, Narren-Holzschnitt aus Sebastian Brant, Stultifera Navis, Basel 1496

Wie aber steht es im Fall einer Person, die diesen Akt bewusst ausführt, und zwar, um wider den Stachel zu löcken? Etwas von diesem Verfahren, wider die Maßgaben der Natur zu handeln, sprich Regeln zu brechen und Grenzen zu überschreiten, eignet auch der bildenden Kunst als dem angestammten Terrain von Strich als Grundlage der Zeichnung, und zwar dort, wo sie bestimmte Richtlinien oder vorherrschende ästhetische Gesetze außer Acht lässt, sich nicht anpasst und letztere ohne Umschweife neu definiert oder erfindet. Die Narrenkappe verweist in diesem Fall auf den Künstler als unangepassten Gaukler und Außenseiter, der sein herausforderndes Geschäft bewusst und mit Nachdruck betreibt.

Die Rede von der störenden, aufstörenden, ja verstörenden Dimension der Kunst ist längst zu einem Gemeinplatz geworden. Aber es scheint für diesen Störfaktor doch eine Schranke zu geben. Sie liegt jenseits des gefälligen épater le bourgeois und darf vorherrschender Ansicht nach nicht durchbrochen werden. Wie aber soll unter solch biedermeierlichen Einschränkungen die Kunst, statt auf der Stelle zu treten und sich zu wiederholen, Schritt halten mit der Zeit und nach Form und Inhalt jenseits des Kanons neue künstlerische Dimensionen und Kriterien von Bedeutung und gesellschaftlicher Wirkung entwickeln?

Die nachfolgend präsentierten künstlerischen Arbeiten gehören in den Zusammenhang inkriminierter ästhetischer und, damit verbunden, politischer Regelverletzungen. Allesamt bürsten sie ihre Gegenstände gegen den Strich, indem sie Erwartungen enttäuschen und Einreden von der falschen Seite trotzen. Prompt werden sie für diese Haltung bestraft, sei es durch Nicht- oder Geringbeachtung der Werke oder heftige Kritik, die hier und da zensurähnliche Formen annehmen kann. Den Kunstcharakter der Werke schmälern derartige Maßnahmen allerdings nicht, im Gegenteil, er wird dadurch erst vollständig sichtbar, weil durch die öffentlichen Debatten die Herausforderung der Norm und der Charakter des Widerspruchs noch einmal deutlicher zum Vorschein gebracht werden. Dabei geht es den Künstlern nicht, wie gelegentlich zu lesen steht, um Provokation um ihrer selbst oder des öffentlichen Tumultes willen. Vielmehr plädieren sie für eine zeitgemäße Öffnung oder – um einen Beuys’schen Terminus aufzugreifen – für eine die traditionellen Vorgaben sprengende Erweiterung des Kunstbegriffs in Richtung eines eingreifenden künstlerischen Handelns, für das bereits Bertolt Brecht plädiert hatte. Mit einem eher modischen Begriff ließe sich auch von interventionistischer Ästhetik sprechen. Statt um eine Kunst als Kunst oder versteckter Anspielung im Sinne von Dissimulation geht es um eine Kunst als Instrument gesellschaftskritischer Wahrnehmung, künstlerischer Darbietung und ästhetischer Erkenntnis. Oder, kürzer gefasst, um ein Laboratorium visueller Aufzeichnung und Analyse dessen, was in der Welt der Fall ist. Dass dieses Verfahren vielfach mit dem Verlassen des wind- und wettergeschützten White Cube und stattdessen mit der Öffnung auf Straßen und Plätze als Austragungsorten einhergeht, resultiert nicht zuletzt aus dem Anspruch, statt eines exklusiven ein breiteres Publikum zu erreichen.

Eine Kunst, die den genannten Kriterien folgt, wird oft als politische oder aktivistische Kunst apostrophiert und desavouiert. Sie riskiere ihre Autonomie und Autarkie, heißt es dann, aber das ist weit gefehlt. Es geht nicht um eine Konjunktion von Kunst und Politik im Sinne einer Unterordnung oder Abhängigkeit, sondern darum, »Kunst politisch zu machen«, eine Auffassung, die Jean-Luc Godard als Filmemacher seit Jahrzehnten vertreten hat und die auch von der Mehrzahl der im vorliegenden Buch zur Sprache kommenden Künstler geteilt wird.5 Die alternative Formulierung zielt auf das künstlerische Schaffen als Tun und auf den Gedanken ab, dass die Politizität aus der künstlerischen Aktivität selbst erwächst, darin angelegt und aufgehoben ist, so dass Kunst Politik bereits in sich einschließt, ohne auch nur entfernt einem oktroyierten Programm folgen zu müssen.

Thomas Hirschhorn hat die besagte Differenz wie folgt erläutert: »Keine Sekunde denke ich, ich sei ›engagierter‹ als ein anderer Künstler. Als Künstler muss man total engagiert sein mit seiner Kunst. Es gibt keine andere Möglichkeit, wenn man etwas erreichen will mit seiner Kunst, als totales Engagement. Das zählt für jede Kunst. Es besteht heute eine große Konfusion um die Frage, was ›politisch‹ sei. Mich interessiert nur das wirklich Politische, das impliziert: Wo stehe ich? Wo steht der andere? Was will ich? Was will der andere? Die Politik der Meinungen, Kommentare und Mehrheitsfindungen interessiert mich nicht und hat mich nie interessiert. Denn es geht mir darum, meine Kunst politisch zu machen, es geht mir nicht – es ging mir nie – darum, politische Kunst zu machen. (…) Es geht darum, sich der Formfrage zu stellen und zu versuchen, durch die Formgebung eine Antwort zu finden. Ich will versuchen, mich der großen künstlerischen Herausforderung zu stellen: Wie kann ich eine Form geben, die eine Position bezieht? Und wie kann ich eine Form geben, die den Tatsachen widersteht? Ich will die Formfrage als die Wichtigste aller Fragen des Künstlers verstehen.«6 Indem die attributive Fügung »politische Kunst« zurückgewiesen wird, wird betont, dass es schlicht und in erster Linie um Kunst geht, die nur unter dem Druck expliziter Erklärung ein sonderndes Adjektiv benötigt. Im Begriff der Kunst (und ihrer politischen Formensprache) als gesellschaftlich geprägtem System und Programm sind die Ideen von Kritik, aber auch Protest und Provokation, bereits entscheidend mitgedacht, eine Feststellung, die in der Feier des inzwischen entleerten Autonomie-Begriffs versteckt oder vergessen worden zu sein scheint.

