Michaelisches Zeitalter - Emil Bock - E-Book

Michaelisches Zeitalter E-Book

Emil Bock

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Beschreibung

Michael neu erfassen Was kann es Wichtigeres geben als ein Denken, das vom Herzen her durchblutet und von Liebe durchströmt ist? Ein solches Denken ist zum Verstehen und Erkennen imstande; und zwar nicht nur der sinnlich-wahrnehmbaren, sondern auch der übersinnlichen Welt. Nur so kann die Wahrheit über die gesamte uns umgebende Welt gefunden werden.

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EMIL BOCK

MICHAELISCHES ZEITALTER

URACHHAUS

INHALT

Geleitwort zur Neuausgabe 2023

Vorbemerkung der Herausgeberin

Vorwort

1923: Präludium: Geistesmut im Denken

1937: Im michaelischen Zeitalter

1938: Zwischen zwei Michael-Zeitaltern

1940: Christliche Ideale im michaelischen Zeitalter

1945: Das Zeitalter des Erzengels

1947: Die Auseinandersetzung mit dem Bösen

1947: Der Genius Europas

1949: Die Weltlage und der wahre Geist der Zeit

1950: Jahrtausendwende

1953: Das Lichte Zeitalter

1953: Michael und das neue Kommen Christi

1955: Christ-Sein vor dem Zeitgewissen

1955: Fortschreitendes Christentum

1948: Wandlungen Michaels

1956: Michael, der Fürst des Fortschritts

1956: Christus und Michael

1957: Der Michaels-Gedanke: Das Fest des Werdenden

GELEITWORT ZUR NEUAUSGABE 2023

Taucht man in die Vorträge Emil Bocks ein, die er in den dramatischen Jahren von 1923 bis 1957 gehalten hat, so fühlt man sich aus der eigenen Tiefe heraus aufgerufen, neue Wege mutvoll zu ergreifen. Auch ist es sehr eigenartig, dass man beim Lesen des Buches den Eindruck haben kann, den machtvollen Worten eines alten und doch neuen Propheten zu lauschen, einem Vorverkünder der neu aufgehenden Christus-Sonne. Er ruft, wie einst Johannes der Täufer: Ändert euren Sinn! Verfallt nicht den Zauberkünsten der dunklen Mächte mit ihrer verlockenden Technik, ihren Egoismen usw. und verschlaft nicht das geheimnisvolle Erscheinen des Christus im Goldhauch des Ätherischen. Erkennet auch – so mahnt Emil Bock ‒ den Vorkämpfer Christi, Michael, der euch in Freiheit zum Schauen der Christus-Sonne erkraften will.

Mit Erkenntnis-Sicherheit weist Emil Bock auf die Aufgaben der vergangenen Epochen hin, wie auch auf die Notwendigkeit, heute der gesteigerten Macht der Widersacher bewusst und mutig zu begegnen. Daher nennt er sein Buch: »Michaelisches Zeitalter ‒ Die Menschheit vor dem Zeitgewissen«. Er schreibt: »Christus und Michael sind der Menschheit mitten in den wachsenden, stürmischen Finsternissen nahe; sie tragen ihr die Sonne entgegen, die in der Mitternacht leuchtet« (siehe den Vortrag »Michael, der Fürst des Fortschritts«, S. 189).

In tiefer Verehrung schaut Emil Bock auf Rudolf Steiner, der wie ein großer Lehrer und Wegweiser von ihm erlebt wird.

April 2023 Gundula Jäger

VORBEMERKUNG DER HERAUSGEBERIN

Im Jahr 1948 war ein äußerlich sehr bescheidenes Büchlein erschienen uner dem Titel »Im michaelischen Zeitalter«. Im Jahr 1948 erschien ein äußerlich sehr bescheidenes Büchlein mit dem Titel »Im michaelischen Zeitalter«. Es enthielt eine Reihe von Zeitbetrachtungen und historischen Skizzen, die Emil Bock in den dramatischen Jahren vor und nach dem Zweiten Weltkrieg gehalten und danach zum Druck bearbeitet hatte. Namentlich die Betrachtungen vor 1941 hatten den ganzen Ernst des Zeitgeschehens und das ständig drohende Verbot der bereits heftig bekämpften Christengemeinschaft zum Hintergrund. Die Zuhörer hatten damals das deutliche Bewusstsein davon, dass hier ein Mensch ohne Rücksicht auf seine eigene Person mit michaelischem Erkenntnismut und in aller Offenheit über die geistige Situation der Gegenwart sprach. Dabei wurde immer auf Rudolf Steiner hingewiesen und betont, dass allein mithilfe seines Lebenswerkes die Zeitschicksale wirklich verstanden und bewältigt werden können. Es war ein Nach-vorne-Ausweichen, das in den Menschen den Mut zu innerer Initiative und klarem Durchschauen der äußeren Prüfungen, zugleich aber auch die Zuversicht und geistige Sicherheit wecken wollte: »Durch unsere Reihen schleichen die Dämonen und schreiten die Götter« (s. Kapitel »Christliche Ideale im michaelischen Zeitalter«).

Das Büchlein mit diesen zum Teil zeitgebundenen Beiträgen war bald vergriffen, und es schien lange Zeit nicht gerechtfertigt zu sein, es in derselben Form wieder abzudrucken. Im Jahr 1979 aber, hundert Jahre nach dem Beginn unseres gegenwärtigen Michael-Zeitalters, ist es eine Forderung des Augenblicks, es in neuer und erweiterter Gestalt wieder erscheinen zu lassen. Überdies wird damit einer Absicht Emil Bocks entsprochen, der wiederholte Male erste Ansätze gemacht hat, eine solche erweiterte Fassung herauszugeben. Andere Aufgaben haben dies jedoch verhindert.

Fast Jahr für Jahr hatte Emil Bock in der Michaelizeit Ansprachen und Vorträge zu dem Thema »Der Erzengel Michael und sein Zeitalter« gehalten, die er dann für eine Veröffentlichung in der Zeitschrift »Die Christengemeinschaft« überarbeitet oder umgeschrieben hat. Auch die von ihm zur Jahreswende gehaltenen Zeitbetrachtungen haben diese Thematik immer wieder berührt. So entstand im Laufe von mehr als 20 Jahren eine stattliche Reihe von Aufsätzen, welche die Grundmotive und Grundideen vielfältig wiederholen und mit einer gewissen Systematik von den verschiedensten Aspekten aus beleuchten und weiterführen. Dass dies nicht erschöpfend geschehen konnte, liegt im Wesen der Sache.

