Mirco - Sandra Schlitter - E-Book

Mirco E-Book

Sandra Schlitter

4,8

Beschreibung

Am 3. September 2010 verschwindet der zehnjährige Mirco auf dem Heimweg von der Skaterbahn. Was folgt, ist die bisher größte Suchaktion in der Geschichte der Bundesrepublik. Menschen aus dem ganzen Land nehmen Anteil. Doch der Junge mit dem Lausbuben-Lachen bleibt verschollen und erlangt als "Mirco aus Grefrath" traurige Berühmtheit. 145 Tage lang hoffen, bangen und beten Mircos Eltern. Doch ihr Junge kehrt nicht zurück. Knapp fünf Monate nach seinem Verschwinden wird Mirco entdeckt. Entführt, missbraucht, erdrosselt. In diesem Buch erzählen Sandra und Reinhard Schlitter, wie es ihnen gelingt, mit dem Unfassbaren fertigzuwerden. Von ihrem Leben mit Mirco, ihrer Verzweiflung, vom Glauben an Gott, von der Unterstützung der Menschen, die sie umgeben. Und davon, wie sie es schaffen, sogar um Vergebung für den Täter zu bitten. "Mit unserem Buch möchten wir zeigen, was uns geholfen hat, die Spirale von Hass und Verzweiflung verlassen zu können. Und wie man ein Leben führen kann, das trotz allem Zuversicht, Menschenliebe und Glauben vereint." Sandra & Reinhard Schlitter

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Inhalt

Vorwort

Kapitel 1: Der Tag, der alles anders machte

Kapitel 2: Wie wir uns gefunden haben

Kapitel 3: Mirco startet ins Leben

Kapitel 4: Zwischen Hoffen und Bangen

Kapitel 5: Die Medien und Mircos Verschwinden

Kapitel 6: „Grefrath hat seine Unschuld verloren“

Kapitel 7: Der Täter wird gefasst

Kapitel 8: Abschied von Mirco

Kapitel 9: Die Gerichtsverhandlung

Kapitel 10: Wir gehen weiter

Epilog

 

 

 

Vorwort

Das Verschwinden unseres Sohnes hat 145 Tage lang ganz Deutschland bewegt. Und noch heute beschäftigt sein Schicksal viele Menschen aus dem In- und Ausland. Unser Junge, damals 10 Jahre alt, verschwand am Abend des 3. September 2010 auf dem Heimweg von einer Skaterbahn, bei der er sich mit seinem Freund getroffen hatte. Zu Hause kam er niemals an.

Er wurde von einem fremden Menschen überfallen, entführt, missbraucht und getötet. Seine Leiche versteckte der Täter in einem abgelegenen Waldstück. Wir, seine Eltern, ebenso wie seine Geschwister, seine Verwandten, Freunde und die Tausende, die mit uns bangten, wussten nicht, wo wir Mirco finden konnten. Wir wussten nicht, was mit ihm geschehen war. Wir wussten 145 Tage lang nicht, ob wir noch hoffen durften oder trauern mussten.

Mircos Verschwinden zog die größte Suchaktion nach sich, die die Polizei der Bundesrepublik jemals durchgeführt hat. 9.986 Hinweise bearbeitete die „Sonderkommission Mirco“ unter der Leitung von Kriminalhauptkommissar Ingo Thiel aus Mönchengladbach. Hunderte von Beamten durchkämmten Quadratkilometer um Quadratkilometer jedes Bezirks, in dem man eine Spur unseres Jungen vermuten konnte. Tausende von Autofahrern wurden überprüft. Gefahndet wurde bis in die Nachbarländer. Tornadojets der Bundeswehr überflogen mit Spezial-Wärmebildkameras das Gelände um unsere Heimatstadt Grefrath, in der Hoffnung, einen Hinweis auf den Verbleib unseres Jungen zu finden. Hundestaffeln rückten aus, Hubschrauber und Polizeitaucher unterstützten die Fahndung – doch alle Mühen blieben vergeblich.

Bis die Hartnäckigkeit und der Spürsinn der 62 Männer und Frauen der Sonderkommission schließlich Früchte trug. Sie filterten in akribischer kriminalpolizeilicher Kleinarbeit einen Verdächtigen nach dem anderen aus, überprüften Alibis, nahmen Faserproben aus Autos, fragten nach, prüften Aussagen, erstellten psychologische Profile und kreisten schließlich den Tatverdächtigen ein. „Wir kriegen ihn, wer immer das gemacht hat!“, hatte uns Soko-Leiter Ingo Thiel geschworen. Er hat Wort gehalten.

