Milten & Percy - Der Tod des Florian C. Booktian - Florian C. Booktian - E-Book

Milten & Percy - Der Tod des Florian C. Booktian E-Book

Florian C Booktian

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Beschreibung

Für die Detectives Milten und Percy sollte es ein Routineeinsatz sein: Verhindert den Diebstahl der neuen Booktian-Bücher. Doch es kommt zu einer Schießerei, bei der eine Frau getötet wird. Am nächsten Tag taucht eine grotesk entstellte Leiche auf, die mehr Fragen beantwortet, als sie aufwirft. Als die beiden endlich auf Booktian persönlich treffen, stirbt der berühmte Autor und alle Anzeichen deuten auf die Frau, die Milten kurz zuvor erschossen hat. Aber wie ist so etwas überhaupt möglich? Wer steckt hinter dem Tod des berühmten Autors und warum musste er sterben?

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Seitenzahl: 444

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Über den Autor

Demnächst erhältlich

 

 

 

Florian C. Booktian

_______________________________

Milten & Percy

Der Tod des Florian C. Booktian

 

 

 

 

Copyright © 2016 Florian C. Booktian

Covergestaltung: Chuck Patterson

Korrektorat: Claudia Heinen

Probeleser: Jan, Ronja, Alina

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck – auch auszugsweise – nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors.

 

Kontakt:

Facebook.com/Booktian

[email protected]

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Sonia Kealy war gleichermaßen wütend wie enttäuscht und der Nächtbeste, der ihr über den Weg lief, würde all ihre Frustration zu spüren bekommen. Irgendjemand lief Gefahr, einen katastrophalen und letzten Tag zu erleben. Sonia musste ihn nur noch finden.

Seit mehreren Stunden fuhr sie durch die Gegend. Die Person, die sie eigentlich ins Visier nehmen wollte, wurde ihr verwehrt. Jemand, der über ihr stand, hatte ein Machtwort gesprochen und dagegen würde sich Sonia nicht erheben. Also musste jemand anders herhalten und diesen jemand suchte Sonia gerade. Sie fand, dass daran nichts Ungewöhnliches war. Viele Menschen fuhren den ganzen Tag auf der Suche nach Befriedigung umher. In Sonias Fall galt diese Sehnsucht einem Leben und ihre Befriedigung bestand darin, es zu nehmen. Für sie, die mit Film, Fernsehen und Musik nichts anfangen konnte, waren Bücher die einzige Faszination. Ein gutes Buch blieb für sie immer etwas Besonderes, denn eine außergewöhnliche Geschichte musste auf ihre ganz eigene Art komplex und einzigartig sein.

Sonia Kealy war auf ihre ganz eigene Art außergewöhnlich. Mord und Totschlag gehörten nicht etwa zu ihrem Alltag, sie war weder darauf aus, Unschuldige zu töten, noch so viele wie möglich umzubringen. Sonia hatte einen guten Grund, warum sie so handelte, wie sie es tat. Und jeder, der durch ihre Hand starb, hatte ihr irgendwann einen dieser Gründe gegeben. Mit Sicherheit hatte nicht jeder davon den Tod verdient, aber wenn Gerechtigkeit beim Sterben eine Rolle spielen würde, wäre die Welt ein andere.

Gerade eben machte Sonia einen Spaziergang. Es war Freitagabend und sie war auf der Suche nach einer Buchhandlung. Immer noch in Rage, dass sie von ihrem eigentlichen Opfer abgebracht wurde.

Jeder, der ihr begegnete wurde einem prüfenden Blick unterzogen. Der Abend war nur dann erfolgreich, wenn sie ein gutes Buch fand und einen Fremden, den sie überwältigen konnte. Vielleicht würde sie ihm dann wie einem Ventil den Kopf abschlagen, damit sie ihren Druck ablassen konnte.

Vielleicht würde sie sich auch nur mit ihm unterhalten, um herauszufinden, was ihm am Herzen lag, damit sie es ihm wegnehmen konnte. Das Leid anderer verschaffte ihr derartige Genugtuung, wie es sonst nur eine gute Geschichte konnte. Und gute Geschichten waren rar geworden. Erst recht, wenn man wie Sonia aufgehört hatte, regelmäßig zu lesen.

Ein großer Mann passierte ihre Rechte, was war mit ihm? Viel zu aufwendig. Was sie suchte, war mehr ein Snack, jemanden, den sie ohne große Anstrengung in ihr Taxi zerren und davonschaffen konnte. Sie ließ den großen Mann in Frieden. Er verschwand hinter ihr, wurde Teil der Vergangenheit. Sie sah ihn nie wieder.

Sonia blieb vor dem Schaufenster einer Buchhandlung stehen und betrachtete die Auslage. Sie schüttelte den Kopf, um ihre Gedanken durcheinanderzubringen. Zu viel Ordnung im Kopf führte nur zu dummen Ideen für ungelöste Probleme.

Ganz links, neben Büchern mit endlosen Landschaften auf dem Covern stand eine Reihe von Büchern, die alle den gleichen Titel trugen. Darüber hing ein Schild und es hielt für jeden Kunden dieselbe Botschaft bereit: Der neue Booktian! Spannung bis zur letzten Seite, das verspreche ich Ihnen. Daneben war ein Bild des Autors abgedruckt, der freundlich lächelte und mit ausgestreckter Hand seine Bücher anpries. Am Bauch des Autors war sein Bruder angewachsen.

Jedes Exemplar dieser Daseinsform, ein Vielschreiberling, hatte ein Geschwister an seinem Bauch. Eine friedliche Symbiose, das Geschenk, niemals allein zu sein. In manchen Fällen aber auch der Fluch, den Erzfeind immer mit sich herumzutragen. Sonias Blick bohrte sich in den Pappaufsteller des Autors. Ihre Gesichtszüge verfinsterten sich. Florian C. Booktian, genau der Vielschreiberling, der an der Spitze ihrer Liste stand. Der produktivste Autor des ganzen Planeten. Er war verantwortlich für ihren Unfall und damit verantwortlich für den Verlust ihrer Kreativität.

Sonia hatte ein Geschwister im Bauch: Emilia. Momentan schlief ihr Bäuchling, so hatte dieser doch heute die letzten sechs Stunden bei der Arbeit übernommen. Dafür war Sonia noch fit und voller Tatendrang. Sie grübelte. Warum nicht ein Buch von genau dem Mann lesen, den sie irgendwann umbringen wollte? Vielleicht gab er ihr sogar irgendwelche nützlichen Informationen mit auf den Weg. Die Unterhaltung besteht aus dem Konflikt. So hatte man es ihr beigebracht. Eines der wenigen Dinge, an die sie sich noch erinnerte. Geschrieben hatte sie schon seit Jahren nicht mehr.

Sie betrat den Laden. Auf einem großen Holztisch lagerten exklusiv nur die Werke des erfolgreichsten Autors von ganz Gnaa: Booktian. Sonia nahm eines der Bücher mit dem Titel „Amaranthfarbene Sonntage“. Das Buch rasch umgedreht überflog sie den Klappentext, worunter verschiedene Zeitungen nebst Literaturkritikern die Einzigartigkeit des Werkes beschworen. Sie wiesen immer wieder auf den unvergleichbaren Stil des Autors hin, der es in seinem neusten Werk geschafft hatte, für mehrere Kapitel komplett ohne das Wort „und“ auszukommen. Sonia schmunzelte.

Diesem Buch wollte sie eine Chance geben. Fünfhundertzwanzig Seiten sollten reichen, um sie für ein paar Stunden davon abzuhalten, an all diejenigen zu denken, die noch da draußen waren. Schuldig und lebendig.

Sie ging an die Kasse, bezahlte das Buch und gönnte sich noch gleich ein neues Lesezeichen. Ihr Blick fiel auf die Kassiererin, eine kleine zierliche Frau. Sonias Gesichtszüge verfinsterten sich, ihre gespielte Freundlichkeit wechselte zu einer ausdruckslosen Starre. Die Frau war perfekt, oder? Zierlich und ohne viel Muskelmasse. Der Zeige- und Mittelfinger an ihrer rechten Hand waren von Nikotin vergilbt. Sie könnte bezahlen und vor dem Laden warten, bis die Kassiererin Feierabend hatte. Dort würde sie ihr auflauern, freundlich um eine Zigarette bitten und ihr beim Suchen in der Handtasche eins mit dem Schlagstock überziehen.

„Vielen Dank für Ihren Einkauf.“ Die Kassiererin stopfte zwei Bücher in die Tragetasche und reichte sie Sonia. Die registrierte das Gratisexemplar gar nicht, das man ihr gerade untergejubelt hatte.