Überschaut man die zeitgeschichtlichen Betrachtungen in ihrer Ganzheit, dann zeigt sich in überraschender Deutlichkeit, dass die Darstellungen – nachdem die augenblicksbezogenen Einzelheiten herausgenommen waren – heute nicht überholt sind, sondern in mancher Hinsicht sogar an Aktualität gewonnen haben. In der Zeit ihrer Entstehung war vieles erst im Anfangsstadium zu beobachten, was heute zur massiven Bedrohung angewachsen ist.

Die Aufsätze sind im Wesentlichen chronologisch angeordnet. Die im Inhaltsverzeichnis angegebenen Jahreszahlen bezeichnen das Jahr, in dem die Vorträge und Ansprachen gehalten sind. In der Regel wurden sie im darauffolgenden Jahr veröffentlicht. Nur der Aufsatz »Christliche Ideale im michaelischen Zeitalter« (1940) konnte nicht mehr erscheinen, da im Herbst 1941 die Christengemeinschaft bereits verboten war.

Der als Präludium vorangestellte Aufsatz »Geistesmut im Denken« wurde 1923 für das Michaeli-Heft der Zeitschrift »Tatchristentum« geschrieben.

Obwohl die vier letzten Aufsätze schon in der 1962 erschienenen Aufsatz-Sammlung »Der Kreis der Jahresfeste« enthalten sind, wurden sie doch auch in dieses Buch wieder aufgenommen. Sie verbinden den jahreszeitlichen mit dem geistesgeschichtlichen Aspekt und bringen so wesentliche und grundlegende Schilderungen, dass in diesem Zusammenhang nicht auf sie verzichtet werden konnte.

Mai 1979 Dr. Gundhild Kačer-Bock

VORWORT

Schillers Distichon »Mein Glaube« drückt die religiöse Einstellung ungezählter moderner Menschen aus:

»Welche Religion ich bekenne? Keine von allen,

Die du mir nennst. – Und warum keine? – Aus Religion.«

Diese Worte sind heute von einer viel umfassenderen Aktualität als zur Zeit seiner Entstehung. Die Erkenntnis, mit dem eigenen religiösen Suchen und Ahnen innerhalb der historisch entstandenen kirchlichen und religiösen Verhältnisse allein und heimatlos dazustehen, kann an sich schon zu einem fruchtbaren inneren Ausgangspunkt, ja zu einem religiösen Erlebnis werden.

Für viele Zeitgenossen unserer dramatisch geprüften Gegenwart stellt sich die Einsicht, die sich in die schillerschen Worte prägen lässt, so dar: Ihnen ist die traditionelle Frömmigkeit zu eng und zu seelenegoistisch, als dass sie sich noch voll damit verbinden könnten. Ihnen kommt es angesichts der Größe des heutigen Gesamtschicksals klein vor, das persönliche Seelenheil des Einzelnen so sehr zum Mittelpunkt und Inhalt des religiösen Lebens zu machen. Sie halten nach Möglichkeiten Ausschau, in einem überpersönlichen Sinne fromm zu sein mit dem Zeitalter. Wichtiger als die Frage »Wie werde ich erlöst?« ist ihnen die andere: »Was hat die Gottheit mit mir und meinem ganzen Zeitalter vor; was erwartet sie von mir; zu welchen inneren Schritten ruft sie durch die Schicksalssprache meine Gegenwart auf?«

In weiter zurückliegenden Zeiten bildete es den Inhalt der Religion, dass die Menschen das Göttliche in der Natur erlebten und verehrten. Erst in dem Jahrtausend, das jetzt seinem Ende entgegengeht, konnte sich die persönliche Frömmigkeit herausbilden, die um das Thema »Gott und die Seele« kreist. Einen Übergang aus dem Kosmischen in das Individuelle stellte die an die völkische Blutsgemeinsamkeit gebundene Strömung der Volksgötter-Verehrung dar, die in der Religion des Alten Testaments ihren Höhepunkt erreichte und zugleich in das Menschheitliche überleitete. Die Sehnsucht nach einer umfassenderen überpersönlichen Frömmigkeit, die im Sinne des schillerschen Distichons die Besten unserer Zeit beseelt, lässt als ein erstes Vorzeichen erkennen, wie in der Zukunft die Religion wieder einen kosmischen Charakter und Radius annehmen kann. Es wird in der Zukunft entweder gar keine lebendige Religion mehr geben oder eine solche, die zu den göttlichen Mächten und Wesenheiten in allem inneren und äußeren Dasein des Himmels und der Erde verehrend aufschaut. Einen Übergang dazu bedeutet es, dass uns die Seelendramatik unseres Zeitalters anleitet, Gott im Schicksal, und zwar nicht nur jeweils in dem Auf und Ab des persönlichen Lebens, sondern auch in der großen Führung der Menschheitsgeschichte zu suchen und zu finden. Die Größe des Zeitalters hebt den Einzelnen über sich selbst hinaus. Sollte allein im Bereich des religiösen Lebens, das doch die edelsten Anlagen des Menschenwesens zur Entfaltung bringen kann, die Selbstbefangenheit andauern, die den Menschen sich nur um die Achse der persönlichen Erlösungssehnsucht drehen lässt?

Das Wort »Gott« hat sich zu sehr vollgesogen mit den Gefühlen der egoistischen Frömmigkeit, zu welcher die persönliche Frömmigkeit in einer Zeit zusammenschrumpfen musste, die nur noch auf dogmatischem Wege, d.h. unter Umgehung eines gedanklich-klaren Erkennens, zu einem Wissen von der Existenz einer höheren Welt gelangte. Der moderne Mensch lernt durch Erkenntnis-Ehrlichkeit angesichts des Wortes »Gott« ganz bescheiden zu sein und nur den allersparsamsten Gebrauch davon zu machen. Ehe er in neuerrungener, mit vollwachem Bewusstsein vereinbarer Kindlichkeit das Wort »Gott« wieder aussprechen kann, wird er zunächst vielleicht nach Ausdrücken tasten, die das Ganze, Reich-Umfassende einer »göttlichen Welt« bezeichnen.