»Ich habe sie exemplarische Erzählungen genannt, und wenn du sie recht betrachtest, findet sich wirklich keine darunter, aus der sich nicht irgendein nützliches Beispiel entnehmen ließe, auch würde ich dir, lieber Leser, gern, wenn es mich nicht zu weit führte, die schmackhaften und reinen Früchte nachweisen, die du aus ihrer Gesamtheit wie aus jeder einzelnen gewinnen könntest.«

— Miguel de Cervantes, Vorrede an den Leser, in: [Exemplarische] Novellen [1613]7

II

Anhand exemplarischer Analysen stellt der vorliegende Band in elf Kapiteln zwölf Projekte vor, die dem angeführten Anspruch auf hervorragende Weise genügen.8 Die Fallstudien umfassen den Gegenständen nach, zugespitzt formuliert, eine kopfstehende Galerievitrine, einen Balkon am World Trade Center, ein Protestcamp in der Tate Britain, weiße Flaggen auf der Brooklyn Bridge, eine Moschee in einer christlichen Kirche, einen Tigerkäfig inmitten der deutschen Hauptstadt, eine Galgenskulptur in Minneapolis, ein Mauerdenkmal für einen US-Präsidenten, ein Flüchtlingsboot auf der Biennale und Trümmerfelder als Menetekel. Den Themen nach werden Kolonialismus und museale Dekolonialisierung, die Kälte von Herrschaftsarchitektur, die Funktion nationaler Symbole und medialer Hysterie, die Islamophobie, die politische Intrige und die Heuchelei der christlichen Kirche, das Debakel der deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik, die Fragen von kultureller Identität und Fremdverstehen sowie das Recht auf das Zeigen verstörender Bilder diskutiert. Die Namen der Künstler oder Künstlergruppen, die für die angeführten Werke und Sujets verantwortlich zeichnen, lauten David Hammons, Lothar Baumgarten, Gelatin (Gelitin), Mark Wallinger, Wermke/Leinkauf, Christoph Büchel, Zentrum für Politische Schönheit, Sam Durant, Thomas Demand, Thomas Hirschhorn und Taring Padi. Ihre Werke werden fast durchweg den Entstehungsdaten entlang vorgestellt. Der Zeitraum reicht von der Jahrtausendwende bis in die Gegenwart, eine Epoche, die mit den New Yorker 9/11-Ereignissen einsetzt und bis zur »Zeitenwende« des Jahres 2022 führt.9

Den Fallstudien liegen zumeist Vorlesungen und Vorträge zur Kunst der Gegenwart aus dem Blickwinkel der politischen Ikonografie zugrunde.10 Im Mittelpunkt stehen Werke, die von der Kritik und Öffentlichkeit als strittig und kontrovers eingestuft worden sind. Den Schlusspunkt bildet eine Kritik der in vielen Aspekten fragwürdigen öffentlichen Auseinandersetzung mit dem umstrittenen politischen Großbild »People’s Justice«, das von dem genannten indonesischen Künstlerkollektiv geschaffen wurde und nur für wenige Tage auf der letzten documenta zu sehen war.

Den Verfasser haben diese Arbeiten vor allem beschäftigt, weil sie virulente gesellschaftliche Fragen verhandeln und gleichzeitig, wie es Karl Kraus formuliert hat, aus einer vermeintlichen Lösung wieder ein Rätsel zu machen wissen.

Die einzelnen Kapitel lassen sich auch jeweils für sich und in beliebiger Reihenfolge lesen, in ihrer Aufeinanderfolge und Summe jedoch sowie im Vergleich untereinander ergeben sich zahlreiche sachliche und formale Kreuz- und Querbezüge, die aus den Einzelwerken und den zugehörigen Werkmonografien das Panorama einer Kunst entwerfen, welche die Politik – im doppelten Wortsinn – nicht aus den Augen verliert.

Berlin, im Sommer 2022

DIE VITRINE

David Hammons, »Untitled (Hidden from view)« und Lothar Baumgarten, »Unsettled Objects« oder Show Case Studies

»Outrageously magical things happen when you mess around with a symbol.«

— David Hammons im Gespräch mit Laura Hoptman1

I

Auf dem Weg zum Büro des Direktors der Galerie Hauser & Wirth in Los Angeles passierte der Besucher am Ende eines langen Flures auch eine hochschlanke Vitrine, die aus einem hellen Holzsockel und einem Plexiglassturz bestand und offensichtlich leer war [Abb. 1]. Auf die launig gemeinte Frage des Gastes, ob dem Haus vielleicht die Ausstellungsobjekte ausgegangen seien, entgegnete der Galeriechef leicht süffisant: »Da müssen Sie schon etwas genauer hinsehen. Gehen Sie bitte mal in die Knie oder beugen Sie sich einfach nach unten.« Gesagt, getan. Tatsächlich konnte man jetzt einen größeren Spalt zwischen dem unteren Ende des Holzsockels und dem Boden sehen und in dieser Aussparung ließen sich in der Schattenzone zwei ebenholzschwarze Füße einer offenbar afrikanischen Skulptur erkennen. »Sehen Sie, nichts ist so, wie es auf den ersten Blick erscheint«, meinte der Galerist und setzte erläuternd hinzu: »Es handelt sich um eine Arbeit von David Hammons, ein afroamerikanischer Künstler, den Sie vielleicht kennen. Der Titel der Skulptur lautet »Untitled (Hidden from view)«. Sie stammt aus dem Jahr 2002.«2 Ein wenig peinlich berührt versuchte der Besucher, die Scharte seiner Tollpatschigkeit auszuwetzen, indem er beflissen betonte, es handle sich um eine vorzügliche Arbeit, die mit der Erwartung des Betrachters spiele. Aus Enttäuschung werde in dialektischer Wendung Überraschung.3

1 David Hammons, Untitled (Hidden from view), 2002, Holzstatuette unter Vitrinensockel, 163,5 × 40,5 × 40,5 cm

Die geschilderte Begebenheit wäre unbedeutend, lenkte sie nicht unmittelbar auf einige aktuelle und grundlegende Fragen.4 Denn einerseits führt sie exemplarisch in ein Kunstwerk ein, das die übliche Vorstellung eines Ausstellungsgegenstandes düpiert und darüber hinaus den Betrachter in seinem geläufigen kennerschaftlichen Selbstverständnis irritiert, ja mehr noch provoziert, indem es ihn auf ebenso ernsthafte wie spielerische Weise mit Fragen jener zwei Kulturen konfrontiert, die hier im Clash miteinander liegen. Kurz gefasst ließe sich von dem Kontrast zwischen der sogenannten westlichen Hochkunst und der traditionellen afrikanischen (»Stammes«-)Kunst sprechen, zwei Begriffe, deren Differenz in den vergangenen Jahrzehnten im Zeichen des Postkolonialismus heftig diskutiert worden ist. Andererseits leitet das zitierte Gespräch zugleich zu der Frage über, inwiefern die bildende Kunst den intellektuellen und wissenschaftlichen Debatten vielfach nicht nur vorausläuft, sondern vor allem auch Positionen beisteuert, welche die gewohnten Diskurse bisweilen in ihren Ergebnissen übertreffen. Die Hammons-Skulptur steht beispielhaft für die Befragung oder, noch grundsätzlicher, auch für die Infragestellung eines (Museums-)Systems, das völlig heterogene Dinge in und durch seine Vitrinen ohne Ansehen ihrer historischen und kulturellen Spezifität gleichschaltet und durch die Einschließung in einen Schaukasten mit der Aura westlicher Kunst ausstattet. Auf diese Weise werden die Objekte ihrer Identität beraubt und oft genug verfremdet. Insofern ist durch die Zeige-Verweigerung der Umsturz-Skulptur »Hidden from view« eine ikonoklastische Geste inhärent.