Nach 145 Tagen stand er mit seinen Leuten vor der Haustür des Mannes, der unseren Mirco entführt, missbraucht und getötet hat.

Wir haben als Familie eine Katastrophe erlebt. Und überlebt. Erst später haben wir erfahren, dass das nicht alltäglich ist. Denn wir sind nicht, wie viele andere Familien, die ein solches Schicksal erleben mussten, daran verzweifelt und zerbrochen.

Warum konnten unsere Kinder und wir das schaffen? Was hat uns dabei geholfen? Wie sind wir mit Entsetzen, Ohnmacht, Trauer und Wut fertig geworden? Warum hat uns nicht die Depression und Verzweiflung eingeholt? Wie konnten wir es schaffen, dem Täter entgegenzutreten, ohne ihn mit Hass zu überschütten?

Das haben wir uns, ehrlich gesagt, gar nicht gefragt. Aber wir haben diese Fragen immer und immer wieder von den Menschen gehört, die uns durch die schrecklichen 145 Tage und darüber hinaus begleitet haben – sei es nun professionell oder privat. Kann es in diesem tiefsten Tal, das Eltern je durchschreiten können, diesem schlimmsten Albtraum, den man nie erleben möchte, so etwas wie Trost geben? So etwas wie die Gewissheit, wie man in einer solchen Lebenskrise richtig handelt?

Wir wollen als Eltern von Mirco mit diesem Buch gemeinsam versuchen, das Leben unseres Sohnes noch einmal Revue passieren zu lassen. Seine Geburt, seine Freuden, seine Fantasie, seine Pläne, seine Hoffnungen. Wir schreiben dieses Buch nicht, um unserem Kind ein Denkmal zu setzen. Das braucht Mirco nicht und das brauchen auch wir nicht. Mirco ist in den Herzen aller, die ihn gekannt haben, sicher und fröhlich verwahrt. Wir brauchen auch deshalb kein Denkmal, weil wir überzeugt sind, dass der Tod nicht das Ende einer Lebensgeschichte ist. Wir schreiben dieses Buch vielmehr in dem Bewusstsein, dass es eine Geschichte erzählt, die vielleicht anderen Menschen helfen kann, die das Leben ebenfalls auf schwierige Wegstrecken geführt hat – oder führt.

Ralf Markmeier, der Chef des adeo-Verlags, hatte uns angesprochen, nachdem er unsere Fernsehdiskussion zusammen mit dem Präses der Evangelischen Kirche, Nikolaus Schneider, bei „Beckmann“ gesehen hatte. Im Gespräch mit ihm wurde uns bald klar: Wenn dieser ganze Irrsinn von Mircos Tod doch noch irgendeinen Sinn haben sollte, dann vielleicht diesen: dass wir davon erzählen, wie das Leben nach einem solchen Schlag weitergehen kann; dass wir unsere Erfahrungen weitergeben, die anderen Menschen vielleicht ein Licht in dunklen Stunden sein können. Dass bei allem Unbegreiflichen, was uns im Leben widerfährt, noch Platz ist für Hoffnung und Vergebung. Und dass wir nicht an der Frage zerbrochen sind, warum Gott so etwas zulässt, sondern von ihm durch diese Zeit getragen worden sind.

Natürlich müssen wir alle sterben, ob wir an Gott glauben oder nicht. Das ist gewiss. Über das Wie bekommt keiner von uns im Voraus eine Antwort. Aber wir glauben, indem wir das Schlimmste durchlitten haben, heute ein paar Antworten mehr gefunden zu haben, die uns und anderen vielleicht helfen können, mit der Begegnung mit dem Tod besser umzugehen.

Zusammen mit dem Journalisten Christoph Fasel, der uns mittlerweile ein guter Freund geworden ist, haben wir in vielen Gesprächen gemeinsam Material gesucht, gesichtet, gesammelt, ausgewählt und haben uns beim Schreiben – und nicht zu vergessen, beim Schlitterschen Lieblings-Risotto – diesem Buch genähert.

Wir möchten mit diesem Buch auch den vielen Menschen danken, die uns in den härtesten Stunden unseres Lebens nicht im Stich gelassen haben. Die nicht weggeschaut haben. Die in Gedanken mit uns und vor allem mit Mirco waren. Die gehofft, gebangt und gebetet haben. Das waren Freunde und Familienmitglieder, aber auch viele Menschen, die wir nie in unserem Leben gesehen oder gesprochen hatten. Sie sollen wissen, wie viel Trost und Hoffnung uns ihre Solidarität gespendet hat. Wir sind uns sicher, dass auch das uns durch diese dunkle Zeit getragen hat.

