Millionärin wider Willen - Sammelband - Brgitte Teufl-Heimhilcher - E-Book

Millionärin wider Willen - Sammelband E-Book

Brgitte Teufl-Heimhilcher

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Beschreibung

Die pensionierte Ärztin Elena hat alles was sie zum Leben braucht, doch der "Ruhestand" macht sie eher unruhig. Das ändert sich, als sie im Lotto sechs Millionen gewinnt. Was tun mit dem vielen Geld? Erst denkt sie daran, es ihren Kindern zu schenken, doch wie würden die damit umgehen? Ihre besondere Sorge gilt Sohn Axel, dem freiheitsliebenden Grünpolitiker, der leider allzu sehr nach seinem Vater kommt. Beide sind charmante Traumtänzer, die zwar behaupten, dass Geld ihnen nichts bedeutet, doch haben sie einmal welches, geben sie es mit vollen Händen wieder aus. Tochter Kerstin und Schwiegertochter Maren sind da ganz anders gestrickt. Würden sich dadurch Konflikte ergeben? Nach schlaflosen Nächten - und mit Hilfe ihres ebenso attraktiven wie umsichtigen Anwaltes - investiert Elena das Geld heimlich in ein Mietshaus. Doch trotz aller Vorsicht bleibt der Kauf nicht unbemerkt und setzt eine Reihe von Ereignissen in Gang, die Elenas Leben, und das ihrer Lieben, ganz schön durcheinanderwirbeln.

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Brgitte Teufl-Heimhilcher

Millionärin wider Willen - Sammelband

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Elena - Immer diese Radfahrer

Elena – Immer diese Radfahrer

 

Seit wenigen Tagen war Elena im sogenannten Ruhestand. Was für ein dummes Wort, sie hatte sich selten unruhiger gefühlt.

Wehmütig schlenderte sie durch ihre ehemaligen Praxisräume. Achtundzwanzig Jahre hatte sie hier als Allgemeinmedizinerin gearbeitet, es war ihr zweites Zuhause gewesen. Bald würde ein anderer Arzt hier praktizieren, während sie ihre Pension genießen sollte. Wenn sie nur daran dachte, stieg ein eigenartiges Gefühl in ihr hoch. Es war wie damals, in ihrer Kindheit, wenn sich zu Beginn der großen Ferien alle wie verrückt über die schulfreie Zeit gefreut hatten – nur sie hatte nicht recht gewusst, was sie damit anfangen sollte.

Sie war gern zur Schule gegangen, hatte voller Eifer studiert und später viel und gern gearbeitet. Zu viel, wie ihre Kinder nun sagten.

Ihr Sohn Axel meinte, sie hätte es versäumt, zu leben. Blödsinn. Die Medizin, ihre Patienten, die Praxis, das war ihr Leben.

Wie hatte sie sich nur dazu überreden lassen können, ihre Praxis dicht zu machen? Gut, sie hatte gesundheitliche Probleme gehabt, aber jetzt war sie doch wieder fit.

Kerstin, ihre Tochter, hatte vorgeschlagen, sie solle verreisen. Mitkommen wollte sie allerdings nicht. Das wäre im Augenblick ganz unmöglich, wo sie doch so knapp davorstand, endlich als Partnerin in die Anwaltskanzlei einsteigen zu können, für die sie seit Jahren tätig war. Darauf wartete sie ungeduldig, dafür arbeitete sie Tag und Nacht.

Im Grunde waren sie einander ziemlich ähnlich – deshalb hatte es zwischen ihnen auch nie so besonders gut geklappt.

Verreisen? Blöde Idee. Sie war noch nie gern gereist, schon gar nicht allein. Bestenfalls würde sie ein paar Tage in ein Thermenhotel fahren. Ein wenig Wellness und etwas Bewegung in frischer Luft konnten schließlich nicht schaden – das hatte sie ihren Patienten auch immer gesagt. Aber selbst dafür hätte sie lieber Begleitung gehabt. Mal sehen, was sich so ergab. Es hatte ja keine Eile.

Sie kontrollierte noch einmal ihre Schreibtischladen und sämtliche Schränke. Alles leer. Ihre Praxishilfe und ihre Schwiegertochter Maren hatten ganze Arbeit geleistet, während sie sich im Kurheim wie verrückt abgestrampelt hatte, um ihr Herz wieder in Schwung zu bringen.

Als sie endlich zurück war, hatte sie gerade noch verhindern können, dass die beiden ihrem Nachfolger auch noch die Küche leergeräumt hatten. Also wirklich. Die paar Kaffeetassen und Wassergläser wollte sie ihm doch gern überlassen, wo er so ein sympathischer junger Mann war. Außerdem war sie heilfroh, überhaupt einen Nachfolger gefunden zu haben. Das war in letzter Zeit nicht selbstverständlich, speziell hier, am Stadtrand. Wirklich schade, dass er so jung war; dieser schwarzhaarige Klaus Fritsch wäre genau ihr Typ. Engagiert, kompetent, freundlich, sehr männlich - und eine Spur geheimnisvoll.

Sie hatte ihm angeboten, ihn in den ersten Tagen zu unterstützen. Es war schließlich nicht ganz einfach, eine eingeführte Praxis, die seit Jahrzehnten gut lief, zu übernehmen.

Er hatte das dankbar angenommen. Wer weiß, wenn sie sich gut verstanden, konnte sie vielleicht die eine oder andere Urlaubsvertretung übernehmen. Sie hatte sich jedenfalls vorgenommen, sich vornehm zurückzuhalten, auch wenn das nicht einfach werden würde – schließlich war es nun seine Praxis.

Bis zur Eröffnung würde es allerdings noch einige Wochen dauern, morgen sollten erst einmal die Handwerker kommen, um die Räume etwas zu modernisieren.

Das hatte sie damals doch auch gemacht, als sie die Praxis von ihrem Vater übernommen hatte und noch jung und voller Pläne war. Manches hatte sie umsetzen können, manches auch nicht, wie das Leben eben so war.

Sie überzeugte sich noch einmal davon, dass absolut nichts mehr zu tun war, schloss die Fenster und warf gewohnheitsmäßig einen Blick in den Spiegel. Sie musste dringend zum Friseur. Das sonst so glänzend brünette Haar zeigte eine traurige Tendenz in Richtung Mausgrau. Sie zog den Lippenstift nach, fuhr mit der Bürste durchs Haar und verließ die Praxis mit einem tiefen Seufzer.

Was jetzt?

Sie hatte nur eine sehr vage Vorstellung davon, was sie tun sollte – heute, morgen und an allen anderen Tagen, die ihr noch zur Verfügung standen. Zwanzig, dreißig Jahre könnten es schon noch werden, hatte ihr Kardiologe gemeint, vorausgesetzt, dass sie vernünftig war und auf sich aufpasste.

Aber was hieß schon vernünftig sein?

„Sie dürfen sich nicht gleich wieder überfordern“, hatte der Kollege aus dem Kurheim gesagt. Schon klar. Aber nichts zu tun war auch keine Lösung. Was um Himmels Willen sollte sie mit all der Zeit nur anfangen?

Sie straffte die Schultern.

Das würde sich finden. Sie sollte wirklich froh sein, dass sie wieder so fit war.

Fürs Erste wäre Einkaufen keine schlechte Idee. Kochen wäre auch eine Möglichkeit. Seit sie allein lebte, hatte sie nur selten gekocht, sich meist mit Kleinigkeiten begnügt: Würstel, Eier, ein Käsebrot, dazu etwas Obst und ein wenig Gemüse. Insgesamt nicht ganz das, was sie ihren Patienten empfohlen hatte.

Früher, als sie noch eine Familie waren, hatte sie gern gekocht, besonders an den Wochenenden, wenn alle um den großen Esstisch saßen. Das war zwar schon länger her, aber Kochen verlernt man nicht.

Sie startete ihren Mercedes und wollte sich in den Verkehr einordnen, als ein Radfahrer an ihr vorbeiflitzte. Nur um Haaresbreite konnte sie einen Zusammenstoß verhindern. „Ja, spinnt denn der? So etwas Rücksichtsloses! Nur weil er sich auf einem Radweg befand, hieß das noch lang nicht, dass er sich um nichts mehr scheren musste.“ Der Radfahrer fuhr weiter, als ob nichts gewesen wäre. Elena atmete erst ein paarmal tief durch, ehe sie weiterfuhr.

Ihr Sohn Axel war neuerdings auch einer dieser Stadtradler. Sie vermutete, das gehörte zu seinem Image als grüner Bezirksrat, und hoffte inständig, dass er mehr Vorsicht walten ließ. Allerdings hatte sie da ihre Zweifel, auch wenn der Bub mit seinen 36 Jahren wirklich alt genug war, um auf sich aufzupassen.

Im nahe gelegenen Supermarkt kaufte sie planlos alles Mögliche und fuhr nach Hause. Genau genommen hatte sie nicht den blassesten Schimmer, was sie mit all dem Zeug anfangen sollte. Dafür hatte sie die Milch vergessen – und das Einzige, worauf sie wirklich Appetit hatte, war dieser köstlich duftende Vanillekrapfen und ein Cappuccino. Mit der gesunden Ernährung würde sie dann morgen beginnen.

Also machte sie sich auf den Weg zu dem kleinen Kiosk an der Bushaltestelle, der seit Kurzem wieder geöffnet hatte, um Milch zu kaufen. Weil der neue Eigentümer, ein pensionierter Buchhalter, dem daheim die Decke auf den Kopf gefallen war, wie er bereitwillig erzählte, gar so nett mit ihr plauderte, nahm sie auch noch eine Tafel Schokolade, eine Kochzeitschrift und einen Lottoschein mit.