David Hammons (geb. 1943) hat sich seit Beginn seiner künstlerischen Laufbahn mit den Institutionen und Instanzen der bildenden Kunst kritisch auseinandergesetzt. Viele seiner frühen Werke sind verloren, weil sie in Form von Straßenaktionen stattgefunden oder als ephemere Installationen nichts Handgreifliches, zum Teil nicht einmal Bilddokumente hinterlassen haben. Erst spät, das heißt ab den 1990er Jahren, haben seine Arbeiten, darunter Skulpturen, Gemälde, Fotografien und Videos, allmählich den Weg in eine Galerie oder ins Museum gefunden. Entscheidend durch die Bürgerrechtsbewegung beeinflusst, werfen die Werke des Künstlers vielfach politische und soziale Fragen auf, nicht selten von humorvollen, ironischen oder auch sarkastischen Untertönen begleitet. Und folglich war auch der Eintritt in den White Cube und das Museum für Hammons nicht ohne Kritik der Institution mittels Kunst möglich. Diese Skepsis und Distanznahme zeichnet unausgesprochen auch »Hidden from view« aus. In einem Gespräch hat Hammons sich aber auch explizit, zum Beispiel über das Kunstpublikum (und damit zugleich über die zugehörigen Institutionen) und seine Zweifel daran ausgelassen: »The art audience is the worst audience in the world. It’s overly educated, it’s conservative, it’s put to criticism, not to understand and it never has any fun! Why should I spend my time playing to that audience? That’s like going into lion’s den. So I refuse to deal with that audience. I will play with the street audience. That audience is much more human, and their opinion is from the heart.«5 Fast eineinhalb Jahrzehnte später führt »Hidden from view« besagtes Publikum dann auch an der Nase herum, um ihm eine Lektion in Sachen Kunst und Kunstverständnis zu erteilen.

Mit relativ schlichten Mitteln, eigentlich nur mit einem Trick, stellt Hammons’ Skulptur einige gewohnte museale (Re-)Präsentationskonzepte kurzerhand auf den Kopf, richtiger, vom Kopf wieder auf die Füße, sprich auf den Boden kulturhistorisch heikler Tatsachen. Indem die afrikanische Skulptur der Gattung Airport Art oder Souvenirkunst [Abb. 2] ihren Platz in der Vitrine verlässt, um weitgehend im hohlen Bauch des Sockels zu verschwinden, wird sie dem Blick entzogen und vor den Betrachtern in Sicherheit gebracht. Zurück bleibt der leere Schaukasten, der sich nurmehr selbst ausstellt und dadurch seine Bestimmung verfehlt. Der üblicherweise leere Sockel hingegen wird gefüllt und zum Versteck für eine Skulptur, von der wir nicht mehr erfahren, als der Bodenschlitz und der zugehörige Schatten preisgeben. Doch dieser Spalt genügt bereits, um beim westlichen Betrachter die geläufigen Assoziationen in Bezug auf »afrikanische Plastik« ins Kraut schießen zu lassen – Kitsch oder Trödel. Aber dieser Aspekt steht nicht einmal im Zentrum der Installation. Sie zielt vielmehr ebenso grundsätzlich wie kritisch auf den Umgang des Westens mit der Kunst eines anderen, fremden Kontinents ab, das heißt auf deren ebenso unbedachte wie unbeholfene Aneignung und Zurschaustellung.6

2 Hammons, Untitled (wie Abb. 1); die in der Skulptur weitgehend verborgene Holzstatuette

Die Vitrine samt Sockel, mit deren Form, Funktion und Bedeutung Hammons spielt, ist bekanntlich ein altes Instrument und Medium der Aufbewahrung und des Herzeigens wertvoller, schützenswerter Gegenstände.7 Von der Kunst- und Wunderkammer der Frühen Neuzeit, wo sie im türverglasten Schrank ihren Vorläufer besitzt, wanderte sie schließlich technisch fortentwickelt als Pult-, Schrank- oder Standvitrine ins moderne Museum sowie in die Galerien und Privatsammlungen. Als Statusmöbel der Repräsentation nobilitiert sie bereits aus sich heraus jeglichen dort abgelegten Gegenstand.8 Das Material (Acryl-)Glas als substantieller Bestandteil eines Schaukastens verleiht den Objekten äußeren Glanz, suggeriert wie das Schaufenster eines Warenhauses Nähe und gewährleistet zugleich Distanz. Und auch die Fragilität des Materials gebietet bereits Vorsicht und Respekt. Eine unmittelbare Handhabe, sei es zur Prüfung, sei es als Akt der Wertschätzung, ist nicht möglich. Allein das Auge, nicht die Hand regiert im skopischen Reich der Vitrine.9

Im Fall von Hammons ist der gewöhnlich im Mittelpunkt stehende Gegenstand dem Blick entzogen. Das System Vitrine als Sichtschrank ist kaltgestellt, weil sich das Schauobjekt ins Verborgene und Dunkle geflüchtet oder gerettet hat. Dort jedoch fungiert die figürliche Plastik als eine Art Karyatide, welche die Vitrine auf ihren Schultern beziehungsweise auf dem Kopf balanciert. Indem der Vitrine aber auch ganz praktisch Beine gemacht werden, wird sie beinahe in eine anthro-pomorphe Figur verwandelt. Diese Metamorphose macht aus einem Möbel eine (Märchen-)Gestalt – eine Kiste auf nackten dunklen Füßen, die aus der Distanz betrachtet einem Automaten oder Roboter ähnelt. Der berühmte Schachautomat (»Schachtürke«) des Barons Wolfgang von Kempelen, in dessen Innerem sich ein kleinwüchsiger Mensch verbarg, um dort unerkannt die gebotenen Spielzüge auszuführen, könnte einem in den Sinn kommen.10

Doch David Hammons wird es weniger um die europäische Kunst- und Kulturgeschichte als vielmehr um eine ebenso ernsthafte wie gewitzte Auseinandersetzung mit dem Zusammenstoß zweier Welten gegangen sein – auf der einen Seite das hegemoniale System des Westens, das sich mit seinen eigenen Mythen einen kulturellen Reim auf den Kontinent Afrika macht, und auf der anderen Seite die durch den Kolonialismus gebeutelten und vielfach sträflich missverstandenen Kulturen der sogenannten Dritten Welt, die durch die christlich-politische Missionierung der Europäer heimgesucht und ausgebeutet worden sind. Hammons bündelt in seiner Skulptur anschaulich zahlreiche Fragen zum Thema Kolonialismus. Was zum Beispiel bedeutet es, wenn Objekte einer fremden Kultur der eigenen wie Trophäen einverleibt werden? Was heißt es, diese Gegenstände den angestammten Orten und Nutzern zu entziehen, sie ins Ausland zu transportieren und unter die (Glas-)Haube zu bringen? Was bedeutet die Nachfrage nach Werken der Souvenirkunst, die plötzlich die Idee bestimmter religiös-kultureller Gegenstände bis zur Bloß- oder Entstellung durch Dekontextualisierung transformieren? Hammons liefert keine Antwort, sondern zeigt einige zentrale Aspekte auf, die sich im Umgang mit der Kunst und Kultur Afrikas, wie er in den westlichen Zivilisationen gang und gäbe war (und ist), ebenso beiläufig wie bündig auf.11