Die ausdruckslose Starre verschwand, Sonias Lächeln kehrte zurück. Sie nahm die Tasche und verließ den Laden. Sie wollte nicht warten, es musste schnell gehen. Bis Ladenschluss waren es noch mehr als fünf lange Stunden. Sie schaute über die Straße. Ein kleiner Mann lief in einem Mantel den Gehweg hinab. Hinter ihm tauchte eine durchsichtige Sonia auf. Eine gespenstische Kopie. Sonia und nur Sonia fiel auf, dass die gespensterhafte Kopie gekonnt ein dünnes Filetiermesser aus ihrem Mantelärmel schnellen ließ, genau im richtigen Augenblick. Sie prallte mit dem dicken Mann zusammen, das Messer bohrte sich tief in sein Fleisch, sie entschuldigte sich und lief weiter.

Der Mann jedoch fasste sich an den Bauch und ging mit blutverschmierten Händen zu Boden. Niemand schien ihm irgendwelche Beachtung zu schenken. Sonia schaute nach rechts. Eine alte Frau wartete am Zebrastreifen, dass ihr jemand den Übergang ermöglichte. Eine halbdurchsichtige Sonia trat von hinten an sie heran und bot ihr an, sich einzuhaken. Die Dame lächelte und folgte Sonia in blindem Vertrauen auf die Straße. Ein Lkw raste ungebremst auf den Zebrastreifen zu. Die halbdurchsichtige Sonia blieb stehen, machte einen Schritt zurück und schleuderte das alte Frauchen vor den Lastwagen.

Das Gefühl der Unruhe wurde immer stärker. Sonia ergriff die Flucht vor ihren eigenen Mordfantasien und lief so lange die Straße hinunter, bis ihr die Beine schmerzten. Immer wieder erkannte sie neue Gelegenheiten. Ein gekonnt gestelltes Bein hier, ein Schubs in die richtige Richtung da. Sonia zog den Reißverschluss ihres Mantels zu und beschloss, zu ihrem Wagen zurückzukehren. Die Versuchung war überall. Da hörte sie eine Stimme aus einer dunklen Nebenstraße. Nicht mehr als ein leises Wimmern, aber es erregte ihre Aufmerksamkeit. Mit ihren Büchern fest unter dem Arm lief sie vorsichtig zum Eingang der Nebenstraße, die nicht sonderlich vertrauenswürdig erschien. Hier liefen alle die Hintertüren von Geschäften zusammen, deren Praktiken mehr als zweifelhaft waren. Kneipen, die schon mehr Spelunken als gepflegte Wasserlöcher waren, Restaurants, in denen seit Ewigkeiten nichts mehr gegessen, aber trotzdem regelmäßig Geschäfte abgewickelt wurden.

Irgendjemand saß alleine in genau dieser Nebenstraße und weinte. Vielleicht ein Kind, das sich verlaufen hatte, oder einfach nur jemand, der Sonias Hilfe brauchte? Was für ein Geschenk des Zufalls. Sie musste nachsehen. Sie musste einfach. Sonia lief in die Nebenstraße und fand eine Frau, die hinter einer Mülltonne kauerte. Sie trug einen verdreckten pinken Hosenanzug. Ihr Gesicht war verheult und an einem ihrer hohen Schuhe fehlte der Absatz.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Sonia.

„Nein. Nichts ist in Ordnung“, sagte die Frau. „Ich habe kein Zuhause mehr und bin halb verhungert. Niemand will mir helfen und mir ist kalt.“ Die Frau wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und schaute zu Sonia auf.

Sonia lächelte. „Ich habe ein Zuhause und jede Menge zu essen. Und ein gutes Buch!“, sagte sie und hielt ihr den Booktian zum Beweis vor die Nase.

„Das freut mich für Sie“, sagte die Frau und lächelte flüchtig aus ihrem verheulten Gesicht.

„Mein Name ist Sonia. Wie heißt du?“

„Vanessa, Vanessa May.“

„Hallo Vanessa, möchtest du mit mir nach Hause kommen und etwas essen?“

Sonia konnte erkennen, wie die Frau zögerte. Vanessa Mays Zweifel waren mehr als angebracht, vor ihr stand ihr Peiniger. Eine Frau, die sie nur noch weiter ins Unglück führen würde. Aber ein Lächeln und etwas Zuwendung im richtigen Augenblick täuschten über vieles hinweg. Vanessa griff nach Sonias Hand und stand auf. „Normalerweise würde ich so etwas nicht annehmen, aber mir fällt einfach nichts mehr ein. Macht es auch keine Umstände?“

„Aber nein“, sagte Sonia und lächelte. „Folge mir, wir gehen zu meinem Wagen.“ Sonia lief davon und drehte sich nicht ein einziges Mal nach der Frau um, die sie nur gerettet hatte, um über ihr Verderben zu bestimmen.

Vanessa folgte ihr stumm und die Zweifel an ihrem Retter wuchsen von einem Samen zu einem Sprössling. Als sie an ihrem Auto angekommen waren, öffnete Sonia die Tür zur Rückbank, um Vanessa einsteigen zu lassen.

„Nach hinten?“

„Ja, bitte.“

Vanessa stieg in den Wagen. Sonia nahm auf dem Fahrersitz Platz und steckte den Schlüssel in die Zündung. Dann drückte sie einen kleinen Knopf an der Mittelkonsole und alle Schlösser verriegelten sich. „Kein Grund zur Sorge, das ist die Macht der Gewohnheit. Man kann nie wissen, wer einem in dieser Welt dort draußen Schaden zufügen will.“ Sie tippte mit der Fingerspitze gegen die Scheibe. „Dann wieder“, fuhr Sonia fort, „weiß man auch nicht, mit welchem Übel man sich gerade eingesperrt hat.“ Ihre Stimme klang seicht und kalt. Sie schien ihre Worte nicht an Vanessa zu richten, vielmehr redete sie mit sich selbst.

Vanessa May rutschte unruhig auf der Rückbank umher. Im Rücksitz steckten diverse Zeitungen und Zeitschriften, unter dem Sitz lugte etwas hervor und glitzerte im schwachen Licht der Deckenbeleuchtung. Ein Ring.

„Hey, es sieht aus, als hätte jemand Schmuck verloren“, sagte Vanessa und hob den Ring auf. Sofort ließ sie ihn wieder fallen. Der Ring steckte auf einem Finger. Sie krallte sich in den Rücksitz.

Vanessa rüttelte an der Tür, aber sie ließ sich nicht öffnen. Dann schrie sie, aber niemand konnte sie hören. Das Taxi parkte weit ab vom Fußgängerverkehr der Einkaufstraße.

Sonia blieb absolut ruhig.

„Was haben Sie mit mir vor?“, fragte Vanessa. Schweiß trat ihr auf die Stirn, die Angst legte ihren kalten Umhang über ihren Rücken.

„Das weiß ich noch nicht. Ist das nicht spannend? Aber es wird nicht lange dauern. Ich habe mir gerade ein neues Buch gekauft und ich kann es gar nicht mehr abwarten, es aufzuschlagen. Vielleicht müssen Sie sich unterordnen. Sehr wahrscheinlich sogar. Sagen Sie, Vanessa, haben Sie Angst vor dem Tod?“

„Ja“, wimmerte die Frau auf der Rückbank. „Aber ich war ihm schon näher, als Sie sich vorstellen können.“

„Tatsächlich? Na dann ist es ja, als würde man zwei alte Freunde wieder zusammenführen. Das Schlimmste am Tod ist die Ungewissheit. Das ist sie wirklich, die Ungewissheit“, wiederholte Sonia und startete den Wagen.

„Wer sind Sie?“

„Ich? Ich bin niemand. Aber du, Vanessa, du bist ein Geschenk. Und ich werde meinen Spaß mit dir haben. Oh ja, das werde ich.“

Keine Antwort. Ein Schluchzen. Vanessa hämmerte gegen die Fensterscheibe, doch die hielt stand, als wären es Gitterstäbe.

Sonia Kealy fuhr davon und mit ihr Vanessa.

Zwei Stunden später war deren pinker Hosenanzug rot getränkt.

