Mir auf der Spur - Gregor von Rezzori - E-Book

Mir auf der Spur E-Book

Gregor von Rezzori

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Beschreibung

Der Grandseigneur der europäischen Literatur flaniert durch sein Jahrhundert: nachdenklich, respektlos, geistreich und sehr amüsant. Wer den grandiosen Sprachkünstler Rezzori, den sanften Spötter, indiskreten Weltbürger kennt, weiß dass hier kein Geschichtsbuch anzukündigen ist. Es ist ein Buch der Geschichten und der Gesichter. Vor den Augen des Lesers erwacht ein knappes Jahrhundert zum Leben, voller Klugheit, Lachen, Leidenschaft, Hass, Massenwahn und Tod. Der Kosmopolit Rezzori, dessen Wurzeln in der alten Bukowina liegen, wo sich ein rundes Dutzend Völker, Glaubensbekenntnisse, Sprachen und historische Überlieferungen zu einer wahrlich multikulturellen Gesellschaft verbanden, erinnert sich für die kommenden Generationen.

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Seitenzahl: 505

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Gregor von Rezzori

Mir auf der Spur

© Nachlass Gregor von Rezzori

E-Book-Ausgabe © 2013 bei Hey Publishing GmbH, München

Originalausgabe © 1997 bei C. Bertelsmann Verlag GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Umschlaggestalltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-942822-26-8

-1-2-3-4-5-

Von Gregor von Rezzori zuletzt bei hey! erschienen:

Greisengemurmel

www.heypublishing.com

www.facebook.com/heypublishing

Was ich hier betreibe, ist Paläontologie. Urzeitforschung. Schon was gestern geschehen ist, entzieht sich ins Geschichtliche. Vorgestern ist blasse Vorgeschichte. Vorvorgestern ist Mythenland.

Das Jahrhundert rast seinem Ende zu. Wer es durchlebt hat, fand es schwierig, mit dem Wechsel des Epochengeists Schritt zu halten. Erzählt er davon, so begibt er sich ins Reich der Schamanen. Er beschwört den Spuk von Wirklichkeiten, die unwirklich geworden sind.

Zeit ist das Verrieseln des Lebendigen. Aus ihr herauszuhören ist allein das Murmeln der Nomen. Wir stammeln dem nach, was davon in unserem Blut mitrauscht. Wir lauschen ins Blut, das mit unserer Zeit verflossen ist.

»Wehmütig grüßt der, der ich bin, den, der ich hätte sein können.«

Kollege Kierkegaard,

Es war einmal ein Tag, da wollte ich einen Blick in die Zukunft tun. Einen winzigen nur, allerdings. Nach einigen vorangegangenen Einblicken in das, was doch demnächst Vergangenheit sein sollte, bin ich nicht mehr neugierig auf morgen. Das Kommende kommt, habe ich gelernt. Das Geschehende geschieht. Es geschieht mit mir über mich hinweg. Es läßt mir kaum Entscheidung über den nächsten Augenblick. Ich weiß: Dieser nächste Augenblick – jedernächste Augenblick - birst vor Fatalität. Was immer ich nach Gutdünken wähle, wird Folgen haben, deren Wendungen ich nicht voraussehe. Sie werden mitbestimmt von der Zeit. Sie verlaufen darin, wie alles sich in der Zeit verläuft. Daß es gewesen ist, davon zeugt allein, was sich davon erzählen läßt. Die Welt ist ein ungeheuerlicher Speicher von erzähltem Wiedererzählbarem. Alles Gewesene ist gewesen wie die Saurier. Es war einmal.

An jenem fernen Tag war ich bedrängt von einem Wunsch und mußte wissen, ob er in Erfüllung gehen würde. Es war der Wunsch, einen Schritt aus Deutschland hinauszutun. Nach Deutschland war ich geraten wie in eine Falle. Das Zeitgeschehen hatte mich hingeschwemmt. Gestrandet war ich in Hamburg an der Elbe. Dort gehörte ich nicht hin. Ich war's nicht, der dort unter meinem Namen, mit meiner Nase, meinem blauen Blick, meinen besonderen unvermerkten Merkmalen und in meinen Kleidern herumlief; und war doch erst recht auf mich festgelegt. Mir war nicht wohl in meiner Haut. Ich verspürte das Bedürfnis, aus mir heraus zu mir zurückzufinden. Es lag aber nicht in meiner Macht, anderswohin zu gehen und wieder in meine alte Haut zu schlüpfen. Sie war mir abhanden gekommen. Später habe ich versucht, mir einige ihr ähnliche umzulegen. Es waren Verkleidungen. Das Kostüm paßte nicht zur Epoche. Damals erst recht nicht.

Ich trat in der Verkleidung eines Familienvaters auf. Ich hatte Weib und Kind. Dabei konnte ich nichts und hatte keinen Pfennig in der Tasche. Es herrschte noch, was ich »die Eiszeit der Eisenmänner« nannte. Zwar klirrte es nicht mehr von Eis und Eisen. Selbst der Frost war ausgezehrt. Die Helden seien müde, hieß es damals. Die Eisenmänner spien kein Feuer mehr aus ihren vielerlei Rohren. Sie warfen keine Bomben mehr auf die Schutthalden, die von den Städten übriggeblieben waren. Es hieß, das Gute habe übers Böse gesiegt. Die Sieger mußten die Besiegten bewachen. Die Eisenmänner waren noch überall im Land und hielten alle Grenzen zu.

Deutschland war mein Gefängnis. Ich war ein Staatenloser ohne Papiere. Nicht einmal solche, die zu erkennen gaben, wo ich beim Kampf des Bösen gegens Gute gestanden war. Ich war ein verdächtig Gesinnungsloser. Bestenfalls gehörte ich zu den Lauen, die Gott und andere Generalpächter des Guten ausspien aus ihrem Mund. Trotzdem hatten Wohlmeinende mir die Möglichkeit zugesagt, daß ich für eine Weile nach England könnte. Es war Frühjahr 1947. Ich sollte zeitweilig Ausgang aus dem Gefängnis ins Armenhaus haben.

Meine Ungeduld zu wissen, ob das wahr werden würde, war so groß, daß ich einen Mann aufsuchte, von dem es hieß, er könne die Zukunft voraussagen. Er war ein Astrologe und hieß Wolf. Seine Geschichte ist abenteuerlich. Mit einer Gruppe seinesgleichen – Magier, Astrologen, Pendler, Chiromanten, Kartenaufschläger – war er auf Sonderbefehl des Oberbösen Heinrich Himmler in das Gefängnis im Bendlerblock gesperrt gewesen. Das war ein ungewöhnlicher Aufenthaltsort. Der Krieg ging seinem Ende zu. Man war nicht langmütig mit Nutzlosen. Es sei denn, man konnte die Nutzlosen nutzen. Die Eingekerkerten verständigten sich untereinander durch Kassiber. Es stellte sich heraus, daß unter ihnen auch Historiker und Altphilologen waren. Ihnen hatte man ein riesiges Material zur Ausschlachtung gegeben: Aus dem gesamten deutschen und von Deutschland besetzten Raum die Akte inquisitorischer Untersuchungen von ketzerischen Alchimisten, Zauberern, von Hexenprozessen und Hexenverbrennungen. Es war nicht ersichtlich, zu was das führen sollte. Man vermutete, zu einem Angriff auf die katholische Kirche. Aber die Protestanten hatten mehr Hexen verbrannt. Die Magier und Wahrsager standen unter beständigem Verhör. Was man von ihnen erfragte, lief darauf hinaus, daß die Mannen Himmlers sich im Reich des Übernatürlichen umschauen wollten. Sie wollten zaubern lernen.

Sie wollten es zunächst für einen aktuellen Zweck: Ein-Mann-Unterseeboote sollten mit Helden besetzt werden, die nach dem Vorbild japanischer Kamikaze-Piloten zur Selbstaufopferung bereit waren. Wie waren die heranzubilden? Die Leier der nationalistischen Schlagworte war abgespielt. Mit Führer und Vaterland war kein Hund mehr hinterm ausgebombten Ofen vorzulocken. Der Geist mußte mit Geistigem mobilisiert Werden. Man sah sich bedenklich ins Mystische gedrängt. Nicht, daß das der nationalsozialistischen Weltanschauung widersprochen hätte. Aber die Durchführung gab Probleme auf. Selbst Yoga-Übungen der untersten Stufe ließen sich schwerlich ins preußische Exerzier-Reglement übertragen: »Auf den Nabel starrt!« Diejenigen von den unfreiwilligen Insassen im Bendlerblock, mit deren Angaben aus dem Reich des Übersinnlichen etwas anzufangen war, wurden weiter ausgebeutet. Der Rest war bald in weniger elitäre Endlösungs-Anstalten abgeschoben.

Herr Wolf machte auf sich aufmerksam, indem er eine gestellte Aufgabe geschickt löste. Man suchte den entschwundenen Mussolini. Die Italiener – Dolchstoß-Verbündete – hatten ihn als Duce und bündnistreuen Kriegsherrn abgesetzt und gefangen zu einem geheimen Ort entführt. Wo befand sich der? »So dürfen Sie nicht fragen«, sagte Herr Wolf. »Erst müssen Sie fragen: Werden wir ihn finden? Dann dürfen wir wissen, wo.«

Die Sterne beantworteten die erste Frage positiv. Herr Wolf stellte die zweite und nannte alsbald das Versteck. Allerdings zu spät, um Mussolinis Befreier, Oberscharmützelführer Skorzeny, bei der Aktion zu helfen. Der hatte das Versteck auf eigene Faust gefunden. Die Faust dürfte dabei geholfen haben. Indes war der Ort von Herrn Wolf so genau beschrieben worden, daß seine hellseherischen Fähigkeiten glänzend unter Beweis gestellt waren. Er rückte zum persönlichen Astrologen Heinrich Himmlers auf. Was er ihm als nächste Zukunft voraussagte, hat er nicht verraten. Erbaulich konnte es nicht gewesen sein. Keinesfalls hatte er damit dem Bösen gedient. Die siegreichen Guten erkannten das an und erteilten ihm Erlaubnis, weiterhin in die Zukunft zu schauen, was immer er dort erblicken sollte.