Dass er dabei als Instrument und Instanz auf die Vitrine, die gelegentlich als ein Museum im Museum angesprochen wird, rekurriert, verwundert nicht, sofern man bedenkt, dass dieses Vehikel des Spektakels die Künstler spätestens seit den 1960er Jahren häufig beschäftigt hat. Die Künstlernamen reichen in diesem Fall von Timm Ulrichs (»Selbstausstellung«, 1961) über Joseph Beuys (»o.T. [Vitrine]«, 1969–1985)« und Peter Greenaway (Ausstellung »The Physical Self«, 1991) bis Olaf Metzel (»Eichenlaubstudie«, 1986), Barbara Bloom (»The Culture of Narcissism«, 1989), Andreas Slominski (»Ohne Titel«, 1994, Ausstellung »Künstler-Schaufenster«, Hamburger Kunsthalle) oder Simon Denny (»Secret Power«, Biennale Venedig, 2015) und Georges Adéagbo (»Inverted Space«, Hamburg 2015). Im Fall der zuletzt angeführten Arbeiten wird die Vitrine jedoch nicht vergleichbar radikal umgedacht und verwandelt wie bei Hammons. Die genannten Künstler nutzen den Schaukasten vielmehr, indem sie sich dort wie Ullrichs selbst ausstellen oder aber ihre Sammlungen und Installationen wie Displays in Schaufenstern präsentieren und spielerisch »adeln«. Einen ikonoklastischen Akt steuert nur Metzel bei, indem er die Scheiben der Plexiglasvitrine und die dort verwahrten Gipse europäischer Geistesgrößen mit Trennscheibe, Stichsäge und Hammer nahezu dekorativ splittern lässt.

»Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung.«

— Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, ca. 1780

II

Wollte man einen Vorläufer von Hammons auf dem Feld der künstlerischen Auseinandersetzung mit Vitrinen-Präsentationen von Ethnographica benennen, so lässt sich Lothar Baumgarten (1944–2018) heranziehen, der bereits Ende der 1960er Jahre das Medium des gläsernen Schaukastens in seinen Arbeiten dokumentiert und kritisch kommentiert hat. Seine Lichtbild-Serie »Unsettled Objects, Pitt Rivers Museum, Oxford, 1968/69« besteht aus 81 Farbdiapositiven, deren Bilder mittels eines Karussell-Projektors in einem Loop von rund 13,5 Minuten Dauer an die Wand geworfen werden [Abb. 3].12 Auch bei Baumgarten handelt es sich um eine der Hammons-Skulptur verwandte Sockel-Installation. Auf einem rund 90 cm hohen Podest wird der Dia-Apparat in eben jenem Abstand zur Wand platziert, der garantiert, dass das projizierte Bild nicht breiter als 140 cm ist.13 Baumgartens fotografische Aufnahmen präsentieren Teile der äußerst umfangreichen ethnografischen Sammlung des Pitt Rivers Museums. Es wurde 1884 als Einrichtung der Oxford University gegründet und hält bis heute an seiner aus dem 19. Jahrhundert überkommenen Präsentationsform fest.14 Der künstlerische Blick fällt jedes Mal auf eine Vitrine, in welcher hinter Glas die historischen Zeugnisse diverser außereuropäischer Kulturen zu sehen sind. Den einzelnen Fotos ist in nüchtern-serifenloser Typografie jeweils ein englischer Begriff als Beischrift zugesellt [Abb. 4–7]. Dabei handelt es sich immer um ein Verb in der flektierten Form eines Partizip Perfekts, das Aspekte der ethnografischen und museologischen Klassifizierung und Präsentation zitiert. Die Liste der versammelten 45 Tätigkeitswörter lautet: »imagined, selected, celebrated, obfuscated, studied, subtitled, restored, neglected, collected, decoded, fetishized, forgotten, reinvented, treasured, displayed, climatized, confined, counted, composed, owned, polished, valued, mythologized, protected, rationalized, classified, consumed, transformed, salvaged, neutralized, typified, admired, named, lost, disposed, politicized, registered, generalized, juxtaposed, bewildered, simulated, claimed, negotiated, stored, ignored.«15

3 Lothar Baumgarten, Unsettled Objects, 1968/1969, Installationsansicht, Museum der Moderne, Salzburg

4–7 Baumgarten, Unsettled Objects (wie Abb. 3), Lichtbild-Projektionen

In der Katalogversion (»Unsettled Objects«, Solomon R. Guggenheim Museum, New York, 1993) kommen noch die Partizipien »evaluated«, »questioned«, »analyzed«, »accumulated«, »disciplined«, »photographed«, »narrated«, »moved« und »traded« hinzu.16 Baumgartens Wörterverzeichnis verweist auf jene Schritte, die im Zuge einer Musealisierung der kulturhistorischen Gegenstände üblich sind. Das Partizip macht jeweils deutlich, dass die diversen wissenschaftliche Operationen – Systematisierung, Klassifizierung, Etikettierung – einer Behandlung gleichkommt, denen die Objekte Klinikpatienten oder Gefängnisinsassen gleich unterzogen werden; sie werden, so bezeugt es die grammatikalische Verbform, in vielerlei Richtungen hin traktiert.