Das Leben geht weiter. Mirco hat drei wundervolle Geschwister. Auch sie haben das Recht auf ein Leben, das nicht in Erstarrung untergeht. Wir durften bei all dem Schrecklichen, was geschehen war, schließlich doch noch von Mircos sterblicher Hülle Abschied nehmen. Das hat unseren Kindern, unserer Familie, unseren Freunden und uns die Chance gegeben, ihn ein Stück weit loszulassen.

Jedes Jahr verschwinden in Deutschland rund 50.000 Kinder. Viele von ihnen tauchen niemals wieder auf, bleiben für immer spurlos verschwunden. Für diese Eltern bleibt die Ungewissheit, die uns 145 furchtbare Tage in ihren lähmenden Klauen hielt, ein ganzes Leben lang bestehen.

Vielleicht kann unser Bericht dazu beitragen, die Wahrnehmung zu schärfen: für das, was um uns herum geschieht und wo manchmal ein genaueres Hinsehen, ein Anruf, ein Einschreiten vielleicht Furchtbares verhindern kann. Für die Not, die ein solcher Schicksalsschlag hinterlässt. Und für die Möglichkeit, auf solche Menschen zuzugehen und ihnen Hilfe anzubieten – und diese Hilfe kann ganz viele unterschiedliche Gesichter haben.

Wenn nur ein Schimmer mehr Licht auf von solchem Leid betroffene Menschen fallen würde, hätte dieses Buch das erreicht, was wir uns von ihm erhoffen.

Grefrath, im August 2012

Sandra und Reinhard Schlitter

 

Kapitel 1

 

Der Tag, der alles anders machte

Sandra: Geschichten, die das Leben ändern, beginnen oft unbemerkt. Sie beginnen leise. Ohne Zeichen, dass am Ende des Tages nichts mehr im Leben so sein wird wie vorher.

Mircos Geschichte beginnt an einem unscheinbaren Freitag. Daraus entwickelt sich unser Leidensweg – jenes Ereignis, das alle Eltern der Welt am meisten fürchten. Wir haben diese Geschichte durchlebt. Und überlebt. Noch heute zeichnet sie unser Leben; unseres als Eltern genauso wie das seiner Geschwister: das Leben unserer drei weiteren Kinder Alexander, Julia und Judith.

Freitag, 3. September 2010. Ich, Sandra, die Mutter von Mirco, will mit dem Erzählen beginnen. An jedes Detail dieses Tages kann ich mich erinnern. Jedes ist eingebrannt in mein Gedächtnis. Für uns alle war es ein normaler Wochentag im Spätsommer 2010. Die Sommerferien waren eine Woche her. Wir haben die Urlaubszeit in Südfrankreich gemeinsam genossen. Die Freude und Wärme dieser Wochen sieht man auch Mirco an: Sein Gesicht ist braun gebrannt, vom Schwimmen, Radfahren und Klettern in den Hügeln ist sein Körper durchtrainiert, er steckt voll Energie und Tatendrang. Wie stets ragen auch an diesem Morgen seine Stirnhaare gegelt und gestylt vorne hoch. Die Frisur spiegelt seinen typisch verschmitzten, fröhlichen Charakter wider, den wir alle so lieben.

Der Arbeitsalltag hat uns wieder: Vier Kinder, ein Hund, ein Haus, ein Garten, ein Mann, der in der Industrie arbeitet, ich selbst in einem Teilzeitjob in einem Ladengeschäft in Grefrath – da ist gute Organisation gefragt.

Mein Mann Reinhard ist schon seit 4:50 Uhr aus dem Haus, auf dem Weg zur Frühschicht bei den Deutschen Edelstahlwerken in Krefeld. Dort arbeitet er als Industriemechaniker. In der Frühschicht repariert er stahlbearbeitende Maschinen, von Sägen über Schälmaschinen bis zu Schleifmaschinen, sorgt zusammen mit seinen Kollegen dafür, dass die riesigen Anlagen reibungslos laufen – ein fordernder Job.

Mein Programm beginnt um 6:15 Uhr. Aufstehen und gegen 6:30 Uhr die Kinder wecken, dann Kakao machen und Brote schmieren, schauen, ob bei den beiden Jüngeren die Schulranzen richtig gepackt sind, kein Heft vergessen ist. Als Erste brechen Alex und Julia auf. Wir verabschieden uns und wünschen uns einen tollen Tag. Dann sind die beiden Kleinen dran, Mirco und Judith. Es ist mittlerweile 7:40 Uhr.

Ein Freitag wie jeder andere

Heute, an diesem Freitag, fährt Judith mit dem Fahrrad zur Schule. Mirco und ich gehen gemeinsam mit unserem Hund, er trägt den schönen Namen „Summer“, die 10 Minuten zu Fuß zur Schule.

