Miss Dior - Justine Picardie - E-Book
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Miss Dior E-Book

Justine Picardie

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Beschreibung

Das bewegende Schicksal der Catherine Dior: Widerstandskämpferin, Modeberaterin und Rosenzüchterin.

Als der französische Designer Christian Dior 1947 in Paris seine erste Kollektion präsentiert, revolutioniert er die Modewelt. Seine Kreationen vereinen Romantik, Weiblichkeit und Luxus und machen ihn über Nacht weltberühmt. Diors Schwester Catherine prägte seine Vision dabei mehr als jede andere – das Parfüm Miss Dior hat er nach ihr benannt. Doch ihre bewegende Geschichte wurde noch nie erzählt: Im besetzten Frankreich, als Christian seine Couture-Fähigkeiten verfeinerte, widmete sich Catherine dem Widerstand und wurde von der Gestapo verhaftet und nach Ravensbrück verschleppt …

Justine Picardie war in zahlreichen Archiven und reiste zu den wichtigsten Orten in Catherines Leben. Sie zeichnet das Bild einer unerschrockenen Frau und zwei mutigen Geschwistern, die schließlich in Paris wieder zusammen fanden und die Modewelt für immer veränderten.

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Seitenzahl: 488

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Über das Buch

Als der französische Designer Christian Dior 1947 in Paris seine erste Kollektion präsentiert, revolutioniert er die Modewelt. Seine Kreationen vereinen Romantik, Weiblichkeit und Luxus und machen ihn über Nacht weltberühmt. Diors Schwester Catherine prägte seine Vision dabei mehr als jede andere – das Parfüm »Miss Dior« hat er nach ihr benannt. Doch ihre bewegende Geschichte wurde noch nie erzählt: Im besetzten Frankreich, als Christian seine Couture-Fähigkeiten verfeinerte, widmete sich Catherine dem Widerstand und wurde von der Gestapo verhaftet und nach Ravensbrück verschleppt … Justine Picardie war in zahlreichen Archiven und reiste zu den wichtigsten Orten in Catherines Leben. Sie zeichnet das Bild einer unerschrockenen Frau und zweier mutiger Geschwister, die in Paris wieder zusammenfanden und die Modewelt für immer veränderten.

Über Justine Picardie

Justine Picardie ist die ehemalige Chefredakteurin der britischen Ausgabe von »Harper's Bazaar«. Sie war auch als Feuilleton-Redakteurin der britischen »Vogue« und als Redakteurin des »Observer Magazine« tätig. Sie ist Autorin mehrerer Bücher, darunter der von der Kritik gefeierten Biographie von Coco Chanel, die zum Bestseller der »Sunday Times« wurde. Justine Picardie lebt in London. 

Helmut Ettinger ist Dolmetscher und Übersetzer für Russisch, Englisch und Chinesisch. Er übersetzte Ilja Ilf und Jewgeni Petrow, Polina Daschkowa, Gusel Jachina, Michail Gorbatschow, Henry Kissinger und viele andere ins Deutsche.

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Justine Picardie

Miss Dior

Eine Geschichte von Courage und Couture

Aus dem Englischen von Helmut Ettinger

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

1: Im Rosengarten

2: Ein Irrgarten

3: Durch den Spiegel

4: Schattenland

5: Rue Royale

6: Rue de la Pompe

7: Dunkelheit bricht herein

8: Die Hölle

9: Die Unterwelt

10: Die Heimkehr

11: Der Eispalast

12: Zauberei

13: Der New Look

14: Auferstanden aus der Asche

15: Das Blumenmädchen

16: Prinzessin Dior

17: Im Zeugenstand

18: La Colle Noire

19: Keine Rose ohne Dornen

Dank

Zu den Quellen

Im Rosengarten

Ein Irrgarten

Durch den Spiegel

Schattenland

Rue Royale

Rue de la Pompe

Dunkelheit bricht herein

Die Hölle

Die Unterwelt

Die Heimkehr

Der Eispalast

Zauberei

Der New Look

Auferstanden aus der Asche

Das Blumenmädchen

Prinzessin Dior

Im Zeugenstand

La Colle Noire

Keine Rose ohne Dornen

Bibliographie

Memoiren, Biographien und Studien zu Christian Dior

Literatur

Bildnachweis

Erläuterungen

Impressum

Wer von diesem Buch begeistert ist, liest auch ...

Für meinen Ehemann Philip

»Vier Jahre lang haben wir gearbeitet und geforscht, um den Stein der Weisen zu finden. Dann war Miss Dior geboren … Denn, wissen Sie, wenn ein Parfüm sich behaupten soll, dann müssen seine Schöpfer es zuvor lange im Herzen tragen.«

Christian Dior

Catherine Dior in ihrem Garten in der Provence.

1

Im Rosengarten

Dies ist die Geschichte einer Erscheinung, die an einem heiteren Sonntagmorgen im Frühsommer in mein Leben trat und mich seitdem nicht mehr losgelassen hat, so sehr ich es mir zeitweise auch gewünscht hätte. Ihr Name ist Catherine Dior. Sie zeigte sich mir, als ich den Garten von La Colle Noire, dem eleganten Schlösschen ihres Bruders Christian in den Bergen der Provence, durchstreifte, einen Ort, den sie häufig aufsuchte und wo sie eine Zeitlang lebte, nachdem er 1957 an einem Herzinfarkt im Alter von 52 Jahren unerwartet verstorben war.

Christian wurde 1905 als zweiter Sohn einer wohlhabenden Familie geboren. Catherine, zwölf Jahre jünger als er, erblickte 1917 als letztes von fünf Geschwistern das Licht der Welt. Wenig später wurde ihr ältester Bruder Raymond zur französischen Armee einberufen und zog in den Ersten Weltkrieg. Doch an jenem wunderschönen Tag in La Colle Noire lag mir nichts ferner, als an Krieg zu denken. Ich genoss die erlesene Schönheit des Hauses, das Christian Dior mit den Einkünften aus der 1946 von ihm gegründeten Marke gekauft und saniert hatte.

Die Debütkollektion, die er am 12. Februar 1947 in Paris präsentierte, hatte Carmel Snow, die Chefredakteurin des US‑Modemagazins Harper’s Bazaar (eine Stellung, die später auch ich ausüben durfte), New Look getauft. Doch ungeachtet des Namens konnte man darin genauso gut eine nostalgische Neuinterpretation des Stils der Belle Epoque, jener goldenen Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, sehen. Das waren die Jahre von Christians früher Kindheit, die er in der sicheren Umgebung von Les Rhumbs, dem Haus der Familie in Granville an der Küste der Normandie, erlebte. Seine Mutter Madeleine hatte die üppigen romantischen Roben jener Zeit getragen, von denen sich Dior inspirieren ließ, als er seine weiten Röcke und die Sanduhr-Silhouette kreierte, die er mit Hilfe einer geschnürten Taille und einer unterfütterten Busenpartie erzielte. Ebenso wichtig für Diors Konzept der »Blumenfrauen«, das in seinem Pariser Modesalon entstand, war die Liebe seiner Mutter für Gärten. Diese Leidenschaft, die Madeleine an Christian und Catherine weitergab, fand ihren Ausdruck in dem weitläufigen Garten von Granville – einem Wunder von Hoffnung und Sehnsucht, angelegt auf einer Felsenklippe hoch über dem schäumenden Meer.

Ihr Ehemann Maurice Dior hatte die Düngerfabrik seiner Familie geerbt. Wenn der Wind aus der falschen Richtung wehte, dann zog ihr Gestank durch die ganze Stadt. Doch bis nach Les Rhumbs kam er nur selten. Von den unappetitlichen Assoziationen abgesehen, finanzierte das Geschäft mit dem Guano Madeleines zauberhafte Schöpfung – die auf nacktem Fels liebevoll angelegten, von wetterharten Koniferen vor den salzigen Stürmen geschützten Blumenbeete, vor allem aber die Rosen, die das Herzstück des Gartens waren und es immer noch sind.

Rosen blühen bis heute auch in La Colle Noire: Sie hängen von Pergolen herab, klettern die Hauswände hinauf, wo ihre Ranken sacht an die Fenster pochen, prangen auf Tapeten und Möbelbezügen. Abseits der Terrassen und Blumenrabatten erstreckt sich ein Feld von tausend Rosensträuchern, deren Blüten immer noch geerntet werden, wie es seit dem Anpflanzen nach Christian Diors exakten Vorgaben geschieht. Aus ihnen gewinnt man eine wichtige Ingredienz für seine Parfüms. Das erste, das Christian besonders am Herzen lag, wurde zusammen mit der Kollektion des New Look präsentiert. Er nannte es nach seiner geliebten Schwester Catherine Miss Dior.

Catherine überlebte ihren Bruder um fünf Jahrzehnte und verstarb 2008 unweit von La Colle Noire in ihrem Haus im Nachbardorf Callian. Auch sie pflanzte Rosen, um sich daran zu erfreuen und um von Diors Parfümhersteller im nahegelegenen Grasse daraus eine Essenz destillieren zu lassen. Stets ist sie eine treue, liebende Schwester ihres Bruders gewesen – zu seinen Lebzeiten und auch nach seinem Tod. Sie bewahrte sein Erbe in vielerlei Hinsicht. Vor allem unterstützte sie zeitlebens das Christian-Dior-Museum, das man schließlich in Granville einrichtete.