1

 

Einige Zeit später

 

Percy starrte Milten an. Der saß am Steuer seines heruntergekommenen 1973 Ford Galaxie 500 und hatte in der letzten halben Stunde kein einziges Wort gesagt. Milten war seit Wochen in einer schlechten Laune versunken. Und ganz egal, wie sehr sich Percy auch anstrengte, sein Freund wollte einfach nicht daraus auftauchen. „Sei nicht zu hart mit dir selbst“, fuhr Percy fort. „Sechs Monate sind vergangen, seitdem du offiziell deine Dienstmarke erhalten hast. Inzwischen bist du mehr Detective, als ich es bin. Oder? Lass uns mal aufzählen“, das Erdmännchen begann an einer Hand abzuzählen. „Du schläfst auf meiner Couch, hast aufgehört dich zu rasieren, du bist erfolgreich geschieden und deine Ex will nichts von dir wissen. Ach und heute Morgen habe ich dich erwischt, wie du dir im Bad den Mund mit, ich glaube es war Gunex, ausgespült hast. Damit putze ich normalerweise meinen Revolver.“

Percy sah Milten eine Zeit lang an. Der Erfinder und frisch gemachte Detective behielt seinen Blick auf der Straße. Percy war besorgt, Milten hatte in den letzten Monaten gelitten. Auch wenn er nie wirklich viel Körpermasse besaß, hatte er mindestens die Hälfte davon verloren. Von seinem Gesicht hing ein Vollbart, der als Dreitagebart angefangen hatte und jetzt noch immer wucherte wie Unkraut. Miltens Kleidung zeigte massive Abnutzungen. Wahrscheinlich wusste er nicht einmal mehr, wie lange er schon in derselben Weste mit Cordhose steckte.

Milten schaltete einen Gang herunter und lenkte den Wagen links in eine Straße.

„Ich meine, was ist mit dir? Wir reden kaum noch. Wenn wir nicht arbeiten, verbringst du den ganzen Tag vor der Glotze und siehst zu, wie die Löcher in deinen Socken größer werden. Rede mit mir, Großer! Du machst mir langsam Angst.“

„Es besteht kein Grund zur Sorge“, nuschelte Milten unter seinem Bart hervor.

Percy warf die Vorderpfoten in die Luft. „Halleluja. Er kann noch reden. Milten, ein bisschen Melancholie ist in Ordnung, du weißt, dass ich selbst nicht das fröhlichste Erdmännchen auf diesem zwangsgepaarten Planeten bin“, Percy zeigte auf sich. „Aber wenn ich mir Sorgen machen muss, ob ich mich im Alltag auf dich verlassen kann, dann ... dann ...“

Der Ford Galaxie 500 rollte eine beleuchtete Straße hinunter. Die Lichtkegel der Straßenlaternen wanderten über Miltens Gesicht. Für einen kurzen Moment war sein Gesicht dann gut zu sehen. „Es besteht kein Grund zur Sorge“, wiederholte Milten im gleichen ausdruckslosen Tonfall.

Percy schnallte sich los und rutschte auf seinem Sitz herum. „Milten?“

Sein Partner starrte weiter ausdruckslos nach vorne, während das Licht über sein Gesicht hinwegstrich.

„Milten, schau mich an!“

Milten lenkte den Wagen weiter geradeaus, drehte den Kopf und blickte Percy für eine unnatürlich lange Zeit in die Augen, ohne die Geschwindigkeit zu verringern. Percy hatte sogar das Gefühl, er würde beschleunigen.

Das Erdmännchen holte aus und verpasste Milten eine saftige Ohrfeige.

„Du riechst wie eine Mülltonne! Schlimmer noch, du siehst aus wie ein Hippie, der nicht weiß, wogegen er sich auflehnen soll, also hat er, du, dich selbst zur Demonstration erklärt. Du protestierst gegen dein eigenes Ich! Und wenn sich deine Haltung zumindest mir gegenüber nicht bald bessert, such ich mir jemand anderen als Partner.“

Milten parkte den Wagen, verschränkte die Hände über dem Lenkrad und legte seinen Kopf auf die Finger.

„Was jetzt?“, fragte Percy. „Demonstration vorbei? Hast du aufgegeben?“

Percy wartete auf eine Antwort, aber Milten hing einfach nur da wie eine falsche Bestellung, die niemand haben wollte.

„Wir fahren hier nicht nur zum Spaß in der Gegend herum, Herr Milten Greenbutton. Wir haben einen Durchsuchungsbefehl und drei Haftbefehle, denen wir nachgehen müssen. Reiß dich zusammen verdammt.“

„Ich weiß“, sagte Milten und seufzte. „Ich weiß ...“

„Aber?“

„Es ist nur ... wofür das Ganze?“

Er sah Percy mit rot unterlaufenen Augen an. Die Augen einer Person, die ein klein wenig aufgegeben hatte. Nicht ganz, aber genug, um sich selber ernsthaft zu schaden.

„Oh Mann“, sagte Percy und rutschte auf dem Sitz so weit nach hinten, wie es nur irgendwie ging. „Dir gehen Dinge durch den Kopf, die du besser vergessen solltest. Hör zu, reiß dich zusammen, wir ziehen das jetzt noch durch und dann setzen wir uns hin und sprechen uns aus, o. k.?“

Milten nickte, kaum merklich und langsam, aber er nickte.

„Gut“, sagte Percy, „vergiss nicht, du bist mein Freund und ich ...“ Percy gestikulierte ein Herz, damit er ein bestimmtes Wort nicht aussprechen musste. „Ich hab dich ...“, sagte er und zeigte mit dem Herzchen auf Milten, „dich. Verstehst du?“

Milten nickte. Diesmal lächelte er sogar ein klein wenig.

Percy seufzte erleichtert. „Ich habs dir gesagt, gleich am ersten Tag hab ich's dir gesagt, diese Braut, Melody? Deine traute Exfrau?“, Percy lehnte sich vor und machte große Augen. „Die war krank im Kopf.“ Percy nickte auf und ab, als wollte er sich selbst recht geben.

„Sie war eben was Besonderes.“

„Besonderes? Milten, was Melody war, ist sonderbar. Wer geht eine Beziehung ein und schlägt gleich am Anfang Polygamie vor?“

„Ich fand das gar nicht so merkwürdig.“

„Ach wirklich? Es ist nichts komisch daran, als verheirateter Mann sein Bett mit anderen Typen zu teilen?“

„Na ja ...“

„Nix na ja. Willst du mir ehrlich sagen, dass dir das nie zu denken gegeben hat?“

„Vielleicht ...“

„Das nehme ich in deiner Verfassung als ein: verdammt noch mal Ja. Komm, vergiss die Braut, die war einfach nur schlecht für dich.“

Milten nickte.

„Was hältst du davon, wenn wir jetzt auf ein paar Verbrecher schießen, um dich ein wenig aufzumuntern?“

Milten lächelte. „Okay, wenn es denn sein muss.“

„Na also“, sagte Percy und zog seinen Colt Detective Special hervor. Milten tat das Gleiche und beide überprüften die Trommeln ihrer Revolver.

„Weißt du, Großer, ich hab nie verstanden, warum du dir dieselbe Dienstwaffe geholt hast wie ich. Ich hab das Ding hier, weil es für meine Körpermasse ideal ist. Weder der Durchschlag noch der Rückstoß sind sonderlich groß. Genau wie bei mir“, Percy kicherte, Milten musste lachen. Die Stimmung war endlich wieder lockerer.

„Mir gefällt die Waffe, du hast mir mit so einer das Schießen beigebracht. Ich bin sie gewohnt.“

„So groß wie du bist, könnten wir dir eine Flugabwehrkanone auf den Rücken binden, ich kann keine Magnum abfeuern, du schon. Wie wäre es, wenn zumindest einer von uns eine etwas stärkere Waffe mit sich führte? Falls wir mal durch Wände schießen müssen oder so.“

„Davon halte ich nichts, wir sind auch nicht da, um Leute zu erschießen, sondern um sie aufzuhalten. Wie viele hast du bisher erschossen?“

„Sechs“, sagte Percy flott.

„Und ich gar niemanden. Hoffentlich bleibt es auch so.“

„Du hast einem Einbrecher in die Wade geschossen.“

„Ja, und heute geht es ihm wieder gut. Die Wunde ist verheilt und er sitzt hinter Gittern.“

Percy seufzte. „Na gut, komm, auf geht’s. Laut unserem Informanten sollen sich im Gebäude drei Personen aufhalten. Es könnten aber auch mehr sein.“

„Für einen Job wie diesen sollten wir eigentlich kugelsichere Westen haben.“

„Milten, eigentlich sollten wir eine Menge haben. Komm, bringen wir's hinter uns.“

Percy stieg aus.

Milten stand neben ihm auf dem Bürgersteig mit leicht glasigen Augen und Fusseln im Bart.