„Tschüs, Mama, schönen Tag!“, sagt Mirco lässig, als wir vor der Schule stehen. Ein paar Kameraden von ihm erwarten ihn schon. Wie peinlich, wenn ich jetzt über sein gegeltes Haar streichen würde! Das geht natürlich gar nicht! Was sollte denn die Clique denken! Also erwidere ich den Gruß meines großen, kleinen Jungen ebenso locker mit einem „Tschüs!“ und vollende meine morgendliche Hunde-Runde durch Park und Eisstadionwald. Nach einer Dreiviertelstunde bin ich wieder daheim.

Es ist still im Haus. Nur Leo, unser Wellensittich, zwitschert. Als Erstes mache ich mich an den Hefeteig für einen Pflaumenkuchen. Von einer Bekannten haben wir einen Korb der leckeren Früchte bekommen. Während der Hefeteig geht, schnappe ich mir den Staubsauger und wandere durch das Erdgeschoss – Wohnzimmer, Esszimmer, Schlafzimmer, Küche und Bad. Dann kümmere ich mich um das Mittagessen. Die Kinder sollen schließlich, wenn sie aus der Schule kommen, was Leckeres vorfinden.

Es gibt unser Lieblings-Familiengericht, „Heide-Risotto“, benannt nach Reinhards Mutter. Sie hatte fünf Kinder zu versorgen und kannte viele leckere, schnell zubereitete Gerichte. Wir haben das Rezept nur zu gern übernommen: Erstens ist es lecker und schmeckt allen vier Kindern und uns Erwachsenen, was ja nicht für alle Speisen gilt. Zweitens geht es schnell. Und drittens ist es gut aufzuwärmen, wenn jedes der Kinder zu einer anderen Zeit aus der Schule kommt und schließlich dann der Papa um drei Uhr nachmittags von der Arbeit. Also schnappe ich mir die Zutaten, Hackfleisch, Gewürzketchup, Curry, und ruck-zuck ist das Risotto vorbereitet und steht auf dem Herd. Als gesunde Beilage jubele ich den Kindern noch einen Gurkensalat unter.

Das mache ich alles gern für meine Familie. Es bereitet mir Freude, das Haus für sie schön zu machen. Unser Familienglück und die Kinder betrachte ich als große Geschenke Gottes.

Meine Schicht beginnt um 11:00 Uhr, und ich will doch noch den Pflaumenkuchen backen, den Reinhard und die Kinder so mögen. Wenn ich mehr Zeit habe, gehe ich sonst morgens einmal auch durch die obere Etage. Hier haben unsere Kinder ihr Reich.

Reinhard und mir gefiel dieses Haus aus dem Jahr 1904, das mittlerweile seit elf Jahren unseres ist, vor allem deshalb so gut, weil es für jedes Kind ein eigenes Zimmer bietet. Das ist mit vier Kindern gar nicht so einfach, wenn es bezahlbar bleiben soll. Unser hübsches Backsteinhaus samt eigenem Garten hat mit den vier Zimmern unterm Dach sozusagen ein eigenes Kinder-Reich. Das bietet allen – uns Eltern wie unseren Kindern – genügend Rückzugsmöglichkeiten.

Ein eigenes Reich für alle vier Kinder

Gleichzeitig wissen unsere Kinder immer: Mama und Papa sind ja in der Nähe, und wenn etwas ist, sind sie ruck-zuck die 18 Stufen nach unten gelaufen und ins große Familienbett gesprungen. Gut zu wissen.

Jedes Zimmer erzählt etwas vom Charakter unserer Kinder. Alex, unser Großer, hat eine klare Grundordnung. Er macht jeden Morgen sein Bett selbst und räumt seine Sachen sorgfältig zusammen. Falls nötig, sauge ich ein paar Flusen vom Teppichboden. Mehr ist bei Alex nicht zu tun.

Julia ist eine heranwachsende junge Dame, das innere Chaos der Pubertät bestimmt offenbar auch den Zustand ihres Zimmers. Berge von Klamotten häufen sich mitten im Zimmer. Sie kann sich von ihren Sachen nicht so recht trennen – auch nicht zum Waschen. Ganz im Gegensatz dazu steht die Batterie von Nagellackflaschen in Reih und Glied geordnet auf der Kommode. Auf dem Schreibtisch wartet ihr Computer, mit dem sie gern mit ihren Freundinnen chattet.

Neben ihr wohnt Judith. Unsere Kleine – süß, liebevoll und aufgeweckt zugleich. Ein paar Haarspangen, der Schlafanzug auf ihrem Bett, sonst liegt kaum was herum. Wenn ich die Zeit dafür habe, werden die Betten aufgeschüttelt und gefaltet – fertig ist die Ordnung.

