Mir reicht`s - Ich fahr nach Indien! - Uwe Sell - E-Book

Mir reicht`s - Ich fahr nach Indien! E-Book

Uwe Sell

4,8

Beschreibung

Im betrieblichen Dauerstress steckend, beschließt Uwe Sell (der Autor) mit dem Auto nach Indien zu fahren. Mit dem selbst ausgebauten Bundeswehr-Krankenwagen führt die Reise ihn und seine Frau im unruhigen Jahr 2013 von Berlin, durch Südeuropa, die Türkei, Iran und Pakistan nach Indien. Ihn treibt die Frage nach dem Sinn eines organisierten, gleichförmigen Lebensablaufes um. Unbedarft unterwegs, erleben sie skurrile Situationen, ertragen Strapazen, entdecken das pralle, in Farbenpracht explodierende Leben, aber auch das trostlose, einfarbige und beklemmende. In Pakistan festgenommen, später überfallen, können sie doch ihr Hilfsprojekt in Kerala erreichen. Ein Trip, der sie forderte und den Leser auf eine humoreske, kurzweilige Reise entführt. Träume nicht – mach es einfach! Das ist das Motto des Buches.

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Vorab – oder: die vier „Ich’s“

Ich bin kein Schriftsteller. Deshalb sind die Sätze, die ich schreibe vielleicht schräg. Aber sie sind immer aus dem Herzen ehrlich.

Ich weiß, lieber Leser, dass ich mit deiner Freizeit umgehe, und ich will dich für diese Investition entschädigen. Darum baue ich keinen Füllstoff ein, schreibe keine verbalen Endlosigkeiten.

Ich erzähle nur von Dingen, die ich selbst erlebt habe und die ich als bedeutend empfand.

Ich liebe das Leben und versuche, die Welt verstehen zu lernen.

Komm einfach mit und begleite mich auf der Flucht aus dem Alltag.

Über den Autor:

Uwe Sell, geboren 1955 in Berlin, erlernte den Beruf des Koches, studierte drei Jahre gastronomiebezogene Betriebswirtschaft und ist bis heute im Catering als Eventmanager tätig. Immer spielte das Reisen eine zentrale Rolle in seinem Leben, das ihn – unter anderem auch als Steward – in über fünfzig Länder führte. Andere Kulturen zu erleben und gesellschaftliche Zusammenhänge verstehen, ist eine wesentliche Triebfeder seiner Reisen. Seit sieben Jahren ist er Mitglied der Deutschen Zentrale für Globetrotter e.V.

Inhaltsverzeichnis

Prolog | Alles auf Null

Teil 1 | Indien ruft

1 Und täglich grüßt das Murmeltier

2 „Dont´dream it – do it!“

3 Ein Plan wird konkret

4 Countdown – We have a liftoff

5 Zwischen Europa und Asien

6 Im Würgegriff des Winters

7 Der Iran

8 Lenkradmeditation 1

9 Die Straße ist das Ziel

10 Durchs wilde Belutschistan

11 Pakistan – Willkommen im Mittelalter

12 Silvesterparty mal anders

13 Gefahren nahe der afghanischen Grenze

14 Am Neujahrsmorgen nach Indien

Teil 2 | Unbegrenztes Indien

1 Vereisungen in Amritsar

2 Indisches Verkehrsroulete

3 On the Road again

4 Lenkradmeditation 2

5 Agonda – wir sind da

6 Die Overlander von Agonda

7 Matthew und der Dealer

8 Schrilles Vagator

9 Indian Biker Week (oder Heavy Metal auf Hindi)

10 Anjuna

11 Runter in die Südstaaten

12 Das Straßencamp

13 Die Brücke

14 Wer ist

der

Inder?

.

15 Überraschungen am Wegesrand

16 Nördliches Kerala

17 Rydges Inn

18 Auf nach Kochi

19 White Saand Heritage

20 Altes und neues Alappuzha

21 Unser Mädchenpensionat in Alappuzha

22 Von den Backwaters durch Südindien

23 Acker-mendon

24 Der Weg nach Coonoor

25 Abschied in Agonda

26 Lenkradmeditation 3

27 Durch drei Bundesstaaten

28 Der deutsche Urlauber

29 Manchmal ist die Luft raus

Teil 3 | Kurs Heimat

1 Zwangsstopp Mumbai

2 Durch Westindien gen Norden

3 Wieder in Amritsar

4 Lahore – Stadt der Ausnahmen

5 Pakistan vor dem Bürgerkrieg?

6 Tankstellen-Prophezeiung

7 Schlimmer geht’s immer (oder: die Kalaschnikow im Rücken)

8 Frühlingserwachen

9 Zur falschen Zeit am falschen Ort

10 Letzte Tage in Pakistan

11 Im Sandsturm

12 Grabesstille

13 Frühling in Persien

14 Gastfreundschaft ist ein Schatz

15 Grenzaktives

16 Türkische Reise

17 Die Landung wird eingeleitet oder die letzten Tage der Odyssee

Teil 4 | After-Show-Party oder Nachbetrachtungen der Ausnahmezeit

1 Und, was hat´s gebracht?

2 Gefahren beim Fahren ins Nirgendwo oder Empfehlungen für Interessierte

3 Gedanken einer mitreisenden Ehefrau (von Angela Sell)

4 Warum „Don´t dream it – do it!” die Zauberformel sein kann

.

5 Anlage: Vom Armeefahrzeug zum „Jumbo“

Danke.

