Milchbar - Szilvia Molnar - E-Book
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Szilvia Molnar

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Beschreibung

Ein kraftvoller und komischer Roman über Mutterschaft

Für alle Leser:innen von Charlotte Roche, Rachel Cusk und Mareice Kaiser

»Ein bahnbrechendes, aufregendes Buch über das Muttersein.« The New York Times

Als das Baby auf die Welt kommt, änder sich alles. In »Milchbar« erzählt Szilvia Molnar die Geschichte einer jungen Frau, die Mutter wird. Sie verbringt viel Zeit allein in ihrer Wohnung. Mutterschaft ist für sie eine komplizierte Erfahrung, zärtlich und brutal, erfüllend und banal. Immer wieder Stillen, Tragen, Wickeln -- der eigene Körper ein Wrack. Tage und Nächte strecken sich ins Unendliche. Der einzige Besuch, den sie bekommt, ist von einem merkwürdigen alten Witwer, der im selben Haus wohnt wie sie und mit dem sie sich anfreundet. In emotionalen Bildern erzählt Szilvia Molnar vom Zustand der ersten Wochen als Mutter zwischen Überwältigung, Isolation, Angst und Neubeginn. Das lebendige Porträt einer jungen Frau in ihren körperlichsten und ursprünglichsten Momenten.

»Szilvia Molnar schreibt mit schneidender Wahrhaftigkeit. Ein eindrucksvoller Blick darauf, was eine Frau, die gerade Mutter wird, durchmacht.« Publishers Weekly  

»In ›Milchbar‹ wird über Dinge geschrieben, die in der Literatur bisher nicht vorkamen: eine Milchpumpe, Wochenbett-Netzhosen, riesige Binden. Während Molnar die Realität von Mutterschaft einfängt, passieren in ihrem Roman wundersame Dinge. Elektrisierend, wie Molnar mit messerscharfem Witz aus dem Leben einer jungen Mutter erzählt.« Rita Bullwinkel  

»Szilvia Molnar erzählt vom offenen Körper und der offenen Seele einer Frau, die gerade ein Kind geboren hat. Für all das Wunde und das Wunderbare, das Zärtliche und das Erschreckende, für das es noch viel zu wenig Worte gibt, findet sie genau die richtigen.« Maria-Christina Piwowarski 

»›Milchbar‹ wagt es, das unantastbare Diktat der Mutterliebe in Frage zu stellen.« Bomb Magazine

»Molnar schreibt präzise und kraftvoll, und in einer Form, die es auch kinderlosen Menschen möglich macht, die Brutalität und Zärtlichkeit dieses Zustands annähernd nachzuvollziehen.« Galore

»Szilvia Molnar hat einen sehr ehrlichen und gerade deshalb so bewegenden Roman geschrieben.« Christoph Amend, Zeit Magazin Newsletter

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Über das Buch

Als das Baby auf die Welt kommt, ist alles anders. In »Milchbar« erzählt Szilvia Molnar die Geschichte einer jungen Frau, die Mutter wird. Sie verbringt viel Zeit allein in ihrer Wohnung. Mutterschaft ist für sie eine komplizierte Erfahrung, zärtlich und brutal, erfüllend und banal. Immer wieder Stillen, Tragen, Wickeln – der eigene Körper nur noch ein Wrack. Tage und Nächte strecken sich ins Unendliche. Der einzige Besuch, den sie bekommt, ist von einem merkwürdigen alten Witwer, der im selben Haus wohnt wie sie, und mit dem sie sich anfreundet. In emotionalen Bildern erzählt Szilvia Molnar vom Zustand der ersten Wochen als Mutter zwischen Überwältigung, Isolation, Angst und Neubeginn. Das lebendige Porträt einer jungen Frau in ihren körperlichsten und ursprünglichsten Momenten, und ein Must-Read für alle Leser:innen von Charlotte Roche, Rachel Cusk und Mareice Kaiser.

Über Szilvia Molnar

Szilvia Molnar, ursprünglich aus Budapest und in Schweden aufgewachsen, lebt heute als Autorin in New York City und Austin, Texas. Texte von ihr erschienen unter anderem in Guernica und auf LitHub. »Milchbar« ist ihr Debütroman und erscheint in fünf Sprachen.