Auch ich durfte ihn nicht mit einer blanken Frage überfallen. Erst mußte er prüfen, ob der Augenblick einer Antwort günstig sei. Sein Schreibtisch stand voll von Sextanten, Astrolabien und anderem astronomischen Gerät. Er drehte und schraubte daran wie am Kommando eines Jules Verneschen Tiefseeboots. Hinter ihm an der Wand hing ein vielverschlungenes indisches Mantra. Zu seiner Rechten stach ein beturbanter Guru, in nebelig ineinanderfließenden Pastelltönen wie von Odilon Redon spiritualisiert, seinen Tollkirschenblick in die Augen des Besuchers, wo immer der auch stand oder saß. Durchs Fenster sickerte das anämische Licht eines Hamburger Spätwinternachmittags.

Herr Wolf hatte seine Instrumente eingestellt. Die Frage nach der Gunst der Stunde war beantwortet. Jawohl, ich durfte weiterfragen. Erst aber mußte mein Standort in den Sternen festgestellt werden. Noch war ich kosmisch nicht erfaßt. Auch dieser Behörde meldete ich die Daten meiner Geburt: 13. Mai 1914 zu Czernowitz, der ehemaligen Hauptstadt des ehemaligen habsburgischen Kronlandes Bukowina. In den frühen Morgenstunden, fügte ich genauigkeitshalber hinzu. Herr Wolf griff zu einer Art Rechenschieber und machte sich daran zu schaffen. »Da stimmt etwas nicht«, sagte er.

Alles andere hätte ich eher erwartet als diesen Satz. Er enthielt die Nabe meiner Hamburger Existenz. Sie drehte sich um meine Fragwürdigkeit. Aus dem Munde eines Hellsehers nahm das metaphysische Dimensionen an. Es war mehr in Zweifel gezogen als mein staatsbürgerlicher Zustand, mein gesellschaftlicher Status, meine Vergangenheit, meine charakterliche Beschaffenheit. Es ging nicht um die Aufklärung von Personaldaten wie: Sind Sie nun Rumäne, Italiener, Volksdeutscher? Wie kommt das »von« zum angeblich sizilianischen »Rezzori«? Sie schreiben das einmal mit einem Zet, ein andermal mit zweien – wieso? Wo waren Sie im Kriege? Wie kommt es, daß Sie nicht eingezogen waren? Was hat Sie nach Hamburg gebracht? Was sind Sie von Beruf? All das berührte nur die Oberfläche. Herrn Wolfs Stolpern über meine Undurchsichtigkeit legte einen inhärenten Stein desAnstoßes blank. Hier war mein Wesenskern aufgedeckt. War ich als ein Fragwürdiger geboren? Von Geblüt bezweifelbar? Hatte meine schiefe Lage im deutschen Raum mein eigentliches Wesen zutag gebracht? War's dann nicht unnütz, daß ich anderswohin strebte? Der Guru an der Wand bohrte seine Augen in die meinen.

»Was stimmt nicht?« fragte ich. Schließlich war nicht ich der Hellseher.

»Der Ort«, sagte Herr Wolf und werkelte an seinem zauberwissenschaftlichen Gerät. »Sie sind nicht wirklich dort geboren, aber Sie bewegen sich darauf zu.«

Damit war offenbart, was meine zartnervige Mutter ihr Leben lang zu vertuschen sich bemühte. Ich bin in einer Kutsche auf der Fahrt nach Czernowitz geboren. Die Familie meiner Mutter lebte damals auf dem Lande. Meine Eltern hatten noch keinen eigenen Hausstand eingerichtet: Weil mein Vater – beruflich, wie es hieß, aber mehr noch jagdlich – viel unterwegs war, meine Mutter wegen eines Nierenleidens (an das jedermann mit Ausnahme ihrer Ärzte glaubte) die längste Zeit des Winters in Ägypten verbrachte, den Sommer meist in der Schweiz, wuchs meine um vier Jahre ältere Schwester bei den Großeltern auf. Anfang Mai des Jahres 1914 hatte meine Mutter sich in ihrem Elternhaus eingefunden, um meiner Geburt wohluntergebracht entgegenzusehen. Das Datum war nicht genau berechnet worden. Als man sich entschloß, in die Stadt zu fahren, war's zu spät. Die Wehen stellten sich schon in der Kutsche ein. Ich nehme an, daß nicht nur meine Ungeduld es war, was mich so stürmisch ins Freie drängte, sondern auch die Schlaglöcher der Landstraße, die kaum von anderen Vehikeln benutzt wurde als den Bauernkarren zum Wochenmarkt. Sommers, allerdings. Im Herbst war sie eingeebnet in den Schlamm ringsum; im Winter im Schnee. Aber es war ja Mai. Begleitet war meine Mutter von ihrer Mutter und Fräulein Lina Strauß, ihrer und nachmals meiner Schwester und meiner Erzieherin. »The mess was indescribable«, sagte sie später, bei der Erinnerung erschauernd. Ich soll angefangen haben zu krähen, bevor der Wagen das Krankenhaus erreichte.

Herr Wolf nickte befriedigt, als ich ihm das erzählte. »Sie werden weiterhin viel auf Wanderschaft sein«, sagte er.

Damit waren wir wieder an der Oberfläche. Ich hatte Besseres von ihm erwartet. Ich fand die Symbolik schön: Das Herausdrängen aus der Enge, aus der beklemmenden embryonalen Rollmopslage, aus den Urwassern zur festen Erde, aus der Finsternis ins Licht des anbrechenden Tages. Mich bestach die Umkehrung der Mythe vom Erlkönig: Nicht der Tod wartet am Ende der Nachtfahrt, sondern das Leben. Die Nebel lichten sich, es tagt, Klarheit kommt auf. Oder auch platterdings biologisch: Nach dumpfer Durchwanderung zu neun Monaten abgekürzter Jahrtrillionen von Entwicklungsphasen vom Einzeller über die Amphibie zum aufrecht gehenden Vertebraten: zum Menschen. Der fragwürdigsten Kreatur der Schöpfung.

Ich habe einmal ein Wort geprägt, das allmählich Aufnahme in den allgemeinen Sprachgebrauch findet: Epochenverschleppung. Damit ist gemeint das anachronistische Überlappen von Wirklichkeitselementen, die spezifisch einer vergangenen Epoche angehören, in die darauffolgende. Nicht alle Erscheinungen haben das gleiche Trägheitsmoment. Manche bestehen über sich selbst hinaus. Sie erweisen sich dabei als Stimmungsträger, die nicht nur einzelne, sondern beinah alle über die tatsächlich bestehende Wirklichkeit täuschen. Das Gegenwartserlebnis läuft nebenher. Keiner lebt gänzlich im Jetzt und Hier. Die Kunst – wo sie nicht der Gegenwart vorausgeht – ist ein gefährlicher Helfer der Epochenverschleppung.

Damals in Hamburg, im fahlen Licht des Späteiszeitnachmittags, durch das die Augen des Fakir-Gurus an der Wand von Herrn Wolfs Orakelstube stachen, wurde meine Frage an die nächste Zukunft günstig beschieden. Ja, ich würde nach England fahren und zeitweilig Ausgang in die Freiheit haben. Ich muß gestehen, daß ich das auch als vorübergehende Erlösung von unzulänglich erfüllten Hausvaterpflichten auffaßte. Aber das gehörte zu meiner damaligen Unschuld gegenüber Verantwortungen. Ich hatte dergleichen nicht gelernt, es sei denn, es handelte sich um Hunde oder Pferde. Um Hunde brauchte ich mich nicht zu kümmern, geschweige denn um Pferde. Beide gehörten zu den Dingen einer Vergangenheit, die mythisch geworden war. Weib und Kind, um die ich mich jetzt hätte kümmern sollen, waren vorderhand versorgt. Die Zukunft war eine Angelegenheit der Zukunft. Ich fühlte mich vogelfrei. In der Tat war ich wenige Wochen später in Wilton Park bei Uxbridge, eine Bahnstunde von London.

Wilton Park, dereinst der Wohnsitz von Lord Beaconsfield, besser bekannt unter dem Namen Disraeli, war ein Umerziehungslager für deutsche Kriegsgefangene ideologisch neuigkeitsbereitwilliger Gesinnung. Das hieß: Sie nickten zur Frage, ob sie brave Demokraten werden und sich dazu umerziehen lassen wollten. Ihr Eifer war lau. Die Briten – alle auf Seiten des Guten, wie wir wissen – stützten sich auf einige gleichfalls aus den Reihen der Kriegsgefangenen rekrutierte feste Charaktere, die nach der Methode, wilde Elefanten mit zahmen zu bändigen, bei der Umerziehung helfen sollten. Es waren immer schon vom Ethos der Sozialdemokratie Durchdrungene, die nie dem Bösen nachgegeben hatten, indes vom Kriegsgeschehen mitgeschwemmt worden waren. Sie mochten ihren ideologisch anfälligen Schicksalsgenossen und Kameraden zum Vorbild dienen. Das gleiche erwartete man von einer Handvoll aus Deutschland hinzugezogener Intellektueller. Was ich unter ihnen zu suchen hatte, war nicht ersichtlich. Meine Kategorisierung von Gut und Böse hielt sich nicht an Staatsflaggen, militärisch Über- oder Unterlegene und politische Weltanschauungen. Außerdem war ich kein Intellektueller.