Wir stehen, indem wir uns in die Welt hineingestellt fühlen und uns unserer in der Welt gesammelten Erfahrungen und Erkenntnisse bewusst werden, weder bloß vor einem materiell-mechanischen Sach-Zusammenhang noch befinden wir uns so ohne Weiteres dem letzten höchsten Wesen, das wir mit dem Worte »Gott« bezeichnen, gegenüber. Unserem eigenen seelisch-geistigen Wesen begegnet durch die bunte Vielheit der sinnlich-wahrnehmbaren Welt-Inhalte hindurch eine reich gegliederte Welt von seelisch-geistigen Wesenheiten. Nicht nur antwortet meinem Ich aus jedem anderen Menschen auch ein Ich: Sowohl in den Kreatur-Reichen von Stein, Pflanze und Tier, die meinen Sinnen zugänglich sind, als auch aus den übersinnlichen Bereichen über dem Menschen, die in den wachsenden Kreisen zusammenfassender Schöpfungsgruppierungen zu erahnen sind, antworten meinem Geist hierarchische Chöre eines unendlichen Geister-Reiches.

Was hier gemeint ist, hat mit »Pantheismus« nichts zu tun. Pantheismus ist nichts anderes als ein mit verschwommenen Abstraktionen verbrämter Materialismus. Nur ein erkennendes und anerkennendes Wahrnehmen konkreter geistiger Individualitäten kann hier gemeint sein, so wie ja auch Menschen untereinander sich gegenseitig als ewige geistige Ich-Wesen ernst nehmen müssen. An den Namen, mit denen in der Alten Welt und auch in den biblischen Büchern die Wesenheiten des hierarchisch abgestuften Reiches der Geister bezeichnet worden sind, braucht man nicht zu hängen. Wichtig aber ist, dass bereits das Weltbild des Evangeliums und des Urchristentums, indem es über die vier sinnlich wahrnehmbaren Reiche von Stein, Pflanze, Tier und Mensch hinaus die rein geistigen Wesensstufen der Engelreiche bis hinauf zu den Cherubim und Seraphim beim Namen nennt, eine reale »göttliche Welt« beschreibt. Ebenso wenig wie in den Tagen der Apostel braucht es für den modernen Menschen eine Schwierigkeit darzustellen, innerhalb des christlichen Weltbildes die lebendige Vielheit der göttlichen Wesen mit dem monotheistischen Gedanken der erhabenen Einheit Gottes in Einklang zu bringen. Die Vielzahl der hierarchischen Wesenheiten – hier gehören sogar noch alle kreatürlichen Wesen unserer irdischen Naturreiche hinzu – verhält sich zu dem einen höchsten Gott, den wir den Vater nennen, nicht anders, als wie sich die Vielzahl der Glieder und Organe des menschlichen Organismus zur Einheit der Persönlichkeit verhält, die sich zu ihren Leibes-, Lebens- und Seelenfunktionen dieser Glieder und Organe bedient. Der irdisch verkörperte Mensch ist als Ebenbild der Gottheit erschaffen. Deshalb ist es berechtigt, alle Wesen des Himmels und der Erde zusammen als einen großen, dem Menschenleibe vergleichbaren Leib Gottes aufzufassen. Die Engel, die die Schicksalswege der einzelnen Menschen geleiten, sind in einem höchst exakten Sinne die »Hände« Gottes. Die Führung durch den Engel – den Genius des eigenen Wesens – hat derjenige erfahren, der sagen kann: Ich habe »die Hand Gottes« in meinem Leben verspürt. In gleicher Art könnte man die Erzengel, die geistigen Führerwesen der Völker, als die Arme Gottes bezeichnen. Allen Hierarchien wären so innerhalb der großen kosmischen Leiblichkeit Gottes der Platz und die Aufgabe zuzuweisen. Das »Herz Gottes« schließlich, das schöpferische Mittelpunktswesen unseres Weltalls, ist der Christus, der aus höchster hierarchischer Sphäre einmal in eine menschliche Inkarnation eingetreten ist, um die dem Götterleben entfallene Erdenmenschheit wieder an die Welt der Höhen anzuknüpfen. Deshalb ist durch das Wesen Christi das Wesen des Vaters am unmittelbarsten zu erkennen und zu erfahren. Wie sich an den gedankenblind und abstrakt gewordenen Begriff »Gott« alle traditionelle Einengung und seelen-egoistische Verkleinerung des christlichen Blickes und Empfindens angeheftet hat, so kann der Begriff einer realen »göttlichen Welt«, wenn damit der Ausblick auf die heilig gegliederten Stufenreiche der Diener Gottes verbunden ist, die Befreiung und die Wiederherstellung des kosmisch weiten Horizontes mit sich bringen, nach welcher der moderne Mensch sich sehnen und Ausschau halten muss. Der Bann der Befangenheiten muss sich lösen. Die egoistisch eingeengte persönliche Frömmigkeit kommt in Wirklichkeit nur zu Berührungen mit dem Engel, der der eigenen Seele als führender Wächter, als Hand Gottes, beigegeben ist, auch wenn man vermeint, unmittelbar vor dem Thron des höchsten Gottes zu stehen. Die volksgebundene Religiosität, die sich nicht über die Ebene hinausschwingt, wo Patriotismus und Frömmigkeit benachbart sind, mag sich noch so anspruchsvoll als Christentum bezeichnen: Sie dringt nicht über die volksegoistische Sphäre des Erzengels vor, der dem eigenen Volke als Volksgeist zugeordnet ist.

Ins Freie des menschheitlichen Horizontes kämpft sich die christliche Stimmung erst empor, wenn sie das »Frommsein mit dem Zeitalter« erlernt, indem sie die im Zeitenschicksal wirksamen göttlichen Mächte und damit die Sphäre der realen Zeit-Geister, der »Urkräfte« oder »Urbeginne«, berührt. Im Erringen eines religiösen Zeitalter-Bewusstseins wächst der Mensch erst wirklich über sich selbst hinaus. Er findet die Religion, von der das schillersche Distichon am Schlusse spricht.