Auf den ersten Blick haben Hammons’ Skulptur und Baumgartens »Lichtbildprojektion« wenig miteinander zu tun. Hier eine manifeste Vitrine, dort fotografische Aufnahmen von Vitrinendetails, ephemer projiziert, indem jedes Bild nur für wenige Sekunden sichtbar ist, bevor es taktgemäß wieder verschwindet und dem nächsten Foto weicht. Doch beide Werke greifen ein gemeinsames Thema auf – die Präsentation aus ethnografischer Sicht wertvoller Gegenstände in musealen Kontexten und speziell deren Einhausung in die Vorzeigeform der Vitrine, die immer gebieterisch nach dem Blick des Besuchers verlangt: »Achtung, sieh her!« Bei Hammons zieht sich das Objekt fast vollständig in den Sockel zurück, um sich unsichtbar zu machen. Baumgarten hingegen ist durch die große Museumshalle mit ihren unzähligen Vitrinen gestreift und zeigt das hinter Glas stillgestellte, mortifizierte Leben der typologisch geordneten, in Hülle und Fülle vorhandenen Objekte auf. Er dokumentiert die Sammlung mittels Fotografie und folglich mit einem charakteristischen Aufzeichnungsinstrument der ethnologischen Feldforschung. Er lichtet die Gegenstände in ihrer musealisierten, mumifizierten Form ab, man könnte auch sagen, er fotografiere einen »Friedhof«17 beziehungsweise dessen gläserne Grabsteine. Die den Fotografien im Wortsinn eingeschriebenen Begriffe steuern die Kommentarebene bei, indem sie von der Mumifizierung der Objekte und ihrer Verwandlung in Trophäen berichten, die von wissenschaftlichen, militärischen oder kommerziellen »Feldzügen« Zeugnis ablegen. Die Juxtaposition von Schrift und Bild garantiert, dass die Fotografien nicht für sich als ästhetische Objekte wahrgenommen, sondern vielmehr als Dokumente gesehen, gelesen und schließlich begriffen werden. Das Schrift/Bild-Zusammenspiel ist Ende der 1960er bereits ein zentraler Darstellungsmodus der Konzeptkunst, die sich von einer bloß retinalen, sprich auf das Sehen konzentrierten Kunst verabschiedet hat und den Anspruch anmeldet, Sehen und Lesen gleichberechtigt als Erkenntnisformen miteinander zu verknüpfen und die sinnliche Wahrnehmung nicht von der logisch sondernden Rationalität zu trennen. Oder, um es mit dem Hauptsatz von Rudolf Arnheims Standardwerk Kunst und Sehen zu formulieren: »Alles Wahrnehmen ist auch Denken, alles Denken auch Intuition, alles Beobachten ist auch Erfinden.«18

Baumgarten lässt sich als Fotograf nicht von der Patina der alten, historischen Vitrinen oder von der Schönheit der dort aufgebahrten Dinge verführen, sondern referiert, seziert und analysiert das Gegebene nüchtern, einschließlich der Sichtbehinderungen, darunter Lichtreflexe und Spiegelungen, die der Transparenz des Mediums Vitrine entgegenstehen. Seinen Aufnahmen ist ebenso wie Hammons’ Installation eine kritische Theorie des Displays inhärent. Und dies in doppelter Hinsicht. Zum einen in Bezug auf die Institution Museum/Ausstellungsraum/Galerie/White Cube mit dem zentralen Doppelgespann Sockel und Vitrine und zum anderen, vorgängig, in Bezug auf den Kolonialismus und den damit verbundenen Kulturraub samt dessen ideologischen Verwerfungen und Objektverfremdungen. Und wie Hammons nicht auf das Glas der Vitrine verzichtet, so führt Baumgarten seine Fotos als Diapositive, das heißt als Präparate zwischen Glasplatten (und weiß gerahmt in Passepartouts) vor. Die Mechanik des Karussells mit ihren Klickgeräuschen, die von fern an das Laden eines Maschinengewehrs erinnern, sowie das Ventilatorsummen stehen in deutlichem Kontrast zu dem immateriellen und ephemeren Charakter der Lichterscheinungen, die sich als ein Menetekel verstehen lassen. Der Takt der Maschine ist unerbittlich und verlangt nach gesteigerter Aufmerksamkeit. Anders als im Fall von Fotografien, die gerahmt an der Wand fixiert sind, verschwinden hier die Bilder im Sekundentakt und tauchen erst nach einer Weile wieder auf.19 Dieser Bildkreislauf nimmt kein Ende, er setzt vielmehr auf Wiederholung und damit auch auf eine Anprangerung ohne Unterlass. Dem Verfahren der Aneignung und sterilisierenden Ein- und Anordnung eines vermeintlich »Fremden« wird hier auf ebenso poetische wie eindringliche und eindrückliche Weise der Prozess gemacht.

Lothar Baumgarten ist nicht der erste Künstler, der sich dieses Themas angenommen hat, das heute ringsum aus postkolonialer Perspektive intensiv diskutiert wird, nicht zuletzt von der Wissenschaft, den Museen und der Politik. Doch der bildenden Kunst kommt in diesem Kontext eine besondere Rolle und Aufgabe zu, weil sie häufig zügiger, offener, unvoreingenommener und vor allem unerschrockener agiert. Das hat vielleicht mit Narren- oder Kunstfreiheit zu tun, aber vor allem mit dem Verzicht auf falsche Rücksichtnahme. Baumgarten selbst führt in diesem Zusammenhang als einen der ersten namhaften Künstler, die sich über die Kunst der »Anderen« geäußert haben, Albrecht Dürer an. Dürer hat im Jahr 1520 auf seiner Reise in die Niederlande auch in Brüssel Station gemacht und die Kunstkammer Karls V. besucht. Von den dort verwahrten Schätzen war er derart beeindruckt, dass er aus dem Staunen nicht herauskam. In seinem Tagebuch hält er fest: »Auch hab ich gesehen die Ding, die man dem König aus dem neuen gulden Land [Mexiko] hat gebracht, ein ganz guldene Sonnen, einen ganzen Klafter breit, desgleichen ein ganz silbern Mond, auch also gross, desgleichen zwo Kammern voll derselbigen Rüstung, desgleichen von allerlei ihrer Waffen, Harnisch, Geschutz, wunderbarlich Wahr [Wehr], seltsamer Kleidung, Bettgewand und allerlei wunderbarlicher Ding zu manniglichem Brauch, das do viel schöner anzusehen ist dann Wunderding. Diese Ding sind alle köstlich gewesen, dass man sie beschätzt um hunderttausend Gulden wert. Und ich hab aber all mein Lebtag nichts gesehen, das mein Herz also erfreuet hat als diese Ding. Denn ich habe darin gesehen wunderliche künstliche Ding und hab mich verwundert der subtilen Ingenia der Menschen in fremden Landen. Und der Ding weiss ich nit auszusprechen, die ich do gehabt hab.«20 Dürer, fast sprachlos und beinahe stotternd bemüht ständig den Superlativ »Wunder« in seinem Bericht und hebt insbesondere die »subtile Ingenia« der Schöpfer hervor, deren Produkte er über die Maßen zu schätzen weiß. Nichts von Arroganz oder Überlegenheit ist in diesen Zeilen zu finden, im Gegenteil höchster Respekt und Anerkennung. Den Hintergrund von Eroberung und Unterwerfung, weiß er nicht auszumachen, er dankt vielmehr für die Möglichkeit der Begegnung mit Zeugnissen einer Kultur, die er bis dahin bestenfalls vom Hörensagen kannte. Ob die gezeigten Objekte einen Widerhall in seinem künstlerischen Schaffen gefunden haben, steht dahin. Exotische Pflanzen und Tiere hat er jedenfalls studiert und gezeichnet.21 An dieser Stelle gilt es nur zu betonen, dass Dürers gleichsam naive Form der Bewunderung heute kaum mehr angebracht ist. Kinder ausgenommen, können wir es uns kaum mehr leisten, ein vergleichbares unvoreingenommenes Staunen zum Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung mit diesen Gegenständen zu machen, die historisch und ideologisch durch die Verfahren der Aneignung höchst kontaminiert sind. Dennoch gibt es museale Displays und Inszenierungen, die den erwähnten Dürer-Effekt auch in unseren Tagen noch produzieren und provozieren. Das Pariser Musée du Quai Branly wäre mit den dort wie Juwelen in schummriges Licht getauchten Objekten zum Beispiel eine solche Station, wo sich diese Erfahrung auch heute noch machen ließe.