Aber da war ich nun einmal in Wilton Park und durfte Betrachtungen darüber anstellen, wie mein Hochgefühl als vorübergehend aus dem Gefängnis Entlassener sich zur Seelenlage der umzuerziehenden Gefangenen im Lager verhielt. Sie waren ausreichend ernährt. Sie trugen ihre eingefärbten Kriegsgefangenenklamotten mit Anstand. Man behandelte sie mit verständnisvollem Wohlwollen. Trotzdem fraß ihnen die Gefangenschaft an der Leber. Deutschland, dem ich entkommen war, erschien ihnen als sehnlichst herbeigewünschte Verheißung. Hunger, Kälte, Niedergeschlagenheit, graugesichtige Ergebenheit in die unbegreiflichen Folgen unbegriffenen Geschehens, ohnmächtiger Schicksalsgroll, hin und her gepredigter Haß schreckten sie nicht ab. Sie kannten das nicht als Alltag. Das mochten Kümmernisse sein, mit denen die Daheimgebliebenen sich auseinanderzusetzen hatten. Worunter sie litten, war die Erniedrigung. Die Entmachtung. Der Sturz aus dem todernst geregelten Herrendasein von Eisenmännern in die Lotterigkeit einer Herde von Geschlagenen hinter Stacheldraht. Wilton Park war nicht umzäunt von Stacheldraht. Es hatte den Charakter eines Hochschul-Campus. Doch so locker sie sich gaben – Hände in den Hosentaschen sie wurden den Mief des Kommiß nicht los. Sie rochen nach Kaserne. Und litten daran. Sie würden noch mehr darunter leiden, wenn sie demokratisch umerzogen nach Hause kämen. Aber davon wußten sie noch nichts.

Es würde ihnen auch nicht geholfen sein, hätte ich ihnen gesagt, daß dieser Mief die Alltagsatemluft in Deutschland war. Sie würden ihm auch zu Hause nicht entkommen. Er war von ihresgleichen dort eingeschleppt. Heimkehrer aller Art hatten ihn in die Kellerwohnungen und Nissenhütten der Daheimgebliebenen gebracht. Aber geradezu wie Hohn würde es geklungen haben, hätte ich dazu gesagt, daß das nicht das Schlimmste war. Was mir dort die Kehle zuschnürte, so daß ich oft mit dem Ersticken rang, war nicht allein der Mief geschlagener Soldaten und von der Heimatscholle Vertriebener, sondern dessen Grundsätzlichkeit. Ich kannte kein anderes Deutschland als eines, das nach Kaserne und Lager roch. Es schien mir, als gäbe es in Deutschland nur zwei Daseinsformen: Wächter und Bewachte. Selbst der siegreiche deutsche Landser hatte sie in sich vereint: Unter dem harten Blick vom Stahlhelmrand schlotterte der demütige Hosenboden. Was ich vermißte, war der Mensch dazwischen. Schabte man ein wenig an einem Uniformierten der Amis, Tommys, Iwans und wie sie alle hießen, so kam bald aus der Eisenmannhülle der Mensch zum Vorschein: gewalttätig oder friedfertig, klug oder dumm, freundlich oder unfreundlich, fröhlich oder traurig, jedenfalls menschlich. Schabte ich an einem Deutschen, so kam – wenn ich nicht gleich in den Finger gebissen wurde – ein Polizist oder ein weinerliches Opfertier zutage. Es fehlte die Mitte, die sie mit »Gott mit uns!« gürteten. Sie wußten das. Und sie empfanden es als Schuld. Es war nicht ihre Schuld. Das Geschehende geschah mit ihnen über sie hinweg. Manchmal hätte ich vor Mitgefühl weinen mögen.

Es war schon Frühling in Wilton Park. Jugendstilfrühling, wie mir scheinen wollte. Kärgliches Primelsprießen und Knospengestrotze, dafür um so mehr unbestimmtes Sehnen. Aber es kann sein, daß es mein privater Jugendstil war. Ich hatte ihn aus der Blütezeit meiner Eltern von der Jahrhundertwende in mein Kindheitserleben eingeschleppt. Es war ein englisch geprägter Jugendstil, der viel Präraffaelitisches enthielt. Gemäß der umgekehrten Erlkönig-Legende meiner Kutschengeburt lichteten sich darin leichte Nebel. Noch schien die Sonne nicht voll hindurch. Ich fand das bilderbuchperfekt im Waldbestand eines Golfplatzes, der an Wilton Park anrainte und in dem ich, Einsamkeit und Besinnung suchend, allmorgendlich vor Beginn der Umerziehungskurse mit geblähten seelischen Nüstern herumspazierte. Die Bäume waren wundervoll, urwüchsige Eichen und Erlen mit mächtig ausholenden Kronen, ohne Laub noch, die Äste zornig gewunden wie die Drachen, die in ihren Wurzeln nisteten. Denn es war nicht anzuzweifeln, daß dort Drachenbrut hauste, ein Geschlinge junger Jabberwocks: Es waren in der Tat die Bäume der Märchenbücher meiner Kindertage. Nichts, keine Realität hat sich so tief in mich eingegraben wie ihre Bilder. Es waren englische Kinderbücher, und die Bilder waren von Rackham, die Texte Märchenenglisch: 't was brillig and the slithy toves did gyre and gimble in thewabe… Also kam's mir vor, als wäre meine Kindheit englisch gewesen.

Natürlich war sie das nicht. Dank dem, was ich aus den Bilderbüchern herausträumte, vor allem aber: dank dem Epochengeist, den meine Eltern mit sich schleppten, war meiner Kindheit ein englisches Stimmungselement aufgesetzt. Ich war damit nicht allein. Die Welt war damals englisch. Noch herrschte England über große Teile aller Kontinente. Bewußt oder unbewußt lebte jedermann von Daressalam bis Minsk, von Königsberg bis Kalkutta englisch ausgerichtet. So wie heute jedermann amerikanisch ausgerichtet ist. England stellte die Leitmotive und Leitbilder der Zeit. Das Phrasenarsenal aller Nationen war englisch. »Right or wrong, my country!« hörte sich auf norwegisch ebenso erbaulich an wie auf serbisch. Die Alltagsformeln der Haushaltsethik waren englisch: »Fairness!« Was man tun und lassen sollte, hielt sich an den Kodex des übermächtigen englischen Mittelstandes: »A gentleman never lies steals cheats shouts runs wears brown pees over his fingers farts in polite society…« und so weiter. »A lady always… never…« und so fort. Die Männermode war englisch. Weltweit war das Inbild von Sonntagsstimmung ein picnic bei der Ruderregatta. Englische Weltneugier befeuerte den Jünglingsgeist: »Mister Livingstone, I presume!« Der Explorer, der Globetrotter im Tropenhelm, der White Hunter, den rechten Fuß neben dem Büchsenkolben auf den gefällten Bengaltiger gesetzt, waren Epochenideale. »Live up to them!« Die Hygiene folgte englischen Methoden: eiskaltes Wasser, Wurzelbürste, Pears soap, a good crisp walk, a nice cup of hot tea. Sport war englisch. Die charakterliche Erziehung war englisch: »Keep a stiff upper-lip!« Kaltblütigkeit, ehernes Selbstbewußtsein, unerschütterliche Festigkeit, souveräne Ignoranz waren von England vorgelebte Tugenden. Ein preußischer Diplomat – Militärattaché vor 1914 – hat seine Haltung gegenüber Engländern in die Worte gefaßt: »Also, vorm Briten bin ich mir immer vorgekommen wie vorm Vorgesetzten.« Noch Jahrzehnte nach 1914 hieß es: Ein hochzivilisierter Norddeutscher sieht aus wie ein gutklassiger Süddeutscher; ein hochklassiger Süddeutscher benimmt sich wie ein Österreicher; ein erstklassiger Österreicher erinnert an einen Engländer. Heute trifft man kaum noch auf einen Engländer, der an einen Engländer von damals erinnert.

Wilton Park und sonntägliche Ausflüge nach London haben diese typologische Liste noch vervollständigt. Es lag ja der dreißigjährige europäische Bürgerkrieg von 1914 bis 1945 dazwischen. Die Nationen waren einander ähnlich geworden. Die Klassen hatten eine Art Molekularerweiterung erfahren. Es war schwierig geworden, sie als Kategorien zu nehmen. Aber ein Bild blieb mir haften: Wir – die aus Deutschland dem Umerziehungswerk von Wilton Park Zugezogenen – waren kollektiv nach London gebracht worden, um Westminster Abbey und das Parlament zu sehen. Wir bestaunten namhafte Gräber, schütter besetzte Abgeordnetenbänke und Perückenträger, die als Amtsdienstboten die Würde des Hauses verkörperten. Draußen, vor dem Parlamentsgebäude, hatte sich eine Gruppe von Parlamentsmitgliedern eingefunden. Damals sahen sie noch aus, als gehörten sie allesamt ins Oberhaus. Unnachahmlich war ihr sonores Kehlkopfnäseln. Nicht nur, weil sie im Gespräch miteinander waren, sondern in der partiellen Blindheit des Klassendünkels beachteten sie uns nicht. Wir waren Luft für sie, wenn auch schlechte Luft: »A gentleman ignores social stench.« Ich verglich unser behirtetes Rudel mit ihnen. Einer der englischen Tutoren von Wilton Park, der uns leitete, hatte aus fragwürdigem Taktgefühl einen eingefärbten Kriegsgefangenenmantel angezogen. Wir andern waren in Nissenhütten-Zivil. Der Kontrast allein hätte die Edelmenschen auf uns aufmerksam machen sollen. Der Unterschied zwischen unserer Armenhauslotterigkeit und ihrer lavendelduftenden Eleganz sprang provozierend in die Augen. In Deutschland hatte man ihresgleichen seit den frühen Dreißigern nicht mehr gesehen; und selbst damals nur noch vereinzelt. Sie gehörten einer anderen Rasse an. Aber es waren nicht unsere schlechten Kleider, unsere ratlose Herdentiermiene, unser Lagermief von Männerschweiß, säuerlicher Brotvergärung, Krachfürzen und üblen Zigaretten, was uns von ihnen unterschied. Von einigen schwer zu definierenden, jedoch untrüglichen Merkmalen war abzulesen: Sie hatten uns ein Leben ohne Schmach voraus. Sie waren nie gedemütigt worden. Möglich, daß es auch in ihrem Dasein einiges gab, wofür sie sich hätten schämen müssen. In souveräner Ignoranz waren sie darüber weggegangen. Bewundernswert perfides Albion.