Bilderseiten:

Teil 1: → bis →

Teil 2: → bis →

→ bis →

Teil 3: → bis →

Teil 4: → bis →

Prolog Alles auf Null

Es ist kurz vor Weihnachten. Ich blicke auf den hohen, liebevoll geschmückten Tannenbaum. Er kündet vom Fest der Liebe und Besinnlichkeit. In der Luft liegt der Duft von Zimt, Anis und Orange, den die Gestecke und „bunten Teller“ auf den festlichen Tischen verbreiten. Ein Gefühl weihnachtlicher Harmonie im Kreise der Familie. Liebe Gesichter wiedersehen, über Belangloses reden, zusammen Lieder singen. Grund, einen Gang zurückzuschalten.

Aber das kann ich im Moment nicht fühlen, denn ich bin im Dauerstress. In einer Stunde kommen 250 Gäste und wollen sich durch unseren Catering in weihnachtliche Stimmung versetzen lassen. Zur selben Zeit ist eine andere Weihnachtsfeier für achtzig Personen im Gange. Mein Oberkellner von dort meldet, dass alles „steht“. Es folgen kurz Kontrollfragen nach brenzligen Eckpunkten mit dem Ergebnis, dass dort auch die Vorbereitungen abgeschlossen sind und die ersten Gäste schon Platz nehmen.

Unser Team hat sich geteilt – nur ich nicht.

Die Tische müssen hier noch fertig gedeckt und geschmückt werden, die Speisen ans Büfett gebracht und optisch einladend präsentiert werden. Wie ist der Aufbau der warmen Speisen für den Nachschub organisiert? Kann nach der Ansprache alles schnell und lautlos mit einem Lächeln präsentiert werden oder gibt es Fallstricke? Kontrolle der Getränkestation. Menge und Temperatur stimmen. Das Bier fließt gut. Das „Hinterland“ ist funktionell aufgebaut. Auch die Musiker haben endlich ihren ohren- und nervenbetäubenden Sound-Check erledigt, und selbst die Künstler sind nun vollzählig. Das Briefing hat funktioniert – alle sind in Bewegung.

Jetzt meine Ansage: „Noch 20 Minuten bis zum Show-Down!“ Die Luft ist elektrisiert – die Spannung greifbar.

Ich lehne mich an die Wand und das Bild beginnt unscharf zu werden. – Ist das ein Traum? Eine Stunde nach Beginn der Veranstaltung werde ich mich hier „rauslösen“. Den Rest macht das Team. – Und ich? Ich haue ab. Es ist unwirklich, denn: Ich werde in das Auto steigen und durch acht Länder bis nach Indien fahren. Gleich – Sofort!

Teil 1 Indien ruft

1 Und täglich grüßt das Murmeltier

„Event-Catering“ – das klingt interessant und ist es auch. Man sorgt dafür, dass aus einer Halle ein Palast wird, der achtzigste Geburtstag oder die Hochzeit unvergesslich werden. Andererseits sind die achtzig Brötchen für das Meeting rechtzeitig anzuliefern. Die Selbständigkeit in der Gastronomie lässt kaum Freiräume. Der Kunde bestimmt, ob und wieviel du gefordert wirst. Es gibt Wochen ohne freie Tage. „Wir wollten aber auch was mit Käse haben. Das hat uns die Kollegin am Telefon bestätigt. Denken sie nicht, dass ich dann alles bezahle!“ Aufgelegt. Loriot hat’s gekannt.

Ähnliche Situationen kennt jeder in seinem Job und weiß, wie sehr diese an den Nerven und auf Dauer an der Gesundheit fressen. Aber auch eine Arbeit ohne erkennbare Höhepunkte ist übel. Sie stumpft ab, nimmt die Kraft für Kreativität. Nach acht Stunden ist der Akku leer. Jeden Tag die gleichen Abläufe. Wie ein Leben am Fließband. Respekt vor den Kassiererinnen und Kassierern im Supermarkt. Immer wieder dieselben Handgriffe, die Routinefragen nach dem Pfand-Bon oder ob „alles Bestens“ war. Na Bestens! Das hält keiner ein Leben lang durch! Da sind die Büroarbeiten wie die Monatsabrechnung, die brave Fragenbeantwortung für Krankenkasse, Arbeitsamt, Berufsgenossenschafft und Handelskammer nach eventuellen Veränderungen in der Firma, die angezeigt werden müssten. Versicherungen wollen sich mit dir unterhalten, ebenso wie die Hygiene Einsicht in die Schulungen der Mitarbeiter benötigt und ordnerfüllende Protokolle über HACCP-Aktivitäten*), welche die Gastronomie retten sollen. Man kommt aus dem Büro und fragt sich, was man denn eigentlich den ganzen Tag wertschöpfendes getan hat.

Wir sind nicht mit dem goldenen Löffel im Mund geboren worden oder hatten sechs Richtige im Lotto. Der Arbeit können wir uns nicht entziehen. Nur durch sie, so hoffen wir, kann im Alter unser Leben lebenswert bleiben. Altersarmut – dieses Horrorwort treibt uns alle auf die Baustellen des Arbeitsmarktes. Der Nebenjob ist schon salonfähig geworden. Das war zu der Zeit, als aus dem Beruf der Job wurde. Beruf klingt auch zu sehr nach Berufung und Werten, nach erlerntem oder meisterlichen Können. Der Job ist austauschbar im Laufe eines Lebens. Wir gehen mal eben jobben.

Aber welchen Preis zahlen wir alle dafür? Was machen wir falsch? Was machen die anderen? Und was passiert dem Menschen eigentlich ohne Fernsehen? Fragen über Fragen.