Baumgarten scheint in seine Dia-Serie eine versteckte Dürer-Hommage eingebaut zu haben, wenn er unter der Beischrift »treasured« einen Kopfschmuck aus Federn zeigt, der in seiner Anlage dem »Blauracken«-Flügel gleicht, den Dürer im Jahr 1512 aquarelliert hat [Abb. 8 u. 9]. Allerdings versetzt das Pitt Rivers Museum, das Baumgarten porträtiert, auch einen kritisch eingestellten Besucher ob seiner Fülle von anthropologisch-archäologischen Sammlungen ohne Frage in Erstaunen. Der Begründer der Sammlung und Stifter des Museums, General Augustus Henry Lane-Fox Pitt Rivers, hatte nach dem Besuch der Londoner Weltausstellung von 1851 zunächst mit einer Waffensammlung begonnen, seine Interessen aber bald in Richtung auf das ethnografische Feld erweitert und seine Kollektion 1884 der Oxford University mit der Auflage vermacht, dass dafür ein eigenes Museum zu errichten und ein Kustos zu berufen sei. Und so geschah es. Die Sammlung wird bis dato in typologischer Reihung dargeboten, welche die Museumsstücke vergleichend nach Gattungen und Funktionen, also nicht chronologisch oder geografisch geordnet, sondern quer durch die diversen Kulturen sortiert; auch das spezifische historische Display der Schaukästen und Vitrinen ist beibehalten [Abb. 10]. Selbst die alten handschriftlichen Etiketten sind den Objekten heute noch angeheftet. Ganz bewusst pflege man das beim Publikum äußerst beliebte, historisch signifikante Layout und den Modus des Arrangements nach Objektgattungen, die für eine »democracy of things«, das heißt für ein gleichberechtigtes, nicht-hierarchisches Nebeneinander Sorge trage.22

8 Baumgarten, Unsettled Objects (wie Abb. 3)

9 Albrecht Dürer, Blauracke, 1512, Aquarell, Albertina, Wien

10 Blick in die Haupthalle des Pitt Rivers Museum, Oxford

Auf diese Weise präsentiert sich das Museum bewusst als eine Einrichtung des ausgehenden 19. Jahrhunderts und folglich der Epoche des Kolonialismus und musealisiert und historisiert sich selbst.23 Die Haupthalle mit ihrer beeindruckenden Glas-Eisen-Architektur wird auf diese Weise zu einer Supervitrine, die wiederum wie eine russische Matrjoschka zahllose andere Glaskästen in sich birgt. Dass eben dieses Museum mit seiner epochenspezifischen Architektur den Künstler Baumgarten zugleich angezogen und irritiert haben wird, verwundert nicht. Obwohl er in den Jahren von 1968 bis 1970 auch zahlreiche weitere ethnografische (»völkerkundliche«) Museen und Bibliotheken in Paris, London, Kopenhagen, Hamburg, Köln, Berlin und Turin besucht hatte, fiel die Wahl für das Projekt »Unsettled Objects« am Ende auf das Oxforder Haus. Wie in einem Dornröschenschloss scheint hier die Zeit in vielfacher Hinsicht stillgestellt zu sein. Dadurch wird das nach außen hin bis dato merkwürdig unangefochtene Selbstverständnis des Museums schlagend sicht- und kritisierbar. Auf der Suche nach einer Inszenierung, die ihr Konzept auch fotografiert leicht zu erkennen gibt, war das Pitt Rivers Museum kaum zu übertreffen. Baumgarten scheint wie ein interessierter Besucher mit schweifendem Blick durch die Sammlungen flaniert zu sein, dem Anschein nach eher wie ein Amateur und nicht systematisch fotografierend. Daher gibt es in den Aufnahmen viele Details zu sehen, gelegentlich auch Unschärfen, aber nirgends wird ein geordneter Überblick geboten.24

In einem Artikel über »Unsettled Objects« hat der Künstler später ausführlich über die Entstehung und einige ihm wichtige Aspekte dieser Arbeit berichtet: »Die Konservierung und Gliederung ethnographischer Objekte, die Dramaturgie ihrer konstruierten Präsentation und Ordnung, das Labyrinth ihres Parcours im Museum, waren der Beginn meines Interesses für den Entwurf eines photographischen Bildes über einen Ort ohne Geister. (…) Wir begegnen dieser Welt der Phantome, dem Totem des animistischen Denkens in einer Folge von 81 Lichtbildern. (…) Die Versammlung ethnographischer Objekte wird zum Abbild der Schöpfung, zur Arche. In Vitrinen und Schränken aufbewahrt, führen sie ihren Dialog, ihr ›Tamtam‹ in verglasten Möbeln und zwischen allen Stühlen. Unzugänglich verpackt, sind sie all ihrer komplexen Zusammenhänge beraubt, jedoch nicht gänzlich verstummt.«25 Am Ende des Textes, in dem Faszination und Kritik sich die Waage halten, wird das Pitt Rivers Museum exemplarisch herausgestellt »für (bewusst) versäumte, verjüngende Umschichtungen, und so ist es auf magische Weise zugleich zu einer betörenden Konserve des Kolonialismus und einer beginnenden ethnographischen Weltsicht des Unterschieds geworden.« Das nach heutigen Standards ungewöhnlich »verstaubte« Oxforder Museum hat dem Künstler die willkommene Gelegenheit zu einer Zeitreise geliefert – zurück ans Ende des 19. Jahrhunderts und zu dem unerschütterten Mythos von der Vorherrschaft einer eurozentrischen Kultur, die sich im Bild des »Anderen« selbstverliebt zu spiegeln wusste. Dem Fotografen kam die märchengleiche Atmosphäre der Vitrinenhalle entgegen, weil sie pittoreske Bilder bot, die durch seine Beischriften auf einen kritischen kulturhistorischen Begriff gebracht und sowohl gegen die Institution als auch gegen sich selbst als Repräsentanten der Spezies »weißer« Besucher gewendet werden konnten. Dass der deutsche Künstler rund ein Jahrzehnt später eine mehrmonatige Reise ins brasilianisch-venezolanische Grenzgebiet unternommen hat, um dort an der Seite der Yanomami zu leben, zeugt von dem Versuch, der Spur der Gegenstände zu folgen und damit die Distanz aufzuheben, welche die Institution der Vitrine repräsentierte, oder anders gesagt, sich als teilnehmender Beobachter jenen Menschen zu nähern, deren Vorfahren die gezeigten Objekte einst gehört haben mochten. Alles in allem der Versuch eines Künstlers, die aseptischen Glaswände zu überwinden, hinter sich zurückzulassen oder gar – zumindest im eigenen Kopf – zu zerstören. Das Modell des Künstlers als Ethnografen, das sich in den 1990er Jahren verbreiten sollte, sowie den zugehörigen Diskurs, gab es damals noch nicht.26 Baumgarten – postum als »erster Ethnologe unter den Künstlern« apostrophiert27 – war um 1970 noch weitgehend auf sich gestellt. Er folgte auch weniger den Gedanken der bildenden Kunst, sondern setzte auf die Ideen und Maßgaben von Strukturalismus und Ethnografie.