Dann ist da noch Mircos Zimmer. Vom Flur aus rechts führt die Tür hinein, es hat ein Fenster nach vorne raus. Links von der Tür das Bett, kein Hochbett, daneben zur Straße hin sein Schreibtisch, an der Wand seine größten Schätze: seine Sammlung von Spielzeugtraktoren. Von denen muss ich um jeden Preis meine Pfoten lassen! Unser Mirco ist ein großzügiger Junge, aber bei seinen Traktoren wird er eigen. Die darf noch nicht mal sein Vater ohne seine Erlaubnis anfassen – außer zum Reparieren – geschweige denn seine Geschwister. Und nur wenigen, auserwählten Freunden ist die Ehre gestattet, wenn sie bei Mirco zu Besuch sind, mal einen Fendt-Ackerschlepper im Maßstab 1:40 oder einen John Deere im Maßstab 1:25 in die Hand zu nehmen.

„Darf ich heute ins Kino gehen?“

Heute, an diesem Freitag, dem 3. September 2010, schaffe ich es nicht in den ersten Stock zum Durchsaugen und Lüften – der Pflaumenkuchen verlangt meine Aufmerksamkeit. Ich muss mich sputen, damit ich pünktlich um 11:00 Uhr im Laden bin. Die Kinder kommen heute zwischen 12:30 und 14:00 Uhr nach Hause; dann bin ich noch nicht wieder zurück. Aber sie wissen: Ich bin im Geschäft zu erreichen, und gegen 15:00 Uhr kommt Papa von der Arbeit und kümmert sich um alles.

Auf unsere Kinder ist Verlass. Es ist kurz vor 14:00 Uhr, Reinhard ist noch nicht zu Hause; Mirco hat sich aber mit einem Klassenkameraden aus dem Grefrather Stadtteil Oedt verabredet. Die Jungs wollen zusammen mit zwei Mädchen aus ihrer Klasse in dem acht Kilometer entfernten Kempen ins Kino gehen, um sich „Step up 3D“ anzuschauen. Den Weg zu seinem Freund Mike nach Oedt, wo die zwei Klassenkameradinnen dazustoßen wollen, will Mirco mit dem Fahrrad fahren, die restliche Strecke nach Kempen legen die vier dann gemeinsam mit dem Bus zurück.

Mirco hält sich an unsere Familienregeln, kommt bei mir im Geschäft vorbei und sagt Bescheid, dass er mit seinem Freund ins Kino gehen möchte. Natürlich gebe ich ihm mein Okay und wünsche ihm viel Spaß, und schon ist er wieder unterwegs. Ich rufe ihm noch hinterher, er solle nicht so spät nach Hause kommen. Aber da ist er auch schon durch die Tür, und ich kann nur noch hinterherschauen, wie er braungebrannt vom Sommerurlaub davonradelt.

Ich weiß noch genau, welcher Gedanke mir bei diesem Bild durch den Kopf ging: Typisch mein Junge, endlich hat er Wochenende und nutzt die Zeit, um sie mit seinen Freunden zu verbringen, die er in der langen Ferienzeit nicht gesehen hat.

Nach der Arbeit freue ich mich auf unser Zuhause. Wie immer schaue ich als Erstes, ob alle da sind. Ja, sind sie – bis auf Mirco. Klar, er hat sich ja bei mir abgemeldet und ist noch mit seinem Freund unterwegs. Sorgen brauche ich mir also nicht zu machen. Mein großer Sohn Alex und ich gehen noch eine Runde mit dem Hund raus. Unterwegs gönnen wir uns ein Eis beim Italiener. Es ist ein schöner, warmer Spätsommerabend, es fängt gerade an zu dämmern, und Alex und ich genießen es, mit unserem Eis in der Hand durch die beschaulichen Straßen unserer Stadt zu bummeln.

Gegen 20:30 Uhr kommen wir nach Hause. Mirco ist immer noch nicht da. Wir warten bis etwa 21:00 Uhr. Dann rufe ich bei der Mutter von Mircos Freund an, mit dem er unterwegs ist: „Ist Mirco noch bei euch?“

Nein, erfahre ich. Sie hat unseren Jungen aber vorhin bei der Skaterbahn getroffen und ihn aufgefordert, nun endlich nach Hause zu fahren, da es schon ziemlich dunkel werde. Mikes Schwester wird später bei der Polizei aussagen, dass er sich daraufhin brav aufs Fahrrad gesetzt habe und in Richtung Heimat losgeradelt sei. Für mich ist klar, dass er gleich zu Hause aufkreuzen wird, denn auf seinem Fahrrad legt er die Strecke von der Skaterbahn in ein paar Minuten zurück.