Hier kommen wir an das Schlüsselmotiv heran, um welches die Betrachtungen dieses Büchleins kreisen. Die neuere Geisteswissenschaft, die von Rudolf Steiner begründete Anthroposophie, spricht in Übereinstimmung mit alten Traditionen von einer Gruppe geistiger Führer-Genien, die gewissermaßen zwischen den Archangeloi und den Archai, zwischen den Volksgeistern und den Zeitgeistern, stehen. Es gibt sieben Erzengel, die sich in zyklischem Wechsel zum Rang eines Zeitalter-Genius aufschwingen und der vorwärtsschreitenden Menschheit durch etwa dreieinhalb Jahrhunderte den Stempel ihres Willens und Wesens aufprägen. Der sonnenhafteste unter ihnen ist derjenige, den die Tradition von den Zeiten des Alten Testamentes her als Michael bezeichnet. Wenn er das Zeitenruder in Händen hält, hat die Menschheit auf Erden die Prüfungen eines michaelischen Zeitalters zu bestehen, aber auch die Segnungen eines solchen zu empfangen. Das trifft auf unsere Zeit zu. Der Erzengel Michael steht in einer besonders engen Beziehung zu Christus. Nicht als ob der Mensch seiner, um zu Christus zu kommen, als eines Mittlers bedürfte, gewissermaßen als eines Mittlers zum Mittler. So wie die Christuswesenheit als »das Herz Gottes« in besonderem Maße für den einen höchsten Weltengrund, den Vater, transparent ist, so auch Michael als »das Antlitz Christi« für Christus. Wer Michael begegnet, steht durch ihn hindurch Christus selbst gegenüber. Das ist das Geheimnis des gegenwärtigen michaelischen Zeitalters: Kommt unsere Gegenwart durch alle ihre Schicksalsprüfungen geistig zu sich selbst, dann steht sie vor einem Genius des Werdens, durch den sie wie durch ein Prisma oder ein Fenster dem Christus selber von Angesicht zu Angesicht begegnet.

Mehr als je sind heute die inneren Entwicklungen wichtiger als der äußere Fortgang der Ereignisse. Es kommt alles darauf an, dass wenigstens einige Menschen an dem, was geschieht, erwachen. Das ist letzten Endes die Absicht der Schicksalsmächte, die die Katastrophen und Prüfungen unserer Zeit über uns verhängen.

Über die Geist-Seite des Gegenwartsschicksals, über das innerste Mysterium des Zeitalters in systematischer, zusammenhängender Form etwas auch nur einigermaßen Vollständiges zu sagen, wäre, solange wir in den übermenschlichen Hochspannungen und den daraus hervorgehenden Kultur-Depressionen mitten darinnenstehen, ein schier unmögliches Unterfangen. Vielleicht kann es aber doch für manch einen eine Hilfe im Erringen der notwendigen Überschau bedeuten, den Betrachtungen zu folgen, durch die versucht wurde, jeweils auf die Schrecken des heraufziehenden Gewitters vorzubereiten oder die Erschütterungen, nachdem sie hereingebrochen waren, innerlich zu verarbeiten und zu meistern. Immer bestätigte und bewährte das, was geschah, die aus einer spirituellen Welt-Orientierung geschöpften Vorstellungen und Leitgedanken. Man lebt sich wohl auch in den Wesensstil des unser Zeitalter gestaltenden Genius ein, wenn man die durch Jahre hindurch immer wieder fortgesetzten Bemühungen rückschauend noch einmal mitmacht, nach den inneren Gesetzmäßigkeiten des Michael-Zeitalters zu tasten. So wurde bei der Zusammenstellung der folgenden Betrachtungen kein Wert darauf gelegt, Wiederholungen zu tilgen. Es ist auf eine Leserschaft gerechnet, die ein Interesse daran hat, wie man sich im Kreise derer, die bemüht sind, die von Rudolf Steiner erschlossene Geist-Erkenntnis für unsere Zeit fruchtbar zu machen, besonders im Kreise der Christengemeinschaft, über den Gang der Gegenwartsschicksale Rechenschaft zu geben versucht hat.

Stuttgart 1923 Lic. Emil Bock

PRÄLUDIUM: GEISTESMUT IM DENKEN

Ein katholischer Theologieprofessor wurde in seinem Seminar einmal gefragt, wie sich der einzelne Priester damit zurechtfinden solle, dass die Kirche der Entwicklungslehre als einem gesicherten Ergebnis der neueren Naturforschung widerspricht. Der Student erhielt zur Antwort: »Wenn Rom diese oder jene Lehre verdammt, so bedeutet das nicht, dass sie falsch ist.«

Der Fragesteller und seine Mitstudierenden waren durch die Antwort vollauf zufriedengestellt und von ihren Zweifeln befreit. Nur ein junger Protestant, der zugegen war, fasste sich an den Kopf. Er verstand den Professor nicht, und noch weniger verstand er diejenigen, die sich mit dessen Antwort zufriedengaben. Er empfand sich vor einer ihm völlig fremden Welt.

Eine solche Szene offenbart die Kraft- und Bewusstlosigkeit des konfessionellen Christentums gegenüber dem menschlichen Denken. Die katholische Kirche hat seit Kopernikus und Galilei in dem neueren naturwissenschaftlichen Denken einen reißenden Wolf gesehen, den man mit allen Mitteln im Vorhof zurückhalten muss, damit er nicht in das Innere des Tempels eindringe. Sie war nie der Meinung, dass die Naturwissenschaft keine Wahrheit enthielte. Sie hat, was Galilei lehrte, nicht als unwahr, sondern als gefährlich verdammt. Sie hat sogar aus den Reihen ihrer eigenen Priesterschaft die schärfsten Denker als gelehrte Vertreter der materialistischen Naturwissenschaft herausgestellt. Der immer mächtiger werdende Wolf wurde in den Vorhöfen gepflegt, damit es umso besser gelänge, ihn von den Hallen des Tempels und vom Allerheiligsten fernzuhalten.

Der Protestantismus entstand mit dem neuzeitlichen, naturwissenschaftlichen Denken zugleich. Er durchschaute nicht das wahre Wesen des neben ihm Aufwachsenden. Arglos ließ er den Wolf, der im Schafspelz der Wahrheit einherging, in sein Haus und Heiligtum herein. Gewiss meldete sich auch im Protestantismus immer wieder das Gefühl der Besorgnis, wie es in der katholischen Kirche zur bewussten und planmäßigen Abwehr führte und führt. Überall, wo sich in protestantischen Reihen etwas von der katholischen Haltung gegenüber dem Denken geltend machte, sprach man davon, man müsse um des Glaubens willen Glauben und Wissen trennen. Aber das Gefühl der Besorgnis wirkte mehr nur wie ein undurchschauter Instinkt. Es konnte nicht verhindern, dass auf theologischem Felde, wo das wissenschaftliche Denken fernzuhalten unehrlich gewesen wäre, die Macht des Wolfes Eingang fand. Das intellektualistisch-materialistische Denken richtete sich in seiner undurchschauten Zerstörungskraft auf die Heiligen Schriften, und schließlich wurde so dem Menschen, ohne dass er es sogleich bemerkte, die Bibel geraubt.