Doch während Christian zu einem der berühmtesten Franzosen in der ganzen Welt wurde, den man wie Charles de Gaulle verehrt, ist Catherine Diors bemerkenswerte Geschichte nie vollständig erkundet worden. Das Wenige, das ich über ihr Leben wusste, hatte ich im Dior-Archiv zusammengetragen, bevor ich La Colle Noire zum ersten Mal besuchte. Ende der 1930er Jahre hatte sie bei Christian in Paris gelebt und während des Krieges zusammen mit ihm am Rande von Callian einen kleinen Bauernhof betrieben, wo sie Gemüse anbauten, aber auch Rosen und Jasmin pflanzten. Dann schloss sich Catherine der Résistance an, wurde von der Gestapo verhaftet und nach Ravensbrück, einem Frauen-Konzentrationslager in Deutschland, deportiert.

An jenem Sonntagmorgen in La Colle Noire besuchte mich Vincent Leret vom Dior-Archiv, um die Möglichkeit zu erörtern, ob ich eine neue Christian-Dior-Biographie schreiben könnte. Doch im Laufe des Gesprächs stellte ich ihm immer mehr Fragen nach der geheimnisvollen Catherine, die sich offenbar nur selten über die Tätigkeit in der Résistance und ihre Zeit in Deutschland geäußert hatte. Vincent hatte Catherine gekannt, denn bevor er zum Dior-Archiv nach Paris wechselte, hatte er im Dior-Museum von Granville gearbeitet. Er hatte mit ihr korrespondiert, wenn Fragen zu ihrem Bruder aufkamen, die nur sie beantworten konnte. Ihre Erlebnisse während der Kriegszeit erwähnte sie mit keinem Wort, und er hätte es unhöflich gefunden, in sie zu dringen. Von den Autoren, die bisher über Christian Diors Leben geschrieben hatten, interessierte sich kaum einer für Catherine. Von ihrer Deportation nach Ravensbrück wussten die meisten gar nichts. Es schien, als ob die hermetisch abgeschottete Welt der Haute Couture eine Frau wie Catherine Dior nicht interessierte – weder die Leiden, die sie hatte ertragen müssen, noch, ob ihre Erlebnisse bei der legendären Vision ihres Bruders von Mode und Weiblichkeit irgendeine Rolle gespielt hatten.

Nachdem ich mir einiges notiert hatte, ging ich zu dem Meer von Rosen hinunter, wo Schmetterlinge zu Vogelgezwitscher und Bienengesumm über den Blüten tanzten. Was für ein friedliches, von Sonnenlicht mild umflossenes Bild. Während ich dort stand, erwachte in mir ein Herzenswunsch: Hätte ich Catherine doch vor zehn Jahren, zu ihren Lebzeiten gekannt! In diesem Augenblick war der Samen gelegt für ein Begehren, geradezu eine Obsession, die von mir Besitz ergriff: Ich wollte die Geschichte dieser schweigenden Frau und ihrer unbekannten Kameradinnen erzählen, die Ravensbrück überlebt hatten und nach Frankreich zurückgekehrt waren. Allerdings in ein Frankreich, wo viele ihrer Landsleute es vorzogen, die Jahre des Krieges einfach zu vergessen und die Schande der Kollaboration zu verdrängen.

Damals sprach Catherines Stimme nicht zu mir, der blaue Himmel öffnete sich nicht. Doch der Rosenduft schien mir die Frage zuzuraunen: War es möglich, dass so viel Schönheit aus der Asche des Zweiten Weltkriegs gewachsen war? Und wenn ja, welche Botschaft hält Catherine Dior für uns Heutige bereit, auch wenn sie selbst sie nicht mehr in Worte fassen kann?

2

Ein Irrgarten

Catherine Dior 1947 im Alter von 30 Jahren.

Sanfter Regen fällt auf die Sommerrosen, die im Garten von Les Rhumbs blühen. Von See her kommt Nebel auf, der die Umrisse des Hauses verschwimmen lässt. In der großen Villa von Ende des 19. Jahrhunderts hoch über der Stadt Granville in der Normandie mit freiem Blick über den Ärmelkanal verbrachte Christian Dior seine Kindheit. Das ist der Grund, weshalb man dort ein Museum eingerichtet hat, um sein Erbe zu würdigen. Der von seiner Mutter angelegte Garten, der das Haus umgibt, ist heute eine für jedermann offene Parkanlage. An diesem Morgen ist es überraschend still auf dem Gelände, was an dem feuchten Wetter liegen kann. Ein paar Dutzend Besucher sind gekommen, um sich die neue Ausstellung anzusehen, die Fürstin Gracia von Monaco gewidmet ist und Kleider zeigt, die Christian Dior für sie entworfen hat.

Soeben bin ich durch die Ausstellung geführt worden. Jede Abteilung nimmt einen Raum ein, den Familie Dior im frühen 20. Jahrhundert bewohnt hat. Dabei vermischen sich in meinem Kopf die Zeiten auf wundersame Weise: Während ich Fürstin Gracias Outfits aus den 1950er Jahren bewundere und sie in den Roben, die jetzt leblos in Glasvitrinen stehen, durch Filmausschnitte gleiten sehe, suche ich in den Mauern des Gebäudes nach Spuren von Catherine Dior. Auf den Bildschirmen schreitet die tote Fürstin durch ihren Palast in Monaco und lockt mich in ihr vergangenes Leben wie in ein Gruselmärchen. Aber ich will mich nicht verführen lassen – weder von ihrer gespenstischen Präsenz, noch von ihren Hinterlassenschaften in Samt und Seide.

Vielmehr hoffe ich die so lange zurückliegende Zeit wiederzuentdecken, da Catherine ein Kind war. Doch ich spüre nichts von ihrer Anwesenheit, nicht einmal in dem kleinen Zimmer, das ihr gehörte und wo ein kurzer Text ihre Rolle in Christian Diors Lebensgeschichte so erklärt:

Catherine war Christians Lieblingsschwester. Als er 1947 sein erstes Parfüm präsentierte, nannte er es ihr zu Ehren Miss Dior und beschrieb es als den »Duft der Liebe«.

Dazu passt, dass ich bei diesem Besuch in Granville dieses Parfüm trage. Nach der Terminologie der Parfümherstellung wird es als »grünes Chypre« klassifiziert, eine Mischung der Duftnoten von Galbanum (einem Pflanzenharz mit unverkennbarem Geruch), Bergamotte, Patchouli und Eichenmoos mit der Wärme von Jasmin und Rose als Herznote. In dem Raum, der einmal Catherines Zimmer war, spüre ich für einen Augenblick diesen einzigartigen Duft. Er geht nicht von mir selbst aus, sondern von einer anderen unsichtbaren Quelle … Vielleicht von dem riesigen Parfümflakon, das Christian Dior einst Fürstin Gracia schenkte und das draußen auf dem Gang ausgestellt ist?

Keiner der Räume von Les Rhumbs ist heute noch möbliert. Stattdessen stehen dort Schränke und Vitrinen aufgereiht, in denen Artefakte, Zeichnungen und Fotografien präsentiert werden – zur Zeit sämtlich mit Bezug auf Fürstin Gracias Garderobe. Wenn auch manches dieser Objekte schmerzliche Erinnerungen weckt – zum Beispiel das Bild der jungen Grace Kelly in einem himmlischen weißen Kleid auf dem Ball aus Anlass ihrer Verlobung mit Fürst Rainier 1956, da sie nicht ahnen konnte, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte – bleibt Les Rhumbs doch der Ort des Gedenkens an eine fernere Vergangenheit. Denn hier haben sich Maurice und Madeleine Dior Anfang des 20. Jahrhunderts niedergelassen und ihre fünf Kinder großgezogen. Sie hatten 1898 geheiratet. Madeleine war damals ein hübsches neunzehnjähriges Mädchen. Maurice Dior, mit sechsundzwanzig bereits ein ehrgeiziger junger Mann, plante, die von seinem Großvater 1832 gegründete Düngemittelfirma zu erweitern. Ab 1905 führten er und sein Cousin Lucien den gutgehenden Betrieb gemeinsam, und dessen Erfolg brachte ihnen gesellschaftlichen Aufstieg. Lucien Dior ging in die Politik und war bis zu seinem Tod 1932 Parlamentsabgeordneter. Seine Frau Charlotte und Madeleine lagen offenbar permanent im Wettstreit miteinander, wer die besser gekleidete Herrin über den wohlhabenderen Hausstand sei.

Ich habe das zerlesene Taschenbuch von Christian Diors Autobiographie mitgebracht. Äußerlich bietet sich mir das Haus genauso dar, wie er es in seinen eindrucksvollen Erinnerungen an Les Rhumbs geschildert hat: »Das Haus meiner Jugend war in einem sanften, mit grauem Kies vermischten Rosaton getüncht, und diese beiden Farben sind in der Mode meine Lieblingsnuancen geblieben.« Doch die so sorgfältig gestaltete Inneneinrichtung, die er detailliert beschreibt, ist verschwunden: Die Schäferinnen aus Porzellan, die gläsernen Bonbonschalen und der übrige Zierrat, an den sich Christian in allen Einzelheiten erinnert.

Ich habe seine Autobiographie wieder und wieder gelesen, doch erst heute fällt mir auf, dass er darin seine Brüder und Schwestern nicht beim Namen nennt. Er erwähnt einen Bruder, und den nur kurz, dazu seine geliebte Catherine. Es ist, als hätten Raymond und Jacqueline nie existiert. Auf dem Familienfoto in der Eingangshalle des Museums sind die Geschwister dann doch vollzählig versammelt: Raymond, der Älteste, geboren am 27. Oktober 1899; Christian, der am 21. Januar 1905 zur Welt kam (in dem Jahr kaufte sein Vater Les Rhumbs); gefolgt von Jacqueline, geboren am 20. Juni 1908, Bernard, am 27. Oktober 1910 und Catherine, das Nesthäkchen der Familie, das sieben Jahre später, am 2. August 1917, das Licht der Welt erblickte.