Der Mann schien ihr ein angenehmer Gesprächspartner; vielleicht sollte sie in Zukunft öfter hier einkaufen.

Axel - Bezirksräte und andere Unannehmlichkeiten

Seit Axel Bezirksrat der Grünen war, musste er nicht nur an Bauverhandlungen teilnehmen, die ihn nicht die Bohne interessierten, sondern auch an den monatlichen Sitzungen der Bezirksvertretung. Ganz so lähmend hatte er sich das nicht vorgestellt.

An diesem Abend diskutierten sie zum dritten Mal über eine Änderung der Flächenwidmung. Nahe der U-Bahn-Station sollte anstelle einer ehemaligen Gärtnerei ein Hochhaus entstehen. War das ein Theater. Axel gähnte. Es stand völlig außer Zweifel, dass die Stadt mehr Wohnraum brauchte. Aber kaum sollte ein Grundstück in einen Baugrund umgewidmet werden, begann das Desaster. Wenn es dann auch noch, wie in diesem Fall, ein Hochhaus werden sollte, war überhaupt der Teufel los. Egal, wo man das Haus hinstellte, irgendwo hätte irgendwer weniger Licht, weniger Fernblick und vielleicht auch weniger Parkmöglichkeiten. Unangenehm, aber nicht zu ändern. Ausgerechnet der Sektionsleiter der Sozialdemokraten brachte eine Unzahl von Bedenken vor. Axel wusste auch warum, denn er kannte dessen Terrassenwohnung mit dem wirklich hübschen Blick auf den Stadtwald, der dann Geschichte wäre. Schade für den Mann, aber nicht zu ändern, denn die Stadtregierung würde den Bau ohnehin durchziehen, egal, was die Bezirksvertretung einwendete. Himmelherrgott, sie lebten schließlich in einer Stadt.

Von ihm, dem Abgeordneten der Grünen, erwarteten sicher alle, dass er gegen das Projekt war. Die würden staunen. Für ihn war schon lang klar, dass er der Umwidmung einfach zustimmen musste. Natürlich war dafür jede Menge Kritik aus der eigenen Partei zu erwarten, aber das war ihm egal. Das Projekt war sinnvoll und er hatte von Anfang an klargestellt, dass er einer von den Realos war. Außerdem war er nicht in die Partei eingetreten, um Erwartungshaltungen zu erfüllen und alten Machtstrukturen nachzugeben. Ganz im Gegenteil, er stand für eine Politik der Erneuerung.

Mehr als das Gezeter einzelner Bezirksräte interessierte ihn ohnehin die neue Kollegin. Sie war zwar Christdemokratin, wie seine Mutter Elena, aber mit der verstand er sich doch auch ganz gut – zumindest, solang sie nicht über Politik sprachen.

Die Neue war nicht mehr ganz jung, aber sie sah verteufelt gut aus und hat offenbar Temperament. Zumindest hatte sie dem Chef der Sozialdemokraten ganz schön die Meinung gegeigt. Außerdem war Axel zu Ohren gekommen, dass sie vor Kurzem ein Buch herausgebracht hatte. Er gab ihren Namen in sein Smartphone ein – Pia Moser, Journalistin und Autorin von gesellschaftskritischen Unterhaltungsromanen. Gesellschaftskritisch und unterhaltsam? Interessant. Seine eigenen Romane waren Gesellschaftskritik pur – vielleicht wollte sie deshalb kein Verlag haben.

Ihr neuestes Buch hieß „Das Landhaus“. Er würde es sich gleich herunterladen, möglicherweise machte es die Sitzung erträglicher.

Zwei Stunden später, als das Vorhaben endlich mit knapper Mehrheit abgesegnet worden war, hatte er schon einiges gelesen. Guter Stil, wenn auch etwas oberflächlich für seinen Geschmack. Nicht ganz das, was er vorhatte. Er wollte ein Buch schreiben, dass so grundlegend anders und tiefschürfend sein sollte, dass das Feuilleton ihn einfach in den höchsten Tönen loben musste. Sein Erstling, eine Dystopie, lag fertig in seiner digitalen Schreibtischlade. Bisher hatte noch kein Verlag zugegriffen. Zugegeben, der Stoff war möglicherweise etwas schwer verdaulich. Jetzt arbeitete er an einem Politthriller, etwas leichter zu lesen, aber immer noch weit davon entfernt, angenehme Unterhaltung sein zu wollen. Er wollte die Leser gar nicht unterhalten, er wollte sie aufrütteln.

Nach der Sitzung ging der harte Kern immer noch ins Brauhaus. Zu seiner Freude hatte Pia Moser sich ihnen angeschlossen. Leider hatte er das zu spät bemerkt, nun saß die arme Frau eingekeilt zwischen dem Bezirksvorsteher und dessen Stellvertreter. Gleich zwei Langweiler. Der eine sprach vermutlich pausenlos über seine Partei, der andere über seine Kaninchenzucht.

Als sie etwa eine Stunde später aufbrach, nahm auch er den letzten Schluck aus seinem Bierglas, wünschte dem Rest der Truppe noch einen schönen Abend und folgte ihr ins Freie.

„Tschüss, Frau Moser“, rief er ihr nach. „Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Abend.“

Sie blieb stehen.

„Sie kennen die Herren wohl nicht genauer?“

„Doch, schon.“

„Ein Scherz also. Sie verzeihen, dass ich heute Abend nicht mehr lache.“

Die Frau gefiel ihm.

„Sehen Sie es doch positiv. Wenn die Herren schon nicht amüsant waren, könnten sie vielleicht als Vorlage für einen der nächsten Antihelden herhalten.“

„Dazu waren sie zu uninteressant. Sie wissen, dass ich schreibe?“

„Klar. Wir beide sind doch Kollegen.“

„Unter welchem Namen kenne ich Sie?“

„Ich fürchte, Sie kennen mich gar nicht, würde das aber gern ändern. Was halten Sie davon?“

Sie sah auf die Uhr. „Ein rascher Prosecco wär‘ schon noch drin. Kommen Sie, gleich um die Ecke ist ein netter Italiener.“

 

*

 

Als Axel endlich nach Hause gekommen war, war Mitternacht längst vorbei gewesen. Demgemäß war er kaum ansprechbar, als seine Frau Maren ihn am nächsten Morgen weckte, um ihn an ihr abendliches Geburtstagsfest zu erinnern.

Diese gebügelte Leistungsbereitschaft, die Maren schon am Morgen ausstrahlte, war ihm immer suspekt gewesen.

Ja, er würde pünktlich sein, und nein, er würde versuchen, mit seinem Schwiegervater nicht über Politik reden. Worüber sonst? Egal.

Als Maren gegangen war, drehte er sich noch einmal um, doch er konnte nicht mehr einschlafen, denn er hatte grässliche Kopfschmerzen.

Er stand auf, widerstand der Versuchung, das Aspirin auf nüchternen Magen einzunehmen, machte sich eine Tasse Tee, aß einige Haferkekse dazu, nahm dann die Tablette und ging unter die Dusche.

Heute war also wieder einmal Familienabend, das fehlte noch. Er verstand sich mit seinem Schwiegervater nicht besonders, aber Maren bestand auf derartigen Zusammenkünften, was sollte man da machen?

Davor würde er noch einmal Pia treffen, schließlich hatten sie gestern zwar viel über die Bezirksvertreter, aber nur wenig über Bücher geredet. Das wollten sie heute nachholen. Er erwartete sich eine ganze Menge von diesem Gespräch. Eine kluge Person. Außerdem sah sie toll aus, hatte eine spitze Zunge, und Prosecco trank sie scheinbar wie Wasser.

Maren - Schwarzer Freitag

 

Beim Betreten ihres kleinen, aber feinen Immobilienbüros stach Maren ein seltsamer Geruch in die Nase.

„Was ist denn hier passiert?“ fragte sie ihren Geschäftspartner Achim.

„Lisa wollte heiße Schokolade machen.“

„Der Versuch ist wohl misslungen. Wo ist sie jetzt?“

„Frische Milch holen“.

„Mit der werden wir bestimmt noch viel Freude haben“, bemerkte Maren und warf ihm einen genervten Blick zu, ehe sie die Fenster öffnete, um frische Luft hereinzulassen.

Lisa war erst seit einigen Wochen bei ihnen. Was Maren bisher von ihr gesehen hatte, hätte ihr genügt. Wäre sie alleinige Inhaberin, sie hätte sie längst wieder an die Luft gesetzt. Leider war Achim dagegen. Was er an Lisa schätzte, schien allerdings eher optischer Natur zu sein, also sollte auch er sich mit ihr plagen.

Maren wandte sich dringenderen Angelegenheiten zu. Der Kunde von gestern Abend wollte den Energieausweis einsehen, ein anderer hatte noch Fragen zum Mietvertrag. Maren erledigte die Dinge routiniert. Als sie später die Post durchsah, wurde sie blass.

Das konnte doch nicht wahr sein! Hunderttausend Euro Steuernachzahlung, das machte fünfzigtausend für jeden von ihnen.

„So viel haben wir ja nicht einmal verdient“, murmelte sie. Auf ihrem Konto waren gerade einmal fünfzehntausend Euro. Sie scannte den Bescheid ein und mailte ihn mit den hoffnungsvollen Worten “Das kann doch nur ein Irrtum sein“ an ihren Steuerberater. Dann versuchte sie, den Bescheid zu vergessen, und sah auf die Uhr. Zeit für das Freitags-Meeting.

Auch dessen Ergebnis war deprimierend. Die billigen Mietobjekte brachten kaum etwas ein, für die gehobenen blieb mehr und mehr die Kundschaft aus, und im Luxussegment hatten sie kaum etwas anzubieten.