In imposanter Größe ragt der Tempel des Katholizismus noch immer empor. Aber er ist in all seiner Macht ein Greis. Mit dem Wolf hat man auch das verjüngende, fortschreitende Element von ihm ferngehalten. Der Tempel verdankt den Fortbestand seines überalterten Daseins dem »Nein«, das der Furcht vor dem Wolf entstammt. Es kann ja auch ein gewalthabender Herrscher aus Furcht handeln. Der Tempel, den der Protestantismus um sein Allerheiligstes, das Wort, hätte bauen können, blieb ungebaut. Obwohl es im protestantischen Lager immer Menschen gab, die ihr warmes, gläubiges Herz innerhalb der Wolfskälte des neueren Denkens behaupteten, wusste der Wolf listig den Bau des Tempels zu verhindern, indem er das Verständnis für die gemeinschaftsbildende Kraft des Sakraments ersterben ließ. Und längst hat sich das Untier über das ungeschützte Allerheiligste hergemacht. Die Menschen glaubten der Wahrheit zu dienen, indem sie forderten, dem kritischen Denken sei vor der Bibel keine Grenze zu setzen; in Arglosigkeit ließen sie das ungöttlich gewordene Denken in den Bereich des göttlichen Wortes herein.

So ruht der Tempel, in welchem die heutige Menschheit, ohne die Gegenwart zu verleugnen, das heutige Sein und Wirken Gottes verehren und anbeten kann, noch auf dem Grunde des Stromes, dessen rasch strömende Wellen unsere Zeit sind.

Es ist klar, dass für jeden, der vor allem anderen nach Wahrheit strebt und sich diese Wahrheit nicht durch irgendwelche Rücksichten trüben lassen will, aufseiten des Protestantismus zunächst mehr Recht liegt als aufseiten des Katholizismus. Es geht ihm wie dem jungen Menschen, der im Seminar dabeisaß und sich vorkam, als sei er in eine fremde Welt versetzt. Gegenüber der bloßen Abwehr des nach Wahrheit fragenden Denkens durch den Katholizismus – ob dieser Katholizismus nun durch päpstliche Verordnungen dem Denken das Tempeltor versperrt oder innerhalb der protestantischen Reihen Glauben und Wissen trennt – müssen wir mutvoll bejahen, was die immer-junge Gegenwart von uns fordert.

In der katholisch-dogmatischen Verneinung desjenigen Denkens, das nicht im Vorhof bleiben will, sondern nach dem Heiligen fragt, steht eine längst vergangene Zeit vor uns. Sie zeigt sich uns in einem bedeutungsvollen mythischen Bild: Im alten Ägypten naht sich der Mysterienstätte zu Saïs der suchende Jüngling. Die Priester nehmen ihn unter ihre Schüler auf, führen ihn durch alle Räume ihres Tempels, lassen ihn alle heiligen Zeichen anschauen und lehren ihn die hohe Weisheit, die ihnen selbst zuteil geworden ist. Nur beim Allerheiligsten schreiten sie wortlos mit ihm an einem verschleierten Bild vorüber. Das Fragen in ihm verstummt nicht, er verlangt zu wissen, was unter dem Schleier verborgen ist. Mit tiefernsten Worten warnen die Priester den Jüngling. Vor dem Bild soll alle Frage verstummen. Aber nun hat er kein Ohr mehr für die Weisheitslehren der Priester, seine Seele kennt nur noch die Frage nach dem verschleierten Bild. Des Nachts flieht ihn der Schlaf, und immer wieder treibt ihn die Unruhe des Fragens zu dem Bild hin. Schließlich wird in ihm die Sehnsucht nach der Wahrheit übermächtig; im Fieber greift er nach dem Schleier und zieht ihn fort. Die Sage erzählt, dass die Priester ihn am nächsten Tag tot zu Füßen des entschleierten Bildes gefunden haben. Seine Seele war zu schwach gewesen, die Übermacht des Götterbildes zu ertragen.

Die katholische Kirche handelt heute noch an dem Denken, das nach dem Göttlichen fragt, wie die Priester vor Jahrtausenden an dem Jüngling zu Saïs handeln mussten. Als ob des Menschen Seele unterdessen nichts gewonnen hätte; als ob jenes hohe göttliche Wesen nicht auf die Erde gekommen wäre, um der menschlichen Seele Kraft und Freiheit zu verleihen. Heute ist es längst eine Tatsache, dass alle zur Gegenwart erwachten Menschen fragen wie der Jüngling zu Saïs. Das fragende Denken ist überall erwacht, in ihm ringt sich des Menschen Seele zur Freiheit empor. Als die neue Zeit heraufdämmerte und die Seele den Mut zur Frage erringen sollte, da wurde den Menschen anstelle des alten ägyptischen Bildes vom Jüngling zu Saïs das neue keltisch-germanische Bild von Parsifal vor die Seele gestellt.

Als ein träumender Tor durchirrt Parsifal die Welt. Staunen zieht zwar oft und immer stärker durch sein Gemüt, aber zum wachen, freien Fragen gelangt er noch nicht. Sein schenkendes Schicksal führt ihn in die Gralsburg. Er sieht, wie der Gral die Herzen und Leiber der Ritter speist. Und er sieht Amfortas an der Wunde leiden, die selbst der Gral nicht schließen kann. Aber auch jetzt kommt er noch nicht aus dem Traum des Staunens zum Wachen des Fragens. Was der Jüngling zu Saïs noch nicht durfte, das soll Parsifal, aber er kann es noch nicht. Als der Tag die Nacht ablöst, findet er sich wieder in der Wildnis; die Gralsburg ist ihm versunken. Er muss zurück in den Wald der langen Irrnis, weil er nicht zur Frage erwacht ist. Er darf erst wieder in das heilige Gebiet des Gralstempels eintreten, wenn in ihm die mutige Kraft der Frage lebt. Mit ihr überschreitet er die Schwelle und wird erwürdigt, Gralskönig zu werden.

Die Menschheit ist aufgewacht. Sie ist aus der Zeit des Jünglings zu Saïs vorwärtsgeschritten zu derjenigen, in welcher Parsifal sich im Tempelbereich das hohe Königtum erfragen muss. Warum aber ruht der Tempel noch auf dem Grunde des Stromes?