Der Standort des Hauses ist geradezu spektakulär: Stolz erhebt sich Les Rhumbs auf einer Landspitze aus Granit mit überwältigendem Blick auf eine Meeresbucht. Ein Schiffseigner hat es erbaut, und der Name ist ein nautischer Begriff für die Markierung auf dem Kompass, die man landläufig Windrose nennt. Das Symbol findet sich in einem Fußbodenmosaik der Villa wieder, das im Original erhalten geblieben ist.

An diesem Tag ist der Himmel blassgrau gefärbt, in Diors Grau, das Himmel und Meer miteinander verschmelzen lässt. Nach dem Rundgang durch die Ausstellung erlaubt man mir, mich für den Rest des Tages zum Schreiben in ein Häuschen im Garten zurückzuziehen, wo einst die Kinder gespielt haben. Es steht, vor neugierigen Blicken verborgen, am Ende eines Pfades ein gutes Stück vom Haus entfernt. Von drinnen ist der Blick durch die Fenster einfach umwerfend. Zwei Seiten des Raumes sind verglast, und das Häuschen wirkt wie an den Rand eines steilen Absturzes gebaut, von wo man auf zerklüftete Felsen in der Tiefe blickt. Es herrscht Ebbe, die Sandbänke sind nackt und der Strand leer, Möwen gleiten darüber hin und lassen ihre klagenden Schreie ertönen.

Les Rhumbs, das Haus der Familie Dior, in Granville an der Küste der Normandie.

Wie mag dieser Blick die Hoffnungen und Träume der Kinder geprägt haben? Christian Dior hat sicher oft daran gedacht, als er 1956, ein Jahr vor seinem unerwartet frühen Tod in seine Autobiographie schrieb: »Das Haus in Granville … wie alle anglo-normannischen Bauten der Jahrhundertwende war es scheußlich. Dennoch bewahre ich ihm eine zärtliche und bewundernde Erinnerung. Mein Leben, mein Stil, fast alles verdanken sie seiner Lage und seiner Bauweise.«

Christians früheste Kindheitserinnerungen sind mit Les Rhumbs verbunden, das zu jener Zeit der Hauptsitz der Familie war, wenn sie auch einige Zeit in Paris verbrachte. 1911 erwarb Maurice Dior eine Wohnung im wohlhabenden 16. Arrondissement, doch während des Ersten Weltkriegs lebte die Familie nur noch in Granville. Erst 1919 kehrte sie nach Paris zurück und bezog eine größere Wohnung in der Rue Louis-David im selben Bezirk. Christian war damals bereits Gymnasiast und besuchte das nahegelegene Lycée Gerson. Catherine wurde zunächst von einer Gouvernante zu Hause unterrichtet und ging dann in eine Mädchenschule von Granville. Im Dior-Archiv finden sich mehrere Fotoaufnahmen davon, wie sie als Kind am Strand spielt. Sie muss Les Rhumbs sehr geliebt haben, denn von Anfang an unterstützte sie die Initiative, dort ein Museum einzurichten. Sie nahm 1997 an der Eröffnungsfeier teil und wirkte von 1999 bis zu ihrem Tod als dessen Ehrenpräsidentin. Nach ihren Erinnerungen wurde der Garten so weit wie möglich in der ursprünglichen Gestalt wiederhergestellt. In dem Gewächshaus an der Vorderseite der Villa pflanzte man Palmen und Farne, so wie ihre Mutter es getan hatte. Catherine korrespondierte viele Jahre lang mit den Museumskuratoren, deren Fragen nach der Bepflanzung des Gartens sie präzise beantworten konnte. An den erinnerte sie sich als eine »grüne Festung«, vor dem Wind geschützt durch Baumreihen und hohe Wälle von Erde, die man auf die Landzunge transportiert hatte. Ihr Bruder Christian hatte Rosen, Geißblatt und Glyzinien dazu gebracht, eine weiße, hölzerne Pergola hinaufzuklettern, und gemeinsam sahen sie den Goldfischen zu, die unter den Seerosen im Teich umherschwammen. Die Mutter beschrieb Catherine als »bemerkenswerte Botanikerin«, die sich in Klima und Bodenbeschaffenheit von Granville bestens auskannte. Madeleine Dior soll die Kinder streng erzogen haben, doch von Catherine ist die kurze, verblüffende Bemerkung überliefert, ihre Mutter habe »ein Auge zugedrückt« und den Kindern die Freiheit gelassen, zwei Beete nach ihrem Geschmack anzulegen, das eine in der Form eines Tigers und das andere in der eines Schmetterlings.

Auch Christians hinterlassene Aufzeichnungen vermitteln einen Eindruck von der emotionalen Wirkung und dem starken Einfluss der Landschaft. »Das Haus«, so heißt es in seiner Autobiographie, »stand inmitten eines Parks, der … damals mit jungen Bäumen bepflanzt war, die gleich mir, gegen Wind und Fluten kämpfend, heranwuchsen. Das ist der richtige Ausdruck, denn das Haus lag direkt am Meer, das man durch ein Gitter sehen konnte, und war allen Unbilden der Witterung ausgesetzt; es war Abbild meines eigenen Lebens, das keineswegs ruhig verlaufen ist … Die Mauern, die diesen Garten umgaben, reichten ebenso wenig aus, uns vor den Stürmen Schutz zu bieten, wie die Fürsorge, die meine Kindheit umgab, mich vor den Stürmen des Lebens schützen konnte.«

Denn dieses Haus stand am äußersten Rand von Frankreich, wo sich Land und Meer begegnen. Der schmiedeeiserne Gitterzaun und die Steinmauern von damals umgeben nach wie vor den Garten, sind allerdings nicht hoch genug, um den angrenzenden Friedhof zu verdecken. Bei aller bürgerlichen Solidität des Hauses, bei all der Mühe, die für die Planung und Pflege des Gartens aufgewandt wurde, wirken See und Himmel so gewaltig, dass jegliche Bemühungen der Menschen, hier Stabilität zu schaffen, geradezu vermessen erscheinen. Und doch lebte und prosperierte Familie Dior über viele Generationen in Granville. Ihr Reichtum beruhte auf der Firma von Christians Urgroßvater, der Guano aus Südamerika in die Normandie importierte und die dortige Düngemittelindustrie mit Rohstoff versorgte. »L’ engrais Dior, c’ est d’or!« [»Dünger von Dior ist Gold!«], lautete ein gereimter Werbespruch. Doch Christian zeigte sich bei seinen wenigen Besuchen in der übelriechenden Fabrik entsetzt: Davon »habe ich … eine abschreckende Erinnerung bewahrt. Daher rühren meine Abscheu vor Maschinen und mein fester Entschluss, niemals … (dort) zu arbeiten.«

Wie seine Schwester Catherine zog er es vor, der Mutter – fern von den stinkenden Fabrikhallen – im Garten zu helfen. Christian ging so weit, die Namen und Beschreibungen der Blumen in den illustrierten Samenkatalogen, die in Les Rhumbs eintrafen, auswendig zu lernen. Madeleine Diors Liebe zu den Rosen hingegen erbte ihre jüngste Tochter Catherine, die sich das Pflanzen und Pflegen dieser Blumen zur Lebensaufgabe erkor. Zwar sahen die Dior-Kinder ihre Eltern als distanzierte, autoritäre Personen, wie Christians Biografin Marie-France Pochna andeutet. Nach ihren Worten wuchsen die Kinder in einer Zeit auf, »da man von offen gezeigter Zuneigung eine Schwächung des Charakters befürchtete und Strenge die Norm war«. Und doch ist es durchaus möglich, dass der Weg der Kinder zum Herzen ihrer Mutter durch ihren heißgeliebten Garten führte.

»Aber der Ort, den ich allen anderen vorzog«, so Christian in seiner Autobiographie, »war die Wäschekammer. Die Zimmermädchen, die Tagelohnnäherinnen erzählten dort Geschichten vom Teufel … Dämmerung breitete sich aus, die Nacht brach herein, ich blieb sitzen und betrachtete die Frauen, die im Schein der Petroleumlampe an ihren Näharbeiten saßen … Ich habe die Sehnsucht nach den Sturmnächten, nach dem Klang des Nebelhorns, dem des Totengeläuts auf den Friedhöfen und nach dem feuchten normannischen Wetter meiner Kindheit behalten.«

Die Schatten von Teufel und Toten konnte man sich im goldenen Zeitalter der Belle Epoque vom Leibe halten, als Les Rhumbs noch nicht von Krieg und finanziellem Ruin bedroht war. Aber wie erging es Catherine, die zur Welt kam, als die Schlachten des Ersten Weltkriegs tobten? In der Geburtsurkunde ist ihr Name als Ginette Marie Catherine Dior angegeben. Aus der Familie ist überliefert, dass es ihr Bruder Bernard war, der sie als Baby zuerst Catherine, und nicht Ginette nannte. Ein Foto aus Les Rhumbs zeigt ein ernst dreinblickendes kleines Mädchen in gestärkter weißer Baumwolle und Spitze. Die Eltern wirken streng und etwas unnahbar, Christian, hinter ihnen stehend, schaut ein wenig freundlicher drein.