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Szilvia Molnar

Milchbar

Roman

Aus dem Amerikanischen von Julia Wolf

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

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Widmung

Zitat

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Danksagung

Impressum

Für Ryan

… in den Mauern meines erschöpften Mutterhirns.

Catherine Barnett, »Summons«

… in welchem Verhältnis stehen Wahnsinn und Übersetzung zueinander? Wo im Gehirn findet die Übersetzung statt?

Anne Carson, Float

Die Augustsonne drängt mit voller Kraft in unsere kleine Wohnung im zweiten Stock. Das Baby in meinen Armen ist ein Wurm, nennen wir es Button. Button weint. Sie ist vor Kurzem erst zur Welt gekommen, schnell und heftig. Wir sind allein in der Wohnung, eingesponnen wie in einen Kokon, bis ein Klopfen an der Tür dem Ganzen ein Ende bereitet. Das fremde Geräusch lässt Button noch mehr weinen, und ich bin unsicher, was ich tun soll. Erst seit Button außerhalb meines Körpers existiert, bin ich Mutter, und während das Baby bereits Teil meiner Realität ist, bleibt mir die Rolle noch fremd.

Hier drinnen steht die Luft still, das Licht ist grell, und Geräusche hallen von den Wänden wider. Ich schwitze.

Ich lege Button in die Babyschale neben dem Sofa im Wohnzimmer. Sie protestiert mit unfreundlichen Lauten. Ich überlege es mir anders. Hebe sie hoch, öffne den Morgenmantel und schiebe sie mir vor die Brust. Dabei stelle ich mich ungeschickt an, immer noch überrascht mich ihr Gewicht, mir wird noch heißer. Plötzlich nehme ich Gerüche wahr, an mir und dem Baby, in der Wohnung, und sofort fühle ich mich unwohl. Mein Zustand ist mir peinlich. Der Tag war lang und einsam.

Mit der einen Hand halte ich den Körper des Babys in Schach, die andere hakt den Still‑BH auf, holt die Brust heraus. Im Nachmittagslicht glänzt meine Brustwarze dunkelbraun, und ich erinnere mich, dass die goldene Stunde immer meine Lieblingszeit für Spaziergänge in der Stadt war.

Vor Buttons Geburt bin ich überallhin gelaufen, es ist mir nie schwergefallen, die Wohnung zu verlassen. Während einer Pause von der Bibliothek oder von meinem Schreibtisch, wo ich meistens arbeite, zog ich oft in der Hoffnung durch die belebten Straßen, der Rhythmus der Stadt würde mir ein Wort oder zwei entlocken, eine Formulierung, Idee, oder ein Gefühl, das bei der Arbeit an einer Übersetzung hilfreich sein könnte.

Auch nach fast zehn Jahren als Übersetzerin habe ich noch mit meiner Arbeit gerungen. Nicht unbedingt mit der Arbeit an sich, ich hatte durchaus Spaß beim Versuch, den »richtigen Ton« zu treffen (eine falsche Vorstellung übrigens, die aber in Kolleginnenkreisen noch immer kursiert). Ich genoss es, mich wie ein Chamäleon durch den Text zu bewegen, aber der ständige Kampf um mehr Geld, Stipendien, oder, Gott bewahre, Lizenzeinnahmen, war ermüdend. Ich war nicht die Art von Übersetzerin, die sich groß darum scherte, aber auch ich brauchte natürlich das Geld. Ich befand mich eher am Rand des Betriebs, und das störte mich auch nicht, zumal mich das seltsame Konkurrenzverhalten der Kollegen eher amüsierte. Ich kannte mittlerweile eine Handvoll Lektoren, die meine Zuverlässigkeit schätzten, und Autorinnen, die gerne mit mir zusammenarbeiteten. Da meine letzten Übersetzungen von der Presse gewürdigt worden waren, stand mein Name nun sogar manchmal mit auf den Covern der Bücher. Manchmal entdeckte ich Porträts der Autorinnen in Hochglanzmagazinen; in dicke Wollpullover gekleidet posierten sie mit nachdenklichem Blick in der schroffen skandinavischen Landschaft. Wie die meisten Menschen bin auch ich zu eitel, als dass ich nicht hätte vor so einer schicken Kulisse fotografiert werden wollen, aber letztlich bin ich nicht der Typ für diese Art von Wettbewerb. Mir liegt einfach nichts an Sichtbarkeit.