Die Sehnsucht nach dem Ausbrechen aus diesem Teufelskreis kommt über mich. Gleiche Rituale und Tagesabläufe. Wie der Hamster im Laufrad. Täglich grüßt das Murmeltier. Du kannst nicht machen, du wirst gemacht! Ich stelle mir die Frage, ob es so weitergehen soll bis zum Sterbebett? Nicht „Twenty-four seven“, also „rund um die Uhr“, sondern „Mal-nicht-da-sein“! Vielleicht denkt jeder irgendwann mal über so was nach, und ich bin nicht allein.

Abenteuer erleben, Entdecken und unerreichbar sein – das ist der Traum vieler, die sich in der Endlosschleife des Alltages befinden. Reiseabenteuer- und Länderberichte klettern deutlich im TV-Konsum. Und selbst das kalte Alaska lockt mit seinen Quergestalten und ihrem lustvollen Improvisieren. Schade, dass es noch nicht „NatGeo-Travel-TV“ im Deutschen Fernsehen gibt!

2 „Don´t dream it – do it!“

Indien haben wir schon fünf Mal bereist, und es hat uns auf Grund seiner Eigenarten, der Gegensätze, aber auch wegen seiner Schönheit angezogen.

Du steigst in das Flugzeug und bist in elf Stunden in einer anderen Welt. Man sagt, beim Fliegen kommt die Seele nicht so schnell hinterher. Der Sprung ist so gnadenlos, dass der Wunsch entstand, Indien zu „erfahren“. Der Traum, sich dem Land langsam zu nähern, zu spüren, wie sich die Kulissen und Leute immer stärker verändern, die Kulturen sich wandeln, bis das Endziel erreicht ist. Mit der Vorstellung: „Der Weg ist das Ziel“, wollten wir unser Vorhaben „entschleunigen“.

Jetzt ist es an der Zeit, das im Buch öfter auftauchende „wir“ zu erklären. Dieses steht für meine Frau Angela und mich. Seit wir uns kennen, haben wir uns gegenseitig mit dem Reisevirus infiziert. Unsere Weltkarte hat die Masern.

Nur leider kommt ein Abtauchen für ein halbes Jahr oder länger für uns nicht in Betracht. Wir haben die Menschen immer bewundert, denen das möglich ist. Wir haben für drei Monate eine „relative Ruhe“ in unserer Firma. Somit war das Zeitfenster gesetzt und bis zum Entschluss: „Wir machen das!“, verging ein Jahr.

Ich ersteigerte von der VEBEG (Verwertungsunternehmen des Bundes) einen ausrangierten Bundeswehrkrankenwagen Mercedes 609D – KA.

Er bot mir die richtige Basis für das Vorhaben: 22.000 Kilometer auf dem Tacho und 22 Jahre alt. Er wurde nur zu Trainingszwecken eingesetzt und stand wohl immer in der Halle. Sechs neue, zehn Jahre alte Reserveräder wurden dazugegeben. Den Innenausbau habe ich nach Internet- und Literaturempfehlungen gemacht. Freunde halfen da, wo es nötig war, und langsam bekam der Jumbo sein Gesicht.

So kamen zwangsweise einige Teile in den Wagen, die den hartgesottenen Expeditions-Fahrzeug-Ausbauern die ich traf, nur ein mitleidiges Lächeln auf das Gesicht zauberten. Immerhin war so für Unterhaltungswert gesorgt – nur die Ernsthaftigkeit meiner Reiseplanung litt in ihren Augen darunter erheblich.

Als Krönung der Unmöglichkeit drängt sich die IKEA-Küche in den Vordergrund. Die einzelnen Module sind von unglaublicher Festigkeit und Durchdachtheit. Der Schubkasten fährt lautlos aus und ist sogar wenn Jumbo schläft, kaum hörbar. Die Nutzfläche ist kaum zu schlagen, außer vom Preis. Bei dem kann man wirklich von drei ausgeblasenen Eiern sprechen. Über den Haushaltskühlschrank und die Federkernmatratzen will ich gar nicht erst reden. Unser befreundeter Lackierer war sogar betroffen, dass er das Projekt nicht noch für ein paar große Scheine veredeln durfte. Wir stylten ihn selbst mit der Rolle dreifarbig. Meine clevere Ausrede war, dass der Wagen ja nicht nach Geld aussehen solle. Aufbauten, vier Ersatzräder und Scheinwerfer sorgten schon durch ihr Dasein für ein abenteuerliches Flair. (Der Umbau zum Jumbo ist in Teil 4 für Interessenten beschrieben.)

Seit einigen Jahren sind wir Mitglied der Deutschen Zentrale der Globetrotter (DZG). Dort haben wir viele Menschen kennengelernt, die es bevorzugen, nicht das Geld zur Bank zu schaffen, in Wertsachen oder Konsum zu investieren, sondern das Verdiente für einen Intensivlehrgang der besonderen Art auszugeben. Wir entdeckten Gleichgesinnte und wurden in unserer Hoffnung bestärkt, dass Reisen nicht teuer sein muss. Die Zusammenkünfte und Treffen der DZG haben nix mit angestaubtem Vereinsgebaren zu tun. Alles kann – nichts muss. Es sind Menschen, die mit dem Rad um die Welt radeln oder mit Handicap im Kanu die Donau runterpaddeln. Genau wie Leonard und Jo, die immer mit dem Zug zu den unglaublichsten Plätzen reisen. Da ist Gerhard, der mit 72 Jahren im „Magirus Deutz“ nach Indien fuhr. Beim letzten Anruf vor Weihnachten sagte er, dass er wenig Zeit habe, da es morgen nach Marokko gehe und der Wagen für die Baikal-Tour im April ja noch vorbereitet werden muss. Er ist Alleinfahrer ohne große Vorkenntnisse. Die Vielfalt an Typen erschlägt einen schier. Und alle sind erreichbar mit Namen und Anschrift, wenn du Hilfe brauchst und dankbar, wenn du helfen kannst. Doch mehr dazu später.