Familie Dior 1920 in ihrem Garten. In der Mitte, zwischen den Eltern sitzend, Catherine. Dahinter, von links nach rechts, Christian, Jacqueline, Bernard und Raymond.

Ich schließe die Augen und versuche mir Catherine vorzustellen, wie sie als kleines Kind im Garten Verstecken spielt. Such mich, flüstert sie mir zu, doch dann wird es still, und ich höre nur noch den Wind im Abzug des kalten Kamins neben mir raunen und seufzen.

Die Fotografien aus dem Album der Familie Dior auf dieser Seite zeigen im Uhrzeigersinn, links oben beginnend: Catherine am Strand von Granville; Catherine mit Freunden; Catherine; Catherine und Bernard; Catherine 1920; die Kinder der Familie Dior.

Von links oben im Uhrzeigersinn: Raymond; Christian, Bernard und Jacqueline mit ihrer Gouvernante Marthe Lefebvre 1916; Catherine; Madeleine Dior; Jacqueline, Christian und Raymond; Christian.

Durchs Fenster entdecke ich zwei winzige Gestalten, einen Erwachsenen und ein Kind, die in der Ferne den Strand entlangwandern. Als der Regen stärker wird, sind sie nicht mehr zu sehen. Der von See hereinziehende Nebel wird immer dichter und scheint das Tageslicht aufzusaugen, draußen dunkelt es, und der Wind bläst immer stärker. Langsam beginne ich zu verstehen, weshalb Christian und Catherine Les Rhumbs so verbunden waren und sich doch nicht entschlossen, hier zu leben, auch wenn ihnen das als Erwachsene möglich gewesen wäre. Denn dies ist ein Ort, wo Wege beginnen, ein Ausgangspunkt, den man nie vergisst. Doch die rastlosen Wellen und die umherfliegenden Vögel erinnern permanent daran, dass es jenseits des Hauses auf der Landspitze noch anderes geben muss.

Von links oben im Uhrzeigersinn: Der Garten von Les Rhumbs auf der Felsenklippe; Catherine; Les Rhumbs; Madeleine und Maurice Dior; Christian (links) und Raymond im Garten; Madeleines Mutter Marie-Juliette Surosne.

In der bekannten Reihenfolge: Christian auf Raymonds Hochzeit 1925; Raymond und Braut; Maurice und Madeleine Dior bei der Hochzeit; Madeleine Dior; Les Rhumbs.

Etwas am Anblick der harten Granitklippen und ‑felsen könnte Catherine an die Strenge ihrer Mutter erinnert haben. In einem ihrer seltenen Interviews, das sie Marie-France Pochna 1993 gab, sah sie Madeleine Dior als Zuchtmeisterin: »Meine Mutter war streng zu den Jungen und noch strenger zu den Mädchen.« Doch die Strenge der Mutter allein kann weder Catherines Charakter, noch die einzigartige Atmosphäre dieses auf einem Felsen angelegten Gartens erklären. Ich entschließe mich, den Regen zu ignorieren und die Wärme des Häuschens für einen kurzen Rundgang zu verlassen. Die frische Meeresbrise ist kalt und rüttelt an den Rosenstöcken. Die abgerissenen zarten Blütenblätter sinken auf den feuchten Boden wie Konfetti nach einer Trauung.

Am Weg stoße ich auf einen Irrgarten aus Ligusterhecken, und mir geht durch den Sinn, dass einer der Mitarbeiter des Dior-Archivs mir erzählte, Catherine habe ihm dies in fortgeschrittenem Alter als ein wichtiges Merkmal des Gartens ihrer Kindheit geschildert. Ich bin groß genug, um über die Hecken zu schauen, aber wenn ein kleines Mädchen in diesem grünen Labyrinth herumlief, musste es sich schon gut auskennen, um wieder herauszufinden. Ich kenne meinen Weg, flüstert es in meinem Kopf, und ich bin nicht sicher, ob mir dies meine eigene Stimme sagt oder die meiner verstorbenen Schwester, mit der ich in den geheimen Gärten unserer Kindheit spielte.

Sollte Catherines Geist wirklich hier weilen, dann scheint sie nicht geneigt, an ihrem privaten Rückzugsort zu mir zu sprechen. Das Spielhäuschen ist gewöhnlich für Besucher geschlossen. Man hat es heute als besonderes Entgegenkommen für mich geöffnet. Doch warum sollte eine erwachsene Frau hier allein herumsitzen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Madeleine Dior das gebilligt oder mich gar dazu ermuntert hätte. Darüber hat Christian in seinen Erinnerungen treffend bemerkt: »Meine ersten Jahre waren die eines kleinen, sehr braven, wohlerzogenen, von einem Fräulein überwachten Jungen …, der vollkommen unfähig war, sich im Leben zu behaupten.«

Als ich diese Worte in meinem abgegriffenen Exemplar seiner Autobiographie lese, fällt mir zum ersten Mal auf, dass er ein »Fräulein«, eine deutsche Gouvernante, erwähnt. Ich frage mich, was während des Ersten Weltkriegs aus ihr geworden sein mag. Die Antwort finde ich ein paar Seiten weiter: »Die Mobilmachung erreichte uns in Granville … Unser Fräulein weigerte sich zuerst abzureisen, denn wie alle Welt hielt sie die Katastrophe für unmöglich. Als dann aber der Krieg ausgebrochen war, erklärte sie, die das Leben unserer Familie geteilt hatte, zu unserer schrecklichen Verblüffung, dass sie notfalls bereit sei, ›peng-peng‹ auf die französischen Soldaten zu machen.« Daraufhin stellte Familie Dior 1915 die 25jährige französische Erzieherin Marthe Levebvre ein, die bald den Kosenamen ›Ma‹ erhielt und ihr Leben lang bei der Familie bleiben sollte.

Auch als Christian die Freuden der Hauptstadt längst zu schätzen wusste, blieb er dem Familiensitz in Granville, dem Ort, an dem er als kleiner Junge so lange Zeit verbracht hatte, eng verbunden. 1925, als man ihn bei harter Arbeit als Student der Politischen Wissenschaften in Paris vermutete, nachdem die Eltern es ihm verwehrt hatten, Architektur zu studieren, fand Christian die Zeit, für den Garten von Les Rhumbs eine Erweiterung zu entwerfen – einen Teich mit kleinem Springbrunnen, umgeben von einem Wandelgang aus Spalieren, um die sich Kletterrosen rankten.

Das scheint eine tollkühne Idee gewesen zu sein, wenn man bedenkt, dass hinter dem Zaun der endlose Ozean beginnt. Aber es gibt tatsächlich Fotos von Christian in seinem Wassergarten. Sein Gesichtsausdruck ist nicht zu ergründen. Wie seine jüngere Schwester besaß er die Fähigkeit, sich der Welt als ein rätselhaftes Wesen zu präsentieren. Doch die Rosen, die dort, wo er damals stand, heute immer noch blühen, sind von einer unwiderstehlichen Schönheit, und jede Knospe öffnet sich zu ihrer eigenen jungfräulichen Perfektion. Dafür ist Catherine zu danken, die sich mit Rat und Tat um die Neuanpflanzung gekümmert hat. Mögen die salzigen Winde blasen, möge der Regen niederprasseln – diese Rosen scheinen dafür gezüchtet zu sein, unter schwierigsten Umständen zu überleben.

Die Flut steigt, und das Meeresrauschen wird stärker. Wenn ich etwas von diesem Besuch erwartet habe, dann ein wenig Ruhe und Frieden. Stattdessen fühle ich mich zunehmend unbehaglicher und unsicherer. Mag sein, dass man an einem so unheimlichen Ort, wo der Schleier zwischen Lebenden und Toten so durchsichtig ist, wo die Geister sich nicht in Glasvitrinen einschließen lassen, die ihre alten Kleider enthalten, wo die Wellen ihr Flüstern herantragen, vergeblich nach Ruhe sucht. Schließlich hat Familie Dior hier weder Sicherheit für immer gefunden, noch sind die Stützpfeiler ihres Reichtums intakt geblieben. Leid, Wahnsinn, Tod und Unglück konnten nicht auf Distanz gehalten werden, und der lange Schatten des Ersten Weltkriegs erreichte Granville wie das übrige Frankreich. Ungefähr ein Drittel der männlichen Bevölkerung des Landes im Alter von achtzehn bis siebenundzwanzig Jahren fielen diesem Krieg zum Opfer. Raymond Dior, der sich im Oktober 1917 sofort nach seinem achtzehnten Geburtstag freiwillig zur Armee gemeldet hatte, war der einzige Soldat seines Zuges, der nicht im Gefecht fiel. Und wie so viele Überlebende litt er noch lange nach dem Waffenstillstand an den psychischen Folgen. Was die Briten shell shock und die Deutschen Gefechtsneurose nannten, trug bei den Franzosen die wesentlich eindrucksvollere Bezeichnung crise de tristesse sombre – Anfälle düsterer Traurigkeit. Nach den Worten eines der hohen Befehlshaber der Armee, Marschall Philippe Pétain, kehrten junge Soldaten mit Gesichtern von der Front zurück, die »vom Erleben des Schreckens eingefroren schienen. Gang und Körperhaltung offenbarten tiefe Niedergeschlagenheit; sie trugen schwer an grauenhaften Erinnerungen …« Im Frühjahr 1918 berichtete sein britischer Partner, Field Marshal Sir Douglas Haig, Pétain selbst biete »einen furchtbaren Anblick. Er wirkte wie ein tief geängstigter Kommandeur, der die Nerven verloren hatte.«

Raymond Dior, der in einem Artillerieregiment an vorderster Front diente, hatte Monate intensiven Beschusses und den Einsatz von Senfgas erlebt. In den Jahren nach dem Krieg fiel es Raymond schwer, sich im zivilen Leben wieder zurechtzufinden. Er heiratete und trat, wie von ihm erwartet wurde, für eine gewisse Zeit in die Firma seines Vaters ein, wurde aber immer wieder von Gefühlen der Entfremdung gegenüber der Familie, einschließlich den Geschwistern, übermannt. Als aufstrebender Schriftsteller formulierte er seine Wut in zornigen Essays, in denen er die Übel des Kapitalismus anklagte, versank mehrmals in tiefe Verzweiflung und unternahm mindestens einen Selbstmordversuch.