„Komm mal her“, sagte Percy und deutete Milten an, sich zu ihm herunterzubücken. Der ehemalige Erfinder und frisch gebackene Detective ging auf einem Knie vor Percy nieder. Dann zupfte ihm das Erdmännchen die Fussel aus dem Bart. „Ich glaube, was du brauchst, ist das hier.“ Percy nahm Milten in den Arm. Der wusste gar nicht, wie ihm geschah, seine Arme standen von ihm ab, während sich Percy an ihn drückte. Dann legte er dem Erdmännchen eine Hand auf den Rücken.

„Danke dir, Partner“, sagte Milten.

„Wir besorgen dir eine eigene Wohnung, Milten, das wird dich aufmuntern.“

„Das ist nicht nötig, wirklich.“

„Doch das ist es.“ Percy klopfte Milten auf den Rücken „Ich will meine Couch zurück.“ Milten musste wieder lachen, Percy löste die Umarmung auf. „Bist du bereit, ein paar Bösewichte in Angst und Schrecken zu versetzen?“

„Ja das bin ich“, sagte Milten.

„Es wird Zeit, dass du deine eigene Bleibe findest. Das wird dir helfen, ein eigenes Leben aufzubauen, dann kommt wieder etwas Bodenständigkeit auf. Und wir müssen dich dringend rasieren.“ Detective Percy Meercat zog seinen Revolver aus dem Holster. „Zieh deine Waffe, Milten, ich glaube nicht, dass die da drin allzu erfreut sein werden, uns zu sehen.“

Milten zog seinen eigenen Colt. Im Gegensatz zu Percy hatte er vier Schnelllader. Er trug immer zwei extra bei sich, nur für den Fall der Fälle. Und der kam manchmal schneller, als erhofft.

„Ich gehe voraus, du folgst mir. Verstanden?“

Milten nickte. „Das Gebäude steht schon seit einer Weile leer. Wir müssen vorsichtig sein.“

„Niemand würde hier zufällig einsteigen. Was für eine Bruchbude. Aber irgendwie scheint jemand von den Büchern Wind bekommen zu haben.“

„Kannst du glauben, dass wir nur wegen ein paar Büchern hier sind?“

„Bücher, Drogen, Fernseher. Ist doch völlig egal. Solange man es zu Geld machen kann, werden die Leute es klauen. Und die Booktian-Bücher laufen gerade gut. Also los, rein da. Quatschen können wir später auch noch.“

Die beiden Detectives liefen zur Drehtür des Bürogebäudes. Die Kette, die die Tür davon abhielt, sich zu drehen, war geknackt worden und lag auf dem Boden. Im Foyer war alles verstaubt, lediglich eine Spur aus Fußabdrücken führte von der Drehtür durch den Staub zum Aufzug. Hier hatte man die Kisten mit Büchern hochgeschleppt und im sechsten Stockwerk verstaut. Mehr als hundert Kisten mit mehr als tausend Exemplaren. Das waren aber auch schon alle Informationen, die man Milten und Percy zugespielt hatte. Es war kaum mehr als ein flüchtiger Anruf gewesen.

„Schon ungeheuerlich, oder?“

„Was meinst du?“, fragte Percy.

„Booktians Auflagen sind inzwischen so hoch, dass der Verlag leer stehende Gebäude anmietet, nur um die Bücher irgendwo zwischenparken zu können.“

Milten hatte recht, das war ungeheuerlich. Entweder das oder ein klarer Fall von Selbstüberschätzung. Verkauften sich wirklich alle diese Bücher? Wenn das Buch zu früh in den Umlauf geriet, drohten TailStripe Ltd., der Verlag, der die meisten Booktian-Bücher vertrieb, desaströse Umsatzeinbußen. Es brauchte nur einen Langfinger, der das Buch digitalisierte, und sogar die loyalsten Leser würden sich nicht mehr zurückhalten können, wenn das Buch vor der Veröffentlichung online ging. Ganz zu schweigen von den Kritikern, die das Buch schon vorzeitig durch ihren literarischen Darm treiben konnten. Die Bücher von Booktian waren beliebt, und dank seiner Angewohnheit, viel zu schreiben und zu publizieren, war er der erfolgreichste Autor der letzten fünf Jahrzehnte.

Milten hatte noch nie eines seiner Bücher gelesen.

Percy war mit ihnen aufgewachsen.

Mit gezogenem Revolver drückte das Erdmännchen den Knopf für den Aufzug. Der Pfeil, der nach unten zeigte, leuchtete auf und die Zahl der Stockwerke blinkte in absteigender Reihenfolge.

„Der Strom ist an, sehr gut.“

Der Aufzug öffnete sich, in der Ecke stand eine einzige Kiste. „Und die Idioten laden gerade die Bücher in den Aufzug, sogar noch besser.“ Percy drückte jedes einzelne Stockwerk und lief wieder heraus. „Komm mit, wir müssen uns beeilen. Wenn das Ding anhält und die Aufmerksamkeit der Diebe auf sich zieht, springen wir aus dem Treppenhaus und überraschen die Bande.“

„Clever“, merkte Milten an und folgte Percy ins Treppenhaus. „Du bist nicht auf die Schnauze gefallen, was?“

„Danke. Und doch, ich bin schon oft auf die Schnauze gefallen, aber ich bin jedes Mal mit einem neuen Trick in meinem Repertoire wieder aufgestanden.“ Vorsichtig kontrollierte Percy jede Wendung der Treppe. Nach und nach überprüften die beiden jedes Stockwerk des hohen Gebäudes. Sicher war sicher. Milten begann zu flüstern. „Ich hab mich mal etwas umgehört. Den Kritikern passt er so gar nicht, man verschreit Booktian als Möchtegern-Literat, der die Finger nicht von der Tastatur lassen kann. Er sei eine Modeerscheinung der Gegenwartsliteratur, die ihre besten Jahrzehnte in den Toplisten hinter sich hätte.“

„Woher hast du diesen gefachsimpelten Blödsinn?“

„Internet.“

Percy legte die Pfote gegen die Tür zur sechsten Etage. Überall konnte sich jemand verstecken und sie wussten noch immer nicht, wie viele sich eigentlich im Gebäude befanden. Das Erdmännchen presste sein Ohr gegen die Tür und lauschte. Mit einem Bing öffnete sich der Aufzug. Waffen wurden entsichert und mindestens zehn Schüsse auf den wehrlosen Aufzug abgegeben.

„Wer bringt Schusswaffen zu einem Bücherdiebstahl? Womit rechnen die denn?“

„Mit uns, Milten, sie rechnen mit uns.“

„Oh, ja, das macht Sinn.“

Percy hob seinen Revolver. „Bereit?“

„Bereit!“

Percy zog an der Tür, aber die ging nicht auf. „Mist. Abgeschlossen!“, fluchte er.

Aber das Rütteln an der Türklinke blieb nicht unbemerkt.

„Sie sind im Treppenhaus!“, rief eine Frauenstimme.

Milten zog Percy hinter die Betonwand. Keine Sekunde später knallten die ersten Kugeln gegen die Metalltür. Dann eine Ladung Schrot gefolgt von zwei Kugeln, die durch die Tür zischten.

„Mindestens drei Schützen“, sagte Percy.

Der Bleihagel hatte aufgehört. „Haben wir sie erwischt?“, fragte ein Mann.

„Tad, geh und sieh nach“, forderte die Frau ihn auf.

Ein junger Mann kam mit einer Schrotflinte im Anschlag auf die Metalltür zu. Er trat sie nach außen auf, inzwischen war das Schloss reichlich lädiert. Milten schaute zu Percy, der nickte. Blitzschnell hob Milten die Hände, als wollte er sich ergeben. Das würde die Aufmerksamkeit des Schützen auf sich ziehen.

Percy legte sich mit gezogener Waffe auf den Boden zwischen seine Beine.

Die Schrotflinte kam um die Ecke und zeigte auf Milten. Bevor Tad Percy bemerkte, hatte der ihn schon von unten ins Visier genommen.

„Lass deinen Prügel sinken und heb die Hände. Mein Partner macht es dir vor.“

Milten wackelte freundlich mit den Händen und grinste.

Tad riss die Schrotflinte auf Percy herab. Der drückte ab.

Ein Schrei hallte durch das Treppenhaus und Percy rutschte ein Stück nach hinten. Tad war vor ihm zu Boden gegangen, in seinem Schienbein steckte die Kugel. Blitzschnell nahm Milten die Schrotflinte an sich und zog ihn ins Treppenhaus, damit Tad nicht in die Schusslinie seiner Kollegen geriet.