Um Tipps zu bekommen und mit den erfahrenen Reisenden zusammenzukommen, nutzten wir das „Willis-Treffen“ in Mendig und später in Bad Kreuznach. Dort versammeln sich über 650 „Overlander“ mit ihren Erfahrungen und Fahrzeugen. Die Kontakte und Hinweise sind ebenso unbezahlbar, wie die Sandbleche, Reservespiegel und das Hubschrauber-Abschleppseil, die schnell im Magen des Jumbo verschwinden.

Störend war nur, dass fast alle sagten: „Waaas? Im Winter wollt ihr los und nur für drei Monate?“ Das solle ich gleich wieder vergessen. No-Go! Ein junges Paar meinte, dass es bessere Arten gibt, aus dem Leben zu scheiden. Sie selber seien im Iran umgekehrt, da das Klima zu der Zeit dort mörderisch war.

3 Ein Plan wird konkret

Der Hauptansatz ist leider die Temperatur, die dort im richtigen Winter schnell weit unter die minus 30 Grad gehen kann. Und da geliert der Diesel auch mit Fließverbesserer (eine Information, die mir auch die Aral-Zentrale bestätigte). Lass’ den Motor nie ausgehen. Und: Beheizte Kraftstoffzuleitungen sollten einbaut werden. Ob ich eine Ahnung hätte, von den Schneefällen, die da runterkämen? Der Jumbo hat ja nicht mal Allrad. Schneeketten sind das absolute Muss. Ohne die kommt man erst gar nicht auf die Pisten.

Wir haben später als Trockentest versucht, die Räder in Ketten zu legen und nach einiger Zeit erwogen, vielleicht doch lieber zu Hause zu bleiben. Klar, dass diese Armeefahrzeug-Schneeketten dem Söldner im Winter schlechte Karten geben. Er sollte es nicht wirklich ernsthaft versuchen, so in den Einsatz zu ziehen! In unserem Selbstversuch verblüffte mich die einfache „Gebrauchsanweisung“. Man fahre auf die Kette, lege den Rest über das Rad und fahre an. Dadurch ziehe sich die Kette von selbst über das Rad. Nur wusste das die Kette nicht und wollte es auch nach über einer knappen Stunde nicht wissen. Leichte Gewalt ist nicht immer abzulehnen. Das Desaster kam dann bei den Hinterrädern. Die waren ja doppelt. Aber auch dafür hat die Heeresführung beruhigende Worte. Nach diesen gewinnt man locker jeden Krieg, nur wohl nicht den gegen Schnee und Eis. Schlicht: Es gelang uns – in biblischen Zeitenräumen gemessen – im Wesentlichen schon, den Jumbo „anzuketten“. Zumindest für die ersten hundert Meter. Der Rest wird sich später im reellen Leben dann finden. Und: Was passiert eigentlich mit den Fingern bei 32 Grad minus? Brechen sie oder erstarren sie nur? Klar war, dass General Winter das Sagen hätte, sollten wir es jemals wagen.

Klar war übrigens auch, dass in den Augen der „Andern“ meine übrige Ausrüstung lachhaft war. Dennoch waren die Tipps und Meinungen mir sehr wichtig und wurden festgehalten.

Einige Wenige jedoch meinten: „Macht’s einfach – es klappt. Hinter Tabriz wird es eh wärmer.“

Wir änderten dadurch auch unseren Zeitplan und zogen die Abfahrt so weit, wie möglich vor.

Der geneigte Leser mag drüber schmunzeln, aber ich hatte gleich mehrere Lösungen für den fünften Reiter der Apokalypse: Holzkohle in einer Aluschale kann unter dem Wagen ebenso für freudige Wärme sorgen, wie die zwölf Brennpasten, die eigentlich auf einem Büfett die Speisen warm halten sollten. Papier und kleingemachtes Holz waren die folgerichtige Erweiterung für den passenden Brennwert. Dann wurden achtzig Liter Super-Winter-Diesel unter den Sitzbänken und im Motorraum vor den Augen neugieriger Zöllner versteckt. Fließverbesserer für zweitausend Liter Diesel kann sicher auch nicht schaden. Elektrischer Heizofen, Propanheizer und die Isolation der eingebauten Standheizung rundeten das Waffenarsenal ab.

4 Countdown – We have a liftoff

Alles ballte sich arbeitsmäßig auf den 14. Dezember 2012. Wir hatten die Weihnachtsfeiern zum Erfolg zu treiben und wollten am nächsten Tag abfahren.

Die Belastung war allerdings so extrem, dass wir um einen Tag die Abfahrt verschieben mussten und trotzdem scheintot zur Abfahrt ins Auto fielen. In dem Film „Der Stau“ aus den Siebzigern, stieg ein Malocher noch kohleverschmiert und mit Grubenhelm in sein Auto zur Abfahrt in den Urlaub. So in etwa fühlte ich mich.

Am Sonntag, dem 16. Dezember 2012 ist es soweit. Man ist monatelang auf diesen Augenblick fixiert, wie auf ’ne Apollomission. Und dann ist der Moment des Count-Down irgendwie banal. Ich denke nur nach, was noch fehlen kann. Aber Huston-Mission-Control meldet sich nicht. Was jetzt noch fehlt, das darf eben nicht mit auf die Expedition. (Soll ich was verraten? Unsere neu erworbenen Reiseführer „Loose“ und „Reise-know-hoff“ für den Iran, Pakistan und Nordindien sowie die Tourenkarte ausgesuchter Strecken liegt zu diesem Zeitpunkt noch auf dem Schreibtisch. – Aber psst – nicht weitersagen!)