Raymond Dior in Militäruniform während des Ersten Weltkriegs 1918 in Les Rhumbs.

Christian Dior im Garten von Les Rhumbs.

Bernard Dior

Von links nach rechts: Bernard, Maurice, Jacqueline, Catherine (auf Christians Schoß) und Madeleine Dior.

Bei Bernard, dem Jüngsten der drei Dior-Brüder, traten 1927 erste Anzeichen einer psychischen Störung auf. Als er bei den Prüfungen in der Schule durchfiel, geriet er in einen Zustand stummer Depression. Christian schrieb in seiner Autobiographie dazu: »Mein Bruder wurde von einer unheilbaren Nervenkrankheit befallen, und meine Mutter starb aus Kummer darüber.« Auf mehreren Familienfotos, die Madeleine in den späten 1920er Jahren zeigen, wirkt sie tief verzweifelt, sie blickt zu Boden, hat die Lippen zusammengepresst und wendet den Blick von der Kamera ab. Raymonds Ehefrau, die ebenfalls Madeleine hieß, hatte ihre Schwiegermutter gegenüber Marie-France Pochna als »stolz, ehrgeizig und autoritär« beschrieben. In diesen Aufnahmen erscheint sie jedoch wesentlich zerbrechlicher.

Christian erwähnt die Mutter in seinen Erinnerungen nur dreimal: im Zusammenhang mit ihrer Leidenschaft für Blumen, mit ihrem Tod und ihrer schlanken Figur, die sie von allen anderen Familienmitgliedern unterschied. »Die gesamte Familie war normannischer Abstammung, ausgenommen die ›Sanftheit des Anjou‹ meiner Mutter, die inmitten dieser geschlossenen Gesellschaft von Bonvivants und starken Essern die einzige schmale Person mit geringem Appetit war.« La douceur angevine, die Süße von Angers, eine traditionelle Redensart der Gegend, enthält einen Hinweis auf Madeleines Herkunft. Ihr Vater, Rechtsanwalt in Angers, starb, als sie vierzehn Jahre alt war; ihre Mutter stammte aus der Normandie. Frédéric Bourdelier, der Direktor des Dior-Archivs, hat Madeleine Dior mir gegenüber einmal »die Madame Bovary von Granville« genannt. Damit wollte er nicht etwa andeuten, sie hätte heimliche Affären gehabt, sondern auf ihren Hang zu exaltiertem Auftreten und Eleganz, auf den Widerspruch zwischen ihrer romantisierten Weltsicht und der Realität ihres biederen, bürgerlichen Lebens hinweisen.

Im Frühjahr 1931 wurde Madeleine Dior in eine Klinik bei Paris für eine dringende Operation eingeliefert, von der sie sich nicht mehr erholte. Sie starb am 4. Mai im Alter von 51 Jahren an einer Sepsis und wurde in der Familiengruft auf dem Friedhof von Granville nahe dem Garten von Les Rhumbs beigesetzt. »Wenn ich heute über diesen Tod nachdenke, der mich fürs Leben gezeichnet hat«, schrieb Christian Dior in seiner Autobiographie, »will mir scheinen, als sei er die beste Lösung gewesen. Diese wunderbare Frau und Mutter verließ uns, ohne zu ahnen, dass die Zukunft mehr als schwierig für uns werden würde.«

Nur wenige Monate später verlor Maurice Dior sein gesamtes Vermögen. Er hatte sein Kapital in ein geplatztes Immobiliengeschäft investiert. Mitten in dieser Katastrophe verschlechterte sich nach dem Tod der Mutter Bernards Zustand. Er litt an Wahnvorstellungen, an Halluzinationen und wollte seinem Leben ein Ende setzen. 1932 diagnostizierte man bei ihm Schizophrenie. Nach fruchtlosen Behandlungen bei Ärzten in Paris und Brüssel, die einen »Ödipus-Komplex« vermuteten, ein Begriff, der auf den wachsenden Einfluss von Freuds Psychoanalyse hindeutet, wurde Bernard in eine Pflegeanstalt für psychisch Kranke in der Normandie eingewiesen. Von Januar 1933 bis zu seinem Tod im Alter von fünfzig Jahren im April 1960 blieb Bernard in den düsteren Mauern des Hospice de Pontorson eingesperrt.

Allen diesen Katastrophen, so glaubte Christian, ging ein ominöser Zwischenfall voraus, der 1930 in Les Rhumbs passierte: »Bei der Rückkehr aus den Ferien erschreckte mich ein Zeichen mehr als die Baisse an der Börse. Im leeren Haus hatte sich ein Spiegel von der Wand gelöst und war am Boden in tausend Scherben zersprungen.« Während ich Christians Worte in Les Rhumbs lese, scheint das Echo dieses bösen Vorzeichens nachzuhallen. Da dicker Nebel vom Meer hereinzieht und den Horizont verhüllt, stelle ich mir vor, dass der Kompass von Les Rhumbs sich wieder zu drehen beginnt und in eine unbekannte Richtung weist …

3

Durch den Spiegel

Catherine Dior 1922 lesend in der Pariser Wohnung der Familie.

Ich sitze an meinem Schreibtisch, umgeben von aufgestapelten Kopien aus einem Dutzend verschiedener Archive, und mir ist, als seien es Glasscherben, die Bruchstücke des zerbrochenen Spiegels von Granville, aus denen ein Bild von Catherine Dior als junge Frau in den 1930er Jahren zusammenzusetzen mir fast unmöglich erscheint. Die Vorstellung von den Brüchen im Leben Catherines und ihrer Familie wird verstärkt durch das Chaos jener Zeit, vor allem die katastrophale Wirkung des Börsenkrachs an der Wall Street, die zum Ruin von Maurice Dior führte. Es folgte die Weltwirtschaftskrise, deren langer Schatten über Familie Dior fiel. Er fegte die Sicherheiten und Konventionen hinweg, die das Heranwachsen der Kinder in der blühenden Belle Epoque bestimmt hatten.

Als Madeleine Dior 1931 starb, schien die gewohnte Lebensweise der Familie mit ihr unterzugehen. Dahin waren die Rituale der vornehmen Gesellschaft, wenn man für Bälle und Wohltätigkeitsveranstaltungen von Granville nach Paris umzog, verschwunden wie der Reichtum, der es ermöglichte, das herrschaftliche Anwesen Les Rhumbs mit Personal für Haus und Garten zu unterhalten. Als die Mutter starb, war Catherine dreizehn Jahre alt, und um sie herum brach alles zusammen. Ihre drei Brüder litten sehr: Raymond hatte die traumatischen Erlebnisse an den Fronten des Ersten Weltkriegs noch nicht verarbeitet, und Bernard zeigte keinerlei Anzeichen einer Genesung von seinen psychischen Leiden. Nach dem Bericht eines Cousins, der ihn 1934 in der Psychiatrie besuchte, erkannte Bernard nicht einmal mehr seine engsten Angehörigen. Auch Christian hatte nach der Insolvenz seines Geschäfts in Paris mit einer Depression zu kämpfen. Zum Teil mit einer Investition seines Vaters hatte er 1928 zusammen mit seinem Freund Jacques Bonjean eine Galerie der Avantgarde eröffnet, in der er die Arbeiten aufstrebender Künstler wie Max Jacob und Christian Bérard neben jenen bereits etablierter Meister der Moderne wie Picasso, Matisse und Dufy zeigte. Als er im Gefolge von Maurice Diors Bankrott aufgeben musste, schloss sich Christian Pierre Colle einem befreundeten Galeristen an. Gemeinsam organisierten sie die erste Schau der Werke Alberto Giacomettis in Paris und förderten auch Salvador Dalí mit einer Reihe bedeutender Ausstellungen. Doch ihr feines künstlerisches Gespür brachte Colle und Dior wenig geschäftlichen Erfolg. So verkauften sie Dalís Meisterwerk Die Beständigkeit der Erinnerung mit den schmelzenden Uhren und schwärmenden Insekten für ganze 250 US‑Dollar. Wie Dior in seiner Autobiographie schreibt, war der Verkauf von Kunstwerken nach dem Börsenkrach an der Wall Street »… in dieser Zeit der Panik schwieriger als je zuvor. Einzelne Gemälde, die heute Millionen wert sind, verhökerte ich mühsam für einige Zehntausend Francs … So ging es zwischen Verlust und Pfändungen weiter. Trotzdem veranstalteten wir weiterhin surrealistische und abstrakte Ausstellungen, die noch die letzten privaten Kunden in die Flucht schlugen.«

Catherine blieb keine Wahl, als ihren Vater bei seinem Abstieg zu begleiten. Er hatte fast alles verloren: sein bedeutendes Vermögen, die geliebte Frau, den guten Ruf und die gesellschaftliche Stellung, die große Wohnung in Paris und schließlich auch das prächtige Anwesen in Granville. Als er dafür keinen privaten Käufer fand, fiel es an die Gemeinde. Nur die treue Marthe Lefebvre blieb als Catherines Gouvernante bei der geschrumpften Familie. Aus unbekanntem Grund war es Marthe, die empfahl, ein kleines Bauernhaus tief in der Provence könnte ein passender Zufluchtsort fern von Maurice Diors heimatlicher Normandie, respektlosen Pariser Bekannten oder wütenden Gläubigern sein. Als man im Jahre 1935 dorthin zog, hatte das Anwesen namens Les Naÿssès keinen Stromanschluss und höchst primitive sanitäre Anlagen – ein scharfer Kontrast zur bürgerlichen Behaglichkeit von Les Rhumbs.