Ich war noch nicht verwaist, mein Vater lebte noch, aber ich war schon so lange immer weiter von meiner Familie weggezogen, dass ich irgendwann die Vergangenheit ganz hinter mir gelassen hatte, vielleicht nur, um am Ende festzustellen, dass ich in der Gegenwart ganz zufrieden war. Konkret bedeutete das, dass ich mir in den USA ein bescheidenes Leben als Übersetzerin schwedischer Literatur ins Englische aufgebaut hatte.

Doch draußen geht die Sonne unter, und ich muss meine Gedanken beiseiteschieben, hier bin ich nun mit Button, und das ist alles, was ich bin. Darin besteht mein ganzes Handeln: Hier zu sein.

Die Hand an ihrem Hinterkopf schiebe ich ihr Gesicht an meine Brustwarze, und ein zahnloser Mund öffnet sich. Mit Lippen weich wie ein Fisch schnappt sie zu. Ich winde mich, so unangenehm ist ihr Andocken.

Die meiste Zeit habe ich keine Ahnung, was ich da tue. Drücke Buttons Knopf so fest an die Brust, dass sie kaum Luft bekommt. Ihr kleines Bündel von einem Körper spannt sich vor Frust, aber ihr Aufschrei ist nicht laut genug, um das zweite Klopfen zu übertönen. Sie macht mich nervös. Ich fuchtele mit den Armen. Wieder klopft es, lauter diesmal. Und wieder weiß ich nicht, was ich tun soll.

In einem anderen Zustand und in einer anderen Welt hätte ich die Störung ignoriert und einfach weiter mein Ding gemacht. Und würde ich Besuch erwarten, hätte ich mich darauf eingestellt. Ich richte den Bademantel und binde mir die Haare zusammen, vielleicht kann ich so tun, als wäre ich dabei, ins Bett zu gehen. Ich könnte meine Verwahrlosung aber auch einfach auf Button schieben. Oder ich beschließe, nie wieder etwas mit der Welt da draußen zu tun zu haben. Wer auch immer hinter der Tür steht, könnte mich aber auch von meinem Unbehagen erlösen. Die Entscheidung in diesem Kampf ist womöglich bereits für mich gefällt worden.

Ich manövriere uns in Richtung Eingang, endlich saugt Button zwischen den Atemzügen rhythmisch. Ihre sich wiederholenden Bewegungen erinnern mich an Schwimmzüge unter Wasser. Während sie sich langsam mit der wohltuenden Milch füllt, wird ihr Körper ruhig, gibt sich der Zufriedenheit hin. Ich atme tief ein.

Durch den Spion erkenne ich meinen Nachbarn Peter, er wohnt über uns. Die Fischaugenlinse lässt Peters Kopf wie einen riesigen Ballon aussehen, der an einem langen, schlanken Körper festgebunden ist. Ein Paar glänzender Augen bewegt sich in Erwartung einer Reaktion hin und her. Ich halte inne, unsicher, was er um diese Uhrzeit von mir wollen könnte. Mein Mann, John, sollte jeden Moment nach Hause kommen.

Auf beiden Seiten der Tür steht die Luft still. Ich öffne und frage mich, ob ich mir das alles vielleicht selbst eingebrockt habe.

Nachdem sie mir Button in den frühen Morgenstunden auf die Brust gelegt haben, war ich wie einer dieser Gegenstände, die, völlig nutzlos geworden, am Straßenrand rumfliegen. Ich war eine Coladose, eine Socke, eine halb gerauchte Zigarette, ein Kaugummi, eine Puppe ohne Kopf, eine getragene Unterhose. Ich war der einsame Kronkorken ohne Flasche. Ich war überfahren und beiseite gedrängt worden von Verkehr, Wind und anderen Gewalten. Gleichzeitig ließ mich ein sich langsam verflüchtigendes High glauben, ich könnte es sofort noch einmal tun. Mein Körper gaukelte mir vor, die Geburt habe mich unbesiegbar gemacht.

In den hektischen Momenten nach Buttons Geburt wimmelte es im Raum nur so von Pflegepersonal und Ärzten, die Leute kamen und gingen, schauten nach mir, dem Baby, überprüften die Informationen auf den Bildschirmen, die Linien und Ziffern. Schalter wurden gedrückt, Laken, Kissen und zerknitterte Papierbezüge zurechtgerückt oder abgezogen und durch neue ersetzt. Flüssigkeiten liefen aus mir heraus, andere Flüssigkeiten wurden in meine Venen gepumpt, ein Katheter in meine Harnröhre geschoben.