Während sie ihren Schreibtisch aufräumte und später im dichten Freitagnachmittagsverkehr dahinzuckelte, überlegte sie zum x-ten Mal, wie sie das Geschäft ankurbeln konnten, vertagte diese Überlegungen jedoch auf Montag und wählte Axels Nummer. Da er sich nicht meldete, hoffte sie, dass er bereits nach Hause radelte.

Sie fuhr einkaufen, fand, wie immer, wenn sie viel zu tragen hatte, keinen Parkplatz, und stellte ihren Wagen schließlich drei Gassen weiter ab.

Die Luft war für einen Märztag angenehm mild, und als sie am Park vorbeiging, duftete es nach Frühling.

Im Stiegenhaus hingegen roch es nach gekochtem Hammel. Wie sie diesen Geruch hasste. Sie schleppte ihre Einkaufstaschen in den dritten Stock und ärgerte sich wieder einmal, dass das Haus immer noch keinen Lift hatte, obwohl ihr das schon vor Jahren versprochen worden war. Sie wollte schon lang ausziehen, aber wenn Axel nicht bald einen einträglichen Auftrag bekam, würde das wohl nichts werden.

Nach längerem Suchen fand sich der Wohnungsschlüssel in der Seitentasche. Sie öffnete mit dem notwendigen Ruck die Tür und stieß dabei gegen die Einkaufstasche. Scheibenkleister. Schon kullerten Zitronen, Äpfel, Karotten und eine Gurke die Treppen hinunter. Genau das hatte ihr heute noch gefehlt.

Ihre Tochter Yvonne sollte eigentlich längst zu Hause sein. Maren checkte ihr Handy, fand eine SMS:

„Bin bei Biggy, komme rechtzeitig!“

Maren verdrehte die Augen. Was hieß schon rechtzeitig?

Mit raschen Schritten eilte sie durch die Wohnung, räumte da ein Shirt weg, dort eine Hose, deckte den Tisch und spürte langsam Wut in sich aufsteigen.

Warum konnten die beiden ihr nicht einmal helfen? Nicht einmal, wenn es darum ging, ihren Geburtstag zu feiern.

Okay, der war am Dienstag gewesen, aber da hatten sie es auch nicht der Mühe wert gefunden, etwas anderes zu tun, als ihr am Morgen ein verschlafenes “Happy Birthday“ ins Ohr zu singen.

Da sie sich für Fondue entschieden hatte, hielten sich die Vorbereitungen zum Glück in Grenzen. Sie rührte rasch eine Mayonnaise, vermischte sie mit Joghurt zu einer Grundmasse und bereitete daraus vier verschiedene Soßen, die sie in acht Schüsselchen verteilte. Dann wusch sie den Salat und stellte ihn zum Abtropfen zur Seite. Als Yvonne die Tür aufschloss, war sie gerade dabei, das Weißbrot aufzuschneiden.

„Hallo, Mama. Alles paletti?“

„Fast“, antwortete Maren kurz. „Dein Vater ist noch nicht daheim, der Tisch ist noch nicht gedeckt, ich bin noch nicht geduscht und in einer halben Stunde kommen die Gäste. Sonst ist alles prima.“

„Mach doch keinen Stress! Es kommen eh nur die Oldies.“

Mit diesen tröstenden Worten verschwand Yvonne im Bad – das konnte dauern.

Es stimmte ja, aber gerade weil ihre Eltern und ihre Schwiegermutter kamen, wollte sie alles perfekt haben. Es war ihr wichtig, allen zu beweisen, wie glücklich sie war, und dass sie Beruf, Haushalt und Familie ganz locker unter einen Hut brachte. Etwas, das ihre Mutter für ein Ding der Unmöglichkeit hielt.

Als es zehn Minuten vor sieben läutete, war Yvonne gerade dabei, sich die Haare zu föhnen. Das arme Kind hatte leider das blonde, feine Haar ihres Vaters geerbt. Marens dunkles Haar war hingegen problemlos, nicht nur, weil es kurz geschnitten war. Zum Glück. Für stundenlanges Föhnen hatte sie ohnehin keine Zeit.

Von Axel immer noch keine Spur. Sie zischte Yvonne zu: „Ruf deinen Vater an“, ehe sie lächelnd ihre Eltern in Empfang nahm.

Pünktlich um sieben erschien ihre Schwiegermutter Elena. Maren servierte den Aperitif. Wo zum Teufel war Axel?

In der Zwischenzeit war sie nicht nur wütend, sondern auch besorgt. Eine Besorgnis, die ihr Vater nicht teilte.

„Bisher ist er immer noch gekommen“, meinte der nur.

Elena sah das erst ähnlich: „Ich habe mich ehrlich bemüht, meinen Kindern Pünktlichkeit beizubringen. Bei Axel bin ich leider gescheitert!“ Doch etwas später fragte sie: „Ist er mit dem Rad unterwegs? Diese Radfahrer sind ja manchmal etwas sorglos. Ich hätte neulich beinah einen Zusammenstoß gehabt.“

Marens Vater teilte Elenas Ansicht, mit Radlern hatte auch er keine guten Erfahrungen gemacht. Seine Erzählungen machten Maren nicht gerade ruhiger, aber das schien ihm nicht aufzufallen.

Axel kam kurz vor acht. Sie hatten mit dem Fondue bereits begonnen.

 

*

 

Solange die Gäste da waren, hatte Maren gelächelt, sich von Axel küssen lassen, das alljährliche Parfüm huldvoll entgegengenommen und dem mickrigen Blumensträußchen eine prachtvolle Vase angedeihen lassen, in der es allerdings noch ein wenig erbärmlicher aussah.

Kaum waren die drei gegangen, stellte Maren das Lächeln ein und ging wortlos ins Bad.

Axel folgte ihr: „Was hältst du von einem Schlummertrunk?“

„Nichts, ich gehe jetzt schlafen.“

„Ich trink noch einen.“

„Mach doch, was du willst!“

„Was hast du denn plötzlich?“

Maren stemmte die Arme in die Hüften. „Plötzlich? Ich ärgere mich seit Stunden, ich hatte nur genügend Selbstbeherrschung, es vor unseren Gästen nicht zu zeigen.“

„Was heißt schon Gäste. Deine Eltern und meine Mutter.“

„Erstens hätte ich nur zu gern deine Schwester eingeladen, habe aber dir zuliebe darauf verzichtet. Zweitens ist das kein Grund, zu spät zu kommen, ohne Bescheid zu sagen.“

„Mein Akku war leer, sagte ich doch schon, und ich war mitten in einem sehr wichtigen Gespräch.“

„Ach ja?“, schnappte Maren. „Du weißt, wie wichtig mir gutes Einvernehmen innerhalb der Familie ist.“

„Ach Schatz, unsere Mütter mögen mich, wie ich bin, und dein Vater kann mich so und so nicht leiden. Oder glaubst du, daran hätte sich etwas geändert, wenn ich eine halbe Stunde früher gekommen wäre?“

Vermutlich nicht. Ihr Vater war ziemlich konservativ. Ein wenig beschäftigter Politologe, noch dazu ein Grüner, war definitiv nicht seine Wunschvorstellung eines Schwiegersohns. Trotzdem antwortete sie: „Mein Vater schätzt eben Verlässlichkeit – ich übrigens auch.“

Axel folgte ihr ins Schlafzimmer und versuchte, sie in den Arm zu nehmen, doch sie schüttelte ihn ab und ging wortlos zu Bett.

 

*

 

Am nächsten Morgen hatte Maren ihren Ärger wieder vergessen. Sie stand leise auf, machte sich nur kurz zurecht und lief hinunter, um für das Frühstück einzukaufen. Wenn der gestrige Abend schon ein Desaster gewesen war, wollte sie wenigstens das Wochenende angenehm beginnen. Frisches Gebäck und ein paar Croissants konnten dabei nicht schaden. Dann lief sie die drei Stockwerke wieder hoch. Im Stiegenhaus roch es nach Kohl, doch als sie die Wohnungstür aufsperrte, duftete es nach frischem Kaffee. Axel war also schon auf und hatte Kopfschmerzen, denn sonst trank er am Morgen lieber Tee.

Der gestrige Abend wurde mit keinem Wort erwähnt. Er küsste sie auf die Stirn, schenkte sich Kaffee ein, schnappte sich die mitgebrachte Tageszeitung und ließ sich ein Croissant schmecken. Sie hätte sich gefreut, wenn er auch an ihren Tee gedacht hätte. Sie stellte Wasser auf, machte sich eine Schinkensemmel zurecht, goss den Tee auf und setzte sich an den Frühstückstisch.

„Mit wem hast du dich gestern so lang besprochen?“ Sie versuchte, ihrer Stimme einen neutralen Klang zu geben.

„Mit einer Autorenkollegin“, antwortete Axel, ohne von seiner Zeitung aufzusehen. „Die sitzt neuerdings in der Bezirksvertretung und ist als Selfpublisherin ziemlich erfolgreich.“

„Sag jetzt nicht, du willst deinen Roman im Eigenverlag herausbringen.“

„Wahrscheinlich schon, habe ich doch gesagt. Nennt man heute übrigens Selfpublishing.“

Gesagt hatte er es allerdings, und wie man das nannte, war ihr egal.

„Axel, bitte, wir haben dazu im Moment kein Geld. Gestern kam übrigens mein Einkommenssteuerbescheid.“

Da er darauf nicht reagierte, schien es ihn nicht zu interessieren. Auch das war nichts Neues. Axel interessierte sich weder für ihr Geschäft noch für Geld und schon gar nicht für die Frage, wie sie ihr gemeinsames Leben finanzierte. Aber darüber wollte sie im Moment nicht debattieren. Stattdessen fragte sie: „Ist sie hübsch?“

„Wer?“

„Die Autorenkollegin.“

„Mittelalter, mollig und verheiratet.“

Das hörte Maren gern. Danach verlief das Wochenende ganz entspannt.