„Hier spricht Detective Percy Meercat“, rief Percy durch die offene Tür. „Bei mir ist mein Partner, unten vor dem Haus stehen drei weitere Streifenwagen. Über dem Dach kreist ein Hubschrauber in Stellung. Es gibt keinen Ausweg, ergeben Sie sich!“

Milten senkte den Kopf und flüsterte: „Was? Aber wir sind doch ganz alleine.“

Percy gestikulierte ihm, die Klappe zu halten. „Das wissen die doch nicht.“

Für einen Moment sagte niemand etwas. Die anderen Diebe schienen über sein Angebot nachzudenken.

„Warum fordern wir eigentlich so selten Verstärkung an?“, fragte Milten weiter.

„Für ein paar Bücherdiebe? Wir schießen den anderen beiden noch ins Bein und setzen sie unten vors Gebäude. Dann rufen wir Verstärkung.“ Percy wandte sich wieder an die Schützen. „Also wie sieht's aus? Handschellen oder Plastiktüten?“

Als Antwort donnerten ein paar Kugeln ins Treppenhaus. Die beiden hörten, wie sich die Türen des Aufzugs schlossen.

„Wo gehen sie hin?“, fragte Milten.

„Na, sie versuchen abzuhauen, was sonst.“

Percy überprüfte die Wunde des blutenden Schrotflinten-Schützen und legte ihm Handschellen an. „Wir lassen ihn hier. Er blutet, aber nicht sonderlich stark. Milten, wir teilen uns auf, ich sehe oben nach und du unten. Entweder sie wollen über das Dach abhauen oder über den Haupteingang im Erdgeschoss. Wir dürfen sie nicht verlieren, verstanden?“

Milten nickte und rannte die Treppe hinunter.

Percy eilte nach oben Richtung Dach.

 

Milten hastete die Treppe nach unten. Mal nahm er zwei Stufen auf einmal, dann sogar drei. Schweiß trat ihm auf die Stirn und als er unten angekommen war, schoss er mit erhobener Waffe durch die Tür.

Unvorsichtig, aber voller Tatendrang.

Doch da war niemand. Das Foyer war leer und abgesehen von seinem Auto vor dem Eingang war weit und breit keine Spur von den Dieben. Sie waren also Richtung Dach geflüchtet. Und Percy war alleine da oben. Sofort machte Milten wieder kehrt, steckte seinen Revolver im Rennen in das Holster und sprintete so schnell er konnte die Treppe empor. Zwischen dem siebten und neunten Stock hörte er Schüsse. Percy rief etwas Unverständliches, dann wurde es still.

Als er das Dach erreicht hatte, atmete er schwer. Milten zog seinen Revolver und versuchte, die Kontrolle über seine Atmung wiederzubekommen. Wenn er gleich den Abzug drückte, kam es auf eine stille Hand an.

Milten atmete langsam ein und wieder aus. Ein und wieder aus. Dann spannte er den Hahn seines Revolvers und schritt die letzten Treppenstufen langsam empor. Die Tür stand halb offen. Vorsichtig, um auch ja keinen unnötigen Lärm zu verursachen, machte er die Tür vollends auf. Jegliches Knarzen konnte ihn verraten und das Feuer womöglich in seine Richtung lenken.

Die Tür gab die Sicht frei. Milten wurde bereits erwartet. Eine Frau hielt Percy ihre Waffe an den Kopf, bereit, ihn sofort zu erschießen. Sie hatte kringelförmige Ohren und von ihrem Bauch starrte Milten eine kleine Kreatur entgegen. Hinter ihr warf ihr Kollege die Kisten mit den Büchern auf ein benachbartes Dach. Die Frau drückte ihre Waffe fester an Percys Kopf. „Lass die Knarre fallen oder das Erdmännchen hat gleich ein Loch im Kopf.“

„Percy?“, rief Milten und zielte durchs Visier. Er wartete auf die Schussfreigabe.

„Nur wenn du dir sicher bist, dass du ...“

Der Abzug wurde betätigt, der Bolzen vollführte den Hammerschlag und die Kugel explodierte aus dem Lauf und setzte sich im Fleisch fest.

Percy konnte sich befreien. Die Angeschossene griff sich unter Schmerzen an ihren Bauch, die Pistole hing schlaff in ihrer Hand. Blut quoll aus dem Kopf der kleinen Kreatur hervor.

Percy sammelte seinen Revolver wieder auf und richtete ihn augenblicklich auf seine Angreiferin. „Ich meinte eigentlich, drück nur ab, wenn du sie auch wirklich erwischst.“

„Hab ich doch“, sagte Milten und zielte auf den anderen Bücherdieb, der die Hände sofort anhob. Eine schwere Kiste Bücher fiel ihm auf die Füße.

„Du hast ihr in den Bauch geschossen. Was, wenn sie aus Schreck abgedrückt hätte?“

„Hat sie aber nicht. Beruhige dich!“

Percy ließ seine Waffe sinken und drehte sich zu Milten um, der sofort seinen Revolver zwischen der Frau und dem Mann hin und her schwenkte.

„Ich soll mich beruhigen? Milten Greenbutton“, sagte er in ernstem Ton und stemmte die Vorderpfoten in die Hüfte. „Das ist genau das, was ich gemeint habe. Und ich bin's leid, wie dein gesetzlicher Vormund zu klingen, scheiße noch eins!“

Die Frau schrie vor Schmerz und riss ihre Pistole nach oben.

Ein Abzug wurde dreimal gedrückt und weitere Kugeln sausten über Percys Kopf hinweg in die Brust der Frau. Die taumelte rückwärts, und kippte über den Rand des Dachs in die Tiefe.

Milten zielte wieder auf den Mann, der immer noch mit erhobenen Händen da stand. Fassungslos sah er seiner Kollegin hinterher.

„Großartig, Milten“, sagte Percy, „einfach großartig.“ Das Erdmännchen warf die Vorderpfoten in die Luft. Dann verstaute er seinen Revolver.

„Sie hätte dich erschossen“, verteidigte sich Milten.

„Und deine beste Lösung dafür war, einfach draufzuhalten? Was wurde aus anschießen, aber nicht erschießen? Wir haben abgemacht, niemand einfach nur über den Haufen zu knallen.“

„Ich ... sie hätte“, stammelte Milten.

Percy gestikulierte ihm, sich zu entspannen. „Lass gut sein. Du hast ja recht. Trotzdem, jetzt ist sie für ein paar Bücher draufgegangen. Hey, Holzkopf“, sagte Percy zu dem Mann mit den erhobenen Händen, „hat es sich gelohnt?“

Er schüttelte wie wild den Kopf.

„Na, das will ich wohl meinen“, sagte Percy. „Leg ihm Handschellen an. Ich melde alles der Zentrale. Wir brauchen einen Krankenwagen und jemand mit einem großen Spachtel, der die Frau mit den runden Ohren von der Straße kratzt.“

„Was war sie, Percy?“

„Sah aus wie ein Autorus Fantasticus, ein Vielschreiberling. Die meisten von der Art verdienen ihren Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Büchern und nicht mit dem Diebstahl solcher. Sehr merkwürdig. Hey, Kollege, wie hieß sie?“

„Sonia, Officer. Ihr Name war Sonia.“

„Arme Sonia“, sagte Percy und verließ das Dach, „das alles für ein paar Bücher, die sowieso bald im Laden stehen. Manche sind doch zu dumm.“

 

Nachdem Percy über Funk alles weitergegeben hatte, versammelten sich zahlreiche Blaulicht-Fahrzeuge vor dem Gebäude. Der angeschossene Dieb wurde vom Notarzt versorgt. Sein Komplize saß schon mit den Händen hinter dem Rücken im Streifenwagen. Milten wurde wegen des Gebrauchs seiner Dienstwaffe befragt und Percy betrachtete aus sicherer Distanz, wie Sonia von der Straße gehoben und in einen schwarzen Plastiksack gepackt wurde. In seiner Hand hielt er einen kleinen Pappbecher mit schwarzem Kaffee.

Die Nacht war lauwarm und bald vorüber. Genau wie dieser Fall.

„Alles in Ordnung?“, fragte eine tiefe Stimme von hinten.

Percy drehte sich um und erkannte Captain Joe Thursday, der Chef der Abteilung, der er und Milten unterstellt waren.