Ich bin müde von der Arbeit – es geht auf 21:30 Uhr zu. Da ich am Samstag gleich wieder früh zur Arbeit muss, denke ich: Eine gute Gelegenheit, heute mal früher ins Bett zu gehen! Ich gehe zu Reinhard, der im Arbeitszimmer vor dem Computer sitzt. Ich weiß, er knobelt seit einigen Abenden gerade an einer Computer-Simulation herum, die ihm reichlich zu schaffen macht.

„Reinhard, ich gehe jetzt ins Bett, Mirco ist unterwegs und muss jeden Augenblick heimkommen“, sage ich. „Gute Nacht!“

Ich höre ein „Gute Nacht, mein Schatz“ von meinem Mann. Allerdings klingt es ein ganz klein wenig abwesend. Aha, denke ich. Die Simulation hat ihn wieder!

Alles ist in Ordnung. Beruhigt mache ich mich bettfertig, mache das Licht aus, drehe mich um und schlafe sofort ein.

„Mirco ist nicht nach Hause gekommen!“

Ich schlafe durch bis zum Samstagmorgen. Um 8:00 Uhr stehe ich auf. Die Arbeit ruft, ich muss mich fertig machen. Vorher noch meine Medikamente nehmen – ich leide seit meiner Schwangerschaft mit Mirco an einer chronischen Darmentzündung – dann Cappuccino trinken und einen Toast essen, einen kleinen lieben Gruß auf einen Zettel schreiben, denn ich will meine Lieben am Samstagmorgen nicht so früh wecken.

Doch zuvor will ich mich vergewissern, dass Mirco gut nach Hause gekommen ist. Ich habe gar nicht mitbekommen, wie Reinhard spät ins Bett kam. Also steige ich die 18 Stufen nach oben. Leise gehe ich den Gang entlang, denn ich will keins der Kinder unnötig wecken. Die Türen zu allen Zimmern stehen wie immer offen, sind nur angelehnt. An Mircos Zimmer angekommen schiebe ich leise die Tür auf und erwarte, seinen lustigen Haarschopf unter einer zerwühlten Bettdecke zu sehen.

Dann der Schreck: Kein Mirco da. Das Bett unberührt.

Was ist da los?

Ich wecke Alex, dann Julia und Judith, frage nach: „Habt ihr was von Mirco gehört oder gesehen?“

Alle schütteln den Kopf. Nein, nichts. „Wieso fragst du, Mama? Ist er denn nicht in seinem Bett?“

„Nein, er ist nicht da.“

Jetzt erst einmal ruhig Blut bewahren. Wahrscheinlich gibt es eine ganz einfache Erklärung, sage ich mir. Es muss eine ganz einfache Erklärung geben! Alles andere will ich mir nicht ausmalen. Jetzt nicht.

„Vielleicht ist er ja über Nacht bei einem seiner Freunde geblieben?“, meint Alex.

Das könnte sein, wäre aber ungewöhnlich, denn er hätte uns in so einem Fall Bescheid gesagt. Und wenn nicht er, dann auf jeden Fall die Eltern des Freundes. Ich eile die Treppe runter. Erst einmal im Schuppen nachschauen. Steht da sein Fahrrad? Nein. Es ist nicht da. Ebenso wenig wie unser Junge.

Weitersuchen. Ich greife zum Telefon und rufe die Eltern seines Freundes an, mit dem er gestern zusammen unterwegs war. Auch dort ist Mirco nicht. Also wecke ich meinen Mann und erkläre, was los ist. Reinhard ist sofort hellwach. Ich frage ihn: „Hast du Mirco gestern Abend noch gesehen?“

Reinhard schüttelt den Kopf: „Nein. Ich dachte, er ist heimlich, still und leise nach Hause gekommen und ich habe ihn bloß nicht gehört!“

Das wäre nicht ungewöhnlich. Denn Mirco ist jemand, der sich lieber leise ins Haus schleicht statt mit großem Hallo – vor allem dann, wenn er ein bisschen spät dran ist und keinen Anranzer riskieren will. Auch sonst versteht er es meisterhaft, sich still und leise zu verhalten. Beim Versteckspielen finden ihn die anderen regelmäßig als Letzten – wenn überhaupt.

Aber dies ist kein Spiel. Das spüre ich. Auch wenn ich es nicht wahrhaben will.