Ich dachte zurück an meine Kindheit. Damals waren sie unser Vorbild, aber auch unsere Feinde gewesen. Feinde meines Vaterlandes, also meine: Ich war ein österreichisches Kind. Österreich war Deutschlands Verbündeter. Ich liebte eine feldgraue Puppe, die »Der Deutsche Bruder« hieß. Trotz meiner Kinderbücher und nursery rhymes, die ich fröhlich nachplapperte, mußte ich die Engländer als Gegner ansehen. Die nursery rhymes brachte man mir heimlich bei: Wir waren nicht mehr in der Bukowina, sondern umgeben von Leuten, die unsere österreichische Gegnerschaft zu den Engländern grimmiger auffaßten als wir. Es waren niederösterreichische Bauern, nur zu willig bereit, alles feindlich Ausländische – und was sich damit identifizierte – mit Dreschflegeln von der Heimatscholle zu tilgen. Wir – meine Mutter, meine Schwester, deren Gouvernante und meine Kinderfrau – waren als Flüchtlinge bei ihnen untergekommen. Herrn Wolfs aus den Sternen bezogene Prophezeiung, ich würde zeitlebens viel auf Reisen sein, hatte sich längst als wahr erwiesen. Kaum war ich geboren, war der Erste Weltkrieg ausgebrochen. Die Russen – auch sie unsere Gegner, obwohl wir unsere russischen Freunde besonders innig liebten – gingenstürmisch westwärts vor. Wir mußten aus der Bukowina flüchten. Auch das ging in der Kutsche vor sich und brachte uns über den Bargâu-Paß (wo angeblich Draculas Schloß gestanden haben soll) zunächst nach Bistritz, von dort nach Triest. Wir blieben dort nur kurz in einem Sommerhaus meines Großvaters väterlicherseits. Dann erklärte auch Italien uns den Krieg, und wir mußten neuerdings davon. Freunde hatten uns ein Haus im Dorf bei ihrem Besitz nicht weit von Sankt Pölten als Asyl angeboten. Dort blieben wir bis 1918, kehrten dann heim in die Bukowina.

Ich will mich nicht mit Erinnerungen brüsten, die einem Vierjährigen kaum zuzutrauen sind. Aber ich habe mit Gewißheit in mir die Bilder eines Landes, das der Krieg durchwüstet hat. Soldatengräber längs der Strecke durch Galizien: schlichte Holzkreuze, aus Ästen gefügt, mit einem Ulanenhelm über dem Balken. Eins davon – mit einem Husarentschako gekennzeichnet – hätte unserem Vater gehören können. Ich weiß noch, wie sehr mich die unförmig aufgeblähten Kadaver von Pferden leiden machten: Aus ihren Augenhöhlen rieselten Ameisenschwärme wie blutige Tränen. Durchs Balkenwerk der Dächer von zerschossenen Häusern blaute der Sommerhimmel. Die Leere war beklemmend. Auch im Gutshaus unserer Großeltern mütterlicherseits, die in Wien geblieben waren, hielten wir's nicht lange aus. Mein Vater kam heil aus dem Krieg zurück und fand uns ein Haus fast ländlich vor dem Stadtrand von Czernowitz. Dort habe ich mich aus Kinderträumen und schmerzlichen Früherlebnissen zusammengefügt. Englischer Kinderseifenduft und blutige Sonnenuntergänge über dunklen Karpatenwäldern, Mythen und Märchen, verwunschenes Prinzendasein und Trauer ums ewiglich Verlorene flossen ineinander. Mein Gemüt wurde, was es heute ist. Melancholisch cholerisch.

Inzwischen ging die Zeit mit mir über mich hinweg. 1919 kam die Bukowina an Rumänien. Ich war bald kein österreichisches Kind mehr, das stolz auf seinen Kaiser sein konnte – denalten, gütigen, mit seinem Hausmeister-Backenbart und dem weißen Waffenrock mit der roten Schärpe, und den neuen, unglücklichen im schlichten Feldgrau. Ich gehörte fortan zu einer der Minderheiten des Königreichs Rumänien wie die Juden, die Ukrainer, die Russen Bessarabiens, die Sachsen und Ungarn Siebenbürgens. Sowenig das an unseren unmittelbaren Umständen änderte, wir begriffen doch: Wir gehörten fortan nicht mehr zu den Landesherren.

Merkwürdigerweise schlug uns das auf die Seite unserer ehemaligen Gegner. Wir waren Deklassierte nur in den Augen von Machthabern, die wir früher als minderwertig angesehen hatten. Wir faßten die Rumänen nicht als Nation, sondern als soziale Schicht auf. Sie gehörten für uns zu den Juden, den Ruthenen, Polen, Huzulen, Lipowenern und allem übrigen buntscheckigen Volk der Bukowina. Wir dagegen waren ihnen übergeordnet gewesen als politisch und kulturell Führende. Sie konnten uns politisch kaltstellen, nicht aber uns die kulturelle Ebenbürtigkeit mit den anderen großen europäischen Nationen absprechen. Engländer und Franzosen waren unsere eigentlichen Waffenbrüder in einem Klassenkampf, zu dessen ersten Opfern wir uns zählten.

Gefährlich war dabei, daß unsere Lebenshaltung immer noch der vorausgegangenen angepaßt war. Zwar war sie unvergleichlich weniger aufwendig als zuvor. Aber das Land war gesegnet, man lebte mit geringeren Mitteln. Im Vergleich mit der Anspruchslosigkeit des Volkes um uns traten wir immer noch als Herren auf. Das und das Bewußtsein, daß wir das nicht wirklich mehr waren, bewirkte eine Haltung, die aus Überheblichkeit und Minderwertigkeitskomplexen zusammengesetzt war.

Natürlich beherrschte der Krieg meine Traum- und Spielwelt. Immer noch war die Stimmung dramatisch. Die öde Landschaft, die zerstörten Gehöfte, die Schützengräben kreuz und quer in der geschundenen Erde lagen schwer auf unserem Gemüt. In den ersten Tagen des Regimewechsels war es zu wüsten Szenen gekommen. Noch hatten die Rumänen die Stadt nicht besetzt. Sie warteten davor – es hieß: weil die Soldaten keine Schuhe hatten. Inzwischen plünderte der Mob die Verpflegungsmagazine der verlassenen österreichischen Kasernen. Unser Haus lag in der Nähe der einen. Ich habe anderswo beschrieben, wie ich nachts geweckt wurde:

Randalierende Horden zogen vorbei und hätten bei uns einfallen können. Die Hände meiner Kinderfrau, die an meinen Knöpfen nestelte, um mich anzuziehen, zitterten ebenso wie die meiner Mutter, die Schmuckstücke versteckte, und die der Hausangestellten, die mein Vater zu unserer allfälligen Verteidigung mit Pistolen ausgerüstet hatte. Niemandem gelang es, das ohrenbetäubende Gebell der Hunde zur Ruhe zu bringen. Es konnte der Wut der Plünderer eher auf uns ziehen als sie abschrecken.

All das lag meiner Kindheit zugrund. Ich spreche von mir allein, denn meine um vier Jahre ältere Schwester war mir bald entwachsen. Sie mochte ihre eigenen Kriegsnarben haben. In dem Kokon, in den die manische Ängstlichkeit unserer Mutter uns eingesponnen hielt, hatte jeder von uns seinen Bereich der Einsamkeit. Meine Schwester als Musterzögling ihrer Gouvernanten war bei ihren Büchern. Ich spielte in meinem Winkel mit den Zinnsoldaten, die wir im geplünderten Landhaus meiner Großeltern gefunden und mitgenommen hatten. Sie hatten meinem Onkel Rudolf gehört und stammten aus der Zeit des Burenkriegs und des russisch-japanischen Konflikts zu Anfang des Jahrhunderts. Aber auch französische Kolonialtruppen waren dabei. Ich hatte alle unsere Feinde um mich versammelt. Ich konnte sie nicht hassen. Wenn ich an sie als Gegner dachte, stellte ich sie mir tapfer und großmütig vor, weil damit die Heldentaten der Unseren nur um so glänzender erschienen. Es war ein ritterlicher Kampf. Nie kam's mir in den Sinn, die einen als die Guten, die anderen als die Bösen aufzufassen. Das war späteren Waffengängen Vorbehalten. Ohne Schuldgefühl und Erniedrigung durch den Sieg der anderen über uns, trauerte ich dem Ende unseres glorreichen Österreich und seines Kaiserhauses ebenso nach wie dem schrecklichen Los des russischen. Meine Liebe zum »deutschen Bruder« in Feldgrau mit der schwarz-weiß-roten Kokarde an der schirmlosen Rekrutenmütze konnte ich mühelos vereinen mit meiner Bewunderung für die Rotröcke Lord Kitcheners. Ich hatte mich längst aus Flandern und von der Somme zurückgezogen. Trommelfeuer war nicht nachzuspielen. Ich kämpfte gegen den Mahdi bei Omdurman und mit der Fremdenlegion gegen die Rifkabylen. Am liebsten aber stellte ich die kleinen zinnernen Eisenmänner in großen Paraden nebeneinander auf. Dazwischen sang ich »Marlborough s'en va-t-en guerre, miroton, miroton, mirotère…«, »Frère Jacques, frère Jacques, dormez vous« und »Hididdlediddle, acat and a fiddle, and the cowjumps over the moon«.Dazu kamen die Märchen meiner Kinderfrau, etwas Lesen und Schreiben und mehr Englisch und Französisch. Nichts, was der Wirklichkeit von Czernowitz im Jahre 1922 entsprochen hätte. Als ich acht Jahre alt war, trennten sich meine Eltern, und ich kam nach Kronstadt in Siebenbürgen.

Die Umerziehungskurse in Wilton Park wurden wie Schulklassen abgehalten. Sie riefen mir die hassenswerteste der Nötigungen meiner Adoleszenz zurück. Allerdings war ich derlei Emotionen entrückt durch die Ironie, die ich mir inzwischen zur Selbsterhaltung anerzogen hatte. Die Schulklassen in Wilton Park waren Parodien. Unempfindlich geworden im Stumpfsinn des Lagerlebens mit und ohne geistige Zwangsbeschäftigung saßen drei Dutzend Männer, die gestern noch das Weiße im Auge des Gegners gesehen hatten – oder wenn nicht das, so doch jedenfalls das von Verängstigten im feindlichen Feuer –, wie ABC-Schützen in Pultreihen und schauten mit entleerten Mienen zu den sogenannten lecturers am Vortragspodium auf, um die Milch der demokratischen Denkweise in sich einströmen zu lassen.