Sein Schnauzer war umgeben von einem stoppeligen Gesicht. Die Augen sprachen Bände über den Schlaf, den er bald nachzuholen hatte. Es war das Gesicht eines überpflichtbewussten Vorgesetzten, der um sieben ein- und um sechzehn Uhr ausstempelte, dann aber doch noch bis zehn Uhr in seinem Büro saß.

„Captain, was machen Sie hier?“

„Ich war zur Abwechslung mal auf dem Weg nach Hause, als ich über Funk erfahren habe, was hier vorgefallen ist. Als durchgegeben wurde, dass man dich als Geisel genommen hatte, wollte ich schnell vorbeisehen.“ Joe Thursday blickte sich um. Es war ihm wohl ein klein wenig unangenehm, in väterlicher Pflicht nach dem Wohlbefinden seiner Angestellten zu sehen, trotzdem kam er wohl einfach nicht drumherum. „Ich musste kurz herkommen, sonst finde ich die ganze Nacht keinen Schlaf.“

Percy lächelte matt und nahm einen Schluck von seinem Kaffee. „Lieb von Ihnen, Captain, aber ich bin in Ordnung. Das war nicht das erste Mal, dass mir jemand eine Waffe an den Kopf gehalten hat.“ Percy seufzte. „Und es wird wohl auch leider nicht das letzte Mal gewesen sein.“

Der Plastiksack wurde in den Leichenwagen verladen, und ein zweiter Mann schloss die Türen hinter der Verstorbenen. Percy hatte schon viele Bestatter gesehen, die im Auftrag der Stadt unterwegs waren, aber diese beiden kannte er nicht.

„Eine Schande“, sagte der Captain.

„Das stimmt, aber er hatte keine Wahl.“

„Wusstest du, dass sie geschrieben hat?“

„Tun das nicht alle Vielschreiberlinge?“

„Wohl schon, aber die hier war eine ganz Besondere. Ich kenne ihren Namen. Sie hat in jüngeren Jahren Spaßkarten verfasst. Sie wissen schon, diese Dinger mit den lustigen Sprüchen, die man sich an den Kühlschrank hängt. Meine Frau und ich haben eine mit einem Hund, die sagt: „Wuffs going on?“ Der Captain lachte kurz auf. „Irgendwann gab es keine neuen Karten mehr, sie hatte einfach aufgehört. Wir haben immer mal wieder in dem kleinen Laden nachgefragt, der ihre Karten führte. Ihr Name hat mich sofort hellhörig werden lassen. Was sie wohl dazu bewegt hat, an so einem krummen Ding teilzunehmen?“

„Wir werden es herausfinden, Captain, zwei von dreien sind noch am Leben. Und bevor diese Nacht rum ist, werden wir sie ausquetschen.“

Joe schaute hinüber zu Milten, der sein Statement abgegeben hatte. Der Mann von der Internen Abteilung klopfte dem Detective auf die Schulter, klappte sein Notizbuch zusammen und ließ ihn alleine stehen. Milten schien nicht bemerkt zu haben, dass der Blick des Captains auf ihm haftete. Er lehnte sich auf eine Autohaube und legte sich die Hand über die Stirn, als wolle er sagen, ich habe genug für heute.

„Geht es ihm gut?“

„Um ehrlich zu sein, nein. Er hat ganz schön viel durchgemacht in den letzten Monaten. Hat zum ersten Mal Tote gesehen, war in einer Beziehung, die mit 100 Sachen gegen die Wand gefahren ist.“

„War es das erste Mal, dass er auf jemanden geschossen hat?“

„Das erste Mal mit Todesfolge.“

„Verdammt.“

„Der wird schon wieder, Milten ist ein zäher Kerl. Der verdaut das und steht morgen wieder da wie neu.“ Percy wusste, dass das gelogen war. Milten war weder zäh noch sonderlich gut darin, Dinge schnell zu verarbeiten. Die Trennung schleppte er seit Monaten mit sich herum. Sein Frust und seine Lustlosigkeit hatten sich in seinem vernachlässigten Äußeren manifestiert. Aber er würde bestimmt nicht den eigenen Partner schlecht aussehen lassen, erst recht nicht, wenn es sich dabei um einen Freund handelte. Percy schaute zu Milten hinüber. „Ich werde mich um ihn kümmern, Captain, machen Sie sich keine Sorgen.“

„Wenn du das sagst, Percy. Ich erwarte morgen einen ausführlichen Bericht.“

Percy ließ den Captain stehen und ging hinüber zu seinem Partner. Die ersten Streifenwagen fuhren schon wieder davon. Die Spurensicherung war abgeschlossen und die Bücher sichergestellt. Milten bemerkte das Erdmännchen, das ihm seinen Kaffee anbot. Er lehnte ab. „Percy, meinst du, dass ich morgen aufwachen kann und wieder glücklich bin? Ich fühle mich schon so lange ... unvollständig. Es ist, als ob mir nichts mehr Spaß macht. Kein Schluck, kein Schlaf, keine Berührung, nichts hilft. Ich bin andauernd unzufrieden.“

„Seh es mal positiv, absolute Zufriedenheit ist weitaus unangenehmer.“

„Wie meinst du das?“

„Was jedem zu spät bewusst wird, ist, dass das eigentlich Schöne das Verlangen ist, nicht die Befriedigung des Verlangens. Verstehst du, was ich meine?“

„Nicht wirklich.“

„O. k., pass auf. Sagen wir, du willst unbedingt deine Exfrau zurück, richtig?“

„Richtig!“

„Und genau darin liegt das Problem. Tief in deinem Inneren weißt du, dass es einen Grund gibt, warum ihr euch getrennt habt. Auf irgendeiner Ebene seid ihr nicht miteinander kompatibel. Und deshalb seid ihr nicht mehr zusammen. Wenn du sie wiederbekommst, wirst du, oder sie, irgendwann unglücklich und alles geht wieder erneut in die Brüche. Du verlierst also Zeit deines Lebens, in der du nach deinem eigentlichen Glück suchen könntest.“

Miltens Blick zeigte Einsicht.

„Glaub mir, Milten, überleg dir im Leben gut, was du willst. Zu viele wollen Geld und haben keine Ahnung, was sie damit eigentlich kaufen wollen. Andere suchen nach der perfekten Liebe, brauchen aber lediglich etwas Gesellschaft. Der ein oder andere wäre mit einem Hund oder einer Katze gut bedient. Körperliche Verlangen sind ... einfach zu stillen. Die wenigsten wissen, worin ihr Glück eigentlich besteht. Deshalb wissen sie gar nicht, wonach sie überhaupt suchen.“

Milten starrte auf den Boden. Percy erkannte, dass er zwar einiges erklärt, ihn dabei aber kein bisschen aufgemuntert hatte. „Was hältst du davon: Wir verhören jetzt die zwei, die du nicht erschossen hast, anschließend holen wir uns einen Burger?“

„Du bist gemein“, sagte Milten und lächelte.

„Na komm“, sagte Percy und winkte ihn zu sich. „Wir können uns die Hamburger auch gleich besorgen. Immerhin haben wir beide nichts zu Abend gegessen.“

„Was glaubst du, was hinter dem Diebstahl steckt?“

„Das Gleiche wie immer. Verzweiflung, Geldsorgen, Aussichtslosigkeit.“

 

2

 

 

Percy betrat den Verhörraum. Milten schloss die Tür hinter sich. Der Raum hatte schon alles gehört, was es an Grausamkeiten und Verbrechen gab. Und die abblätternde Farbe an den Wänden machte jedem klar, dass es hier nicht darum ging, Gemütlichkeit zu verbreiten. Hier wurde geredet. Was gesagt wurde, konnte Leben verändern. Der Verhörraum war die Zwischenstation jedes Kriminellen. Und wer nicht gesprächsbereit war, landete oftmals an einem Ort, der noch um einiges grässlicher war.

Milten setzte sich gegenüber einem Mann, den sie nach eigener Aussage (und seinen Papieren) als Earl Gros identifiziert hatten. Er zog das Notizbuch aus dem Halfter um seinen Gürtel, breitete es vor sich aus und zückte den Bleistift hinter seinem Ohr. Percy lehnte hinten in der Ecke und kaute an einem Schokoriegel.