Es könnte scheinen, als ob die protestantische Bejahung des Denkens schon ein Sich-Bekennen zur Parsifal-Frage wäre, die in den Tempel der Zukunft hineinführt. Sie ist jedoch alles andere als eine wache Tat. Sie war von Anfang an nichts als ein Sich-mitreißen-Lassen und Mitgehen mit der kurz zuvor geborenen naturwissenschaftlichen Denkungsweise. Diese war zustande gekommen durch einen Ruck, der – einem Naturvorgang vergleichbar – in der allgemeinen Bewusstseinsentwicklung eingetreten war. Das damit verbundene Aufwachen gleicht dem des Menschen, der am Morgen ausgeschlafen hat. Es beruht keineswegs auf einem mutvollen freien Sich-Erwecken.

So ist es zu verstehen, dass das neue Denken, das der Protestantismus mitmachte, weil es nicht aus einem erwachten Herzen kam, ein bloßes Kopfdenken blieb und nicht den ganzen, totalen Menschen ergriff. Einem Zug der Zeit folgend, fing der Mensch an, sich über die sichtbare Welt zusammenhängende Gedanken zu machen. Aber diese Gedanken blieben, da sie nicht von innen her durchblutet waren, grau und blass. Ein reiches, kunstvoll gefügtes wissenschaftlichweltanschauliches Begriffssystem entstand, das aber farblos und blutleer war. Dem Erwachen des Kopfes folgte noch kein Sich-Erwecken des Herzens. Das Innere des Menschen, das allein den Gedanken des Kopfes Leben und volle Realität hätte verleihen können, wurde eher noch dumpfer und unbewusster als vorher.

Damit bahnte sich eine gefährliche Spaltung in der menschlichen Seele an. Mit den neu geschenkten Gedankenkräften nahm der Mensch schnell den Reichtum der Sinneswelt in Besitz. Sein regeres Gedankenleben führte ihn zu einer Fülle von neuen Sinneseindrücken, auf welche die tieferen, unbewussteren Schichten seines Wesens mit einer ganz neuen Flut von undurchschauten, ungeläuterten Wünschen und Trieben antworteten. Dem von irdisch-sinnlichen Wahrnehmungen und abstrakten Kopfgedanken angefüllten Bewusstsein stand, je mehr die kindliche Naivität und Unschuld erlosch, das vom Feuer der Sinnensucht erfüllte, unerweckte »Unbewusste« gegenüber.

Ohne es zu wollen und zu wissen, sandte der Mensch aus den Niederungen seines unbewussten Daseins alles Undurchschaute und Unbeherrschte, das in ihm war, in seine Gedanken hinauf. Gedanken und Worte wurden unbewusst zu Verhüllungen des Instinktiven im Menschen. Die Klugheit wurde zum Instrument des Egoismus. Heute ist nicht nur die Politik, sondern auch das alltägliche Leben und sogar die Wissenschaft bis in die Theologie hinein von »Schlagworten« erfüllt. Das Denken wird durch das aufsteigende ungeläuterte »Unbewusste« trotz all seiner logischen Richtigkeiten geschwächt und verfälscht. Nicht von mutig und bewusst gepflegter innerer Stärke getragen, schwingt es sich nicht über die Welt der äußeren Sinne hinaus. Und, nicht zur Welt des Geistes emporgedrungen, versteht es auch die Welt der Sinne nicht mehr. Es breitet ein dicht gesponnenes Trugnetz über alles aus, indem es die Dinge der Welt für nichts als toten Stoff hält. Der Materialismus des Denkens ist ein Irrtum, weil er aus der Sündhaftigkeit des Menschenwesens stammt. Der Ehe zwischen dem Ungeläutert-lnstinktiven und den abstrakten Begriffen des Kopfes entsprießt eine Welt von Gespenstern, denen schließlich der Mensch noch zur äußeren Sichtbarkeit verhilft. Schauen uns nicht ihre toten Fratzen tausendfältig aus Maschinen, Telegrafendrähten und Zahlen über Zahlen an?

Der altgermanische Mythos sagt, dass der Fenriswolf aus Loki (Luzifer), dem in der niederen Lohe wohnenden Versucher, geboren worden sei. Wenn der Mensch sein luziferisches Triebleben unverwandelt lässt, so fallen ihn nachher die eigenen Gedanken aus der Außenwelt gespensterhaft wie reißende Wölfe an. Die Furcht, die den Katholizismus veranlasst, den Tempel gegen das Denken abzusperren, ist die Furcht vor dem Wolf, den der Mensch der Gegenwart doch immerfort selbst ins Leben ruft. Und die Bejahung des Denkens im Protestantismus ist ein argloses Mitgebären des Wolfes, solange sie nicht zu einer bewussten und mutvollen, stets erneuerten, verwandelnden und erweckenden Tat erhöht wird. Weder durch den Katholizismus noch durch den Protestantismus geschieht etwas zur Erringung der Parsifal-Frage, der das Gralskönigtum verheißen ist; weder dort noch hier geschieht etwas zur Durchchristung, zur Erlösung des Denkens. Weder dort noch hier wird dem Tier wirklich gewehrt, das aus dem Abgrund unseres Inneren aufsteigt, dem Drachen, der auf dem Felde der menschlichen Gedanken den Wolf gebiert. Drache und Wolf sind Tatsachen unseres gegenwärtigen seelischen Daseins. Ihnen entfliehen wir nicht, wir mögen uns wenden, wie wir wollen. Entweder fallen ihnen unsere letzten Heiligtümer und damit unsere Seelen zum Opfer oder wir nehmen den Kampf mit ihnen auf. Von welcher Seite wird uns Hilfe und Kraft für den Kampf zuteil?

Als die Zeit des neuen denkerischen Bewusstseins heraufdämmerte, wurde dem Menschen das Bild Parsifals vor die Seele gestellt zum Zeichen, dass die Zeit des verschleierten Bildes zu Saïs abgelaufen sei. Jetzt hat der Mensch intellektuell zu denken gelernt; er hat die Geister gerufen gleich dem Zauberlehrling in Goethes Gedicht. Aber jetzt bestürmen sie ihn; er wird sie nun nicht los. Es ist an der Zeit, dass zu der Gestalt Parsifals eine andere hinzutrete, nicht von dieser Welt: der Erzengel des Mutes, der das Antlitz des Christus als des Todbesiegers selbst ist: Michael. »Und es erhob sich ein Streit im Himmel: Michael und seine Engel stritten mit dem Drachen. Und der Drache stritt und seine Engel, und siegten nicht, auch ward ihre Stätte nicht mehr gefunden im Himmel. Und es wurde ausgestoßen der große Drache, die alte Schlange, die da heißt Teufel und Satanas, der die ganze Welt verführt, und wurde auf die Erde geworfen und seine Engel wurden auch dahin geworfen« (Offb. 12).