Unsäglich zäh verlief die Zeit, die draußen, vor den Barackenfenstern, Frühlingswölkchen über den lichten Himmel treiben ließ. Wir, die aus der Heimat zugezogenen Eierköpfe – Journalisten, spätere Sozialfürsorger, beurlaubte Oberlehrer, potentielle SPD-Funktionäre –, waren proportional und qualitativ entsprechend auf die Kriegsgefangenen verteilt. Akademiker kamen in geistig höherstehende Klassen. Leute meines mehr allgemeinen Bildungsgrades teilten den Halbschlaf der Simpleren.

Indes kamen auch bei uns allerlei heikle Themen zur Sprache. Eins davon war der Unterschied zwischen Kultur und Zivilisation. Ein lecturer hatte sich darein verbissen – ich vermute, um das übertriebene deutsche Kulturbewußtsein zu brechen. Davon war zwar in unserer Klasse wenig zu merken. Es waren brave Landser, die Mehrzahl in den frühen Zwanzigern. Sie wußten über Fußball weitaus mehr als über Goethe. Immerhin, es waren deutsche Männer, und wenn sie Kritik an etwas Deutschem erschnüffelten – und das war aus dem Vortrag des lecturers kaum auszusparen –, dann traten sie mannhaft dagegen auf. Als Umzuerziehende erst recht. »Right or wrong, my fatherland!«

Wir Intellektuelle hatten für möglichst lebhafte Diskussion zu sorgen. Dabei feierte das deutsche Kulturbewußtsein fröhliche Urständ. Damit die in jedem Kollektiv latente Dummheit. Heftiger als wir's erwartet hatten, legten sich die aus der Langeweile gereizt Erwachenden ins Zeug. Der lecturer, wie die meisten seinesgleichen ein Bush-House-geschulter Emigrant, versuchte einzulenken. Er habe ja nichts anderes sagen wollen, als daß er zwischen Kultur und Zivilisation keinen grundsätzlichen Unterschied sehe. Lediglich, daß bei Zivilisation von konkreten Errungenschaften die Rede sei, bei Kultur hingegen von sehr unbestimmten, gelegentlich sogar von moralisch anfechtbaren Werten. Grimmig wurde ihm entgegengehalten, daß es unzulässig sei, einem Beduinen Kultur abzusprechen, weil er keine Wasserspülung habe. Man könne denn auch so weit gehen, das Nürnberg Albrecht Dürers für kulturlos zu erklären, weil es dort keine elektrische Straßenbahn gegeben hatte. Das Argument erschien dem lecturer so grotesk, daß er selbst hineintrapste. »Nennen Sie mir ein Werk Dürers, das zur Wohlfahrt der Menschheit auch nur halb soviel beigetragen hat wie die elektrische Straßenbahn.« Allgemeines Schweigen. Im lecturer regte sich ein Verdacht. Er wandte sich an einen der Umzuerziehenden, der wortlos, mit den blanken Augen totaler Verständnislosigkeit dagesessen war. »Können Sie mir ein Bild von Dürer nennen, das auf Sie einen unauslöschlichen Eindruck gemacht hat?« Schweigen. Der lecturer kam aus dem Häuschen. »Können Sie denn überhaupt ein Werk von Dürer nennen?« Der junge Mann lief langsam rot an. Schließlich nickte er. »Also bitte!« befahl der lecturer. Der Umzuerziehende schluckte. Er schien den Tränen nah zu sein. Endlich würgte er heraus: »Der kleine Hase.«

Der kleine Hase Dürers war kein schlechtes Sinnbild für meine frühe Kindheit. Ich hätte ihn mir zum Wappentier wählen können: scheu, scheinbar vertrauensvoll, fluchtbereit. In seiner künstlerischen Vollendung war er zweifellos ein Zeugnis für Kultur; und Kultur war das magische Wort, das uns freisprach von der Notwendigkeit, in der neuen Ordnung der Bukowina unseren Stand zu bezeichnen. Wir waren nichts mehr. Wir gehörten nicht mehr den Landesherren an. Meine Mutter hatte ihr Vermögen verloren. Mein Vater konnte als Nichtrumäne kaum Karriere machen. Auf keine ethnische Gruppe konnten wir uns berufen, denn wir waren nicht bodenständig: Selbst die Eltern meiner Mutter kamen aus Böhmen, nur eine Urgroßmutter band uns an das Land. Trotzdem zweifelten wir keinen Augenblick an unserer Stellung – wenn sie auch noch so luftig zwischen Himmel und Erde hing wie Mohammeds Grab. Aber wir gehörten einer Klasse an, die sich als gebildet bezeichnete. Das heißt: In uns manifestierte sich die abendländische Kultur. Es war unsere Mission, sie aufrechtzuhalten und zu verbreiten. »Wir sind als Kulturdünger hierher gekommen«, pflegte mein Vater zu sagen. »Dazu hat man uns hinterlassen.« Er wiederholte diesen Ausspruch öfters. Bitternis und Hochmut hielten sich darin die Waage.

Was zur Kultur gedüngt werden sollte, stand gleichfalls keinen Augenblick in Zweifel. Die Bukowina war ein später Erwerb der Krone. Erst im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts war sie den Türken abgekauft worden – ziemlich zur gleichen Zeit, wie meine väterlichen Vorfahren aus Sizilien nach Wien gekommen waren. In den Augen meines Vaters war Sizilien seit den Staufern ein Herzteil des Reichs, die Bukowina hingegen eine Kolonie. Er hatte sich im Sendungsbewußtsein des Kolonialbeamten dorthin begeben. Das heute sogenannte Multikulturelle – die ethnische Buntscheckigkeit des Landes – stimmte ihn nicht um. Er hielt nichts von der Kultur von Juden, Huzulen und Ukrainern. Den Rumänen gestand er bestenfalls zu, daß ihre junge Literatur und ihr Nationalbewußtsein in der Bukowina zur Blüte gekommen waren. Aber das war nur möglich gewesen unter der schützenden und fördernden Hand der k.u.k. Landesverwaltung. Alles andere war Folklore. Wir – selbst meine intellektuelle Schwester, die bald eigene Wege ging – teilten diese Ansicht uneingeschränkt.

Das war kein Dünkel. Es war das hauteng anerzogene Bewußtsein einer bestimmten Lebensform. Sie war nicht unser Privileg. Die oberen Klassen sogenannter Kulturnationen lebten so. Ein internationaler life style, würde man heute sagen. Englisch geprägt. Man legte Wert auf ordentliche Wohnungen, Kleider und Manieren. Ein gewisser Bildungsgrad war selbstverständlich. Ziemlich jedermann kannte von Dürer mehr als den kleinen Hasen. Es war eine Welt, in welcher auch bescheidener Besitz von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Dessen Pflege lag den Erben am Herzen. Man bewahrte mit Behutsamkeit und Stolz. Aber in diese Welt war der Krieg gefahren und hatte sie arg mitgenommen. Man bewahrte nicht mehr; man raffte zusammen, was übriggeblieben war. Die selbstverständliche Haltung wurde zur Abwehr; die Form zur Verschanzung.

Darüber vergaßen wir, daß dieses Czernowitz ein sogenanntes »Vorwerk der abendländischen Kultur« war. Nicht aufgerichtet gegen die Steppe, sondern gegen eine andere ebenso traditionsreiche Kultur: Byzanz und das Reich der Ottomanen. Czernowitz beherbergte die östlichste Universität der k.u.k. Monarchie. Deren Studium des Orients war beispielgebend. Von diesem Bildungsstand war die Lebenshaltung der Gebildeten bestimmt. Auch wer sich nicht zu den Kulturbewahrern rechnete, hatte daran teil. In der gleichen Selbstbefangenheit. Wir waren nicht der Nabel der Welt, aber sein Umkreis war unser Horizont.

Gewiß hat es in Czernowitz ungezählte Häuser gegeben, die ebenso gut gehalten waren wie das unsere. Auch anderswo gab's gute – wahrscheinlich sogar üppigere Küche. Auch anderswo aß man manierlich von gutem Porzellan, benahm sich gesittet, las Bücher, musizierte, hielt die gegenseitige Aversion in Grenzen. Aber der Schreck war meiner Mutter in die Glieder gefahren. Mit unserer Flucht aus ihrem Elternhaus, danach aus Triest, in zwei Asylantenjahren zwischen niederösterreichischen Kropfbauern und mit der Heimkehr in ein Land neueingesetzter Herren hatte sie erfahren, wie zerbrechlich die aristokratisch-großbürgerliche Idylle dieser fernen Provinzwelt war. Sie traute niemandem mehr. Sie schloß sich ab – und uns mit ihr.

Schüchterne Versuche, Anschluß zu finden, wurden von meinem Vater sabotiert. Er hatte von vornherein mit der Vergangenheit gebrochen. Er entzog sich der Zeit – als Jäger. Die zeitlose Lebensform des Jägers hielt ihn aus der geschichtlichen Zeit heraus. Sein Beruf kam ihm dabei entgegen. Als österreichischer Staatsbeamter war's seine Aufgabe gewesen, sich um die historischen Klöster der Bukowina zu kümmern. Diese Juwele spätmittelalterlicher Baukunst und Kirchenmalerei liegen inmitten riesiger Karpatenwaldungen. Mit der Machtergreifung der Rumänen war mein Vater aus dem österreichischen Staatsdienst übernommen worden vom sogenannten Religionsfonds, der Güterverwaltung der orthodoxen Kirche. Er stand sich gut mit der Forstverwaltung. Er hatte freie Büchse in Zehntausenden Hektar Karpatenwald. Die Jagd nahm zunehmend von seinem Denken, Fühlen und Handeln Besitz. Zu unserem Kulturzustand gehörten auch Hirschgeweihe und Rehgehörne an der Wand, eisenstarrende Gewehrschränke und Hundezwinger. Dürers kleiner Hase hätte ein kurzes Leben gehabt.