Elena - der Lottogewinn

 

Früher hatte Elena ein ruhiges Wochenende durchaus zu schätzen gewusst, doch seit sie aus der Reha zurück war, waren ihr die Wochenenden eine Qual. Unter der Woche konnte man einkaufen gehen, sich mit einer Freundin auf einen Kaffee treffen oder dem Friseur einen Besuch abstatten.

Sonntags ging gar nichts.

Sie hatte sich ein ausgiebiges Frühstück gegönnt und dabei die Zeitung studiert. Früher hatte sie sich das oft gewünscht. Jetzt fand Elena, dass die Lektüre sie nur noch depressiver stimmte, als sie ohnehin schon war. Gab es denn nur noch Krieg und Terror?

Gegen derartige Verstimmungen halfen entweder nette Gesellschaft oder Arbeit. Sie rief ihre Freundin Henriette an. Die lebte auch allein, hatte aber leider keine Zeit – Enkelgeburtstag.

Elena wünschte ihr einen schönen Tag.

Sie hatte Kindergeburtstagen bisher nie etwas abgewinnen können. Heute dachte sie, dass so eine Geburtstagsfeier immer noch besser war als diese … Einsamkeit. Sie musste es sich langsam eingestehen: Sie fühlte sich einsam. Andere Freunde wollte sie nicht anrufen, es handelte sich durchwegs um Paare. Da wollte sie nicht stören. Schließlich hatte sie allen mitgeteilt, dass sie wieder daheim war. Das hatte aber scheinbar niemanden interessiert.

Das Regenwetter machte die Sache auch nicht besser.

Vielleicht half Arbeit. Es gab im Haus eine Menge zu tun. Seit ihrem Infarkt war manches liegen geblieben, aber sie wanderte nur lustlos von einem Zimmer ins andere.

Am Nachmittag raffte Elena sich endlich auf und machte, trotz des Regens, einen Spaziergang durch die nahen Weinberge. Als sie nach Hause kam, fand sie eine Nachricht auf ihrem Handy vor. Ihre Cousine Frieda hatte sie für kommenden Freitag zum Essen eingeladen. Na bitte, ging doch.

Sie fühlte sich deutlich frischer, nahm sich ein Glas Wein und wartete auf die Nachrichten. Davor kam noch die Lottoziehung. Huch, sie hatte sich von diesem netten Kioskbesitzer doch zu einem Lottoschein überreden lassen. „Dreifach-Jackpot“, hatte er gesagt und ihr mit einem Augenzwinkern erzählt, dass er beim vorletzten Dreifach-Jackpot einen „Vierer“ getippt und immerhin 800 Euro gewonnen hatte. Seine Frau hatte daraufhin auf einem Wellness-Wochenende bestanden, das doppelt so teuer war. Verheiratet war er also auch.

Der Schein fand sich im Seitenfach ihrer Handtasche. 3, 5, 17, 21, 38 und 44.

Sie kontrollierte ihre Zahlen. Das konnte doch nicht wahr sein, sie musste sich geirrt haben. Noch einmal: 3, 5, 17, 21, 38 und 44. Doch, da stand es – schwarz auf weiß.

Das war … der Wahnsinn, sie hatte sechs Richtige im Lotto! Heiliger Himmel, das gab es doch nicht. Ihr Leben lang hatte sie nicht einmal einen Plastikkugelschreiber gewonnen – und jetzt das!

Der Mann aus dem Kiosk hatte ihr Glück gebracht. Unfasslich. Mit zitternden Fingern griff sie zum Telefon, um Axel anzurufen. Als der sich nicht meldete, versuchte sie es bei ihrer Tochter Kerstin – die hob auch nicht ab.

Schon traurig, wenn sich niemand mit einem freute. Etwas später kam eine SMS von Axel:

„Sind in der Pizzeria. Dringend?“

Elena hatte sich in der Zwischenzeit ein zweites Glas Wein eingeschenkt und versucht, sich mit dem Gedanken an den Gewinn vertraut zu machen. Lächelnd tippte sie:

„Wollte euch für kommendes Wochenende zum Essen einladen. Samstag oder Sonntag?“

„Lieber Sonntag! Danke. M+Y+A“

Als Kerstin gegen zehn Uhr abends anrief – sie war im Fitnessstudio gewesen –, lud Elena sie ebenfalls für Sonntag ein.

„Familienessen?“, fragte Kerstin gedehnt. „Hat schon wieder jemand Geburtstag?“

„Nicht dass ich wüsste. Ich wollte einfach einmal für euch alle kochen. Mal sehen, ob ich das noch kann. Bringst du Roman mit?“

„Muss ich erst abklären.“

Begeisterung klang anders. Aber die würde sich schon noch einstellen, wenn sie erst wussten, dass sie reich waren. Obwohl man natürlich erst abwarten musste, wie hoch der Gewinn war. Bei so einem Dreifach-Jackpot gab es bestimmt mehrere Gewinner.

 

*

 

Diesmal gab es nur eine Gewinnerin. Elena.

Sie hatte unglaubliche 5,7 Millionen Euro gewonnen. Was machte man mit so viel Geld?

Sie hatte doch alles: ein Haus mit Garten, ein Auto, ausreichend Kleidung und etwas Bargeld. Was sie wirklich brauchte, waren Gesundheit und Menschen, die Zeit mit ihr verbrachten, aber doch kein Geld.

Ihre Kinder würden das freilich anders sehen.

Maren und Axel konnten das Geld sicher gut gebrauchen. Maren wollte schon längst eine neue Wohnung, sie hatte erst bei ihrem Geburtstagfest wieder davon gesprochen. Verständlich. Das Haus, in dem sie vor Jahren, mit viel Eifer und noch mehr Zuversicht, drei Wohnungen zu einer zusammengelegt hatten, war in der Zwischenzeit eine Zumutung. Maren sagte, es sei verkauft worden, und der neue Eigentümer hatte nur wenig Interesse am Erhalt der bestehenden Mietverhältnisse. Das erklärte natürlich manches.

Sie könnte ihnen eine neue Wohnung kaufen. Was konnte so eine Drei- bis Vierzimmerwohnung schon kosten?

Brauchte Kerstin eigentlich Geld, wenn sie als Partnerin in die Anwaltskanzlei einstieg? Sie hatte nie davon gesprochen, also schien es zumindest kein Problem für sie zu sein. Und wie würde ihr Freund Roman damit klarkommen, wenn Kerstin plötzlich Millionärin wäre? Roman stammte aus bescheidenen Verhältnissen und schien ihr ziemlich sparsam. Wäre das ein Problem für die beiden?

Elenas Gedanken drehten sich im Kreise.

5,7 Millionen Euro.

Wenn sie, sagen wir, 700.000 für sich behielt, blieben immer noch 2,5 Millionen für jedes Kind.

Was zur Hölle würde Axel mit 2,5 Millionen Euro machen? Würde er sich ganz der Schriftstellerei widmen? Elena war zwar der Meinung, dass er einen guten Stil hatte und kreativ war er sicher auch, aber würde er die Disziplin und die Ausdauer aufbringen, die man für eine Schriftstellerkarriere brauchte? Elena zweifelte daran. Axel war intelligent und -wenn eine Sache ihn interessierte - auch sehr engagiert, aber Disziplin und Ausdauer waren nicht gerade seine hervorstechendsten Eigenschaften. Sie bezweifelte ernsthaft, ob es klug war, Axel so viel Geld in die Hand zu geben. Der Bub kam allzu sehr nach seinem Vater.

Und Maren? Elena kannte sie als zielstrebige Frau, die ihren Beruf ernst nahm und viel Zeit in ihrer Kanzlei verbrachte – worüber sich Axel oft genug beschwert hatte. Würde er wollen, dass sie ihr Geschäft schleifen ließ oder gar aufgab? Maren würde es jedenfalls nicht wollen, und das völlig zu Recht. Bisher hatte Maren den größten Teil des Haushaltseinkommens verdient und auch verwaltet. Damit waren die beiden gut gefahren. Was aber, wenn Axel plötzlich so viel Geld hätte?

Vielleicht wäre es besser, den Kindern von ihrem Gewinn gar nichts zu erzählen und das Geld sicher anzulegen. Aber wie? Sie kannte sich mit Finanzgeschäften nicht gut genug aus. Mit Kerstin oder auch Maren hätte sie darüber reden können, aber die sollten vorerst doch nichts wissen.

Himmel, war das alles kompliziert!

Das Geld für eine neue Wohnung würde sie Axel und Maren allerdings gern zukommen lassen. Und was sollte sie Kerstin schenken? Die hatte doch eine nette Wohnung. Ob sie diesen Roman heiraten würde? Sie könnte ihnen eine Traumhochzeit ausrichten, so eine, wie sie selbst gern gehabt hätte – mit Kutsche, weißen Pferden und einem rauschenden Ball. Leider war bei ihr daraus nichts geworden. Erstens war sie bereits unübersehbar schwanger gewesen, und zweitens hatte ihr Exmann Ossi für derart bürgerliche Veranstaltungen nur herablassenden Spott übrig gehabt.

So eine Hochzeit zu veranstalten, würde ihr Spaß machen, allerdings war zu bezweifeln, ob Kerstin so eine Traumhochzeit haben wollte. Die zwei waren schon ein seltsames Paar. Roman hatte Liebe neulich als einen biochemischen Vorgang bezeichnet, und Kerstin hatte lauthals zugestimmt. Als Medizinerin konnte Elena den biochemischen Vorgang nicht leugnen, aber Herrgott, das war doch nicht alles. Sie erinnerte sich noch sehr gut daran, wie es war, als sie Ossi kennengelernt hatte, so mit weichen Knien und Schmetterlingen im Bauch. Hatten die beiden das denn nie erlebt?