Trotzdem fühle ich das Besondere. Wie der erste warme Frühlingstag des Jahres, der sagt, dass der ganze schöne Sommer in seiner Pracht ja noch vor dir liegt.

Das Morgenlicht gibt den Startschuss. Alles Weitere ist unkompliziert, fast schon banal. Hände schütteln, verabschieden und los. Menschen und Maschinen sind wohlgelaunt. Unser Jumbo schnorpst nur so. Er will los, will raus in die Welt.

Der ersten Nacht hinter Linz folgt auf dem Trail gen Süden ein Campingplatz in Szeged. Die Stadt ist uns ein wenig vertraut; wir haben sie vor langer Zeit bewundert. Heute ist das Wunder nicht wiederzuerkennen. Mag es an der nasskalten Wintertristesse liegen oder an den verfallenden Häusern? Farbmangel in der Stadt. Szeged strahlt einen Hauch von Rumänien der Wendezeit aus. Ich finde, sie ist anders geworden und verbreitet Trauer. Auch durch die Ausstrahlung der Bewohner die ich sehe, kommt kein Optimismus auf. Der Fortschritt ist hier nur durchgelaufen.

Ein letztes Mal will ich, bevor es rausgeht in die für mich neue ungesehene Welt, etwas Vertrautes um mich haben. Der Campingplatz den wir suchen, ist geöffnet und wir sind die einzigen Gäste mit dem Jumbo-Exoten oder aber Verrückte. Auch das Restaurant hat noch freie Plätze, da die beiden Einheimischen nur zu zweit gekommen sind. An ungarischen Eindrücken nehme ich nichts mit, nur eine unbestimmte Anzahl von Mikroben, die sich unauffällig in meinem Gulasch eingegraben haben.

Würde man einen Koch fragen, würde der sagen: Wie kann man in einem Restaurant, in dem der letzte Gast noch in Piaster zahlen konnte, was Geschmortes essen!

Im Laufe der folgenden Tage sind die mikroskopisch kleinen „Mitreisenden“ immer besser drauf. Sie übernehmen teilweise das Kommando. Erst nach zwölf Tagen werden sie genug von mir haben und sich derzeit irgendwo im Iran durchschlagen.

Die Umgehungsstraße von Sofia ist der Horror. Für rund eine Stunde werden Fahrwerk, Reifen und Nerven getestet. Armer Jumbo. Nur Schlaglöcher. Industriestraße heißt nicht, dass sie im industriellen Ausbau ist, sondern, dass nur schweres „Industriegerät“ schadlos davonkommt. Bei leichtem Schneefall geht’s ab in die Berge.

Es ist der erste zu beachtende Gruß vom General Winter. Wir machen bei einer modernen Raststätte mit Internet, Diesel und Fastfood unseren Nachtstopp. Serbien, mit seinen märchenhaften felsigen Gebirgsstraßen und Tunneln hatte uns etwas Fahrt rausgenommen. Ein Ort, der für Transit einfach zu beeindruckend ist. Naturschönheiten wie auf der Perlenkette aneinander gereiht. Wir kommen wieder! Trotzdem haben wir 702 km an diesem Tag geschafft.

5 Zwischen Europa und Asien

Am Morgen wird der Schneefall wird immer stärker. Es müssen schon über zehn Zentimeter sein, die hier in einer Stunde gefallen sind. Abgeschmierte Lkw oder Liegengebliebene. Keine Sicht mehr. Unser Scheibenwischer arbeitet im Akkord. Die Flocken werden riesig. Sie platzen wie kleine Schneebälle an der Frontscheibe. Nach einer Stunde in den Bergen sind wir umgeben von mittlerweile über zwanzig Zentimeter Neuschnee. Da geht nix mehr. Die Straße wird gesperrt. Polizisten holen von einem Fahrzeug Absperrgitter und Warnblinkanlagen. Sie richten sich ein in einem Mannschaftsbus. Mit dem Walky-Talky am Ohr warten sie pflichtbewusst ihre Befehle ab und auf ein Räumfahrzeug. Es kommt nicht. Dafür aber Unmengen an Neuschnee. Die Trucker, die sich jetzt auf dem Areal zusammenstellen, beginnen Kocher auszupacken und sich einzurichten. Geht es doch ab hier durch die Berge. Nach anderthalb Stunden tut sich aber endlich was. Die Polizei lässt einige Off-Roader durch. Ein Gedanke durchzuckt mich: ,Wenn du schnell genug bist, denken die: Der hat auch Allrad!’ Der Posten fragt – ich nicke, obwohl ich nichts verstanden hab’ – bin aber Sekunden später schon vorbei. Die Fahrt wird abenteuerlich und ich bin begeistert von der Straßenlage des Jumbos. Er liegt wie auf einer Sommerchaussee und folgt jedem Lenkversuch. Trotzdem sind es schlimme Bedingungen, die das Adrenalin bis in die Haarspitzen pumpt. Ein weiterer Gedanke sorgt für Aufmerksamkeit: ,Was ist hier in einer Stunde los?’ Also: Speeed! Wir schlittern die Berge hoch und runter.

Kurz vor der Türkei geht’s mit den Niederschlägen zurück. Plusgrade – und die Schneedecke verschwindet. Bis hinter Istanbul wollen wir kommen. Das Wetter folgt uns. Stehen wir, fängt es an zu schneien. Sind wir rastlos, werden wir mit Plusgraden belohnt.