Kein Wunder, dass sich Catherine in der erzwungenen Isolation von Les Naÿssès einsam und unglücklich fühlte. Sie war gerade achtzehn geworden. Wenn ihr die Landschaft der Provence auch nach und nach ans Herz wuchs, hatte sie dort weder gleichaltrige Freundinnen noch jegliche Aussicht auf ein gesellschaftliches Leben oder andere Chancen außerhalb des Hauses. Als ihr daher Christian einen Ausweg bot, zog sie im Jahr darauf unverzüglich zu ihm nach Paris.

Seit dem Zerfall der Familie führte Christian ein sehr wechselhaftes Leben, schlief auf den Sofas von Freunden, reiste auf die Insel Ibiza, um sich von einer schweren Tuberkulose-Erkrankung zu erholen und kam auch zu Besuch nach Les Naÿssès. Ein Bild zeigt ihn auf der Terrasse des Hauses, den Stift in der Hand und mit ernster Miene in eine Zeichnung vertieft.

Porträt von Christian Dior als junger Mann, gezeichnet von seinem Freund Paul Strecker, 1928.

Zu dieser Zeit hatte er den Traum von einer Karriere als erfolgreicher Kunsthändler aufgeben müssen und brachte sich selbst die Technik des Modezeichnens bei. Nach monatelangem fleißigem Üben begann er seine Zeichnungen an Zeitschriften zu verkaufen, um Vater und Schwester zu unterstützen, die inzwischen bettelarm waren.

Als Catherine und Christian 1936 nach Paris zurückkehrten, wohnten sie zusammen im Hôtel de Bourgogne in der Nähe des Place du Palais Bourbon. Wenn man zu jener Zeit im Hotel lebte, brauchte man keine Steuern zu zahlen. Das mag erklären, weshalb so viele Künstler und Schriftsteller, darunter der Philosoph Jean-Paul Sartre und seine Geliebte Simone de Beauvoir sich dafür entschieden. Ein Zimmernachbar im Hôtel de Bourgogne war Georges Geffroy, ein Dekorateur, der es inzwischen zum Designer gebracht hatte. Die Geschwister freundeten sich mit ihm an, und er stellte Christian Robert Piguet vor, damals ein aufgehender Star am Pariser Modehimmel, der ihm ein paar Zeichnungen abkaufte. Das war der Start von Christians Karriere als freier Modegestalter, der für verschiedene Hutmacher und Modeschöpfer arbeitete, darunter Edward Molyneux, den er sehr bewunderte.

Ungeachtet des Altersunterschieds von zwölf Jahren hielten Christian und Catherine von den Dior-Geschwistern am engsten zusammen. Gemeinsam war ihnen die Liebe zu Blumen und zur Gartenarbeit, die sie von der Mutter geerbt hatten, aber auch die Leidenschaft für Kunst und Musik. Beide hatten unter den dramatischen Ereignissen, die die Familie auseinanderrissen, sehr gelitten, und doch wussten sie sich zu helfen, als die Mutter tot und der Vater verarmt war. Da Catherine aus der traditionellen Rolle der schwachen Tochter heraustreten musste, die bis zu ihrer Heirat vom Vermögen ihres Vaters lebt, entdeckte sie das Gefühl der Selbständigkeit eines Menschen, der sein eigenes Geld verdient. Von Christian unterstützt, der ihr die Anstellung in einem Modegeschäft verschaffte, begann sie Hüte und Handschuhe zu verkaufen. Eines der Fotos von Catherine, das sich mir am stärksten eingeprägt hat, stammt aus dieser glücklichen Zeit, als sie in Paris bei ihrem Bruder lebte. Sie zeigt ein warmes Lächeln, aus ihrem Gesicht strahlt die Energie der Jugend, das Haar ist aufgesteckt, und an der maßgeschneiderten Jacke trägt sie eine Brosche.

Foto von Catherine Dior vor dem Zweiten Weltkrieg.

Aus dieser sorgenfreien Periode in Catherines Jugend fällt mir vor allem eine Geschichte ein, die sie Christians Biographin Marie-France Pochna 1993 erzählte: »Mein Bruder entwarf gern Kostüme«, sagte sie. »Einmal hat er sich für mich ein Neptun-Kostüm ausgedacht mit einem Rock aus Bast, über und über mit Muscheln bedeckt, und noch einem Rock, den er mit einem schottischen Motiv bemalte …«

Fotografien der zwanzigjährigen Catherine aus der Zeit, als sie bei Christian in Paris lebte.

Konventioneller gekleidet ist Catherine auf fünf Fotografien, die Ende der 1930er Jahre in Paris entstanden sind. Alle in Schwarz-Weiß, so dass man die Farbe des Schmucks, den sie trägt, nicht erkennen kann. Aber sie ist sehr gut gekleidet, frisiert und hat die Augenbrauen nachgezogen. Mitarbeiter des Dior-Archivs sind der Meinung, dass die Fotos 1937 im Hôtel de Bourgogne aufgenommen wurden. Da war Catherine zwanzig Jahre alt und diente Christian als Modell für seine ersten Entwürfe. Auf zwei der Aufnahmen sitzt sie in einem Sessel, trägt ein elegantes schwarzes Kleid mit langem Arm und eine dekorative Halskette. Auf einer blickt sie zur Seite und zeigt ihr markantes Profil. Auf einer anderen sind ihre dunklen Augen direkt auf die Kamera gerichtet, und unsere Blicke kreuzen sich. So schaut sie auch von den anderen Bildern. Auf einem steht sie mit erhobenen Armen vor einem zugezogenen Vorhang als provisorischem Hintergrund. Auf dem anderen sitzt sie an einem Schreibtisch, einen Hut auf dem Hinterkopf, eine dreireihige Perlenkette mit einer Mondsichel um den Hals.

Diese Fotos sind die einzigen erhalten gebliebenen visuellen Spuren von Catherines Leben bei Christian in Paris. Ich bin sicher, dass sie inzwischen von der Homosexualität ihres Bruders wusste. Immerhin teilten sie die Wohnung und einen Freundeskreis von Bohemiens. Paris war für seine schwul-lesbische Subkultur bereits bekannt. Homosexualität hatte die Französische Revolution schon 1791 straffrei gestellt, und Catherine und Christian waren beide in der Modebranche tätig, wo begabte Schwule gefeiert wurden. Christian war mit vielen gut bekannt, so mit Edward Molyneux und Georges Geffroy. Letzterer hatte seine Karriere im Modehaus von Jean Patou begonnen, bevor er sich der Raumgestaltung zuwandte. Im Unterschied zu seinen offen schwulen Freunden Jean Cocteau und Christian Bérard neigte Christian Dior dazu, sein Privatleben diskret zu behandeln, was möglicherweise an seiner katholischen Erziehung lag. Aber seine Schwester gehörte dazu. Als er sich 1938 in einen kultivierten jungen Mann namens Jacques Homberg verliebte, hielt er das vor Catherine nicht geheim. Jacques war 1915 geboren und damit eher in Catherines Alter. Die beiden blieben noch lange befreundet, auch als Christian zu ihm nur noch ein platonisches Verhältnis hatte.

Gemeinsam erkundeten die Geschwister die Genüsse und Freiheiten von Paris. Als Christian 1938 im Modehaus von Robert Piguet eine Festanstellung angeboten wurde, mietete er eine Wohnung in der Rue Royale, in der Catherine ein eigenes Zimmer bekam. Zu dieser Zeit entwickelte Christian in seiner Arbeit die Vision einer idealisierten, jugendlichen Fraulichkeit. Wenn man die Aufnahmen von Catherine bei der Vorführung der Entwürfe ihres Bruders als eine frühe Version von Miss Dior als einer modernen Pariserin auffasst, dann scheint Christians erster bedeutender Erfolg bei Piguet, ein Kleid namens »Café Anglais«, in Hahnentrittmuster und mit Spitze paspeliert, eine weitere Variante darzustellen. Wie Christian selbst berichtet, ließ er sich dabei von einem populären Kinderbuch mit dem Titel Les petites filles modèles von Comtesse de Ségur inspirieren, das 1858 erschien war. Die Hauptfiguren sind Camille und Madeleine de Fleurville, zwei hübsche kleine Schwestern, deren Erlebnisse zeigen, dass Tugend ihr eigener Lohn ist. Manchmal frage ich mich, ob die Kreation des Kleides »Café Anglais« nicht zur DNA von Christians imaginärer Miss Dior gehört – dem nostalgischen Rückgriff auf das Bild des bezaubernden jungen Mädchens in der idyllischen Landschaft eines blühenden Gartens.

Für »Café Anglais« erhielt Christian so viel Beifall, dass man ihn als begabten Modedesigner der Pariser Korrespondentin von Harper’s Bazaar, Marie-Louise Bousquet, vorstellte. Die arrangierte ihrerseits ein Treffen mit der allmächtigen Chefredakteurin des Magazins Carmel Snow.