»Alles endet an der Wand oder im Schauschrank.«

— Paul Valéry, Das Problem der Museen, 192328

III

Hammons und Baumgarten sind Altersgenossen, die jedoch in sehr unterschiedlichen Welten aufgewachsen sind. Beide nähern sich in ihrer Kunst daher auch dem gemeinsamen Thema des kolonialistischen Denkens auf je eigene Weise. Der amerikanische Künstler setzt auf das Konzept einer Tabula rasa, indem er die Skulpturen, die eigentlich unter dem Schutzmantel einer Glashaube zu finden sein sollten, den Blicken entzieht und eine leere Vitrine zurücklässt. Damit widerspricht er nicht nur dem Imperativ der Vitrine, der da lautet »Nie leer sein!«29, sondern auch dem Grundsatz kultureller Zurschaustellung. Und da es sich bei ihm nicht um eine einzelne Skulptur, sondern um eine Reihe gleichförmiger Vitrinen-Arbeiten handelt, kann er mit diesen Werken auch einen Ausstellungssaal füllen. Beim Betreten macht dieser dann zunächst den Eindruck einer soeben beendeten oder noch im Aufbau befindlichen Schau. Erst der zweite oder dritte Blick enthüllt das Geheimnis beziehungsweise die künstlerische Strategie.30 Baumgarten hingegen setzt mit seiner Versuchsanordnung am anderen Ende des Zeigediktats an, indem er nicht das Entrücken und die Leere inszeniert, sondern die von Objekten überquellenden Vitrinen in einem mit Schaukästen nahezu überfüllten Saal zeigt.

Tertium comparationis ist für beide Werke neben dem thematischen Bezug das Zusammenspiel von Sockel und Vitrine. Baumgarten entleert den Glaskasten nicht praktisch oder materiell, sondern konzeptuell. Seine moderne Laterna magica zeigt nur die farbigen Schatten der Dinge und bezeichnet sie als »gefangen«. Die Lichtbilder legen auf dem Weg der technischen Projektion jene Vorstellungen und Imaginationen frei, mit denen die in den Vitrinen gezeigten »Artefakte«, wie es oft vorsichtig heißt, bedacht werden.31 Die Diapositive lagern in festgelegter Reihenfolge im Apparat, versteckt im Dunkeln, und ähnlich wie die »Hidden from view«-Skulptur nur durch eine Verneigung oder ein Niederknien sichtbar werden, werden die Diapositive jeweils nur für Sekunden ans Licht gebracht. Die Bildserie reflektiert eine doppelte Transparenz, indem sie Glasvitrinen zeigt, die zu Glasbildern geworden sind und nur im durchscheinenden Licht erblickt werden können.

Neben der Vitrine ist für beide Künstler auch der Sockel als ein weiteres (Re-)Präsentationsmöbel zentral. Bei Hammons dient er als blicksicheres Versteck, bei Baumgarten als Postament für den Dia-Apparat, der mitsamt seinem Glasbilder-Karussell als Skulptur auch selbst Ausstellungsgegenstand und Vorführmaschine ist, welche die Bilder »herbeizaubert«. Beide Arbeiten haben sich das Transparentwerden eines nur bedingt transparenten Vehikels zum Ziel gesetzt. Die Vitrine gewährt zwar optische Durchsicht und Klarheit, verhindert aber zugleich einen historisch adäquaten Blick auf die zur Schau gestellten Objekte, die sich in der Sammel- und Begriffstradition von Artificialia und Naturalia auch als Vitrinalia adressieren lassen könnten, demnach als Gegenstände, die in aseptischer Umgebung ihren angestammten Charakter, man könnte mit Horkheimer und Adorno auch sagen ihre »Seelen« verloren haben: »Der Animismus hatte die Sache beseelt, der Industrialismus versachlicht die Seelen.«32

IV

Der Diskurs, den beide Künstler aufgreifen und auf den sie mit ihren Werken abzielen, ist auch fortgesetzt virulent und relevant. Er hat sich leider nicht erledigt, wie man, zugegeben etwas naiv, angesichts der besonderen künstlerisch-kritischen Qualität der diskutierten Skulpturen und Installationen hätte erwarten können. Bis heute ist die Frage nach der richtigen Einschätzung und dem angemessenen Umgang mit den Zeugnissen der außereuropäischen Kulturen nicht zufriedenstellend beantwortet.33 Das Beispiel der ab 2017 für zwei Jahre im Berliner Bode-Museum gezeigten Ausstellung »Unvergleichlich. Kunst aus Afrika im Bode-Museum«, die den Weg zu dem im Aufbau befindlichen Humboldt-Forum als ein Museum der Weltkulturen begleiten sollte, zeigt diesen Stillstand, wenn nicht Rückschritt schlagend auf.34 Im »direkten Dialog«, so das Konzept der Verantwortlichen, sollten ausgewählte Zeugnisse der europäischen Kunst des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, die im Bode-Museum ihren angestammten Platz haben, Kunstwerken aus West- und Zentralafrika »gegenübergestellt« werden. Weder das sanfte Wort »Vergleich« noch die harsche Bezeichnung »Konfrontation« fällt in den Verlautbarungen. Der Leitbegriff »unvergleichlich«, Synonym mit »einzig« oder »einzigartig«, verbietet konsequenterweise jeden Vergleich. Man hat vielleicht angenommen, durch diesen diplomatischen Wortvermeidungs-Schachzug dem begründeten und daher berechtigten Anwurf, in der Sache etwas miteinander in unmittelbare Verbindung zu bringen, was nicht zusammengehört, begegnen zu können. Man möchte die Werke auf »Augenhöhe« – technisch-praktisch und in der Sache – miteinander zeigen und schließt sie daher paarweise in Vitrinen ein und zusammen. Hier stehen sich nun zum Beispiel Donatellos bronzener Tamburin-Putto und die metallene Benin-Statuette einer Göttin, eine Schutzmantelmadonna und eine sogenannte Kraftfigur aus dem Kongo oder eine Kleinplastik aus Elfenbein und eine kongolesische Luba-Figur gegenüber. Und zu was sonst als zum Vergleich laden diese Gegenüberstellungen ein? [Abb. 11] Die beiden einander jeweils konfrontierten Skulpturen entkommen selbstverständlich nicht dem Vergleich, richtiger, der vergleichende Blick wird qua Inszenierung explizit provoziert. Was ist der Form nach ähnlich, wo sind die Unterschiede? Was bedeutet diese Differenz? So fragen die Besucher, die sich dem didaktischen Schema und System der Präsentation nicht entziehen können und sich anhand von Objektbeschriftungen, per Audioguide oder App durch die Ausstellung führen lassen.