So rollte der Tag dahin, und ehe ich mich versah, rollten auch wir, wurden herumgekarrt. Mein Fall ist nur ein Beispiel dafür, wie neues Leben gemacht wird, und es ging brutal zu. Aber ich bin mir auch gar nicht sicher, ob es möglich ist, eine gewisse Brutalität bei der Geburt zu vermeiden. Brut, brutus, bruto … eine vom Menschen geschaffene »Bestie«, das ist zwar nicht ganz, was ich meine, und doch kommt es mir als erstes in den Sinn, wenn ich versuche, die Erfahrung zu beschreiben.

Worte und Formulierungen flackerten vor meinen Augen, John wusste nicht so recht, wohin mit sich, wenn jemand versuchte, zu mir zu gelangen, sprang er hin und her, war immer im Weg. Er war erleichtert, sagte er, dass Buttons Geburt auf ein Wochenende gefallen war, so musste er sich nicht freinehmen. Ich hingegen hatte keinerlei Zeitempfinden, ich wollte nur wissen, wo wir hingebracht wurden.

Während ich lange, nichtssagende Flure entlanggerollt wurde, dachte ich immer wieder: Ich gebe mich diesem Moment hin. Ich hatte ja auch keine andere Wahl.

Als abends dann der Strom von Krankenhausangestellten, unseren Freunden und Johns Angehörigen abgeklungen war, wurde das Zimmer so still, als hätte man mich völlig vergessen, und ich spürte nur noch, wie wund meine Brustwarzen von Buttons ersten Saugversuchen waren. Entfernt waren schreiende Babys und die Gespräche des Personals, die den Beginn der Nachtschicht ankündigten, zu hören.

Wie ich da lag, mein Körper hüftabwärts taub von den Medikamenten, der Schritt unangenehm feucht von einem auftauenden Kühlelement, hätte ich ihr am liebsten den Hals umgedreht.

Button war gerade ein paar Stunden bei mir, die meiste Zeit war sie still gewesen, da überkam mich, unmittelbar wie Hunger, ein Verlangen.

Dich wring ich aus wie ein nasses Handtuch.

Das dunkle Krankenhauszimmer nahm meinen Wunsch und schleuderte ihn umgehend auf mich zurück.

Ein angenehmer Herbsttag, die Leute wollen unbedingt noch draußen sein, bevor der Winter uns nach drinnen verbannt. Ich treffe mich mit John bei unserem Italiener, wo die osteuropäischen Kellner uns zwar die meiste Zeit ignorieren, aber das Essen günstig und gut ist. Mir kommt der Gedanke, dass ich es vermissen werde, Zeit allein mit meinem Mann zu verbringen. Wir versuchen, schwanger zu werden, und das erinnert mich an den Anfang unserer Beziehung. Ein ständiges An- und wieder Aus- und dann wieder Anziehen war das damals, wir fühlten uns plötzlich viel jünger als wir eigentlich waren, wischten immerzu Körperflüssigkeiten von Mündern und Rücken und Bäuchen, zupften kichernd Kleenex aus der Schachtel und vergaßen darüber die Uhrzeit. Und nun, frisch verheiratet, liege ich nach dem Sex still, damit ja keine Flüssigkeiten aus mir herauslaufen. Ich nehme regelmäßig meine Vitamine, und meine Eierstöcke blicken optimistisch in die Zukunft.

In der Zwischenzeit geht unser Alltag weiter. Und du bist nur ein Gedanke. Wenn du erst einmal da bist, denke ich, werde ich dich bestimmt hassen. Du wirst den Frieden stören. Du wirst meiner Freiheit im Weg stehen. Vielleicht wirst du eines Tages eine Entschuldigung hierfür fordern, dabei bin ich nur ehrlich. Ich will dich ebenso sehr, wie ich dich fürchte.