»Langsam breitete sich in mir das Gefühl aus, ›angekommen‹ zu sein«, schrieb Christian Dior in seiner Autobiographie.

Doch »unerbittlich nahte das verhängnisvolle Jahr 1939. Es begann mit Tollheiten, wie sie Katastrophen vorauszugehen pflegen. Paris war selten strahlender. Man flatterte von Ball zu Ball … Die unvermeidliche Sintflut fürchtend, bewahrte man die verzweifelte Hoffnung, sie doch irgendwie vermeiden zu können; auf alle Fälle wollte man, wenn nötig, in Schönheit sterben.«

Am 15. März 1939 marschierten Hitlers Truppen in der Tschechoslowakei ein und besetzten das Land. Doch die Pariser feine Gesellschaft trieb es in den Wochen darauf noch bunter als zuvor. Die gefeierte Moderedakteurin von Harper’s Bazaar, Diana Vreeland, berichtete im Juli 1939, dass es in den von Käufern wimmelnden Pariser Modehäusern »hektisch, unterhaltsam, erschöpfend und glamourös« zuging. Und Janet Flanner schrieb im New Yorker: »Dort lagen Geld und Musik in der Luft, die Leute genossen die erste gute Zeit seit der schlechten, die letzten Sommer in München begonnen hatte.«

Während die Partys der High Society immer stürmischer und extravaganter wurden und schließlich in einem Ball in Versailles zum Thema Zirkus kulminierten, wo Akrobaten, Clowns und drei Elefanten auftraten, arbeitete Salvador Dalí an seinen surrealistischen Bühnenbildern für das Bacchanal. Das war eine neue Produktion des Ballet Russe aus Monte Carlo über die Wahnvorstellungen des bayrischen Königs Ludwig II., in der das Corps de Ballet zur Musik von Wagner mit Krücken tanzte und ein riesiger weißer Schwan mit einem gähnenden Loch in der Brust den Hintergrund bildete.

Doch Taumel und Ektase kamen abrupt zum Stehen, als Großbritannien und Frankreich am 3. September 1939 Deutschland den Krieg erklärten. Christian wurde wie alle Franzosen von achtzehn bis fünfunddreißig Jahren zum Militärdienst einberufen. An die Front musste er vorerst nicht, sondern hatte in einer Pioniereinheit in Mehun-sur-Yèvre im ländlichen Zentralfrankreich in der Landwirtschaft zu arbeiten. Auch Catherine sah sich gezwungen, Paris zu verlassen und nach Les Naÿssès zurückzugehen. Wie viele Angestellte der Modebranche hatte sie ihre Arbeit verloren. Die beiden führenden Pariser Modehäuser Madeleine Vionnet und Coco Chanel schlossen ihre Geschäfte. »Jede in meiner Stellung hatte jemanden in Uniform – einen Ehemann, einen Bruder, einen Vater«, erklärte Chanel.

Von den bemerkenswerten Veränderungen in der französischen Hauptstadt berichtete Carmel Snow Anfang September in einem Artikel für Harper’s Bazaar. »Letzte Woche ist sie fast über Nacht menschenleer geworden. Von den Straßen sind die Taxis verschwunden. Alle Telefone wurden abgeschaltet … Als ich durch die Stadt ging, um mich in den Modehäusern zu verabschieden, war überall die Evakuierung bereits im Gange …« Während die Männer, die dort gearbeitet hatten, gerade eingezogen wurden, stellte sie bei den Frauen eine bemerkenswerte Gelassenheit fest. »Das ist kein Augenblick von massenhafter Tapferkeit, sondern von individuellem Heroismus … Sie nehmen das Unvermeidliche mit einer Ruhe hin, über die man nur staunen kann.«

Die merkwürdige Gelassenheit hielt während der acht Monate an, die als der »Sitzkrieg« bekannt geworden sind, so genannt, weil an der Westfront so gut wie nichts geschah. Jean-Paul Sartre, der für die französische Armee meteorologische Dienste leisten sollte, wurde in einer kleinen Stadt nördlich von Strasbourg nahe der deutschen Grenze stationiert.

»Meine Arbeit hier besteht darin, Ballons aufsteigen zu lassen und dann mit dem Fernglas zu beobachten«, berichtete er in einem Brief an Simone de Beauvoir. Bei diesem lockeren Dienst fand Sartre Zeit, an einem neuen Buch zu arbeiten. Er meinte: »Das wird ein moderner Krieg ohne Gemetzel, so wie moderne Malerei keinen Gegenstand, moderne Musik keine Melodie und moderne Physik keine Feststoffe mehr braucht.«

Ein ähnliches Gefühl von Leere beschrieb de Beauvoir in einem Tagebucheintrag vom Oktober 1939: »Was bedeutet dieses Wort genau: Krieg? Vor einem Monat, als es mit riesigen Lettern in den Zeitungen stand, war es ein gestaltloses Grauen, eine Anspannung der ganzen Person, ohne dass man wusste, worauf; es war verschwommen, aber voll. Jetzt ist es ein unbestimmtes Gewimmel von Widerwärtigkeiten, von kleinen Ängsten, es ist nirgends mehr, nichts mehr.«

Die Pariser Korrespondentin des amerikanischen Modemagazins Vogue, Bettina Ballard, lieferte weiterhin regelmäßig Berichte über die Modehäuser. Doch in ihren Memoiren bekannte sie später, dass das Leben fast gänzlich zum Stillstand gekommen war und Zynismus vorherrschte. »Das Wort ›ärgerlich‹ tauchte in jedem Gespräch auf, ob nun beim Fleischer, der kein Rindfleisch von der Qualität vorrätig hatte, wie man sie verlangte, oder beim Abendessen, wenn der Partner nicht zu dem anregenden Gespräch imstande war, das man erwartete. Alle litten unter Langeweile, und die ungewohnte Spannung, auf etwas zu warten, von dem man keine rechte Vorstellung hatte, wirkte geradezu betäubend.«

Ähnlich ging es auch an der Front zu. Major-General Edward Spears, der im Ersten Weltkrieg als Verbindungsoffizier zwischen den französischen und britischen Truppen gedient hatte, wurde von Winston Churchill ausgeschickt, um die Vorbereitungen Frankreichs auf die zu erwartenden Kämpfe in Augenschein zu nehmen. Er meldete, er habe eine »unfassbare, grenzenlose Langeweile« vorgefunden, die »schrecklich deprimierend« sei.

Ungeachtet der Besorgnis des britischen Generals über diese gefährliche Apathie, wie er es empfand, waren seine französischen Partner nach wie vor überzeugt, dass die massiven Befestigungen der Maginot-Linie, die in den 1930er Jahren mit großem Aufwand als angeblich unzerstörbare Verteidigungslinie längs der Grenze zu Deutschland errichtet worden waren, ausreichend Schutz bieten sollten. Doch als die Deutschen am 10. Mai 1940 die Offensive gegen die alliierten Streitkräfte eröffneten, überrollten ihre Panzerdivisionen und Luftwaffeneinheiten Luxemburg, Belgien, die Niederlande und Frankreich mit einer beängstigenden Übermacht in kaum sechs Wochen. Während die Briten noch ihre an den Stränden von Dünkirchen eingeschlossenen Truppen evakuierten, stießen die Deutschen in Richtung Paris vor. Hunderttausende flüchteten vor ihnen und versuchten verzweifelt, den Süden des Landes zu erreichen.

In einem Klima wachsender Panik und Verwirrung setzte sich eine gewaltige Zahl verängstigter Menschen in Bewegung, ohne ein klares Ziel zu haben. Diese Flucht sollte bald der Exodus genannt werden. Historiker schätzen, dass in dieser Zeit in Frankreich acht Millionen Menschen unterwegs waren, sechs Millionen Franzosen aus einer Gesamtbevölkerung von vierzig Millionen, dazu zwei Millionen Flüchtlinge aus den Niederlanden. Die Hauptstraßen waren bald von Fahrzeugen verstopft, die entweder den Dienst aufgegeben hatten oder ohne Treibstoff dastanden. Es bildeten sich endlose Staus, was die Menschen nicht davon abhielt, die Flucht zu Fuß oder per Fahrrad fortzusetzen. Ihre Habseligkeiten führten sie in Kinderwagen, Handwagen oder Schubkarren mit. Riesige Menschenmengen belagerten die Bahnhöfe, und jene, die sich Plätze in einem Zug erkämpft hatten, mussten große Verspätungen oder den plötzlichen Ausfall von Fahrten hinnehmen. Da die Verbindungen der Regierung zu den Lokalverwaltungen zusammenbrachen und es kaum noch offizielle Informationen gab, breiteten sich Gerüchte aus, die das Chaos noch verstärkten. Essen und Trinken wurden knapp, was zu Plünderungen führte. Schwangere Frauen, Alte und Kranke brachen an Straßenrändern zusammen, Kinder wurden von ihren Eltern getrennt. Krankenhäuser, Schulen und Gefängnisse wurden verlegt, und die Geschichten von entlaufenen Verbrechern steigerten die allgemeine Angst. Ebenso die furchterregende Gefahr, von deutschen Flugzeugen beschossen zu werden, welche über die träge dahinkriechenden Flüchtlingskolonnen hinwegrasten.