Bei alledem nahmen wir nicht wahr, daß namentlich in der jüdischen Gemeinde ein reges geistiges Leben vor sich ging. Es bereitete den Boden vor, aus dem zwei Jahrzehnte später Paul Celan erblühen sollte. Wir lebten daran vorbei, eingesponnen in unseren Kokon wie in ein Spinnennetz unter Wasser. Ich habe davon in einem Buch erzählt, das dank der Holzköpfigkeit des Verlegers den Titel trägt: »Blumen im Schnee«. Mein Titel – »Schnee von gestern« – wäre zu abfällig gewesen. Ich hatte nichts Abfälliges im Sinn. Ich dachte an François Villon. Wer ihn kennt, weiß wie hinfällig die Klage ums Vergangene ist. In unserem Fall war ohnehin nicht viel zu beklagen. Die alte Geschichte: Die Konflikte der Zeit und unserer Eltern wurden auf unseren Gemütern ausgetragen. Die Widersinnigkeiten der Epoche brachten unsere totaleIsolierung mit sich. Wir wurden ignoriert. Man hielt nichts mehr von Kulturdüngerern. Vor allem nichts von solchen, die ins Abstrakte düngten. Zwischen uns und der Welt, aus der wir unser Selbstbewußtsein bezogen, waren Barrieren aufgerichtet. Um nach Wien zu fahren, mußte man sich durch sechs Grenzübergänge quälen. Briefe kamen mit wochenlanger Verspätung an. Und doch lebten wir unsere privaten Konflikte weiter, als gehörten sie zu den Anliegen der Zeit.

Wir Kinder hatten uns auseinanderzusetzen mit dem Heranwachsen in einer Welt, in der die Orientierungslosigkeit der Erwachsenen uns keinen Anhalt gab. Die Konflikte der Erwachsenen betrafen die Unvereinbarkeit ihrer Charaktere und ihrer Lebensweise in einer neuen Welt. Wir nahmen lebhaft auch daran teil. So war uns kaum Muße gegeben, wahrzunehmen, was um uns her vor sich ging. Es focht uns nicht an, daß die schwarz-gelb gestreiften Schilder von Mauthäusern jetzt blau-rot-gelb gestrichen waren. Auch nicht, daß Czernowitz nun Cernăuţi hieß. Wir kannten die Stadt nur vom gelegentlichen Durchqueren. In der Kutsche, wenn wir doch noch einmal zum Landhaus fuhren. Die meiste Zeit waren wir eingehegt in unseren Garten. Daß wir rumänische Staatsbürger geworden waren, ließ uns kalt. Wir sahen von den Rumänen nur die Offiziere der nahen Kavalleriekaserne, die an unserem Gartenzaun vorbeiritten. Sie waren bunt wie aus der Operette. Das war kein grundsätzlicher Wandel seit den Österreichern. Es befeuerte meine Phantasie fast mehr noch, weil es etwas Fremdartiges enthielt: Geheimnisvolles, wie mir schien. Ich habe daraus einen Roman erträumt: »Ein Hermelin in Tschernopol«.

Auch den Wandel, den die Welt rings um unser Inseldasein durchlief, nahmen wir nur vom Hörensagen wahr. Nach Gemunkeltem mußte der Klassenkampf, der irrtümlich zwischen Imperien ausgetragen wurde, in eine Phase trügerischer Waffenruhe eingetreten sein, um zu einem neuen, grimmigeren Angriff auszuholen. Noch war er nicht ausgereift. In unserem Fortbestehen als verschleppte Kulturdüngerer bezogen wir eine Fülle ausländischer Zeitschriften. Viele davon wiegten uns in die trügerische Zuversicht, daß in anderen Ländern unseresgleichen noch nicht berührt waren von Geschehnissen, die unmißverständlich darauf zielten, uns allesamt auszurotten. Das trügerische Fortbestehen unserer Kaste entnahmen wir der »Gazette du bon ton«, die kurioserweise auch in Berlin erschien, eine Schöpfung Jean de Brunhoffs, dessen »Roi Babar« nach 1945 meine kaum geborenen Söhne entzücken sollte. Das waren nicht nur Modeblätter. Sie waren in hohem Maße der Kunst verpflichtet. Damals, um 1920, gaukelten sie uns vor, was wir als »unsere Welt« auffaßten. Kultur war innig verbunden mit Kunst. Und Kunst kam zu jener Zeit vielfach aus Rußland. Dem gegenüber stand allerdings, was wir von russischen Freunden zu hören bekamen. Sie hatten sich über die wenigen hundert Meilen, die uns von Rußland trennten, zu uns retten können und ließen uns nicht im Zweifel darüber, was unser Schicksal sein würde, wenn die Vertreter der neuen Zeit auch zu uns kämen. Indes lasen wir die »Gazette du bon ton«, den »Tatler« und »Die Dame« weiterhin als verläßliche Zeitdokumente. Dokumente einer Wirklichkeit, die neben der herrschenden verschleppt bestand.

In gewisser Weise waren diese Blätter also zeitgerecht. Der Wandel des Epochengeists war an ihnen abzulesen. Neben und mit dem Sinken der Damentaille aus Zwerchfellhöhe nieder zu den nunmehr schlanken Hüften, mit dem Schrumpfen wagenradbreiter Damenhüte zu smarten Filztöpfen, erfuhren wir das Aufkommen einer neuen Ästhetik.

Sie verriet sich nicht im neu aufkommenden Film. Was der uns brachte, war die Vulgarität des Amerikanismus. Nur zwischendurch – und wieder oft aus Rußland – zeigte sich der neue Geist.

Die neue Ästhetik war – wie alles neuerdings – bestimmt durch die Masse. Bei choreographischen Werken, in denen – schon damals, mehr als ein Jahrzehnt vor Leni Riefenstahl – einige Hundertschaften von keulenschwingenden Freiluftturnerinnen oder spatentragenden Jungarbeitern sich im Raum gruppierten und der weiten, aus der Vogelperspektive gesichteten Bildoberfläche erregend wechselnde Struktur verliehen, begannen unsere Emotionen dem Rhythmus der Zeit zu folgen. Ich spürte ihn um so heftiger – vom Zeiterleben meiner Schwester weiß ich nichts, kann's nur vermuten – als darin etwas meiner Willkür Entzogenes zu walten schien. Ich war davon mitgerissen in halber Betäubung, wie vom Gerassel kultischer Trommeln. Es kam mir vor, als geschehe es bewirkt von einer magischen Macht außerhalb individuellen Wollens. Es war von außen her bestimmt wie die Bewegungen der Eisenfeilspäne, die auf einem Blatt Papier sich zusammenrotteten und gleichgerichtet oder gegeneinander gestriegelt ordneten, wenn ich darunter einen Magneten bewegte. Mein Leben lang habe ich darüber nachgegrübelt, wieviel von dieser magischen Macht natürlichen oder übernatürlichen Ursprungs sei.

Die wundervoll disziplinierten Kader der bedrohlich – vom Zeitgeist? von Demagogen? von Gott? – manipulierten Masse enthielten die Essenz der Grundstimmung der Zeit. Neben und mit der Unheimlichkeit, daß die spatentragenden Jungmannen und weißblusigen Keulenschwingerinnen vor aller Welt Augen zu Eisenmännern und revolvertragenden Kommissarinnen in Ledermänteln werden konnten, schienen sie doch zur großen Verheißung der Epoche zu gehören.

Neben und mit der alltäglichen Befürchtung, es könne morgen schon wieder die Erde aufgewühlt werden von berstenden Geschossen, und die kaum wieder aufgebauten Gehöfte, von flüchtenden Menschen und brüllendem Vieh verlassen, würden wieder in Flammen aufgehen; neben und mit der Angst vor neuen, technisch monströs entwickelten Vernichtungsmitteln war die Welt voll von Versprechen träumender Utopisten. Sie sahen einen neuen Menschheitstyp voraus, frei gemacht durch ebenjene Technik, die den Arbeiter, der stolz auf seinen Stand war, von der Fron befreite, welche ihn in diesen Stand versetzte. Eine neue Menschheit, in die Zukunft befördert von der zivilisationsfreudigen Straßenbahn des lecturers von Wilton Park, flink gezogen von Dürers kleinem Hasen.

Aber ich spreche von Eindrücken, die ich nicht mehr im Haus meiner Czernowitzer Kindheit gesammelt habe. Ein guter Teil davon fiel schon in mein Exil in Kronstadt.

Es war an einem lichten Vormittag des Frühlings 1922, als meine Schwester und ich das Haus unserer Kindheit verließen. Wir wurden reisefertig gemacht, ohne recht zu wissen, wohin es gehen sollte. Auffällig war dabei dreierlei: erstens eine ganz erstaunliche Menge von vorbereitetem Gepäck – Koffer und Taschen stapelten sich, als müßten wir die Hälfte unseres Hausstands mit uns nehmen. Zweitens die verweinten Augen meiner Kinderfrau Kassandra – der ich anderswo ein Denkmal gesetzt habe. Drittens die resolute, geradezu herrische Weise, mit der Fräulein Lina Strauß die Führung unseres Hauses übernommen hatte. Das war besonders ungewöhnlich. Auch ihrem Andenken habe ich ein Kapitel meines Buches »Schnee von gestern« (beziehungsweise »Blumen im Schnee«) gewidmet. Wer es gelesen hat, kennt ihre würdevoll zurückhaltende Diskretion. Daß es sich nicht um einen Ausflug über Land handelte, entnahmen wir unserer Aufmachung. Wir kriegten zwar Hüte aufgesetzt und Handschuhe angezogen, auch wenn wir im Volksgarten spazieren geführt wurden. Aber die strapazierfähige Sorte ließ auf eine längere Eisenbahnfahrt schließen. Wieder eine Flucht? In der Tat. Eine Flucht aus der verschleppten Vergangenheit in eine neue Welt und Daseinsform.