Ich spaziere auf das Restaurant mit dem Neonschild zu und entdecke durchs Fenster John. So ein schöner Mann, besonders aus der Entfernung. Ein Kellner nickt in Richtung des Tischs, an dem John sitzt und auf sein Handy schaut. Weil er verliebt in mich ist, bemerkt John sofort, dass ich das Restaurant betreten habe und legt das Telefon beiseite. Er beobachtet mich, wie ich auf ihn zukomme und neben ihm Platz nehme. Er mag es, wenn wir nebeneinandersitzen und die gleichen Dinge sehen. Wir küssen uns. Dann erzählen wir einander, was wir tagsüber so gemacht haben, er war im Büro, ich in der Bibliothek.

John spielt mit den Salz- und Pfefferstreuern auf dem Tisch. Er scheint Hunger zu haben. Unsere frischen Wassergläser hinterlassen feuchte Halbmonde auf der Tischdecke. Wir ignorieren die Grimasse, die der Kellner beim Aufnehmen unserer Bestellung zieht. Wir lehnen uns aneinander, und bis das Essen kommt, reden wir nicht viel.

Als John endlich, einen Arm um mich gelegt, Stücke von einem grob geschnitten Baguette abreißen und sie in Olivenöl tunken kann, kehrt das Leben in ihn zurück. Er erzählt mir von einem Artikel, den er vor Kurzem gelesen hat, in dem es darum ging, dass es für Menschen in Nordafrika von Vorteil ist, sich über den Klimawandel zu informieren, weil sie mit diesem Wissen ihre Ernten und Höfe besser schützen können.

Ich tunke das knusprige Brot in mittelmäßiges Olivenöl, stimme ihm zu, und wenn ich kann, stelle ich Fragen. Mit John bin ich immer ich selbst. Wenn ich ihm zuhöre, frage ich mich, ob das Wort »kompatibel« in irgendeiner Weise mit dem englischen Wort für Mitgefühl, »compassion«, verwandt ist.

Ein griechischer Salat wird vor uns auf den Tisch gestellt, außerdem eine großzügige Portion Spaghetti mit Würstchen und Wildbrokkoli. Wir teilen das Essen diplomatisch, mit synchronisierten Bewegungen tauschen wir die Teller hin und her, alles ganz entspannt. Im Restaurant herrscht Hochbetrieb, an den meisten Tischen sitzen Gruppen von Freunden und Familien. Die Stimmung im Raum ist hungrig und ausgelassen. Die Kellner eilen hin und her, mit gefüllten Tellern kommen sie aus der Küche und laufen im Zickzack um einander herum. Ich erzähle John von meiner neuen Übersetzung, der Roman handelt von einer Frau, deren Mann nur wenige Tage nach der Geburt des gemeinsamen Sohns Selbstmord begeht. Wie die Frau die Beziehung rekapituliert, das Kennenlernen und Verlieben, schließlich die Heirat, legt nahe, dass sie ihren Partner in den Selbstmord getrieben hat. Es ist ein schrecklich langes Buch, zu lang.

»Aber stilistisch nicht sehr anspruchsvoll, wird also schnell gehen.«

Ich wickele mit meiner Gabel Nudeln auf, pikse nach Brokkolistücken.

»Bis Weihnachten sollte ich fertig sein, und das Honorar stimmt dieses Mal.«

Wir überlegen, was wir mit dem Geld machen könnten, vielleicht beiseitelegen oder verreisen, auch wenn John eigentlich kaum freinehmen kann.

Entspannt und satt vom Essen fängt er an, sich über mich lustig zu machen.

»Warum sind die Skandinavier eigentlich alle so vom Tod besessen?«

»Was meinst du?« Ich weiß genau, was er meint.

»In deinen Büchern stirbt immer irgendwer.« Er wischt die letzten Essens- und Ölspuren mit einem Stück Brot von seinem Teller.

»Das stimmt doch nicht.« Ich grinse ihn an. »Außerdem sind das nicht meine Bücher.«

»Klar sind sie das«, sagt er und erinnert mich an die letzten vier Bücher, die ich übersetzt habe, sie haben von einer Frau gehandelt, die an Krebs erkrankt, von einem Sohn, der an einer Überdosis stirbt, einem anderen Kind, das ums Leben kommt, und einer Mutter, die direkt nach der Geburt ihres Kindes stirbt.

Ziemlich viel Tod, das gebe ich zu.

»Wenigstens zahlt’s die Miete«, sage ich beiläufig.

»Stimmt. Vielleicht sollte es in deinem eigenen Buch aber genau ums Gegenteil gehen«, sagt er gutgelaunt, und ich entgegne »Sei nicht albern«, dabei gefällt mir, dass er mich so sieht. Leicht und ohne großen Widerstand gleiten wir dem Ende des Jahres entgegen.