Das Chaos stellte auch die Alliierten vor unüberwindliche Probleme, da ihre Einheiten auf den überfüllten Straßen immer wieder stundenlang aufgehalten wurden. General Alan Brooke, ein Korpskommandeur der britischen Truppen in Frankreich, schrieb angesichts der Massen erschöpfter, hungriger Flüchtlinge, die den Verkehr zum Stillstand brachten, in sein Tagebuch: »Den völlig übermüdeten Kopf quälen unablässig die deprimierenden Probleme einer nahezu hoffnungslosen Lage, und dazu werden die Augen ständig von dem herzzerreißenden Anblick total verängstigter, elender Menschenmassen geplagt, welche die Verkehrswege verstopfen, die einzige Hoffnung auf mögliche Sicherheit.«

Als Italien am 10. Juni 1940 Frankreich den Krieg erklärte, verließ die Regierung Paris, das sie zuvor zur Offenen Stadt erklärt hatte. Damit erlaubte sie den Deutschen, die verlassene Hauptstadt am 14. Juni einzunehmen, ohne auf Widerstand zu stoßen. Bald wehte über wichtigen Gebäuden wie dem Arc de Triomphe und dem Eiffelturm die Hakenkreuzfahne. So wurde die gewünschte Kulisse für Hitler geschaffen, als er am 23. Juni in die Stadt kam und eine kurze Rundfahrt zu ihren Wahrzeichen unternahm. Der Fotograf Jacques Henri Lartigue hat seinen Eindruck von der Atmosphäre in der eroberten Hauptstadt so formuliert: »Paris liegt im Sterben. Man hört es kaum noch atmen. Es ist in seinem Partykleid zusammengebrochen … Ohne Autos wirken die Avenuen, Boulevards und Straßen so riesig, dass man glaubt, man befände sich auf einem Flugplatz … Die Deutschen sprechen von Paris als sei es ein Spielzeug, das man ihnen gerade geschenkt hat. Ein riesiges Spielzeug voller Überraschungen, von denen sie nichts ahnen.«

Weder Christian Dior noch Catherine wurden Zeugen der schockierenden Unterwerfung von Paris. Nachdem die geschlagenen Franzosen am 22. Juni 1940 den Waffenstillstand mit Deutschland unterzeichnet hatten, eine Demütigung, die Christian in seiner Autobiographie »das Debakel« nennt, hatte er das Glück, in die sogenannte Freie Zone zu gelangen, die noch nicht von den Nazis besetzt war. Seinem älteren Bruder Raymond erging es weniger gut. Bereits 1939 zur Armee eingezogen, diente er als Gefreiter und wurde nach dem Zusammenbruch Frankreichs im Juni 1940 in der Vendée gefangengenommen. Man brachte ihn nach Stalag X‑B, einem Lager in Norddeutschland für Tausende Kriegsgefangene der Alliierten. Während der deutschen Invasion wurden fast zwei Millionen französische Soldaten gefangengenommen und eineinhalb Millionen davon nach Deutschland deportiert. Nach einer Vereinbarung zwischen deutschen und französischen Behörden über die Entlassung von Veteranen des Ersten Weltkriegs kam Raymond 1941 frei und kehrte nach Paris zurück.

Gegen Ende jenes chaotischen Sommers 1940 gelang es Christian, sich bis in die Provence durchzuschlagen und dort Schwester und Vater in Callian, etwa 35 Kilometer nordwestlich von Cannes, wiederzusehen. Die Gegend war damals noch nicht von den Deutschen besetzt. Unter der Führung des 48‑jährigen Marschalls Pétain stimmte die französische Regierung, die zunächst nach Tours im Loire-Tal und dann nach Bordeaux geflohen war, einer stark befestigten und schwer bewachten Demarkationslinie zu, die bei den Waffenstillstandsverhandlungen festgelegt wurde. Sie teilte das Land in zwei Zonen. Paris geriet zusammen mit dem Norden und Westen, darunter der gesamten Atlantikküste, unter Naziherrschaft. Das unbesetzte Gebiet im Süden blieb unter französischer Kontrolle, solange es den Deutschen gefiel.

Am 1. Juli 1940 ließ sich die französische Regierung im vornehmen Badeort Vichy in der Auvergne nieder, der wegen der zahlreichen komfortablen Hotels ausgewählt worden sein soll. Dort ratifizierte sie rasch den Waffenstillstand, schaffte die Dritte Republik ab und setzte die parlamentarische Demokratie außer Kraft. Damit lag alle Macht in den Händen des Staatsoberhaupts Pétain, der Pierre Laval zu seinem Chefminister ernannte. Die Bereitschaft des Vichy-Regimes, die Ideologie der Nazis zu übernehmen, war so groß, dass es Anfang Oktober 1940 aus eigenem Antrieb und ohne jeglichen Druck der Deutschen antijüdische Vorschriften einführte.

Solche Details der Geschichte sind in Christian Diors Autobiographie nicht zu finden. Dort erzählt er von einem ruhigen Leben in ländlicher Abgeschiedenheit. Seine Schilderung dieser Idylle wirkt umso überraschender, wenn man den Hintergrund des Krieges bedenkt, der seine Schockwellen durch ganz Europa sandte und auch in Frankreich heftige politische Erdstöße auslöste.

Christian hingegen beschreibt die Ruhe der Dorfidylle: »Ich … fand mich plötzlich weit weg von Stoff und Pailletten wieder und musste mich auf ein ganz anderes Leben der Arbeit auf den Feldern in der Gesellschaft von Bauern einstellen … Erneut ohne einen Sou – denn es versteht sich von selbst, dass ich keine Ersparnisse gemacht hatte –, vergaß ich schnell die Couture. Zum ersten Mal mitten auf dem Lande lebend, entdeckte ich meine Liebe … zur langsamen und harten Feldarbeit, dem Zyklus der Jahreszeiten und dem sich immer wieder erneuernden Geheimnis des Keimens und Werdens.«

Da ich seine Worte lese, bin ich betroffen von Christians Pragmatismus und diesem stillen Enthusiasmus. Natürlich muss auch zu Krisenzeiten jemand säen und ernten. Doch so ungewöhnlich es für einen ehemaligen Studenten der Politikwissenschaft klingen mag, stellte er lediglich fest: »Da ich … den Landwirt in mir entdeckt hatte, kehrte ich nach Les Naÿssès zurück … und entschloss mich, zusammen mit meiner Schwester den schmalen Streifen Land rings um das Haus zu bepflanzen. Callian … liegt über einer herrlichen Ebene …, die sich zum Anbau von Gemüse eignet. Und das war in dieser Zeit der Knappheit auf den Märkten sehr gefragt.«

Zweimal in der Woche fuhren er und Catherine nun gemeinsam nach Cannes, um ihr Gemüse auf dem Markt zu verkaufen und Freunde zu treffen, von denen viele beim Anrücken der Deutschen ebenfalls aus Paris geflohen waren und im Süden Zuflucht gefunden hatten. Zu dieser Gruppe gehörten der Illustrator René Gruau (der Christian half, als Zeichner Aufträge für die Modeseiten des Figaro zu bekommen) und ein aufstrebender Innenarchitekt namens Victor Grandpierre. Gemeinsam belebten sie die Riviera bald mit Partys und Amateur-Aufführungen, bis ihre Zusammenkünfte von der Vichy-Regierung verboten wurden, weil diese sie für skandalös hielt. Denn in diesem Kreis von Malern, Musikern, Schriftstellern und Schauspielern gab es eine Anzahl schwuler Männer, darunter Christian, die das unkonventionelle Element des französischen Künstlerlebens repräsentierten, das dem Vichy-Regime Pétains ein Dorn im Auge war.

Der hochgeehrte Veteran des Ersten Weltkriegs Marschall Philippe Pétain war eine populäre Wahl als Führer der konservativen Elemente der französischen Bevölkerung – nicht nur der »Löwe von Verdun«, der in jener endlosen Schlacht vor einem knappen Vierteljahrhundert schließlich den Sieg errungen hatte. Seine treuen Anhänger begrüßten die »Nationale Revolution«, eine Kampagne zur Wiedererrichtung des »Guten Frankreichs«, das von katholischer Moral und den traditionellen Werten der Familie geprägt sein sollte. Der Wahlspruch der Französischen Republik »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« wurde durch die Devise »Arbeit, Familie, Vaterland« ersetzt.

Als Galionsfigur des französischen Staates repräsentierte Pétain eine patriarchalische Autorität und behauptete rasch, die Entscheidung, mit Deutschland zu kollaborieren, sei ein patriotischer Akt. Das verkündete er nach seiner historischen Begegnung mit Hitler in Montoire-sur‑le-Loir am 24. Oktober 1940. In einer Rundfunkrede an das französische Volk vom 30. Oktober pries er den Wert der Vereinbarung, die er mit Hitler geschlossen hatte: »Ich betrete in Ehren den Weg der Kollaboration, um die Einheit Frankreichs zu erhalten – eine Einheit von zehn Jahrhunderten – und dies im Rahmen des Aufbaus einer neuen europäischen Ordnung. … Folgen Sie mir. Bewahren Sie Ihr Vertrauen in das ewige Frankreich.«

Was zumindest im Rückblick so außergewöhnlich erscheint: Die Menschen waren nicht nur bereit, sich Pétain zu beugen, als er die Demokratie abschaffte, sondern sie taten das auch in dem festen Glauben, er sei ihr Retter. Der über achtzigjährige Marschall wurde zu einer Ikone, die bald Broschen, Lesezeichen, Medaillen und Tücher schmückte und in Schaufenstern einen Ehrenplatz erhielt.

Janet Flanner sah dieses Phänomen mit der für sie charakteristischen Klarheit. Im New Yorker