Dennoch starten wir alle zuerst noch eine Hausdurchsuchungsaktion. Vielleicht ist er spät nach Hause gekommen und hat sich einfach im Schuppen schlafen gelegt – ungewöhnlich zwar, aber nicht auszuschließen. Denn schon als kleines Kind hat sich unser Mirco in den ungewöhnlichsten Positionen zum Schlafen nieder gelegt – sei es auf der Küchen-Eckbank, eingeklappt wie ein Taschenmesser, oder einmal sogar in der Duschwanne im Bad. Wir durchsuchen den Schuppen, den Garten, dann auch noch den Keller und den Dachboden.

Kein Mirco.

Das Fahrrad am Straßenrand

Komisch erscheint uns zudem, dass wir keine Spur von seinem Fahrrad finden. Sein Fahrrad, sein Augenstern! Wenn überhaupt, dürfen nur ganz enge Freunde von Mirco es auch mal fahren, lange nicht jeder. Ein „Dirtbike“, das er gerade vor ein paar Monaten mit eigenem Geld und ein bisschen finanzieller Unterstützung von uns gekauft hat. Sein Fahrrad würde er niemals freiwillig irgendwo zurücklassen!, schießt es mir durch den Kopf. Wenn es nicht hier ist, wird Mirco auch nicht hier sein.

Die Zeit läuft uns davon. Ach ja, ich muss auf meiner Arbeitsstelle Bescheid geben. Eine Arbeitskollegin ist am Telefon. Ich erkläre ihr in kurzen Worten, was geschehen ist, und schließe: „Erst muss ich Mirco finden, bevor ich zur Arbeit kommen kann!“

Damit ist die Nachricht von Mircos Verschwinden zum ersten Mal ausgesprochen. Und führt zu einer ersten Reaktion: Minuten, nachdem ich in meinem eigenen Geschäft angerufen habe, meldet sich eine Kollegin aus der Rossmann-Filiale in unserer Grefrather Einkaufsstraße, die von meinem Anruf erfahren hat: „Ich habe heute Morgen auf dem Weg zur Arbeit ein Fahrrad im Gras liegen sehen, kurz nach dem Kreisel an der Mühlhauserstraße!“, berichtet sie mir.

Reinhard und Alex springen auf ihre Räder und rasen dorthin, außerdem fahren sie den Weg nach Oedt ab, den Mirco genommen haben müsste. Ich fahre zusätzlich mit dem Auto los und folge dem Hinweis der Kollegin, um zu schauen, ob ich das Fahrrad noch entdecke. Vom Auto aus hat man ja eine andere Perspektive als vom Fahrrad.

Doch unsere Suche bleibt ohne Erfolg: Kein Fahrrad, kein Mirco. Mit leeren Händen kehren Reinhard und Alex nach Hause zurück, wo ich schon wieder angekommen bin. Nur keine Panik aufsteigen lassen!, bete ich. Bitte, Gott, lass unserem Jungen nichts Schlimmes zugestoßen sein!

Nächster Schritt: Alle Krankenhäuser anrufen. Ist bei Ihnen heute Nacht ein Junge eingeliefert worden, auf den Mircos Beschreibung passt? Vielleicht als Opfer eines Verkehrsunfalls? Vielleicht bewusstlos, sodass er nicht sagen kann, wie er heißt und wo er wohnt? Denn Ausweispapiere hat Mirco ja nicht bei sich.

Auch hier Fehlanzeige. Kein einziger Fall ist den Krankenhäusern bekannt oder gemeldet worden. Eine Hoffnung weniger. Wir fragen schließlich in unserer Verzweiflung alle Verwandten und vor allem die von Mirco besonders geliebte Tante, ob sie vielleicht was von unserem Jungen gehört haben. Aber auch da hat er sich nicht gemeldet.

Also müssen wir zur Polizei.

In Grefrath hat die Polizei Wochenendruhe

Unzählige Gedanken und Fragen schießen uns durch den Kopf. Innerlich legen Reinhard und ich eine Direktleitung zum Himmel, den wir um Hilfe und Bewahrung für Mirco bestürmen.

Das Angstgefühl in meinem Bauch wächst. Reinhard ist gefasst und gleichzeitig wie paralysiert. Er weiß genauso wie ich: Jetzt müssen wir beide einfach funktionieren.

Der Kloß in unserem Hals wird dicker. Wir teilen meinen Eltern besorgt mit, dass wir jetzt zur Polizei fahren, um Mirco als vermisst zu melden.