„Earl, woher wusstet ihr, dass die Bücher in dem Bürogebäude gelagert wurden?“

„Wir haben geraten.“

„Geraten?“, sagte Milten mit gespielter Verwunderung. „Bravo, Earl, da habt ihr wahrlich hervorragend geraten. Sag mir, wenn du raten müsstest, was passiert, wenn du mir weiterhin auf die freche Art kommst. Würdest du raten, dass mein Partner dich hier auf seine freche Art um Antworten bittet, oder glaubst du, dass wir dich einfach gehen lassen? Earl, was meinst du? Rate doch mal.“

Earl schaute zu Percy. Der hatte seinen Schokoriegel aufgegessen und machte auf dem Boden Liegestütze. „Was macht der da?“

„Ich hab keine Ahnung, Earl, was glaubst du, was er macht?“

„Was habe ich davon, wenn ich unsere Quelle verrate?“

„Das weiß ich nicht, Earl. Aber ich sehe so einiges, das du verlieren könntest, wenn du uns Informationen vorenthältst. Deine Freiheit zum Beispiel, aber lange davor, hier und heute wäre da noch deine Gesundheit. Und, Earl, was bleibt uns schon noch, wenn die Gesundheit nicht mehr stimmt, hab ich nicht recht?“

Detective Percy war wieder auf den Beinen und boxte jetzt in die Luft. Er versetzte seinem Gegenüber zuerst ein paar harte Schläge in die linke Niere, tippelte zurück und wich einem Schlag aus. Dann begann, er im Dauerfeuer seiner Fäuste die Magengegend seines luftigen Gegners zu bearbeiten. Earl starrte wie gebannt auf das kämpfende Erdmännchen. Er war gerade mal 1,20 m groß, aber zuschlagen konnte er ordentlich. Kräftig war er auch. Es war mitten in der Nacht, wenn die beiden Detectives auf ihn losgehen würden, konnte kein anderer Bulle die zwei zurückhalten. Welche Option hatte er schon noch?

„Sein Name ist Eddie, Eddie, die Plastikschnauze. Er betreibt eine Pfandleihe in der Innenstadt.“

„Sehr gut, Earl, danke dir. Damit sind wir hier auch schon fertig.“ Milten notierte den Namen in sein Notizbuch und schlug es zu.

„Kann ich jetzt gehen?“

„Gehen? Wohin denn?“, fragte Milten mit gespielter Überraschung.

„Nach Hause?“

„Earl, davon war nie die Rede. Du kommst wie jeder andere vor den Richter und der entscheidet, was mit dir passiert.“

Darauf wusste Earl nichts zu sagen. Die Taktik hatte ihn überrumpelt. Milten und Percy verließen den Raum. Draußen klopfte der Erfinder seinem Partner auf die Schulter.

„Gut gemacht, Percy.“

„Wie bitte?“, sagte das Erdmännchen verdattert.

„Dein kleiner Schattenboxkampf da drin hat ihn mächtig verunsichert.“

„Schattenboxkampf? Tut mir leid, ich hab dir gar nicht richtig zugehört.“

„Du hast mir gar nicht zugehört?“

„Das mache ich doch nie. Du bist der Bessere von uns beiden, wenn es ums Verhör geht. Ich reagiere, wie sagt der Captain so schön, zu impulsiv auf die Verschwiegenheit des Verdächtigen. Was hast du rausbekommen?“

„Einen Namen, der Besitzer einer Pfandleihe. Er hat Earl gesteckt, dass die Bücher in dem Bürogebäude gelagert werden.“

„Wollen wir gleich vorbeischauen?“

„Natürlich, Typen wie der haben auch bei Nacht noch offen. Da wird das richtige Geschäft doch erst gemacht, wenn die Leute verzweifelt sind und die Langfinger den Tagesumsatz abholen. Und danach ist Schluss für heute. So langsam kommt ein Wunsch in mir auf. Und zwar diesen Bart loszuwerden und mich zu duschen.“

Percy blieb stehen. „Na endlich.“

 

Auf der Fahrt in die Innenstadt lief das Autoradio. Das Zentrum der Stadt war ein hartes Pflaster.

Bimbeldove konnte, was die Kriminalitätsrate anging, in Ringe eingeteilt werden. Je weiter man ins Innere vordrang, desto größer war die Gefahr, Opfer eines Verbrechens zu werden. Die Innenstadt? Hier stank sogar schon die Gemüse-Abteilung im Supermarkt nach Bier und Pisse. Aber wenn man es sich leisten konnte, in einem der äußeren Ringe zu leben, hatte man einen schönen Garten und ein nettes Haus nebst Nachbarn, die morgens freundlich grüßten.

Es wirkte, als hätte die Stadt ihre guten Seiten nach außen gekehrt, um nicht gleich zu zeigen, was für aussichtslose Verhältnisse wirklich vorherrschten.

Milten arbeitete innerlich an Dingen, die er an sich verändern wollte. Percy fragte sich, was den plötzlichen Gemütswandel in seinem Partner ausgelöst hatte. Aber konkreter Grund hin oder her, er war dankbar, dass er stattgefunden hatte. Milten gab ein jämmerliches Bild ab und auch wenn das Erdmännchen zu allen Tageszeiten mit Sonnenbrille und gelegentlich mit ungekämmtem Fell auftrat, war Milten eine echte Zumutung. Er zog einen Mief hinter sich her, dass man meinen könnte, der Erfinder würde nicht auf Percys Couch, sondern in seinem Mülleimer nächtigen. Noch so eine Angelegenheit, an der es zu arbeiten galt: Miltens Wohnsituation. Seitdem er sich von seiner Frau getrennt hatte, lebte er auf Percys Couch. Damit hatte das Erdmännchen keine Probleme, ganz im Gegenteil. Zwischen den beiden hatte sich eine starke Freundschaft entwickelt und Percy war froh, jemanden zu haben, mit dem er seine Freizeit verbringen konnte und der auch mal den Abwasch übernahm. Milten war anfangs ein angenehmer Mitbewohner gewesen. Er räumte auf und kochte hin und wieder. Beide blieben nachts lange wach, spielten Videospiele und unterhielten sich. Milten war eine echte Bereicherung. Jedenfalls so lange, bis aus der Trennung auf Probe ein Briefträger mit Scheidungspapieren wurde. Ohne ein letztes Mal Luft zu holen, tauchte er in seinem Selbstmitleid ab. Als Grund für die Scheidung nannte Melody Miltens unvorhersehbaren Drang, an Ideen zu arbeiten, die ihn nächtelang ans Zeichenbrett oder den Computer fesselten, wo er Tabellen erstellte und Rechnungen durchführte, die ins Endlose zu laufen schienen. Percy hatte ihm dafür in seiner Wohnung einen eigenen Raum überlassen. Sollte er doch machen, was er wollte. Nur weil er gerne Zeit mit sich selbst verbrachte, fühlte sich Percy noch lange nicht von ihm vernachlässigt. Daher konnte er auch nicht nachvollziehen, wieso Melody irgendetwas in der Richtung empfunden hatte. Erst recht, wenn diese komische Frau sich gleich mehrere Kerle hielt.

Möglich war natürlich, dass Milten lieber Zeit mit seinen Erfindungen verbrachte anstatt mit seiner Partnerin. Vielleicht war ihm die Idee der Ehe lieber als die tatsächliche Realität, darin zu leben. Und Percy kannte auch Miltens negative Seiten. Oft kam es vor, dass er ihn morgens einsammeln musste, weil er nicht pünktlich auf der Polizeistation aufgetaucht war. Und so gut wie jeden Tag murmelte er unterwegs vor sich hin und machte sich Notizen in seinen ständigen Begleiter: das Notizbuch an seinem Hosenbund. Inzwischen war das dicke Buch eine Ansammlung aus verrückten Ideen für Erfindungen und Notizen, die zu ihren Fällen gehörten. Nur noch Milten konnte das Gekritzel wirklich auseinanderhalten. Der Erfinder war ein guter Detective, aber seine Gedanken flossen gleichzeitig in zu viele Richtungen und manchmal hatte Percy das Gefühl, dass dann zu wenig von Milten an einem Ort war, um zu funktionieren. Aber bald würde Ordnung in Miltens Leben einkehren, dafür würde Percy schon sorgen.

Das Erdmännchen schaute zu ihm herüber. Milten saß auf dem Beifahrersitz und machte sich über sein Notizbuch gebeugt einen Vermerk. Jedenfalls glaubte Percy das. Denn Milten kritzelte auf Seiten herum, die schon bis zum Rande vollgeschrieben waren. Dann blätterte der Erfinder zwei Seiten vor, machte eine Notiz, zehn Seiten zurück und zog ein paar Kreise um ein ganz bestimmtes Wort. Es schien, als befinde sich in seinem Kopf ein Inhaltsverzeichnis, von dem nur er wusste.

„Woran arbeitest du gerade?“, fragte Percy und parkte seinen 68er Mustang vor der Pfandleihe.