Sollten Kerstin und Roman eines Tages heiraten, würde das vermutlich kein großes Fest werden. Ein knappes „Ja“ vor dem Standesbeamten, ein Mittagessen im engsten Familienkreis, danach vielleicht ein Wochenende in Venedig, um am Montag wieder in der Kanzlei zu sitzen – das schien eher zu den beiden zu passen.

Was also tun mit der vielen Kohle?

 

*

 

In der Nacht schlief Elena schlecht und träumte von Luxusjachten und ihrem Exmann Ossi am Strand von Nizza, dort, wo sie ihn kennengelernt hatte.

Wie es ihm wohl ging, überlegte sie, während sie ihr Frühstück zubereitete. Seit ihrem Reha-Aufenthalt machte sie sich Müsli – wie sie es ihren Patienten immer empfohlen hatte - und aß es mit nur mäßiger Begeisterung. Danach gönnte sie sich meist noch einen Kaffee und ein Croissant – wie Ossi es gemocht hatte. Er nannte es „ein Frühstück für die Seele“.

Axel hatte erzählt, dass Ossi im vorigen Herbst finanziell ziemlich klamm gewesen war. Sie hatte ihm dann zu Weihnachten einen großen Fresskorb geschickt, wofür er sich auch wortreich bedankt hatte. Vor ein paar Wochen war dann eine Ansichtskarte aus Südfrankreich gekommen. Vermutlich hatte er in der Zwischenzeit wieder einmal ein Bild verkaufen können. Es sähe ihm ähnlich, den Verdienst gleich wieder auszugeben. Worte wie vorsorgen und sparen kamen in seinem Vokabular nicht vor. Daran war auch ihre Ehe gescheitert – von seinen Affären einmal abgesehen.

Ossi war ein wunderbarer Liebhaber gewesen und ein liebevoller Vater, aber leider frei von jeglichem Verantwortungsbewusstsein. Mit ihm zu leben, war ihr manchmal vorgekommen wie der Tanz auf dem Vulkan.

Elena hatte sich für Sicherheit und Ehrlichkeit entschieden. Das hatte ihr Leben einfacher gemacht. Ob es sie glücklicher gemacht hat, wusste sie nicht.

Axel kam jedenfalls ganz nach seinem Vater – das musste sie sich eingestehen, ebenso wie die Tatsache, dass Axel ihr immer ein kleines Stück nähergestanden hatte als Kerstin. Sie hatte sich immer ehrlich bemüht, das nicht zu zeigen, hatte ihm Kerstin stets als leuchtendes Vorbild vorgehalten – was das Verhältnis der Geschwister zueinander nicht gerade begünstigt hatte. Gut gemeint war eben oft das Gegenteil von gut gemacht. Sie seufzte und räumte ihr Frühstücksgeschirr in den Geschirrspüler.

Ob sie Ossi Geld geben sollte? Schließlich hatte er bei der Scheidung auf manches verzichtet, was ihm rechtlich zugestanden hätte. Er hatte einfach seine Koffer gepackt und war zu seiner Mutter aufs Land gezogen. Dort hatte er sich schon früher ein Atelier eingerichtet, für die Zeit, die er in den Sommerferien mit den Kindern bei seiner Mutter verbracht hatte, während Elena in der Stadt geblieben war, um zu arbeiten. Schließlich konnte man eine Praxis nicht einfach acht Wochen zusperren.

Es wäre also nur recht und billig, ihm etwas Geld zukommen zu lassen. Er würde es in rasender Geschwindigkeit ausgeben und mit dem letzten Geld einen Strauß rote Rosen für sie kaufen. Ossi Geld zu geben, war vermutlich immer noch keine gute Idee.

Einen Teil des Geldes wollte sie für wohltätige Zwecke spenden, es gab so viel Elend auf der Welt. Sollte sie die Flüchtlingshilfe unterstützen oder das Geld lieber vernünftigen Projekten in Afrika zur Verfügung stellen? Gab es nicht auch im eigenen Land genug Elend? Sie musste einfach darüber reden – nur mit wem?

Konnte man seinen Freunden von einem so großen Gewinn erzählen? Würden sie dann Geld von ihr erwarten?

Unsinn. Die meisten hatten selbst mehr davon, als sie in diesem Leben ausgeben konnten, trotzdem waren einige ziemlich sparsam.

Ihre Cousine Frieda würde sie vielleicht dazu überreden wollen, endlich den Theaterfreunden beizutreten, was mit einer gewissen Spendenfreudigkeit Hand in Hand ging. Aber das kam für Elena nicht infrage. Wenn sie ab und zu ins Theater ging, leistete sie sich eine teure Karte, das war Subvention genug.

Sie könnte Henriette zu einer Kreuzfahrt einladen. Das war eine gute Idee! Henriette war alleinerziehende Mutter gewesen und hatte als Lehrerin nicht gerade berauschend verdient. Dennoch lag ihr ihre verrückte Tochter heute noch auf der Tasche - und Henriette konnte so schlecht nein sagen, vor allem, wenn es um ihren Enkel ging. Henriette würde sie wirklich gern etwas zukommen lassen – dumm nur, dass sie es nicht annehmen würde. Außer vielleicht, wenn Elena ihr von dem unglaublichen Gewinn erzählte. Aber konnte sie das, ohne ihre Kinder und andere Freunde einzuweihen? Irgendetwas sickerte doch immer durch.

Sie brauchte eine Strategie.

Vielleicht sollte sie am Sonntag erst einmal das Terrain sondieren und sich dann mit jemandem besprechen, der vollkommen neutral war. Ihr neuer Steuerberater? Der schien ja sehr geschäftstüchtig zu sein, hatte gleich die Preise erhöht, nachdem er die Kanzlei von ihrer Freundin Gerda übernommen hatte. Aber ob ein junger Pfennigfuchser wie er der richtige Mann dafür war?

Da war ihr Anwalt sicher die bessere Wahl. Doktor Burger hatte sie seinerzeit bei der Scheidung vertreten, danach hatte er ab und zu eine Mahnung geschrieben, wenn ein Privatpatient säumig war. Aber das war selten vorgekommen, schon deshalb, weil sie zumeist Kassenpatienten behandelt hatte. Burger war in ihrem Alter und hatte ebenfalls eine Tochter. Er konnte sie sicher besser beraten.

Sie nahm ihr Tablet und öffnete ein neues Dokument, das sie „Lotto“ nannte. Dann formulierte sie erst die Fragen, die sie – ganz en passant – den Kindern stellen wollte, danach jene für Doktor Burger.

Später machte sie sich an den Einkaufszettel. Was sollte sie kochen? Sie war etwas aus der Übung und würde mit einfachen Gerichten beginnen. Gekochtes Rindfleisch war nie verkehrt. Dabei entstand gleich eine gute Suppe. Die Leberknödel konnte sie fertig beim Fleischer kaufen. Oder sollte sie Frittaten machen? Danach also Tafelspitz, Apfelkren, Röstkartoffeln und Schnittlauchsauce, die mochte Axel doch so gern. Sie würde diesmal laktosefreie Milchprodukte verwenden, vielleicht konnte Kerstin die Speisen dann besser vertragen.

Zum Abschluss sollte es ausnahmsweise Torte geben, allerdings vom Konditor, und für Kerstin würde sie am Samstag eine Biskuitroulade machen, die war ihr früher doch immer ganz gut gelungen.

Axel - Familiensonntag

Axel beträufelte das letzte Stück Rindfleisch ordentlich mit Schnittlauchsoße und lehnte sich zufrieden zurück.

Zum Glück hatte Elena das Kochen nicht verlernt, dachte er. Diese Schnittlauchsoße - ein Traum. Maren kochte auch nicht schlecht, und wenn sie Gäste hatten, gab sie sich ganz besonders viel Mühe, suchte schon Tage zuvor nach besonderen Rezepten. Aber ihm erschien sie dann immer so verkrampft. Bei Elena hingegen sah alles immer ganz easy aus. Was hatten sie früher nicht für gemütliche Familienfeste hier gefeiert, aber nach der Scheidung hatte Mutter nur noch ins Restaurant eingeladen. Sie hatte immer gesagt, es sei einfacher für sie, schließlich werde sie auch nicht jünger.

Ihn hatte sie aber nicht täuschen können. Ohne Ossi – sie hatten ihre Eltern immer beim Vornamen genannt – hatte es ihr wohl keinen Spaß mehr gemacht. Er hatte diese Scheidung ohnehin nie verstanden. Die beiden hatten einander doch geliebt und er war ziemlich sicher, dass Elena unter der Trennung nicht weniger gelitten hatte als sein Vater. Jetzt, nach dreizehn Jahren, schien sie es endlich überwunden zu haben.

Vielleicht war das der Grund der Einladung. Maren überlegte seit Tagen, was diese Einladung zu bedeuten hatte, schließlich standen weder Weihnachten noch Ostern an und keiner hatte Geburtstag. Ihm war es egal. Vielleicht wollte Elena einfach ihr neues Leben feiern, frei von Verpflichtungen. Eine himmlische Vorstellung.

Nach dem Essen kam die Sonne heraus und sie wechselten auf die Terrasse, unterhielten sich über die überraschende Regierungsumbildung und die Frage, ob Neuwahlen nun wahrscheinlicher geworden waren. Kerstin und Maren hielten das für möglich, er selbst glaubte nicht daran und seine Mutter stimmte ihm zu.