Ich erinnere mich nicht, aufgewacht zu sein, oder eingeschlafen. Es ist hell draußen, und ich ruhe mich auf dem Bett aus. Immer noch fühle ich mich wie ein weggeworfener Gegenstand, ganz wie in den Tagen nach Buttons Geburt im Krankenhaus. Durchlebe ich die Geburt jetzt noch einmal, ist es das? Ich bin in einem Déjà‑Vu gefangen.

Ich höre John im Nebenzimmer, er kann mir meine Frage also nicht beantworten, und Button ist gewiss keine Hilfe. Auf meinem Kissen verkrusten Flecken von Speichel und Schlaf. Eine unschuldige Daunenfeder, die sich auf das Laken verirrt hat, schwebt vom Bett in den stillen Raum. Im Licht, das durch das Fenster hereinfällt, schimmert sie leicht. Die Wiege neben mir ist leer, und ich gestatte mir den Gedanken, Button wäre für immer verschwunden, und ich könnte einfach an meinen Schreibtisch zurückkehren. Ich stelle mir vor, wie ich ganz allein dort sitze, die Ellbogen auf dem Holztisch ruhend, und mein Stift skizziert die erste Fassung einer Übersetzung oder meine eigenen Geschichten. Völlig selbstgenügsam treibe ich in den Gewässern der Interpretation, versinke tiefer und tiefer in einem Szenario aus Liebe, Eifersucht, Verzweiflung, Tragödie, Tod und einem Erbe.

Dem Mittagslicht und dem schweren Gefühl in meinem Körper nach zu urteilen, sind seit der Geburt einige Tage vergangen, und immer noch bin ich aus meinem innersten Kern heraus erschöpft. Wahrscheinlich ist das jetzt schlecht geschrieben, das würde man so sicher nicht veröffentlichen, aber es ist nun mal die Wahrheit. Mein innerster Kern. John macht sich gern lustig über mich, weil ich Äpfel und Birnen bis auf das Kerngehäuse aufesse.

Immer noch im Bett höre ich das entfernte Murmeln des Besuchs, Johns Freunde und Verwandte sagen: »Die ersten Wochen sind so hart.«

Aber hart ist nicht gleich hart.

Zementwände sind so hart, dass man sie kaum durchbrechen kann, ein Schwanz kann hart sein. Der Schlaf nach einem harten Tag oder ein Körper, der mit kaum mehr als zwei Stunden Schlaf am Stück auskommen muss, und das wie lange schon? Das ist hart für Kopf und Körper, und dieser harte Körper ist mein Körper, und mein Körper ist so müde, dass er mich einfach verliert und davongeht. Mein Schatten ist endlos langsam, wollte ich meinem Körper jetzt hinterherrennen, könnte man ihn am Schlafittchen festhalten, so dass ich gar nicht erst loskäme.

Ich liege im Bett, und mein Bauch starrt mich an, aufgedunsen und verwahrlost.

Ist das mein Kern? Ist das wirklich mein Innerstes?

Ich stochere im wabbligen Fleisch, schiebe es herum. Meine Finger sinken tief ein, verschwinden in seltsamen Ausbuchtungen ausgeleierter Haut. Das tut nicht weh. Button hat meinen Bauch verlassen, nun gluckert er unbeholfen wie ein Wasserbett hin und her. Meine Brüste kitzeln. Die blutige Vorlage zwischen meinen Beinen müsste dringend gewechselt werden. Schwer spüre ich sie an der Innenseite meiner Oberschenkel. Hoffentlich bin ich noch nicht ausgelaufen. Wäre nicht das erste Mal in der kurzen Zeit seit der Geburt.

Die Geräusche aus dem Nebenzimmer werden lauter, und mit einem Schlag realisiere ich, dass Button nicht an mir dranhängt. Ich springe aus dem Bett. Ein Herzinfarkt, ich gehe zu Boden, ich stehe in Flammen und muss mich hin und her rollen. Wie ein junges Reh bewege ich mich nicht gerade, immer noch schmerzen täglich neue Stellen an meinem Körper, von denen ich gar nicht wusste, dass es sie gibt. Aber ja, wenn Button nicht bei mir ist, brenne ich lichterloh. Ein Rinnsal Milch läuft langsam in meinen BH und hinterlässt große Flecken. Nach der Metamorphose durch die Geburt erkenne ich mich selbst nicht wieder. Ich stehe auf und versuche dieses neue Ich zu bedecken, wickle Lagen von Kleidung um meinen formlosen Körper. Einer meiner Knochen knarrt laut wie ein alter Holzboden. Aus meinem Magen steigen seltsame Schmerzen auf und verflüchtigen sich gleich wieder. Ich muss diese Gestalt verstecken, ich muss mich vor John verstecken.