An der Grenze zur Türkei angekommen, werden wir von den Bulgaren durchgewunken. Man lächelt und zeigt mit dem Daumen nach oben. Der türkische Zoll ist da anders. Sie wollen uns nicht durchlassen. Zweifeln das „Carnet de Passage“ an. Das ist der Reisepass für den Jumbo. Er wird an jeder Grenze einen Ausreise- und Einreisestempel bekommen. In ihm sind auch Zubehör und Ausstattung, wie Radio und TV erfasst, damit diese nicht im Ausland zu Barem gemacht werden können. Dort stehen auch die fünf Reservereifen drin, die dem Jumbo so gut stehen. Das seien zu viele. Ausreichen würden auch zwei Stück. Ich sage ihnen, dass sie ja gerade deshalb drin stehen. Zweifelnder Blick. Nachfrage in der geheizten Baracke. Das geht nicht, meint er. Drei müssen hierbleiben. Ich weigere mich. Sage, dass der Wagen eine unübliche Reifengröße hat. Nach anderthalb Stunden wird’s ihnen dann langweilig, und ich darf als Belohnung für Aufsässigkeit in die Halle fahren zum Scannen und zur Tiefenkontrolle. Der Kontrolleur ist nicht da. Ich glaube, der Posten habe ein Handzeichen gegeben und dass wir durchfahren dürfen. Jedenfalls verfolgt uns keiner.

Vor Istanbul dann eine Mautstelle. An der Grenze hatte ich noch nach einer Maut gefragt und die Antwort war: „No pay for Highway“. Ich fahre vor und frage, ob sie Geld wollen. Nein – nur eine Karte. Ja – nur wusste ich nicht, dass ich eine Plakette brauche, die an die Scheibe geklebt, von Scannern gelesen wird.

Da kommt Hilfe: zwei junge Leute mit Umhänge-Ausweis. Sie sind wohl für solche Unglücksfälle angestellt und verkaufen uns eine Karte für 100 Lira, also 50 Euro. – Thomas Magnum würde sagen: „Ich weiß schon was sie jetzt denken, aber …“ – und so kommt´s dann auch. Die Karte ist leer wie ’n Glas Guinness nach drei Minuten und rot leuchtet die Ampel. Die Polizei kommt und fordert uns auf, irgendwo in der Stadt eine Einzahlung bei der Postbank im nächtlichen Istanbul zu machen. Der Versuch ist zum Scheitern verurteilt. Es ist schneidend kalt und stürmisch. Angela wartet allein im Auto und ich verschwinde im Dunkeln ohne ein Wort. Nachts sieht die Gegend dort aus wie Kairo, Nürnberg, Timbuktu oder Taschkent. Alles und nichts. Auch spricht nicht jeder Türke deutsch – wie die Antalya-Urlauber immer denken.

Die Lösung präsentiert der türkische ADAC Stunden später auf einem riesigen Tank- & Shoppingkomplex. Kein Problem, fahr einfach weiter. Irgendwo kannst du dann sicher bezahlen.“ Die türkische Gelassenheit sorgte für die Entspannung der Nackenmuskulatur. Zahl’ ich halt später. Also dann: Mit Karacho durch die nächsten drei gesperrten Maut-Stationen. Das grell aufleuchtende rote Stoppzeichen konnte den Durchbruch nicht verhindern. Deshalb sehe ich auch häufig in Berlin türkische Fußgänger bei Rot über die Straße laufen: Die zahlen auch alle erst hinterher! (Am Ende der Türkei konnte ich dann doch noch die Straßennutzungsgebühr entrichten und bin stolzer Besitzer einer Mautplakette. – Die bleibt dran!)

Übrigens: Es beginnt zu schneien!

Dann kommt die Information: Bulgarien versinkt im Schneechaos! Die Flughäfen sind gesperrt. In dem ungewöhnlichen Wintereinbruch versinken die Straßen unter einer vierzig Zentimeter-Schneedecke. Die wenigen Räumfahrzeugen reichen nicht bis in diese Gegend des Sommers. Wenn das kein Zeichen ist! Wann war nochmal der Weltuntergang? Übermorgen ist Ende des Maja-Kalenders!

Die Straße ergreift Besitz von mir.

Es bildet sich ein sonderlich’ Gefühl: Ich sollte die mir gegebene Chance der milden Temperaturen durch Fahren nutzen. Ruhe lockt den Winter mit Schnee und Frost. Die Heftigkeit des Wintereinbruchs, die wir beobachtet haben, könnte möglicherweise das Ende der Träume bedeuten. Das Unterbewusstsein hat´s erfasst. Eine Veränderung geht vor: Du fixierst mit zusammengekniffenen Augen die Fahrbahn. Die Finger umschließen das Lenkrad als würden sie mit ihm verwachsen. Du schaust auf die Arme und siehst, wie sie sich verändern, die Adern treten hervor. Dann greifst du dein weißes Tuch mit dem roten Punkt. Bindest es um. Dein Blick ist der von „No fear“. Die Metamorphose ist jetzt fast abgeschlossen, die Mensch-Maschine-Symbiose ist komplett. Jetzt kann der frostige Feind kommen! Du bist gerüstet. Dein Mantra ist: Fahren! – Fahren! – Fahren!

Jetzt geht es ab in die Berge. Kein Schnee. Wir haben Vorsprung! Die Landschaft hier ist abwechslungsreicher, Mittelgebirge mit Wäldern, einfach romantisch. In Osmancik blühen noch die Rosen. Eine riesige Busstation mit mindestens hundertfünfzig Restaurantplätzen ist malerisch eingebettet in die Berge und wartet nur auf uns. Bei 5,6 Grad Plus wollen wir nach 502 Kilometern die Nacht antreten. Vorher genießen wir türkische Kantinen-Versorgung, an der es nichts zu mäkeln gibt. Viel Gemüse und fleischstückige Ragouts mit Gewürzlastigkeit. Unsere kulinarische Neugierde ist sehr verhalten, da die Strecke wieder mal in uns steckt. Die Piste fordert ihren Tribut, da will man nur noch Kalorien und eine Decke.