Jeder hatte eine Meinung, nur Kerstins Freund Roman saß Pfeife rauchend daneben, als ginge ihn das alles nichts an. Komischer Kauz. Was Kerstin nur an dem Mann fand? Sein größter Verdienst schien zu sein, dass er Kerstin nur sehr selten widersprach – und wenn, dann nicht sehr nachdrücklich. Vielleicht war es das, denn Kerstin schätzte Widerspruch nicht besonders. Auch heute schien sie ziemlich überzeugt von sich und ihren krausen Gedanken, die sich immer nur um Erfolg und Paragrafen zu drehen schienen.

Während Axel noch darüber nachsann, wie wenig Kerstin und er gemein hatten, hörte er Elena fragen: „Was würdest du mit drei Millionen Euro machen?“

„Wie kommst du darauf?“

„Hast du schon wieder nicht zugehört? Ich habe doch eben erzählt, dass eine ehemalige Patientin eine Erbschaft gemacht hat, vermutlich an die drei Millionen Euro. Jetzt weiß sie nicht, was sie mit dem Geld machen soll.“

„Die Arme“, murmelte Axel. Was interessierte ihn das Erbe anderer Leute. Er hatte keine drei Millionen, leider.

„Ich würde ihr raten, es in Immobilien anzulegen“, meldete sich Maren zu Wort. „In Zeiten wie diesen lautet die Devise Grundbuch statt Sparbuch. Die Renditen sind zwar nicht hoch, aber immerhin gibt es welche. Wenn deine ehemalige Patientin Beratung braucht, gib ihr meine Visitenkarte.“

Maren reichte tatsächlich ein Kärtchen über den Tisch. Dachte die Frau eigentlich nur noch ans Geschäft?

Elena nahm die Karte. „Danke, die gebe ich gerne weiter. Sonst noch Ideen?“

„Ich stimme Maren zu. Ich würde mir ein Penthouse in der City kaufen“, meinte Kerstin. „Das ist einerseits eine sichere Anlage, Wertsteigerung inklusive, anderseits doch auch ein wenig persönlicher Luxus. Und du?“, fragte sie Roman.

„Keine Ahnung. Ich wüsste nicht, von wem ich drei Millionen erben sollte.“

„Der Mann hat einfach keine Fantasie“, dachte Axel nun, ehe er fragte: „Würde denn keiner von euch verreisen? Also ich würde zuallererst eine Weltreise machen und dann schauen, was noch übrig ist. Erst würde ich nach China reisen, dann nach Australien und danach … ich weiß nicht, vielleicht nach Indien. Dort könnte ich so eine Ayurveda-Kur versuchen, danach …“

Maren lächelte milde und Yvonne schien sich für seine Pläne auch kaum zu interessieren.

„Wann gibt’s denn endlich die Torte?“, fragte sie dazwischen.

Axel lächelte nachsichtig. Seine Kleine - aber das Pragmatische hatte sie eindeutig von ihrer Mutter.

 

Kerstin - Böse Überraschungen

 

Trotzdem der Radiomoderator der Meinung war, es sei „leider“ schon wieder Montag, sprang Kerstin voller Elan aus dem Bett und eilte ins Bad. Wenn sie Doktor Müller richtig verstanden hatte, fiel in dieser Woche offiziell die Entscheidung über ihre Teilhaberschaft an der Anwaltskanzlei.

Sie hatte hart dafür gearbeitet und freute sich darauf, in die Führungsebene der Kanzlei aufzusteigen.

„Dann wirst du ja meine Chefin“, hatte Roman letztens gesagt.

„Stört es dich?“, hatte sie gefragt.

Doch Roman hatte nur den Kopf geschüttelt. Vermutlich störte es ihn wirklich nicht. Roman war ein Stoiker, durch nichts aus der Ruhe zu bringen – was Kerstin mitunter ganz ordentlich aus der Ruhe brachte. Auch deshalb war sie froh, dass jeder seine Wohnung behalten hatte. Roman hatte erst vor Kurzem angemerkt, es sei wirtschaftlicher, zusammenzuziehen. Wirtschaftlicher vielleicht, aber Kerstin war dagegen. So hatte doch jeder seinen Rückzugsbereich. Kerstin wusste das sehr zu schätzen.

Wie immer machte sie sich ohne Frühstück auf den Weg, kaufte sich unterwegs ihr „Breakfast to go“, das sie später vor dem Bildschirm aß. Auch etwas, was mit Roman nicht möglich wäre. Roman liebte einen gemütlichen Start in den Tag, gern mit einem ausgiebigen Frühstück.

Am Wochenende fand sie das ganz nett, an Wochentagen war es ihr schade um die Zeit.

Während sie ihren Kaffee trank, und in das zugegebenermaßen nicht mehr ganz krosse Gebäck biss, bereitete sie sich auf den ersten Termin vor.

Die übers Wochenende eingegangenen Mails hatte sie bereits gestern Abend von zu Hause abgefragt und größtenteils erledigt.

Der Vormittag versprach, spannend zu werden. Ein Immobilieninvestor verklagte die Stadt auf Schadenersatz, weil er erst eine Zusage zum Bau eines Hochhauses erhalten hatte, die die Stadt später – nach massiven Protesten der Bevölkerung – nicht aufrechterhalten wollte.

Kerstin fand, seine Chancen standen gut, und war mächtig stolz, dass Doktor Müller ihr diesen Fall übertragen hatte. Mit einem leichten Gefühl von Nervosität machte sie sich auf den Weg zum Gericht.

Als sie knapp nach Mittag in die Kanzlei zurückkam, fand sie eine Mail ihres Chefs vor. Er erwartete sie beim Italiener. Das klang gut. Ob er ihr heute schon die Teilhaberschaft anbot?

Ohne einen weiteren Blick auf die übrigen Mails zu werfen, eilte sie davon.

Doktor Müller erwartete sie an seinem Stammtisch, einem gemütlichen Ecktisch für vier Personen. Er war allein. Nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatte, erkundigte er sich nach der Verhandlung, dann kam ihr Essen. Während er sich genussvoll über den gegrillten Fisch und die Extraportion Bratkartoffeln hermachte, stocherte Kerstin nervös in ihrem Salat herum. Sie war nicht zum ersten Mal mit ihm hier und wusste, dass er, bevor nicht auch das letzte Krümelchen aufgegessen war, nichts mehr sagen würde. Sein Essen war ihm heilig.

Als der Kellner abräumte, orderte er: „Ein Weinglas für die Dame, bitte.“

Kerstin wollte schon protestieren, sie trank selten Alkohol, schon gar nicht mittags, aber vielleicht sollte sie heute eine Ausnahme machen. Endlich ergriff er das Wort.

„Meine liebe Frau Kollegin, ich habe Sie heute hierher gebeten, um mit Ihnen einige Veränderungen in unserer Kanzlei zu besprechen. Wie Sie wissen, wird mein Sohn zum Ende des Monats aus der Kanzlei ausscheiden, um das Weingut seines Großvaters zu übernehmen. Wie ich darüber denke, dürfte Ihnen nicht entgangen sein, aber ich kann ihn nicht aufhalten - des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Ich persönlich denke zwar noch lange nicht daran, mich aus dem Geschäftsleben zurückzuziehen, aber ebenso wenig möchte ich in Zukunft mehr arbeiten als ohnehin schon. Ich brauche also einen neuen Teilhaber, das habe ich ja bereits mehrfach anklingen lassen. Nach reiflicher Überlegung habe ich mich letztendlich für Herrn Doktor Herbst entschieden.“

Kerstin dachte erst, sich verhört zu haben.

„Für wen?“

„Herr Doktor Herbst ist zwar erst seit wenigen Monaten bei uns, aber wie Sie vielleicht wissen, ist er der Neffe unseres Bürgermeisters.“

Als sie nichts erwiderte, setzte er jovial hinzu: „Na, ist das nicht ein genialer Schachzug? Es hat sich vermutlich bereits herumgesprochen, dass Bürgermeister Lennert Freunde und Verwandte ausreichend mit Posten und Geschäften versorgt. Da wird er doch auf seinen Neffen nicht vergessen.“

Müller hatte ihr in der Zwischenzeit Wein eingeschenkt. Jetzt brauchte sie allerdings wirklich einen Schluck, ehe sie mit dem Mut der Verzweiflung sagte: „Sie werden verstehen, dass ich nicht gerade vor Freude tanze. Ehrlich gesagt, habe ich damit gerechnet, dass Sie mich in die engere Wahl ziehen.“

„Das habe ich auch, das habe ich. Schließlich sind Sie mein bestes Pferd im Stall, deswegen wollte ich es Ihnen auch vor allen anderen sagen.“

Kerstin schäumte. „Als Pferd habe ich mich zwar nicht gesehen, aber ja, ich dachte, Sie wären mit meiner Arbeit zufrieden.“

„Das bin ich doch auch! Wirklich sehr bedauerlich, dass Lennert nicht Ihr Onkel ist.“

„Das kann ich trotz allem nicht bedauern“, sagte sie, um Gleichmut bemüht. Sie nahm gleich noch einen Schluck Wein und setzte hinzu: „Trotzdem kann ich Ihre Entscheidung nicht ganz nachvollziehen. Ich meine, wir haben doch ausreichend Mandanten.“

„Mandanten kann man nie genug haben! Herbst wird uns eine Menge spannender Fälle beschaffen, die Sie und ich bearbeiten werden. Den Routinekram können Herbst und die anderen erledigen. Als Zeichen dafür, wie zufrieden ich mit Ihrer Arbeit bin, habe ich die Lohnverrechnung angewiesen, Ihnen ab dem nächsten Monat eine Gehaltserhöhung von zehn Prozent auszuzahlen. Wenn Herbst seinen Part ordentlich erfüllt, springt für Sie noch eine weitere Gehaltserhöhung heraus. Na, was sagen Sie?“

Ohne ihre Antwort abzuwarten, fügte er hinzu: „So, und jetzt gehen wir in die Kanzlei und sagen es den anderen.“

Kerstin dachte nicht daran. Alle rechneten damit, dass sie die neue Teilhaberin werden würde. Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche und öffnete den Kalender.