Wie werden wir zu Mitstreitern Michaels? Indem wir unser Denken, von wahrem, uns ganz durchglühendem Mut beseelt, zu einem wirklichen Fragen und Ringen um den Geist machen. Stellen wir angesichts der geistigen Welt in Demut und Mut die Parsifal-Frage, so entzaubert sich uns die Welt, in die unsere Sinne schauen. Zur Seele unserer Gedanken wird statt des drachenhaft-dunklen Instinkt- und Trieblebens unsere Liebe, unser guter Wille, unser Geistesmut selbst. Unsere tätige Liebe zum Geist ist der Licht-Speer, mit dem wir den Drachen in uns töten. In die Welt unserer Gedanken, die wir zum reißenden Wolf haben werden lassen, und in die Welt der Sinne, die wir durch unsere Gedanken zu begreifen trachten, können wir, wenn wir im Heere Michaels streiten, das durch Mut und Liebe errungene Geistige tragen.

Es geht nicht länger an, dass die Menschen den Wolf des kritischen Verstandes an der Schwelle des Heiligtums bloß abwehren, nachdem sie ihn ins Leben gerufen haben. Es geht aber auch nicht länger an, ihn arglos wüten zu lassen. Wir müssen uns ihm mit michaelischem Seelenmut priesterlich nahen, um ihn zu verwandeln. Wir erlösen in ihm unser eigenes Denken und die durch uns mit Gespenstern belebte Sinneswelt. Dem Denken muss endlich mutig und bewusst teilgegeben werden am Heiligtum der Innerlichkeit. Dazu aber muss es von innen heraus anders werden. Herz und Kopf müssen dazu erzogen werden, dass sie zusammenwirken in einem Denken, das vom Herzen her durchblutet und von Liebe durchströmt ist. Ein solches Denken ist zum Verstehen und Erkennen nicht nur der sinnlich wahrnehmbaren, sondern auch der übersinnlichen Welt imstande und kann deshalb erst die Wahrheit über die uns umgebende Welt finden.

Franziskus von Assisi kam einst in den Ort Agobio, der bedrängt wurde von einem »ungeheuren Wolf, schrecklich und wild, der nicht nur die Tiere, sondern auch die Menschen fraß«. Da ging er hinaus, schritt mutig dem reißenden Tiere entgegen und rief: »Komm, Bruder Wolf, hierher.« Und der Wolf kam sanftmütig wie ein Lamm und legte sich still zu des Franziskus Füßen und lauschte seiner Verkündigung. Von dieser Stunde an diente der Wolf dem Menschen. Diese Legende gibt uns ein prophetisches Bild für die michaelische Tat, die im Großen am menschlichen Denken getan werden muss.

Im Jahreslauf beginnt die Michaeliszeit an der Schwelle des Herbstes, wenn es in die kältere, dunklere Jahreszeit hineingeht. So lässt uns der michaelische Geistesmut, durch den sich das Herz zum Erkenntnisorgan erweckt, Licht und Wärme hineintragen in die kalte winterliche Zone des bloß kopfmäßigen Denkens. Am Michaelistag ist die Sonne in das Sternzeichen der Waage eingetreten. Die zum Geistesmut erwachte Liebe des Herzens stellt sich, die Waage haltend und den Ausgleich schaffend, zwischen den unbewussten, trieberfüllten Abgrund unseres Wesens und die Gedanken unseres Hauptes wie das Blatt zwischen Wurzel und Blüte.

Michaelisch leben heißt, aus mutiger Herzenskraft das Innere und das Äußere vermählen. Und ein Anfang des michaelischen Lebens ist das erlöste Denken. Wer aus den Tiefen seines Inneren Liebe hinaufströmen lässt in seine Sinneswahrnehmungen und Gedanken, der benennt die Dinge und Wesen der Welt nicht mehr mit angelernten Worten: Er grüßt sie als Brüder und Schwestern. Sein Denken wird zum grüßenden Namengeben, aus dem wiedergefundenen göttlichen Schöpfungsauftrag heraus (1. Mos. 2,19). Das michaelische Denken bringt dem Menschen auch über die Welt der Sinne neue höhere Wahrheit und Weisheit. Es wird zum Michael-Speer, mit dem er den Gespensterschleier, das Gemächte des Drachen, durchstoßen kann. Zum Schauen verwandelt sich das Denken durch den Mut des Herzens zum Geist. In diesem Schauen wird der Mensch, wie Richard Wagner es in seinen Schriften bezeichnet, »wissend aus dem Gefühl«. Er wird wie Parsifal »aus Mitleid wissend«. Der Lichtspeer des schauenden Denkens zerteilt den Vorhang des materiellen Daseins und es eröffnet sich vor uns das Geistgebiet, in welchem Michael inmitten seiner Engel dem Christus dient.

Aus dem unerlösten, wenn auch noch so geistreichen Denken kann letzten Endes nur »vom Untergang des Abendlandes« gesprochen werden. Wenn aber überall wenigstens einige Menschen ihre Seelen inmitten der größten äußeren Bedrängnis und Not zum michaelischen Denken und Schauen erwecken, so werden wir mit innerer Berechtigung statt vom Untergang des Abendlandes vom Aufgang einer neuen Christus-Offenbarungs-Zeit sprechen können.

IM MICHAELISCHEN ZEITALTER

Wer mit innerer Überlegenheit in seiner Zeit stehen und das Schicksal meistern will, darf sich nicht damit begnügen, das, was äußerlich um ihn her geschieht, zu beobachten. Er muss bestrebt sein, in den inneren Sinn und in die Gottesabsichten einzudringen, aus denen das Geschehen seines Zeitalters hervorfließt. Er muss versuchen zu erkennen, wo auf dem Zifferblatt der inneren Weltenuhr der Zeiger angelangt ist. In früheren Zeiten gab es eine Weisheit – sie ist noch von dem gelehrten rosenkreuzerischen Abt Johannes von Trittenheim und seinem Schüler Agrippa von Nettesheim aufgezeichnet und in der Gegenwart durch Rudolf Steiner aufs Neue zur Darstellung gebracht worden –, die für jedes Zeitalter die wichtigste Hilfe zu einer solchen inneren Gegenwartsorientierung sein kann: Jede Zeit steht unter der geistigen Führung eines Erzengels, der jeweils zur Würde eines Zeitgeistes emporsteigt. Sieben solche Zeitregenten lösen sich in der gleichen kosmisch begründeten Reihenfolge immer wieder ab. Einem jeden von ihnen ist eine Epoche von etwa so viel Jahren zugemessen, als ein Jahr Tage hat. Im Aufblick zu dem jeweilig den Ton angebenden Erzengel können die auf Erden lebenden Menschen ein prägnantes Bild gewinnen, das ihnen zum inneren Schlüssel für das Geschehen und die Gottesabsicht ihres Zeitalters wird.