Unsere Eltern hatten sich zurückgezogen. Wie es immer häufiger geschah, war mein Vater erst tags zuvor von einer seiner sogenannten Kommissionen heimgekommen – einer Inspektionsfahrt zum Kloster Dragomirna, vermutlich mit einer Strecke von drei Auerhähnen. Daß es zwischen unseren Eltern Auseinandersetzungen gab, war uns nicht neu. Diesmal aber hatte es offiziellen Charakter. Allein daß wir angeschirrt dasaßen, als müßten wir auf den Ausgang einer Konferenz warten, deutete auf Entscheidendes hin. Endlich kamen die beiden aus dem Arbeitszimmer meines Vaters. Unsere Mutter war im Reisedreß. Ohne sich noch einmal umzuwenden, ging sie voraus, als wäre es ausgemachte Sache, daß wir ihr folgten. Vater blieb an der Tür stehen, schüttelte den Kopf, wandte sich dann auf dem Absatz um und verschwand in sein Arbeitszimmer. Meine Schwester machte Anstalten, ihm zu folgen. Ebenso ruhig wie energisch nahm Fräulein Lina Strauß sie bei der Hand und führte sie hinaus. »I´ve got a letter for you. Don't bother.« Eine Stunde später befanden wir uns im Zug nach Wien.

In späteren Jahren habe ich meinen Vater oft in der gleichen Weise wie damals den Kopf schütteln gesehen. »Es war eine spontane Verrücktheit, gegen die niemand etwas unternehmen konnte«, sagte er. »Machtmittel anzuwenden wäre absurd gewesen. Es war einer von den Fällen, in denen nicht nur ein Schicksal, sondern das aller Nahestehenden entschieden werden durch den lange hin und her gewälzten Entschluß, den ein einzelner fällt, als ob's sein eigener wäre. Dabei hat ihn das Schicksal selbst gefällt. Eure Mutter wollte sich von mir trennen – und trennte uns alle, wie's unsere Schickung war. Ursprünglich war's eine Marotte, nichts weiter. Auch für die gerichtliche Scheidung gab's kein greifbares Motiv. Wenn ich nicht geholfen hätte – aus schierer Einsicht in die Unabwendbarkeit des Vor-sich-Gehenden –, wären wir heute noch verheiratet.«

Und wir, die Kinder, hätten nicht die gleiche ironisch distanzierte Zärtlichkeit für unsere Eltern gehabt. Das Absurde war das, was uns entsprach. Niemals haben wir gefragt, wer schuld hatte am Auseinanderbrechen der »Familie«. Übrigens stellte sich heraus, daß unsere Familie – oder was immer man so nennen konnte – gar nicht auseinandergebrochen war. Das sollte erst zehn Jahre später mit dem Tod meiner Schwester geschehen. Vorderhand war's ein Weitermachen unter unordentlichen Umständen. Anfangs bitter, allerdings.

Auch dabei erwies meine Mutter sich als unfreiwillige Schicksalsgestalterin. Ohne daß dem eine bestimmte Absicht, ein Plan, eine Vorstellung zugrunde gelegen hätte. Zunächst blieben wir eine Weile in Wien, bis meine Schwester untergebracht war. Ich habe daran nur blasse Erinnerungen. Eine graue Stadt. Wenig hoffnungsfrohe Menschen. Meine Großeltern wie erloschen. Ich sehnte mich nach Hause. Dort waren nicht nur meine liebsten Spielgefährten: meine Hunde. Dort war auch die Traumwelt, wunderlich belebt von allen Gestalten der Märchen, die meine Amme und Kinderfrau Kassandra oder Frau Hofmann, unsere böhmische Köchin, mir erzählten. Ich war fremd in Wien. Die Welt, in die ich geworfen war, konnte nie die meine werden. Indes, auch in Wien sollte ich nicht bleiben. Nach wenigen Wochen brachte meine Mutter mich nach Kronstadt und fuhr selbst nach Wien zurück.

Es ist gewiß nicht übertrieben, wenn ich sage, daß wir – meine Schwester und ich – das Spiel durchschauten. Wem von uns die Sympathien unserer Eltern gehörten, stand für alle Welt außer Zweifel. Mein Vater liebte über alles meine Schwester, meine Mutter mich. Daß meine Schwester in Wien zur Schule kam, entsprach dem – gewiß nicht unbewußten – Wunsch meiner Mutter, sich ihrer auf elegante Weise zu entledigen. Ebenso entspracht der Absicht meines Vaters, ihr eine »westliche Erziehung« angedeihen zu lassen. Czernowitzer Schulen erschienen ihm dazu nicht mehr genügend kulturgedüngt. Er traute den Rumänen nicht.

Mein Fall lag anders. Zwar sollte auch ich möglichst bald »in den Westen«. Aber meine Mutter konnte den Gedanken nicht ertragen, daß zwischen ihr und ihrem Liebling die Grenzübergänge zu so neuen und eifersüchtig ihre frisch erworbene Souveränität überwachende Staaten wie Polen und der Tschechoslowakei zu überwinden wären. Ich sollte innerhalb rumänischer Landesgrenzen bleiben. Die einzigen Schulen, die trotzdem eine »westliche« Erziehung verbürgten, waren in Siebenbürgen. In Kronstadt hatte mein Vater einen Freund und Gönner in Gestalt des damaligen evangelischen Stadtpfarrers und nachmaligen Sachsenbischofs, Dr. Viktor Glondys. Ich kam in die Obhut von dessen Schwiegervater, Hofrat Meyer. Und verging vor Heimweh.

Ein Vierteljahrhundert später, in Wilton Park, wußte ich, wovon die Rede war, wenn die Umerziehungszöglinge klagten, daß sie Heimweh hatten. Ich weiß es auch heute noch, obwohl über diesen Winkel meines Gemüts eine Art transparenter Hornhaut gewachsen ist. Sie läßt mich das Leiden sehen, ohne daß ich selbst noch daran litte. Aber ich kenne es. Auch meine Erinnerung an Kronstadt liegt unter dieser Schutzhaut. Es ist nicht nur die zeitliche Ferne, die mir die Bilder entrückt. Das ausgestandene Erleben macht sie klarer, ohne daß sie mich quälten. So kann ich ihnen dankbar sein. Es sind hübsche, ordentliche Bilder. Siebenbürgen war eine festgefügte Welt. In jenen Jahren hielt die evangelisch-lutherische Kirche die Siebenbürger Sachsen zusammen. In ihr waren sie vereinigt, bevor ihnen eingeredet wurde, daß sie in erster Hinsicht Deutsche sein sollten. Sie waren deutschen Ursprungs, das stand fest. Aber sie hatten achthundert Jahre Zeit gehabt, ihre Eigenart zu entwickeln und ihr eigenes prachtvolles Land auszubauen. Ihre Heimat erstreckte sich nicht »von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt«, und sie hielten sie nicht für berufen »über alles in der Welt« zu stehen. Das Land, das sie geschaffen hatten und das sie geprägt hatte, lag im europäischen Südosten, umgeben von fremden Völkerschaften. Es war schön, reich und ein wahres Bollwerk des Abendlands. Die Sachsen sprachen Dialekte, die nicht aus Sachsen, sondern aus dem Luxemburgischen stammten. Mundarten, die kaum noch an eine deutsche Muttersprache anklangen. Diese Dialekte waren regional so verschieden, daß die Einwohner unterschiedlicher Gegenden, um sich untereinander zu verständigen, Ungarisch oder Rumänisch miteinander sprachen. Beiden, Rumänen sowohl wie Ungarn, waren sie ein kulturelles Vorbild. Achthundert Jahre im Arm der Karpaten hatten sie zu Landeskindern gemacht, geschwisterlich verbunden den anderen Kindern derselben Erde. Sie hatten den Rumänen ihre ersten Bücher gedruckt. Der »Westlichkeit« der Ungarn gaben sie Rückhalt. Sie taten's in ihrem eigenen Namen, als Siebenbürger Sachsen, nicht im Namen des deutschen Nationalismus. Als der sich bei ihnen einfraß – in den Dreißigern, mit dem Deutschland Hitlers –, zerstörte er als erstes ihre Kirche. Und damit sie.

Zu meiner Zeit war ihre Kirche noch intakt. Ich wurde nicht gefragt, ob es auch meine war, und ich selbst fragte erst recht nicht danach. Ihr Gotteshaus, die »Schwarze Kirche« Kronstadts, wuchtete im Zentrum der Stadt, nah bei dem mittelalterlichen Marktplatz. Das Pfarramt lag gegenüber. Die Pfefferkuchenhäuschen rings umher waren noch von den alten Stadtmauern umgeben, nur die Vorstädte beherbergten Ungarn und Rumänen als Periöken. Eingebettet lag die alte Stadt in einer Mulde zwischen Hügeln, deren höchster, die bergartige »Zinne«, steil darüber ragte. Ich wohnte im alten Pfarrhaus, im Schatten der »Schwarzen Kirche«, hinter meterdicken Mauern. Hofrat Meyer, ein drahtiger, kleiner alter Herr, dessen kerzengerade Haltung und eisengrauer Spitzbart ihn Joseph Conrad ähnlich machten, überwachte meine Heranbildung wortkarg. Ich war zum ersten Mal auf einer Schule. Was ich konnte und wußte, hatte ich als Brosamen vom Tisch der Reichen geklaubt. Die Reiche war meine Schwester gewesen. Weitaus mehr als um mich hatten die pseudoenglischen Erzieherinnen aus Izmir und Gibraltar und Mademoiselles aus Saarbrücken, die als Gouvernanten ins Haus gekommen waren, sich um sie gekümmert. Immerhin verblüffte ich meine Kronstädter Lehrer zunächst mit meinem Geplapper auf englisch und französisch, bis mein profundes Unwissen dahinter zum Vorschein kam. Aber ich bestach mit meinem zeichnerischen Talent. Einer von meinen Lehrern, dessen Namen ich nicht sicher behalten habe – ich glaube, er hieß Netolitzky –, nahm mich unter seinen speziellen Schutz. Ein anderer förderte mich gleichfalls, und seinen Namen weiß ich noch: Es war der Musiklehrer Professor Bickerich. Ich sang stolz in seinem Chor.