„Das tut mir jetzt aber leid … sehr leid. Aber ich habe einen Termin, ich muss gehen.“

„Einen Termin? Mit wem?“

„Mit einem zukünftigen Mandanten. Ich werde morgen berichten. Danke für die Einladung.“ Dann stöckelte sie erhobenen Hauptes aus dem Restaurant.

 

*

 

Kerstin hatte keinen Schimmer, wie sie zu ihrem Auto gekommen war, doch als sie endlich drin saß, tippte sie eine SMS an Roman:

„Ich glaubs’s nicht, Herbst wird neuer Partner!“

Dann sah sie – mehr aus Gewohnheit - nach den eingegangenen Mails. Oh. Hätte sie sich doch vorhin die Zeit genommen, die restlichen Mails zu lesen. Um 11 Uhr 40 hatte Roman geschrieben:

„Kollege Herbst hat mir eben gesteckt, dass er neuer Teilhaber wird. Müller will es dir beim Mittagessen sagen. Halt die Ohren steif – Ro“

Nun antwortete sie:

„Schon geschehen. Erwarte dich zum Abendessen – as soon as possible!“

Dann fuhr sie nach Hause. Sie würde Wurstsalat machen, da konnte nicht allzu viel schiefgehen.

Als Roman endlich kam, war es bereits acht Uhr und Kerstin geladen wie eine Maschinenpistole.

„Weißt du eigentlich, wie spät es ist?“, schnauzte sie ihn an.

„Sicher. Normalerweise überlegst du um diese Zeit zum ersten Mal, ob du schon nach Hause gehen sollst, um dann noch ein Stündchen dranzuhängen.“

„Heute ist aber nicht ‚normalerweise‘. Heute ist heute! Der Wurstsalat schmeckt in der Zwischenzeit sicher schon grässlich!“

Roman entledigte sich seines Sakkos und der Schuhe, nahm wortlos am Esstisch Platz und lud sich eine ordentliche Portion auf den Teller.

„Der Wurstsalat schmeckt wie immer“, meinte er mit vollem Mund und spülte mit einem kräftigen Schluck Bier nach. Gemütsmensch. Kerstin sah ihm eine Weile zu, dann nahm sie ausnahmsweise einen Schluck von seinem Bier – puh, war das bitter –, biss in eine Semmel und stellte fest, dass der Wurstsalat noch ganz passabel war.

Doch schon nach wenigen Bissen fühlte sie sich müde und aufgebläht. Was hatte sie denn jetzt schon wieder nicht vertragen? Vielleicht sollte sie in Zukunft Dienst nach Vorschrift machen und sich etwas mehr um ihre Gesundheit kümmern, wie Elena ihr das schon mehrfach geraten hatte.

Da redete ja die Richtige. Hatte sie sich etwa geschont? Die Herzattacke war ja nicht aus heiterem Himmel gekommen. Dabei fiel Kerstin ein, dass sie sich einen neuen Arzt suchen musste. Bisher war sie ganz selbstverständlich zu Elena gegangen. Apropos Elena. Sie wandte sich an Roman:

„Kein Wort zu Elena, hörst du!“

Er sah sie verständnislos an. „Und warum nicht?“

„Weil ich es so will.“

Roman zuckte nur die Schultern. „Ja, gut, wenn dir das so wichtig ist.“

Und ob ihr das wichtig war. Elena würde von ihrer Niederlage noch früh genug erfahren.

Maren - Gedanken

 

Als Maren am Montag ihren PC einschaltete, erwartete sie bereits die Nachricht ihres Steuerberaters: Die Vorschreibung des Finanzamtes sei leider richtig. Die Umsätze des fraglichen Jahres waren gut gewesen, die Vorauszahlungen jedoch gering.

Etwas ratlos nahm Maren die Vorschreibung zur Hand und ging zu Achim, der scheinbar versuchte, Lisa einen Wohnungsplan zu erklären. Offenbar hatte er Angst, dass sie davonschweben könnte, denn er hatte seinen Arm um sie gelegt.

Maren räusperte sich. „Lisa, würden Sie uns bitte kurz alleine lassen?“

Lisa warf Achim einen aufreizenden Blick zu, doch als er nickte, trollte sie sich. Wortlos hielt Maren ihm die Vorschreibung hin.

„Traurig, aber wahr, fünfzig Flocken für jeden von uns. Schade um das schöne Geld, aber was willst du machen?“

„Hast du denn so viel?“

„Sicher, ich kann ja rechnen. Wir haben im Vorjahr gut verdient und kaum Vorauszahlungen geleistet.“

„Das hat mir unser Steuerberater auch schon erklärt“, seufzte sie und ging wortlos in ihr Büro. Achim folgte ihr. „Das kommt davon, wenn man sich einen arbeitslosen Politologen hält.“

Maren wollte schon protestieren, aber Achim lachte nur. „Spaß beiseite. Wenn du willst, kann ich dir was borgen.“

Das war typisch Achim. Er war ein Großmaul und ein Windhund, aber wenn es darauf ankam, konnte man sich auf ihn verlassen.

„Lieb von dir, aber es wird schon irgendwie gehen.“

„Ja, klar, aber vielleicht könnte dein akademisch gebildeter Liebhaber auch einmal mit anpacken.“

„Axel hofft, dass er im Herbst wieder einen größeren Auftrag bekommt, schließlich sind nächstes Jahr Bundestagswahlen. Du weißt ja, in Wahlzeiten hat er immer gut zu tun.“

„Als Makler ist er sich wohl zu gut.“

„Ich wusste gar nicht, dass wir einen Job frei haben.“

„Wir könnten Simon austauschen. Aus dem wird ohnehin kein Makler mehr. Erstens ist er zu dämlich, zweitens fehlt ihm der Biss.“

Der Biss würde Axel sicher genauso fehlen, dachte Maren, sagte aber: „Und was machen wir, wenn Axel im Herbst wieder Arbeit bekommt?“

„Dann suchen wir uns einen Neuen. Dümmer als Simon kann der kaum sein.“

Das stimmte vermutlich. Sie hatte in Simon große Erwartungen gesetzt, weil er gut aussah, freundlich war und sich einer gepflegten Sprache bediente. Alles Dinge, die im Kundenkontakt gut ankamen. Leider hatte sie in der Zwischenzeit einsehen müssen, dass er ein unglaublicher Chaot war und sich scheinbar die einfachsten Dinge nicht merken konnte.

Axel würde von Achims Idee wenig begeistert sein, aber vielleicht war es einen Versuch wert.

Zu Achim sagte sie: „Ich denke darüber nach“, dann fügte sie zwinkernd hinzu: „Lisa erwartet dich sicher schon sehnsüchtig.“

Wie sie diese Nachzahlung schultern sollte, war Maren immer noch ein Rätsel. Natürlich würde sie Achims Angebot nicht annehmen. Dann schon lieber das Konto überziehen. Mit einer Steuernachzahlung war natürlich zu rechnen gewesen, aber doch nicht in dieser Höhe. Wofür um alles in der Welt hatte sie in der letzten Zeit so viel Geld ausgegeben?

Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass Axel schon seit Monaten kaum einen Beitrag zum gemeinsamen Haushalt geleistet hatte. Sein letzter nennenswerter Auftrag war im vorigen August ausgelaufen. Seither hatte sie ganz selbstverständlich alles bezahlt, auch den teuren Weihnachtsurlaub.

Ihr Vermittlungsbüro war von Anfang an gut gelaufen, erst in den letzten Monaten waren die Umsätze zurückgegangen. Wahrscheinlich hätten sie doch das Gewerbegeschäft aufbauen sollen, wie sie es immer vorgehabt hatten. Aber Achim hatte vom Start weg so viele Objekte eingebracht, dass es eben nicht dazu gekommen war. Das hatte auch blendend funktioniert, zumindest solange, bis die Regierung das Maklerhonorar neu geregelt hatte. Seither waren die Einnahmen aus der Wohnungsvermittlung um ein Drittel geringer. Bei gleichbleibendem Service konnte das auf Dauer nicht gutgehen.

Während sie automatisch die Unterlagen für den nächsten Termin vorbereitete, versuchte sie sich vorzustellen, wie Axel darauf reagieren würde, wenn sie ihn bat, in ihrem Büro zu arbeiten. Er würde dieses Ansinnen vermutlich ablehnen. Sie könnte natürlich auf das fehlende Haushaltsgeld verweisen. Oder war das unfair?

Axel war ja nicht geizig, aber er verdiente sehr unregelmäßig. Hatte er Geld, gab er es mit vollen Händen aus, auch für sie und Yvonne. Hatte er keines, nahm er ganz selbstverständlich an, dass sie für alles sorgte. So war es zwischen ihnen immer gewesen. Die paar hundert Euro, die er ab und zu für einen Zeitungsartikel bekam oder als Bezirksrat verdiente, brauchte er für sein Büro und seine persönlichen Sachen. Er fühlte sich einfach nicht verantwortlich, zumindest nicht für Geld.

Elena hatte einmal gesagt, er sei eine genaue Kopie seines Vaters, das mochte stimmen. Außerdem sei Maren selbst schuld. Auch das war leider wahr.

Als sie damals schwanger geworden war, hatten sie beide noch studiert. Maren war erst im dritten Semester, Axel stand schon vor den letzten Prüfungen. Also hatten sie entschieden, dass Maren sich Arbeit suchen und Axel bei Yvonne bleiben sollte, um nebenher seine Dissertation zu schreiben. Sobald er seinen Doktor in der Tasche hätte, würde er sich einen Job suchen, und Maren konnte ihr Studium fortsetzen.