„Ein Roboter, der den Leuten helfen soll.“ Milten fertigte eine kleine Skizze an. Percy beugte sich vor und erkannte ein Gerät, das aussah wie eine Bowlingkugel mit Armen, die in der Luft schwebte.

„Wobei helfen?“

„Beim Rasieren. Ich nenne ihn Shave-O-Bot.“

Percy lächelte. Sei nett zu ihm, altes Erdmännchen, egal wie bescheuert seine Idee klingt. Er kann jetzt keine negativen Gedanken gebrauchen. „Das ist ein toller Name, Milten. Ich glaube nicht, dass es so was schon gibt.“

„Das könnte sie sein, Percy, die eine große Erfindung, die uns reich macht.“

Das Erdmännchen zog den Zündschlüssel ab und steckte ihn ein. „Bisher hast du meines Wissens nach nur ein riesiges Baggerrad gebaut, das abgebrannt ist. Als wir versucht haben, es als Kinderspielzeug zu vertreiben, haben sich mehrere Kinder daran Holzsplitter eingefangen und die Sache ging in Blutstropfen und Elterngeschrei unter. Dann hattest du die geniale Idee mit der Schokosahne-Kuh.“

„Eine gute Idee, musst du zugeben!“, verteidigte sich Milten.

„Ja, eine gute Idee, aber, Milten, die Welt ist ein wenig komplexer, als dass du eine Milchkuh mit Schokolade fütterst und sie dann durchschüttelst, um Schokosahne zu bekommen.“

„Aber es hat funktioniert!“

„Ja, es hat funktioniert. Bis die Kuh von dem ganzen Geschüttel direkt in die Schokosahne gekotzt hat.“

„Ich weiß, ich weiß“, sagte Milten und wollte gerade noch etwas hinzufügen, als ihn Percy unterbrach.

„Du weißt es und ich werde es nie vergessen. Dreißig Kühe auf der Weide, die einen haben sich übergeben, die anderen hatten explosive Diarrhö. Der Tierarzt hat es nachher liebevoll den Durchfall des Todes genannt. Ein paar von den Tieren sind mit Donnergetöse abgekackt.“ Percy schüttelte sich vor Ekel und lachte gleich darauf. „Der Geruch verfolgt mich noch immer in meinen Träumen. Dein Werbeslogan war auch nicht der beste: Frisch und braun, direkt aus der Kuh!“, Percy hob eine Augenbraue. „Der Slogan hat gepasst, nur dass das frische Braune nicht aus dem Euter kam.“

„Aber meine letzte Idee war doch ganz gut, oder? Das vollautomatische Gemüsebeet. Es hat sich selber bepflanzt und abgeerntet.“

„Das war sie, und weißt du was? Sie ist außerdem teuer. Sag mir, Milten, bevor wir dieses Gespräch beenden, denn meine Geduld ist fast so gering wie deine Verkaufszahlen, wie viele von den Gemüsebeeten haben wir bisher verkauft?“

„Eines.“

„Richtig. An meine Mutter. Und Erdmännchen essen selten Gemüse.“

Milten kratzte sich am Nacken. „Aber immerhin hat es funktioniert.“

„Es hat nicht wirklich funktioniert, Milten, es hat zu viel Geld gefressen und war ein wirtschaftlicher Albtraum. Bisher haben uns deine Ideen nur eins gebracht: die billigsten Lebensmittel und einen gekündigten Internetanschluss. Wir haben weniger Geld als eine Maus, die in einer Schuhschachtel lebt. Um ehrlich zu sein, wenn dem Mustang der Sprit ausgeht, müssen wir laufen.“

„Zahlt das nicht der Steuerzahler?“

„Der Steuerzahler zahlt für ein Fahrzeug, das er für angemessen hält. Nicht für den Spritverbrauch eines 68er Mustangs mit Turbolader und Oldtimerstatus.“

„Dann machen wir es so, wir bauen den Shave-O-Bot erst, wenn wir es uns leisten können. Einverstanden?“

Percy schüttelte den Kopf und öffnete leicht die Fahrertür. „Weißt du, wenn du deine Ideen nicht so gut verkaufen könntest, und ich bin mir sicher, dass die Donuts bei deinen Präsentationen etwas damit zu tun haben, würde ich nie und nimmer mein ganzes Erspartes in all deine Einfälle stecken. Aber du hast Glück.“

„Glück?“

Percy grinste. „Ich hab kein Geld mehr. Und du auch nicht, also was immer für ein Chaos deine nächste Draht-und-Schrauben-Kreation anrichtet, es wird uns noch eine Weile erspart bleiben. Zumindest bis uns ein unerwarteter Geldsegen trifft ...“

Milten nickte und stieg aus. Sie standen vor einem Laden, der den einfachen Namen Eddie's trug. Darunter besagte ein Schild, dass, wenn du es nicht brauchst, Eddie es dir abkauft. Percy erklärte Milten, dass er seine Dienstmarke wegstecken sollte, ihre Revolver ließen sie ebenfalls im Mustang zurück. Er hatte vor, sich Eddie ganz langsam anzunähern, ohne ihm gleich mit Blaulicht und Megafon in den Laden zu marschieren. Pfandleiher waren in der Regel vorsichtig, was Polizei anging, denn nicht immer war alles, was in ihren Regalen lag, geliehen, manches war geborgt worden. Und zwar nicht unbedingt mit dem Einverständnis des Eigentümers.

Milten öffnete die Türe und ließ Percy den Vortritt. Im Laden schlug ihnen der unverkennbare Geruch von billigem Teppichkleber entgegen, der sich mit Kellermief vermischte. Percy meinte sogar, die vielen Hände riechen zu können, die all die Dinge in den Regalen berührt hatten. Hier gab es alles: Fernseher, Fahrräder, teure Tennisschläger und sogar Minidisc-Player.

Ganz vorne befand sich ein Gitter, hinter dem der Pfandleiher mit Zigarre im Mundwinkel und einem fleckigen Unterhemd Zeitung las. Hinter dem Gitter machte er den Eindruck, als wäre er unantastbar. Und genauso musste sich Eddie auch fühlen, denn sein Leib war der einer Person, die den Großteil seines Tages damit verbrachte, zu sitzen und sich keine Sorgen zu machen. Bei Eddie handelte es sich um einen Findmeral. Eine Kreuzung aus Wildschwein und Mensch, die besonders gut darin war, Edelmetalle und Rohstoffe zu erschnüffeln. Darüber wie diese Kreuzung zustande kam, verlor man nur ungern ein Wort. Allerdings hatte dieser Findmeral keine Nase mehr. Percy erkannte, dass es sich dabei um eine Prothese handelte, die mit einem Gummiband in seinem Gesicht gehalten wurde. Daher wohl auch der Spitzname: Plastikschnauze.

„N’Abend, Eddie“, sagte Percy.

„Was willst du?“, gab der Findmeral zurück, ohne von seiner Zeitung aufzusehen.

„Ich bin auf der Suche nach ’ner Knarre, kannst du mir da helfen? Soll ein Revolver sein.“

Eddie faltete seine Zeitung zusammen und knallte sie neben sich auf den Tisch. Dann stand er auf und klappte eine der Vitrinen hinter sich auf. Er entnahm zwei Revolver, beide waren nicht geladen, und schob sie Percy in einem kleinen Fach zu, das ihm genau wie das Gitter, Abstand von seinen Kunden verschaffte.

„Danke, Eddie“, sagte Percy.

„Hundert Piepen das Stück, Munition verkaufe ich keine, dafür bin ich schon zu oft angeschossen worden. Kauf die Dinger oder lass es bleiben, also was ist?“

Percy hob den einen Revolver an. “Dieses Fügeisen nehme ich, weil es mir gefällt“, er hob den anderen Revolver hoch, „und diese Sargpetunie, weil zwei immer besser sind als eine.“ Das Erdmännchen legte beide zurück in das Fach. „Zum Mitnehmen bitte.“

Eddie verzog eine Lefze, dass Percy glaubte, er freute sich über den Umsatz. „Sag mal, Eddie, weißt du, wo ich ein Exemplar des neuen Booktian-Romans herbekomme?“

„Der ist noch gar nicht draußen.“

„Wirklich? Schade. Ich kann es gar nicht abwarten. Er ist mein absoluter Lieblingsautor. Da werde ich wohl wie alle anderen warten müssen. Um ehrlich zu sein, ich wäre bereit, noch mal so viel für das Buch zu bezahlen wie für die Knarren. Aber Geld spielt wohl keine Rolle, wenn man das Produkt einfach nicht bekommen kann.“