Diese alte und neue Weisheit vom inneren Schreiten der Geschichte enthüllt uns, dass wir heute in einem Michael-Zeitalter leben. Um das Jahr 1879 hat der Erzengel Gabriel, der in der planetarisch differenzierten Siebenheit der Zeitalter-Genien den Kräften des Mondes zugeordnet ist, die Zeitenlenkung an Michael, den Erzengel der Sonne, abgetreten. Was ist das Wesen eines michaelischen Zeitalters? Vielleicht kann uns ein Blick auf die Epoche, in welcher der Erzengel Michael zum letzten Mal als Zeitgeist gewaltet hat, zugleich über das Wesen unseres eigenen Zeitalters Aufschluss geben. Die letzte Michael-Zeit ging vom 7. bis zum 3. vorchristlichen Jahrhundert. Drei hervorragende Kennzeichen sind fast auf den ersten Blick an dieser historisch so wichtigen Epoche abzulesen.

Das erste ist dies: Kaum eine andere Zeit hat einen so unermesslichen Reichtum an erleuchteten geistigen Führergestalten aufzuweisen wie diese. Wohin wir auch blicken auf dem weiten Erdenrund: Überall muss es uns sein, als stießen wir auf eine reiche, erlauchte Versammlung großer Geister, über deren Gleichzeitigkeit wir nicht genug erstaunen können. Die ganze Fülle der alttestamentlichen Propheten, von Jesajas, Jeremias, Hesekiel, Daniel und Jona bis zu Esra und Nehemia, mögen sie die Offenbarungen, die sie empfangen haben, in den biblischen Büchern niedergeschrieben oder nur mündlich an die Zeitgenossen weitergegeben haben: Sie alle sind Söhne des Michael-Zeitalters. Gleichzeitig mit ihnen leben und wirken die großen Philosophen Griechenlands, in deren noch gottgeschenkten Gedanken das abendländische Denken, an dem wir alle Anteil haben, geboren worden ist: von Heraklit und Pythagoras bis zu Sokrates, Plato und Aristoteles. Und mit den Denkern sind die schaffenden Künstler im Bunde, die ganz Hellas und insbesondere das perikleische Athen mit Schönheit schmückten: die Plastiker Phidias und Praxiteles, die Dramatiker Äschylos, Sophokles und Euripides. Unzählige Namen wären noch zu nennen, um allein den Anteil anzudeuten, den Griechenland an jener großen Geisterversammlung hat.

Zur gleichen Zeit ging über Indiens himmelsnahe Erde der große heilige Gautama-Buddha, der Erleuchtete, der in aller Stille doch so machtvoll wie kein anderer Menschheitslehrer der historischen Zeit die Sehnsucht nach dem Überirdischen in die Seelen gepflanzt hat. Ein Sohn dieses michaelischen Zeitalters war ferner der historische Zarathustra, der große Lehrer der Perser, der die uralte zarathustrische Sonnen-Weisheit erneuerte und von dem wir in den Gathas des Zend-Avesta die wunderbarsten moralischen Weisheitssprüche besitzen. Und sogar wenn wir in den fernsten Osten blicken, begegnen wir Angehörigen der großen leuchtenden Schar: Als Zeitgenossen der israelitischen Propheten und der griechischen Philosophen wirken die chinesischen Weisen, der Mystiker Laotse und der Sittenlehrer Kungfutse.

Die Fülle der Geister auf Erden ist ein Rätsel, das sich erst aufzuhellen beginnt, wenn wir zu Häupten der Menschen den michaelischen Zeitgeist erblicken, der mit all seiner Kraft bemüht ist, Lichtstrahlen des Geistes in die dafür empfänglichen Seelen dringen zu lassen. Sendboten Michaels sind die vielen großen Geister auf Erden, michaelischer Inspiration entstammt das reiche, vielgestaltige Geistesleben, das überall in der Menschheit in so wunderbarer Gleichzeitigkeit aufblüht. –

Das zweite Kennzeichen der Michael-Zeit hängt auf das Engste mit dem ersten zusammen: Das michaelische Zeitalter ist keineswegs eine Epoche des Friedens und der Windstille; große Stürme brausen über die Menschheit dahin und halten die Völker in prüfender Spannung und Erregung. Als die Zeit der Michael-Herrschaft heraufzog und der Prophet Jesajas zu seinem Volke sprach, rückte die Heeresmacht der Assyrer heran und zerschlug zehn von den zwölf Stämmen Israels. Ein winzig kleines Land, unter dauernder Bedrohung, wurde Schauplatz der reichen prophetischen Geisteskultur, bis auch dieser Rest zertrümmert wurde. In der Heimatlosigkeit der babylonischen Gefangenschaft erreichte dann das prophetische Geistesleben seine erhabensten Gipfel. Aber gerade auch wenn wir in die Umwälzungen der ganz großen Weltverhältnisse blicken, werden wir die Dynamik des Michael-Zeitalters gewahr. Zuerst rafft das düstere Herrenvolk der Assyrer ein ungeheures Weltreich zusammen und baut magisch-gewaltige Städte als Symbole seiner Macht. Aber keine hundert Jahre hat es Bestand. Da wird es bereits von den Babyloniern gestürzt und zertrümmert, und Nebukadnezar türmt seinerseits in unermesslicher Bauleidenschaft die Zeichen seiner Herrschaft auf: Staunend stehen wir in den Museen vor den wiederaufgebauten Teilen der Tore und Mauern Babylons. Wieder hat das weitreichende Weltreich nur kurzen Bestand. Die Heere des Persers Kyros, der selber als ein Bote des michaelischen Zeitgeistes erlebt worden ist, machen ihm ein Ende. Dann branden von dem neu errichteten Perserreich her die Wogen des asiatischen Machtwillens an die Gestade Europas. Das kleine Volk der Griechen wehrt in