Warum der Komplex so riesig ist, erleben wir in der Nacht. Busse docken im Minutentakt an und spucken ihre hungrigen und nach Aktivität lechzenden Passagiere aus. Sie schwärmen lautstark aus und sind in wein- oder rakeseliger Stimmung. Der Jumbo fühlt sich in dieser Nacht „angepisst“. Am Morgen kaufen wir die Spezialität des Etablissements. Es ist ein neunzig Zentimeter großes rundes Brot. Der Geruch ist so natürlich schön, wie nur ein warmes Bäckerbrot riechen kann. Ein leichtes Riesenbrot mit splittriger dünner Brotkruste liegt in meinen mehligen Händen. Scheinbar ohne Verfallsdatum, denn es soll uns bis Pakistan als Unterlage für das reichhaltige Wurst- und Käseangebot unseres Kühlschrankes dienen.

6 Im Würgegriff des Winters

21. Dezember 2012 – Da wir nicht richtig schlaffen konnten, sind wir gegen drei Uhr in der Dunkelheit aufgebrochen. Wie die letzten Tage auch schon, ist es dasselbe Prozedere: Fuß raushalten, um die Zeit bis zur abgeschlossenen textilen Umhüllung festzulegen. Hygienerituale auf den örtlichen Örtlichkeiten. Grüner Tee im Monster-Pott mit weihnachtlicher Keksauswahl. Der Magen muss ganz langsam auf Umdrehungen kommen.

Noch kauend klettere ich auf den Pilotensitz. Kurzer Check der Systeme. Alles startklar und motiviert. Strom auf die Zündung. Der Auspuff röhrt den Diesel-Ruß-Blues. Melodisch, sauber, rhythmisch – konzertant. Langsam drehen die Räder ihre ersten vorsichtigen Runden. Noch umschließt uns die Finsternis. Nachts sind nicht nur die Katzen grau. Wir tasten uns auf die Asphaltbahn. Die Schaltung ist noch schwergängig vor Kälte und wieder spüre ich, dass es mit dem milden Wetter zu Ende geht.

Steile Berghänge, die sich scheinbar langsam aus dem dunklen Nichts materialisieren. Langsam klettern wir auf 1.300 Meter hoch im Schleichgang. Schneekettenzeichen. Zaghafte Schneedecke je weiter wir kommen. Wie Greisenhaar. Dann geht es wieder runter. Und wieder hoch auf 1.100 Meter. Die schmierige Fahrbahn zwingt zur Vorausschau. Erahnen, wie der Wagen nach der nächsten Kurve reagiert oder ob es steil nach unten geht und ich langsam anbremsen werde. – Stress pur und die Erkenntnis: Wenn es hier zu schneien anfängt, kannst du einpacken. Du musst auf den Räumdienst warten, wann immer der kommt. Und das bei strengem Frost. Lasse ich dann den Motor an, um Wärme zu generieren? Oder spare ich besser Diesel?

In der Ost-Türkei gibt es wenige Dörfer, eher Ansammlungen von Häusern. Oft fahre ich stundenlang ohne Menschen zu sehen. Zivilisationslos.

Was mach’ ich hier? Ich spüre die Ferne, bin das Staubkorn im Wind. Beginne zu begreifen, was Alleinsegler fühlen, wenn sie nur noch Wellen sehen und wissen, dass sie hier niemand im Ernstfall retten kann. Der Zauber der Berge und das nach jeder Kurve neue Panorama lassen mich diese hässlichen Gedanken vergessen. Zu Hause würde ich am Schreibtisch sitzen und eine Fremdenverkehrsumfrage beantworten, wie ich die Zukunft im Gastgewerbe einschätze. Würde versuchen die Dateien im PC übersichtlicher anzulegen, ausrechnen, welche Versicherung preiswerter ist und mich nach ihrem Kulanzverhalten erkundigen. Vielleicht treffe ich auch im Supermarkt wieder einen alten Bekannten, der mir sagt, dass er den Arzt gewechselt hat, das der Peter Sulzmann geschieden ist und Thomas Phillips die bessere Blumenerde hat, auch, wenn sie fünf Cent teurer ist als die bei ALDI. Der Nachbar hat sicher geschrieben, dass die Streupflicht auch mich angeht und dass Herr Kaiser mir die perfekten Rollos einbaut, damit auch in Abwesenheit mein Haus geschützt ist. Ich bin mir im Klaren, dass mir gute Angebote von Kaufland entgehen werden und neue Fernsehserien ohne mich starten. Und was das Schlimmste ist: Es interessiert mich alles einen Dreck!

Dann wieder erfordert die Piste meine volle Aufmerksamkeit. Der Schneefall nimmt uns die Sicht und der Gummi der Reifen erreicht nicht mehr den Asphalt. Da wir die eisige Angst im Nacken spüren, fahren wir wie gehetzt unter diesen Bedingungen 872 Kilometer bis Agri! Bei einem Speed-Maximum von achtzig, liegt der Durchschnitt um die 55 km/h. Ein stolzes Ergebnis, das aber auch den gut gebauten türkischen Autobahnen zu verdanken ist. Verkehr ist auch kaum wahrzunehmen, was vielleicht am Dieselpreis von 2,20 Euro pro Liter liegen kann.

Trotzdem falle ich ins Bett – Orientierungsschwierigkeiten – Übelkeit – Schüttelfrost bei laufender Heizung – ich bin „Fulldown“ – ausgelutscht – man könnte mich mit ´ner Büroklammer erschlagen. Es ist erst sechzehn Uhr und wir haben dreizehn Stunden Fahrzeit hinter uns. Es beginnt heftig zu schneien.