»Warum steht deine Kaffeetasse im Gefrierfach?«, fragt John mit dem Kopf im Kühlschrank. Er hält Button im Arm wie ein Quarterback einen Football. Ich stehe hinter ihm in der Küche, meine Hände so seltsam leer, und weiß nicht, was ich sagen soll. Ich spüre den Gürtel des Bademantels um meinen Bauch und weiß, ich könnte jetzt tagelang schlafen. Kalte Luft entweicht dem Kühlschrank und verflüchtigt sich im Wohnzimmer.

»Gib mir das Baby«, sage ich.

»Keine Ahnung«, sage ich, »wovon du redest.«

Nach einer Weile kommt John, um mich zu umarmen und zu küssen, und als er mich berührt, fühlt sich mein Körper gleich wieder wund an.

»Du hast alle verpasst. Schöne Grüße soll ich dir sagen. Sie freuen sich so für uns.« Er will mich weiter anfassen.

»Hör bitte auf.«

Ich setze mich mit Button aufs Sofa und schiebe sie von einem Arm auf den anderen, um es mir irgendwie bequem zu machen.

»Was? Ich wollte doch nur …«

John geht zurück in die Küche, um uns etwas zu essen zu machen. Er brummt vor sich hin, wie ätzend es ist, dass er morgen schon wieder arbeiten gehen muss, es ist einfach zu früh nach der Geburt. Und natürlich ist es zu früh, unfassbar viel zu früh, doch so ist es nun mal, und wir haben das ja auch gewusst. Ich werde dieses Neuland völlig allein betreten müssen.

John stellt einen Teller mit Essen vom Vortag in die Mikrowelle und schließt die Tür. Ich schiebe meine Kleider für Button beiseite und gebe mir größte Mühe, nicht in Panik zu verfallen.

Wer nicht schläft, lässt Sachen fallen. Stellt Dinge an Orte, an die sie nicht gehören. Die Dinge verschwinden nur scheinbar, an ihren neuen Orten können sie einfach nicht zweckgerecht verwendet werden.

Wer nicht schläft, rennt gegen Türrahmen, stößt sich am Küchentresen, knallt mit dem Fuß gegen jede scharfe Ecke. »Das erklärt all die blauen Flecken«, sagt dein Mann in Anspielung auf deine Tollpatschigkeit.

Aber es tauchen auch Dinge auf. Peter in der goldenen Stunde etwa. Du blinzelst, und die Dinge verschwinden wieder, so wie auch deine Worte – die ja eigentlich deine »Lebensgrundlage« sichern sollen. Der Tag kommt dir unbändig und ungerecht vor. Die Nacht hat es auf dich abgesehen, und du musst ihr allein entgegentreten.

Mit Button auf dem Arm drehe ich mich zu John um.

»Hörst du das?«

Die Mikrowelle bimmelt.

»Höre ich was?« Er nimmt den Teller aus der Mikrowelle.

»Das kommt von oben«, will ich erklären. »So ein heulendes Instrument.«

John ist mit der Temperatur noch nicht zufrieden und stellt den Teller zurück in die Mikrowelle. Kurz horchen wir beide, aber er hört nur das eintönige Brummen der Mikrowelle.

»Wir müssen dafür sorgen, dass du mehr Schlaf bekommst«, sagt er so beiläufig, als könnte ich Schlaf einfach im Laden aus dem Regal nehmen. Sein »Wir« klingt wie ein Wort aus einer anderen Sprache, und zwar keiner, die ich beherrsche. Es ist leicht für John, das einfach so dahinzusagen, und da bimmelt die Mikrowelle auch schon zum zweiten Mal.