Grefrath ist ein friedliches Städtchen. So friedlich, dass es hier am Wochenende noch nicht einmal einen Polizeibeamten gibt, der Dienst tut. Die nächste Dienststelle, das wissen wir, liegt in Kempen. Dort stehen wir in der Polizeiwache vor einem Schalter, schildern unseren Fall, geben unsere bisherigen Maßnahmen sprudelnd wieder. Die Fragen, die der Polizeibeamte uns stellt, sind vorhersehbar: „Hatte Ihr Sohn Ärger zu Hause oder in der Schule? Ist er vielleicht von zu Hause weggelaufen?“

Wir können alle diese Fragen besten Gewissens verneinen. Reinhard und ich sind sicher: Mirco würde niemals von zu Hause weglaufen. Das wäre einfach nicht seine Art – selbst wenn es ein Problem gegeben hätte.

Der Fall ist heikel, der freundliche Polizeibeamte hinter dem Tresen spürt das. Er leitet uns weiter an die Polizeidienststelle in Viersen, nochmals rund 20 Kilometer entfernt. Wir wollen direkt nach Viersen weiterfahren, aber jetzt rebelliert mein Körper. Mir schlägt das Verschwinden unseres Kindes auf den Darm; die Entzündung meldet sich. Ich muss also erst noch kurz nach Hause. Zudem will ich den Kindern Bescheid geben, wie es jetzt weitergeht.

Alex und die kleine Judith finden wir zu Hause vor. Julia ist, wie immer am Samstagmorgen, zusammen mit einer Freundin auf dem Fahrrad zum Reiten gefahren. Als wir nach Viersen aufbrechen wollen, klingelt es an der Tür. Davor stehen zwei Polizeifahrzeuge. Wenn wir nichts dagegen hätten, so die Beamten freundlich, würden sie gern reinkommen.

Die Beamten stellen sich vor. Sie sind hier, um nähere Infos und ein aktuelles Foto von Mirco zu bekommen. Es soll ihn am besten zeigen, wie er zuletzt aussah. Das Outfit möglichst ähnlich wie das beim Verschwinden. Wir überlegen: Welches Bild wird ihm am ehesten gerecht? Das Urlaubsfoto, das sein Bruder Alex von ihm geschossen hat, schlaksig, lächelnd, am Strand in Frankreich? Alex hat das Bild auf seinem Computer und druckt es für die Beamten aus, damit sie einen Anhaltspunkt haben. Dieses Bild von Mirco wird bald in ganz Deutschland traurige Berühmtheit erreichen.

Die Beamten wollen nicht nur das Foto; sie wollen sich auch etwas im Haus umschauen, um sich eine Meinung zu bilden. Das ist für uns schon ein bisschen komisch. Doch es macht Sinn: Die Polizei sucht erst noch einmal im Elternhaus nach einem verschwundenen Kind, bevor man eine große Suchaktion startet. Oft genug ist es schon vorgekommen, dass sich ein Kind doch nur versteckt oder versehentlich selbst in Keller oder Garage eingesperrt hatte.

Was wir zu diesem Zeitpunkt nicht wissen: Die Eltern zählen zum Kreis der möglichen Verdächtigen, wenn ein Kind verschwindet. Denn 90 Prozent aller Kapitalverbrechen, so erfahren wir später, sind Beziehungstaten. Täter und Opfer sind fast immer eng befreundet oder verwandt.

Judith bleibt bei Alex, während Reinhard und ich nach Viersen zum Präsidium fahren wollen. Das entspricht unserer Familientradition: Jeder passt bei uns auf jeden auf. Das macht die Sache für uns wenigstens ein bisschen einfacher.

Mittendrin in dem Polizeibesuch ruft mein Schwiegervater an. Er denkt, Julia macht Witze, als sie ihm sagt, dass Mirco verschwunden ist. Leider müssen Reinhard und ich ihm mitteilen, dass es der Wahrheit entspricht. Dann fahren wir los zum Präsidium nach Viersen.

Dort werden wir schon mit einer Frage erwartet: „Warum kommen Sie denn erst jetzt?“ Ich erkläre das Problem mit meiner Entzündung, dann beginnt ein Fragemarathon. Die Beamten sammeln jede Menge Informationen; sie löchern uns mit Fragen: Hatte Mirco Streit mit uns? Mit anderen Mitgliedern der Familie? Mit Freunden? Probleme in der Schule? Doch wir können nichts Weltbewegendes vermelden. Mirco ist ein normaler, freundlicher Junge, der das Glück hat, keine großen Probleme mit sich herumzuschleppen. Jedenfalls soweit wir das als Eltern beurteilen können.

Dann die Fragen nach seinem Aktionsradius: Wo fährt Mirco am liebsten herum? Wo sind seine Spielplätze? Wo macht er Sport? Wo sind seine Geheimverstecke, wenn es denn welche gibt? Wo wohnen seine Freunde? Welche Strecken nimmt er gewöhnlich, wenn er mit dem Fahrrad unterwegs ist?