11 Ausstellung Unvergleichlich. Kunst aus Afrika im Bode-Museum, Berlin, Vitrine mit Memento Mori-Doppelfigur, Paris, um 1520, Elfenbein, und Doppelfigur mit Schale, Warua-Meister, Luba, Kongo

V

Es scheint allerdings nur so, als würden die beiden in Rede stehenden Kulturen gleichberechtigt miteinander ins Gespräch gebracht.35 Auch der Begriff »Kunst« im Ausstellungstitel, der wie ein Ritterschlag daherkommt und die Debatte um den Status der »Artefakte« kurzerhand für beendet erklärt, kann darüber nicht hinwegtäuschen. Denn tatsächlich kommt man an der Zurschaustellung des Exotischen nicht vorbei. Dieser Aspekt erwächst unmittelbar aus der Gegenüberstellung, indem die Besucher die europäische mit der afrikanischen Kunst sub specie der Anders- und Fremdheit laufend miteinander verrechnen. Und die Differenzen im musealen Umgang mit den kostbaren Objekten wird schlagend an der bereits erwähnten Benin-Skulptur deutlich. Sie trägt auf ihrem Rücken zwei in weißer Schrift angebrachte Code-Kennzeichnungen: »Die erste Nummer ist die vom Museum vergebene Inventarnummer, die sie innerhalb der Sammlung eindeutig kennzeichnen soll. Die zweite ist vermutlich eine ältere, von einem Händler vergebene Identifizierungsnummer.«36 Im Rücken der Donatello-Figur aus dem Florentiner Baptisterium findet sich keine solche Inventarnummer, denn kein Kustos oder Restaurator würde es wagen, hier in ähnlicher Weise zu verfahren; wenn überhaupt, so findet sich eine entsprechende Nummer verborgen unter der Muschel, die als Standfläche dient.

Das Plakat der Ausstellung [Abb. 12] zeigt im Zentrum eine spielkartenähnliche Montage von vier Werken der Schau, die jeweils hälftig miteinander verschnitten sind und einen Zwitterdoppelkopf bilden; von siamesischen Zwillingen zu sprechen, verbietet sich, aber das grafische Konzept folgt diesem Modell. Ähnlich hat bereits in den 1920er Jahren Hannah Höch die Blätter ihrer Collage-Serie mit dem Titel »Aus einem ethnographischen Museum« [Abb. 13] gestaltet, indem sie fotografische Zeitschriftenbilder ebenso bunt wie bewusst mischt, um ihre Hybridgestalten zu schaffen.37 In dem hier gezeigten Fall handelt es sich um eine Skulptur, die in einer schwarz markierten Vitrine hockt und erstaunt oder erschrocken aus dem Bild blickt.

12 Plakat zur Ausstellung Unvergleichlich im Bode-Museum, 2017, Entwurf Ingo Morgenroth

13 Hannah Höch, Collage aus der Serie Aus einem ethnographischen Museum, 1929, Collage und Gouache auf Papier, National Galleries of Scotland, Edinburgh

Vitrine und Sockel werden bis heute als probate Mittel der Präsentation von Kunst verstanden.38 Sie sorgen wie in der Berliner Ausstellung weiterhin für die erforderliche Aura sowie für Zusammenhalt, wie ihn eine Zwangsjacke gewährleistet. Kleinbronzen werden in der Regel nicht unter Glasstürzen präsentiert, auch im Bode-Museum nicht; der Grund muss wohl in der ungestümen Juxtaposition liegen, die hier durch das Konzept geboten war. Hannah Höch hat bereits die Ausweglosigkeit, in welcher die von ihr geschaffene Bildgestalt steckt, dadurch angedeutet, dass diese in einem Käfig gezeigt wird. Hammons hat ebenso geistreich wie ernst vorgeführt, dass es daraus ohne Frage ein Entrinnen gibt.

DER BALKON

Gelatin, »The B-Thing« oder Mit dem Kopf durch die Wand

»THE MUSIC FROM THE BALCONIES NEARBY WAS OVERLAID BY THE NOISE OF SPORADIC ACTS OF VIOLENCE«

— Ed Ruscha, »The Music From The Balconies«, 1984. Der Bildtitel zitiert einen Satz aus dem Roman »High-Rise« (1975) von J.G. Ballard.

I

(un)seen – Das New Yorker International Center of Photography (ICP) besitzt unter vielen anderen Sammlungen auch ein Archiv zu den 9/11-Terroranschlägen. Es wird als »September 11-Archive« geführt und umfasst rund 1500 Fotografien und Zeitungen. In diesem Kontext begegnet dem Nutzer auch die »Metro Section«-Seite der New York Times vom Sonnabend, den 18. August 2001.1 Warum dieser Artikel, der mehr als drei Wochen vor den islamistischen Attacken auf das World Trade Center erschienen ist, in diesem Konvolut verwahrt wird, legt ein detaillierter Blick auf die Zeitungsseite klar. Den Aufmacher bildet der Beitrag »Balcony Scene (Or Unseen) Atop the World« von Shaila K. Dewan.2 Dem Text sind vier Illustrationen beigegeben. Die zentrale Fotografie [Abb. 1] zeigt einen Ausschnitt der »gestreiften« Fassade des World Trade Center, wo zwischen zwei Stahlrippen, nur undeutlich zu erkennen, ein Mensch aus dem Fenster zu blicken scheint; oder vielleicht auch in einer Art Gondel vor der Fassade schwebt. Der Untertitel des Artikels nimmt auf die fotografische Unschärfe des Bildes Bezug, indem dort von einer »Episode am WTC« die Rede ist, die unterdessen »mythische Qualitäten« besitze.3 Mythisch steht hier für mysteriös. Anlass für den Beitrag der Reporterin, die bis heute über Themen wie Strafjustiz und Polizeiarbeit berichtet, ist das im Monat zuvor erschienene Buch »The B-Thing«4 des Wiener Künstlerkollektivs Gelatin – »a slender book of curious title, obtainable in very few places«. »Das Buch«, so der Kommentar, »ist zurückhaltend bis schräg (…). Es täuscht über die Ausgefallenheit der Tat hinweg, die es zu dokumentieren scheint.«5 Hier klingt bereits an, was im Folgenden hin und her gewendet wird, und zwar die Frage, ob sich die Balkon-Aktion, von der damals in der Kunstszene geraunt wurde, tatsächlich ereignet habe. Es hieß, die genannte Künstler-gruppe habe im Jahr zuvor im 91. Stock des World Trade Center für einige wenige Minuten aus einem Fensterschlitz einen kleinen Balkon herausgeschoben und sich dort in der Höhe von rund 335 Metern der Reihe nach von einem vorbeifliegenden Hubschrauber fotografieren lassen. Ein waghalsiges Unterfangen und selbstverständlich strikt untersagt. Der NYT-Artikel versucht, der Aktion journalistisch von