Wichtiger als die Schule war die erste Freundschaft meines Lebens. Sie erblühte mir mit Kurt Glondys, dem Sohn des Stadtpfarrers und Enkel Hofrat Meyers. Wir hatten ziemlich auf den Tag das gleiche Alter. Im selben Haus, wenn auch in verschiedenen Flügeln, wuchsen wir wie Brüder auf. Allerdings sehr verschiedene Brüder. Während ich unvermutet rasch zu wachsen begann und mit meinen Gliedern aus dem Gleichgewicht kam, blieb Kurt unterm Durchschnitt klein und kompakt. Nach einer aus der Jahrhundertwende verschleppten Knabenmode hatten wir beide sogenannte Pagenköpfe. Indes lag seiner blond und glatt dem runden Schädel an, meiner dagegen wucherte ungebärdig dunkellockig. Sein rundes Gesicht mit der spitzen kleinen Nase war aufgeschlossen und pfiffig. Meiner Miene gaben die Augen etwas verträumt Verlorenes, zugleich Wildes. Kurt war gesprächig und zutraulich, ich scheu und verlegen. Wir traten auf wie das damals populäre Komikerpaar Pat und Patachon, ein sanguinischer Pykniker und ein melancholisch cholerischer Astheniker, beide in Kleidern, aus denen wir sichtbarlich hinauswuchsen, beide an der Schwelle zwischen Kindheit und Adoleszenz, Zwitterwesen aus Träumen und Trivialitäten. So nahmen wir gemeinsam in Angriff, was wie der eigentliche Anfang eines neuen Jahrhunderts erschien.

Neue Dinge erweckten unsere Leidenschaften. Autos kamen auf. Sie waren bisher seltene Sehenswürdigkeiten gewesen. Zu Hause war ich ans Gartengitter gerannt, wenn ich Motorgeräusch hörte. Jetzt begannen Kraftwagen zum Alltag zu gehören. Wir kannten trotzdem jede Marke. Besonders die amerikanischen hatten's uns angetan. Alles Amerikanische hielt uns im Bann. Das Kino kam auf. Wir waren zu jung, um eingelassen zu werden, wenn's nicht ein jugendfreier Film mit Buster Keaton oder Buffalo Bill war. Aber irgendwie schafften wir's doch, uns in den dunklen Raum zu schmuggeln und nicht nur Harold Lloyd, sondern auch Lia de Putti und Rudolph Valentino zu sehen. Die fatalen Schönheiten der Flimmerleinwand trugen ihr Haar geschnitten wie wir unsere Pagenköpfe. Die bisher knöchellangen Damenröcke schrumpften bis übers Knie. Frauenbeine waren zu sehen, köstlich bestrumpft übereinandergeschlagen, die hochhackigen Schuhe wippend. Die Vokabel »Sex« erlangte ihre epochemachende Bedeutung. Wir wuchsen auf in einer Zeit, die später »The Roaring Twenties« genannt werden sollte. Zwischen mittelalterlichen Mauern, unter dem Stundenschlag altehrwürdiger Kirchenglocken träumten wir von Josephine Baker und den kessen Strohhüten der Frauenverführer von Paris. Ein älterer Schulkollege gab uns eine Sondervorstellung im Masturbieren. Wir waren angeekelt. Trotzdem erhitzten wir uns an der Vorstellung, wir könnten vor der Mädchenschule eine der »Besen«, wie wir sie nannten, zu einem Spaziergang in den Buschwald am Fuß der Zinne überreden und dort weiß Gott was mit ihr anstellen. Dazwischen übten wir in Professor Bickerichs Kirchenchor unsere Partien der Matthäuspassion, die demnächst in der Schwarzen Kirche zur festlichen Aufführung kommen sollte. Und nichts schmälerte meine schmerzliche Sehnsucht nach meinen Hunden und Kassandra zu Hause.

Meine Mutter nahm den Vorteil wahr, mich ohne Grenzkontrolle zu besuchen, wann immer ihr Bedürfnis danach stand. Sie war in Blüte, ich war stolz auf sie. Ihre Besuche waren gekrönt von ausschweifenden Fressereien beim Zuckerbäcker. Kurt Glondys, der als Sohn des immer berühmteren, immer geschätzteren, wortgewaltig predigenden Stadtpfarrers mir stets etwas voraus hatte, verbarg nicht, daß ihm die weitläufige Eleganz meiner Mutter Eindruck machte. Ich liebte sie sehr in jenen Tagen. Aber es geschah auch, daß mein Vater kam, auf du und du mit dem Kirchenmann, der bald ein Kirchenfürst sein sollte. Es war das erste Mal, daß die Aufmerksamkeit meines Vaters mir galt und nicht meiner Schwester. Ich war mit einemmal in sein Sehfeld getreten, und er sah mich und mein Heimweh. Er entdeckte sein verletztes Kind. Ich spürte das Mitleid in seiner nüchternen Zärtlichkeit. Wenn es je die Absicht meiner Mutter gewesen sein sollte, mich ganz von ihm zu trennen und für sich zu behalten, so ging das fehl. Erst jetzt war das Verhältnis Vater-Sohn zwischen uns hergestellt; und obwohl das seiner Liebe zu meiner Schwester keinen Abbruch tat, wurde es mit den kommenden Jahren immer inniger. Das Schönste daran war: Es war gänzlich unsentimental. Ich bewunderte ihn. Und doch war's ein Verhältnis der Kumpanei. Das Lachen vereinte uns, der Sinn fürs Groteske, die Fähigkeit, zwischen Wichtigem und Nichtigem zu unterscheiden. Er kam jetzt oft nach Kronstadt. Mit der ihm eigenen Respektlosigkeit vor geheiligten Institutionen holte er mich aus der Schule und nahm mich mit zu Fahrten durch Siebenbürgen, wobei er seinen Hobbys neben der Jagd, dem Photographieren und der Aquarellmalerei, frönte. Ich war bei weitem der bessere Zeichner als er. Er anerkannte das neidlos, ja stolz. Ich war in vieler Weise stolz auf ihn.

Auch meine Mutter kam. Einmal kam sie nicht allein. Sie war begleitet von einem Herrn in penibel korrekter Kleidung und mit vorbildlichen Manieren, stets behandschuht und herrenhaft vollendet mit Stock und Hut. Er bestach mich weniger mit seiner aufmerksamen Höflichkeit, die mir gegenüber etwas Künstliches hatte, als vielmehr mit seinem Auto. Es war ein Chevrolet, den Kurt und ich sofort bekletterten und nicht behindert vom Schofför in Ledergamaschen aufs genaueste untersuchten. Auch eine Ausfahrt wurde uns gestattet. Der fremde Herr – er hatte mich inzwischen aufgefordert, ihn Philip zu nennen – räumte meiner Mutter und mir diskret Stunden des Alleinseins zu zweit ein. Wir genossen sie wie ein zur Verlobung gefördertes Pärchen. Ich wurde mißtrauisch. Bang fragte ich meine Mutter, ob sie nicht bald zu meinem Vater und unserem Hausstand zurückkehren werde. Sie nahm mich in die Arme. »Philip ist mein zweiter Mann. Wir haben in Wien geheiratet.« Es war ein Schlag, von dem mich zu erholen eine Weile dauerte. Immerhin, da war der Chevrolet. Ich war neun Jahre alt.

Die neue Ehe meiner Mutter änderte unser Leben kaum. Es kam lediglich ein neuer Hausstand dazu. Der alte, den mein Vater allein beibehielt, verunkrautete. Seltsamerweise wurde er damit häuslicher. Die Stuben verloren das peinlich Gepflegte, die perfekte Hausfrau ausweisende Repräsentative. Sie wurden Wohnhöhlen und Studios. Einige, die ihre Möbel an meine Mutter hatten hergeben müssen, füllten sich mit Jagdtrophäen. Hirschgeweihe stapelten sich zur Zimmerdecke, Auerhahnstöße verstaubten neben mottenzerfressenen Fuchsbälgen und Sauschwarten. In anderen Zimmern wurde gemalt, radiert, photographiert, gelernt und gelesen. Selbst meine Schwester, wenn sie zu den Ferien kam, lebte sich wohlig darin ein. Vater war nicht weniger oft zu »Kommissionen« als früher, schien aber, wenn er daheim war, sehr viel intensiver daheim zu sein. Im Garten tummelten sich mehr Hunde als je zuvor. Den Haushalt führte meine alte Kinderfrau Kassandra.

Meine Mutter bezog inzwischen das Haus Philips in der Stadt. Philip stammte aus Czernowitz. Ein Bukowina-Deutscher, fügte meine Mutter mehr entschuldigend als erklärend hinzu. Er hatte ein Vermögen mit einer ererbten Bäckerei gemacht. Unserem Vater war das ein Quell des Amüsements. Zur Mission des Kulturdüngers, sollte man meinen, gehörte auch die Förderung von Handel und Gewerbe. Aber in meinem Vater steckte noch der Hochmut einer Kaste, die mit einer gewissen Geringschätzung auf den Handeltreibenden und Gewerblichen niedersah. Gewiß, Philip hatte seine Bäckerei mit einem Partner zum Großbetrieb ausgebaut, zählte also zur etwas höher stehenden Kategorie der Industriellen. Zudem war er im Aufsichtsrat einer Bank – als wenn ihm das vor unserem Vater geholfen hätte: Was mit Geld zu tun hatte, war erst recht odiös. Es schien, als hätte unsere Mutter unter ihrem Stand geheiratet. Wir, meine Schwester und ich, nahmen das alles nicht ernst. Es war mehr Spaß dabei als Klassendünkel. Die Witzeleien unseres Vaters belustigten uns. Übrigens war da der Chevrolet. Das Vaterhaus Philips aber hatte noch den Zuschnitt eines Bürgerhauses aus der Siedlerzeit der Bukowina. Es lag – und liegt noch heute – in einem Grundstück, um das herum mit der Jahrhundertwende die Stadt gewachsen ist. Mehrstöckige Zinshäuser grenzten von drei Seiten einen Garten mit wundervollen alten Kirschbäumen ein. Im Hintergrund lagen alte Stallungen und Remisen. Das Haus war bescheiden. Einstöckig, die Fenster ebenerdig in Mannshöhe, das gewalmte Dach über eine später angefügte Veranda vorgezogen, unterschied es sich nicht von irgendeinem dörflichen Einfamilienhaus. In kürzester Zeit hatte meine Mutter es zum Cottage im Stil englischer Teebüchsen verwandelt. Jasmin- und rosenumsponnen, nahm es sich im dichtbevölkerten Judenviertel von Czernowitz aus wie Hänsel und Gretels Hexenhäuschen in einer Chagallschen Operndekoration.