»Ihr Baby weint«, informiert mich Peter, noch bevor ich die Tür ganz geöffnet habe. Als könnte ich, während sie sicher in meiner Armbeuge liegt, ihr Schreien nicht hören. Und ich habe die Tür wirklich in dem Glauben geöffnet, dahinter warte irgendeine Art von Trost; stattdessen muss ich mich nun vor meinem Nachbarn rechtfertigen. Peter ist ein großer, magerer Mann mit Gesichtszügen, die beinahe zu Ende gealtert sind. Er verlagert sein Gewicht leicht auf ein Bein, während Button die Luft im Flur aufwirbelt. Neben ihm steht eine Sauerstoffflasche, deren Schläuche sich um Peter ranken wie Efeu um einen Baum. Der Mann und die Flasche geben ein seltsames Paar ab, aber sie gehören ganz eindeutig zusammen.

»Ich brauche meinen Schlaf«, sagt Peter und richtet den Blick auf mich. Sein wiederholtes Klopfen hallt noch leicht in meinem Kopf nach. Er hält den Tank umklammert, als würde er versuchen, die Zeit festzuhalten. Ich erkläre ihm, dass ich nichts lieber tun würde, als das Baby zum Schweigen zu bringen.

»Das Baby ist traurig«, fährt er fort, und ich bin mir nicht sicher, ob er vielleicht autistisch ist, oder senil, oder einfach nur nervig. Da ich keinerlei Erfahrung mit autistischen oder senilen Leuten habe, beschließe ich, dass er nervig ist. Meinen Sarkasmus scheint er nicht bemerkt zu haben.

Button weint nun etwas halbherzig vor sich hin, ohne Rhythmus oder Grund, und ich weiß nicht, wie lange ich das aushalte. Ihr Heulen prallt von den Wänden ab, die Wände der Wohnung lösen sich von Decke und Boden, rücken immer näher auf mich zu. Das muss aufhören.

Ich hole eine milchpralle, nackte Brust hervor und erwarte, dass sich der Mann abwendet, oder wenigstens so tut. Das Ganze ist mir unangenehm, ich stelle mich immer noch ungeschickt an, aber es muss nunmal sein.

Aus Peters Tank ertönt ein Röcheln, gefolgt von Schweigen. Und seltsamerweise vereint uns das Schweigen. Wir erleben meine Nacktheit gemeinsam, und das schweißt uns zusammen. Und Button verbindet sich auch endlich mit der einen Sache, die für sie existiert: Den Mund voller Brust fängt sie gierig an zu trinken und beruhigt sich dabei. Für einen kurzen Moment kühle auch ich etwas ab.

Ich drehe mich um und stolpere mit Button ins Wohnzimmer. In der neugewonnenen Stille höre ich, wie Peters schwerer Zylinder, als er ihn auf dem Holzfußboden der Wohnung abstellt, leise Klonk macht, dann schließt sich die Tür. Ich bin zu erschöpft, um mir Sorgen darüber zu machen, wen ich da gerade hereingelassen habe. Fürs Erste stehen die Wände wieder an ihrem Platz. Die Sonne ist weitergewandert und hat den Raum in dämmriges Licht getaucht.

»Sie sind aber keine Amerikanerin«, sagt mein Nachbar auf eine Art, die klarmacht, dass er auch keiner ist. Wir verorten einander auf einer fiktiven Karte, vergleichen, wie lange und an welchen Orten wir schon in den Staaten gelebt haben. Er ist einer der ältesten Mieter in unserem Haus, und ich fühle mich jung, als er mir erzählt, wie das Viertel aussah, lange bevor John und ich hierhergezogen sind. Peter wirkt in unserer Wohnung wie eine halbe Person, jemand, der sich an jede Form von Gesellschaft klammert, schließlich klopfen nur unglückliche Menschen einfach so an fremde Türen.

»Hört sie gern Musik?«, fragt er und deutet mit dem Kinn auf Button, die nur noch die Brust wahrnimmt. Ich gestehe, dass ich ihr noch keine Musik vorgespielt habe, sie ist ja erst ein paar Tage alt. Ich schlinge meine Arme etwas fester um sie.

»Ich habe immer für meine Frau gespielt«, fährt Peter fort, und auch wenn er sich hinter den Jahrzehnten, die Peter nicht im Land seiner Herkunft gelebt hat, versteckt, erkenne ich nun endlich – die harten Kanten der Wörter, die Betonung auf der ersten Silbe des Wortes – seinen Akzent.