Mein Magen will garnicht mehr. Fünfzehn Stunden Ruhe ist beschlossen. Ich muss wieder zu Kräften kommen. In der Nacht Träume wie im Fieberwahn. Als ich langsam zu mir komme, ist es schon hell. Wir sind im Winterwunderland. Schneepflüge versuchen ihren Namen zu verdienen. Sie sind am Rutschen, Steckenbleiben und Abdriften. Obwohl der Ort in verschneiten Bergen liegt, und die Vorhersage von minus 6 Grad sprach, messe ich nur 0,8 Grad plus am Morgen. Nur noch hundert Kilometer bis in den Iran! Das schaffen wir. Man sagte uns ja, dass es ab Tabriz deutlich wärmer wird.

Ein interessantes Phänomen habe ich bemerkt: Du wirst in dieser Fahrphase nicht unkonzentriert oder sowas. Nein! Du bist mit den Instinkten dein Auto. Dir tut das Schlagloch weh – du bist der Reifen, der gleich rutscht, das Klappern des Auspuffs, die Vibration der Kardanwelle – du leidest und freust dich bei jedem Berg. Deshalb gibt wohl Sebastian Vettel auch seinem Auto einen Namen und streichelt es, wenn es gewonnen hat. Es ist, wie schon gesagt, eine Symbiose aus Mensch und Auto!

Gestern war Weltuntergang, aber ich hab’ ihn verschlafen. Die Tankstelle liegt wie im Winterschlaf. Wir matschen uns auf die Straße. Je weiter wir kommen, umso weniger ist die Straße geräumt. Unser Plan ist, über Van in den Iran zu fahren. Das war ein Tipp von Verena und „Wolfi“, einem sehr netten Globetrotter-Paar aus Österreich. Sie werden uns später auch noch öfter helfen und uns an ihren Gedanken und ihrem Leben Anteil nehmen lassen. Es soll in Van eine unkomplizierte Abfertigung geben. Ohne Schmiergeldzahlung und stundenlangem Warten. Wir fahren über verschneite Pisten, bis entgegenkommende Trucks hupen und uns Zeichen zur Umkehr geben. Neben der Straße liegt ein guter Meter Neuschnee. Würde ich hier wegrutschen, stecke ich fest. Was das, ohne Hilfe zu bekommen, bedeutet, weigere ich mich zu durchdenken. Alles ringsum ist weiß. Berge, Ebenen, ja selbst die Luft hat keine Farbe mehr. Totenstille. Stellt man sich so die Ankunft im Himmel vor?

Der Pass ist zu. Alles dicht. Schneechaos, sagt man uns. Was tun? Warten oder durch?

Unser Restalkohol fällt uns ein. Den sollten wir nicht bei der Grenzabfertigung bei uns führen. Da es bekannt ist, das im islamischen Revolutionsstaat Alkohol verboten ist, könnte das als versuchter Schmuggel ausgelegt werden. Somit nutzen wir die Gelegenheit und verschenken Bier und Gelas Drei-Liter-Lieblingswein an einen türkischen Trucker, der uns nach den Schneeverhältnissen in Van fragt. Für ihn ist jetzt schon Weihnachten, und es folgen sofort andere Trucker, um auch mal den Weihnachtsmann zu sehen. Nur, haben wir ja keinen Tankwagen, sondern den Jumbo.

Wir sind gezwungen umzukehren und den Hauptübergang zum Iran in Bazargan zu benutzen. Hinter dem Schlagbaum stellen wir fest, wie unkompliziert die türkische Seite ist. Ich werde mit dem Auto durchgewunken Gela muss allein raus durch die Kontrolle. Sie bekommt den Pass mit und soll in die Abfertigung gehen. Es ist dort hektisch, die Leute schreien, es gibt keine Beamten mit Uniform. Gela ist umgeben von gefühlten 200 Männern, die Frauen nicht akzeptieren und der Frage: ,Wem gebe ich welche Papiere und beantworte welche Frage in Türkisch.’ Mit den Beamten klappt es bei mir recht gut und wir sind beide schnell am Wagen wieder vereint – bis – ja, bis unsere Papiere vom iranischen Zoll an zwei Herren übergeben werden, die für den Zoll und uns alles Weitere regeln sollen. Sie versuchen uns zu erklären, dass Pakistan (eventuell der Iran?) 850 US-Dollar für Tankgutscheine haben will. Sie können uns aber eine Erklärung aus Armenien für 150 Euro geben, die diese Zahlung unnötig macht. Ich lehne ab und will meine Papiere. Dann kommt – zufällig – ein „Russe“ des Wegs, mit teurem Metall im Mund und nagelneuem weißem AMG-Mercedes-Coupé (flach wie ´ne Flunder). Er bestätigt die Rechtschaffenheit der Ehrenmänner und meine einmalige Chance einen Reibach zu machen (für ihn wohl eher ´nen Maybach).

Ich sage, dass ich meine Papiere zurück will. Es stellt sich heraus, dass kein Eingangsstempel drin ist. Den und die Papiere krieg ich erst nach Bezahlung des Blutzolls an sie. Wir fahren in das „Zollgebäude“ und nach der Bezahlung sagen sie zum zehnten Mal, ich solle sagen, dass ich aus Armenien eingereist bin. So ein Schwachsinn aber auch, da die Visa im Pass etwas anderes sagen. Ich zahle 150 Euro. Sie fordern noch ein Bakschisch und ich darf weiter mit allen Papieren. Andere hatten noch mehr Pech. Iranische unnötige Tankscheine für 850 US-Dollar oder zwei Tage warten, war wohl das Grausamste.

7 Der Iran