Letztendlich war es ihm dann doch nicht so leichtgefallen, alles unter einen Hut zu bringen, denn es hatte vier Jahre gedauert, bis er seinen Doktortitel hatte. Maren verdiente als Angestellte eines Immobilienbüros zwar nicht berauschend, aber auch nicht schlecht. Von der Weiterführung ihres Studiums war irgendwann nicht mehr die Rede gewesen. Immerhin hatte sie als HTL-Absolventin eine abgeschlossene Berufsbildung.

So war Maren weiterhin für die Grundversorgung zuständig gewesen und Axel für die Extravaganzen wie Urlaub oder ein gelegentliches teures Abendessen. Daran hatte sich bis heute nichts geändert – außer eben, dass ihr Geschäft nicht mehr so gut lief.

Das konnte sie ihm schwer vorwerfen, auch nicht, dass es für ihn als Politologen schwer war, eine dauerhafte Anstellung zu finden. Meist arbeitete er auf Honorarbasis in befristeten Dienstverhältnissen.

Was sie ihm allerdings vorwarf, war, dass er zurzeit nicht einmal den Versuch unternahm, einen passenden Auftrag an Land zu ziehen, weil er an diesem dämlichen Roman arbeitete.

Ausgerechnet mit einem gesellschaftskritischen Politthriller wollte er Geld verdienen. Träumer.

Elena - Guter Rat ist manchmal gar nicht teuer

 

„Wenn Sie bitte einen Augenblick Geduld haben, Herr Doktor Burger ist gleich für Sie da. Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?“, fragte eine Dame mittleren Alters, die Elena nicht kannte. Damals, als Burger sie bei ihrer Scheidung beraten hatte, hatte seine Frau das Sekretariat geführt. Elena konnte sich noch gut an sie erinnern, weil sie immer ein wenig geplaudert hatten. Die paar Kleinigkeiten, die sie später gebraucht hatte, hatte auch stets seine Frau erledigt, die selbst einige Semester Jus studiert hatte. Ob sie sich schon aus dem Geschäftsleben zurückgezogen hatte? Möglich wäre es, sie mussten etwa im gleichen Alter sein.

Elena entschied sich für ein Glas Wasser und wollte eben nach einer Zeitschrift greifen, als Helmut Burger mit ausgestreckten Armen auf sie zukam.

„Frau Doktor Prinz, wir haben uns lange nicht gesehen.“

Das stimmte. Sein welliges Haar war inzwischen von silbergrauen Fäden durchzogen und hatte stirnseitig die Flucht nach hinten angetreten. Vielleicht waren auch ein paar Falten dazugekommen, sonst fand Elena ihn unverändert.

Er führte sie in sein Büro, das von den letzten Sonnenstrahlen des Tages durchflutet war.

„Was für ein angenehmer Raum“, dachte sie.

Während sie ihm erzählte, was sie zu ihm geführt hatte, hörte er ihr konzentriert zu. Diese Art, dem anderen so aufmerksam zuzuhören, hatte sie schon damals für ihn eingenommen. Sie wusste schließlich, dass es nicht immer einfach war, sich ganz seinem Gegenüber zuzuwenden.

Als sie zum Ende gekommen war, sagte er mit einem Zwinkern: „Das nenne ich ein Luxusproblem.“

„Stimmt, dennoch war ich selten ratloser. Ich habe gestern meine Kinder zum Essen eingeladen und so ganz nebenher die Frage aufgeworfen, was sie mit drei Millionen machen würden. Meine Enkelin würde sich Klamotten kaufen. Na gut, sie ist gerade zwölf geworden. Meine Tochter würde sich ein Penthouse in der City zulegen. Mein Sohn hat gemeint, in diesem unwahrscheinlichen Fall müssten wir eine Zeit lang ohne ihn auskommen, weil er nämlich eine Weltreise machen würde. Die einzige vernünftige Antwort kam von meiner Schwiegertochter. Sie würde erst ihre Steuerschulden bezahlen, dann in eine neue Wohnung und einen Master-Lehrgang für Immobilien investieren.“

„Das ist zugegebenermaßen eine ebenso pragmatische wie vernünftige Vorgehensweise. Aber was ist falsch an Penthouse und Weltreise?“

„Ich weiß nicht, ob es falsch ist, es ist nur nicht ganz das, was ich mir vorgestellt hatte. Sehen Sie, was macht es für meine Tochter schon für einen Unterschied, ob sie in einem Penthouse oder in einer Zweizimmerwohnung wohnt? Sie hockt ohnehin die ganze Zeit im Büro. Und was Axel, meinen Sohn, betrifft, so scheint mir, er hat wirklich Wichtigeres zu tun, als durch die Weltgeschichte zu gondeln. Immerhin hat er eine schulpflichtige Tochter und eine Frau, deren Maklerbetrieb ihn weitgehend ernährt. Es würde ihm nicht schlecht anstehen, sie dabei angemessen zu unterstützen.“

Elena hatte sich richtig in Rage geredet. Doch während Doktor Burger sich Notizen machte, fügte sie deutlich ruhiger hinzu: „Was natürlich nicht heißen soll, dass ich den Kindern gar nichts geben will. Aber ich frage mich ernsthaft, ob es klug wäre, ihnen einen so großen Betrag zu geben.“

Doktor Burger sah erst auf seine Notizen, ehe er sagte: „Sie könnten Ihrer Familie fürs Erste von einem kleineren Gewinn erzählen. Vielleicht ein Fünfer mit Zusatzzahl?“

„Das wäre eine Möglichkeit“, meinte Elena zögernd. Während sie noch darüber nachdachte, tippte er etwas in seinen Computer. „Da haben wir’s ja. Der gestrige Fünfer mit Zusatzzahl hat 120.000 Euro gebracht. Teilen Sie durch drei. Für vierzigtausend Euro kann Ihr Sohn mit seiner Familie eine ganz wunderbare Urlaubsreise machen und Ihrer Tochter wird bestimmt auch etwas einfallen.“

„Das wäre ein Anfang. Was machen wir mit dem Rest? Meine Schwiegertochter sagt immer, die einzig vernünftige Anlage seien zurzeit Immobilien. Aber ich habe keine Ahnung davon.“

„Ich stimme da mit Ihrer Schwiegertochter weitgehend überein. Wenn Sie eine sichere Anlageform suchen, sind Immobilien keine schlechte Wahl. Es gibt natürlich auch andere Möglichkeiten. Viele davon bringen zwar bessere Renditen, sind allerdings auch deutlich spekulativer.“

„Um Himmels willen! Nur nichts Spekulatives. Wenn ich schon so ein Riesenglück habe, dann sollen meine Kinder und Enkelkinder auch etwas davon haben – irgendwann einmal. Trotzdem möchte ich einen gewissen Betrag für karitative Zwecke reservieren. Ich habe allerdings keine Ahnung wie viel, und schon gar nicht weiß ich, wofür. Es gibt so viel Elend auf der Welt. Erst habe ich gedacht, zehn Prozent wären durchaus angemessen. Das wären knapp sechshunderttausend Euro. Das erscheint mir einerseits zu viel, anderseits zu wenig. Man weiß man ja nie, wie viel davon auch wirklich bei den Bedürftigen ankommt.“

In der Zwischenzeit war es dämmrig geworden. Burgers Sekretärin steckte den Kopf durch die Tür. „Wenn es nichts Dringendes mehr gibt, würde ich für heute Schluss machen.“

„Dann wünsche ich Ihnen einen schönen Abend“, antwortete Burger lächelnd und stand auf, um das Licht einzuschalten.

„Arbeitet Ihre Frau nicht mehr in der Kanzlei?“, fragte Elena.

Es schien ihr, als fiele ein Schatten über sein Gesicht, als er antwortete: „Meine Frau ist vor drei Jahren verstorben.“

„Das tut mir aber leid“, sagte Elena betroffen. „Darf ich fragen … “ Sie ließ den Satz in der Luft hängen. Burger verstand auch so.

„Darmkrebs“, antwortete er. „Als man es feststellte, war es bereits zu spät. Drei Monate nach der Diagnose haben wir sie begraben.“

Elena schwieg. Was sollte man dazu auch sagen.

Burger räusperte sich. „Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, beim Elend dieser Welt. Was halten Sie davon, wenn Sie den Gesamtbetrag in einer Immobilie veranlagen und den diversen Hilfseinrichtungen dann peu à peu von den Renditen etwas zukommen lassen? Das hätte den Vorteil, dass Sie sich nach und nach entscheiden könnten und die Substanz gewahrt bliebe.“

Elena nickte. „Sie sind ja ein Quell sprudelnder Weisheit“, versuchte sie die gedrückte Stimmung etwas aufzulockern.

Burger sah sie lächelnd an. „Würden Sie mit diesem Quell unter Umständen zu Abend essen?“

„Gerne. Wann?“

„Wenn Sie Zeit haben, am liebsten gleich. Mir fällt gerade ein, ich habe seit dem Frühstück nichts gegessen. Eher Deftiges oder lieber zum Japaner?“

„Wenn ich wählen darf, nehme ich den Japaner.“

„Hervorragend, der ist auch gleich um die Ecke.“

 

*

 

Was für ein unerwartet netter Abend, dachte Elena, während sie die teure Nachtcreme gewissenhaft einmassierte.

So ein netter Mann, und seine Vorschläge waren einfach brillant. Wenn Helmut – sie waren nach dem Essen zum Du übergegangen – den Kauf treuhändig für sie abwickelte, konnte er darüber hinaus Maren damit beauftragen, eine entsprechende Immobilie zu suchen. Auf diese Weise käme die Provision Maren zugute, dann könnte sie zumindest ihre Steuerschulden zahlen.

Der Plan gefiel Elena. Sie hatten vereinbart, er würde die Sache umgehend in die Wege leiten.