Missbrauchtes Vertrauen - Beate Kriechel - E-Book

Missbrauchtes Vertrauen E-Book

Beate Kriechel

0,0

Beschreibung

Sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend hat nicht nur weitreichende Folgen für die Betroffenen, sondern wirkt sich auch spätestens nach der Offenlegung auf das Leben von Eltern, Geschwistern und anderen Bezugspersonen aus. Beate Kriechel hat für dieses Buch mit mehreren Angehörigen gesprochen und erfahren, mit welchen Gedanken und Gefühlen sie sich auseinandersetzen mussten. Sie erzählen von Scham, Wut und ihrem schlechten Gewissen. Sie berichten, mit welchen Strategien die Täter:innen gezielt ihr Vertrauen erschlichen haben und wo sie selbst an Grenzen stießen – auch im Willen, den Missbrauch umfassend aufzuklären. Sie zeigen aber ebenfalls auf, wie es ihnen gelungen ist, der oder dem Betroffenen eine wertvolle Stütze zu sein, die eigene Erschütterung zu verarbeiten und manchmal auch in gesellschaftliches Engagement umzusetzen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 469

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für meinen Sohn

© Ulla Burghardt

Beate Kriechel, geb. 1971, arbeitet seit 2008 als freiberufliche Autorin und Referentin. Außerdem ist sie in Teilzeit als Mediaberaterin tätig. Seit einigen Jahren meldet sie sich als selbst Betroffene von sexualisierter Gewalt in der Kindheit und Jugend vermehrt öffentlich zu Wort und engagiert sich gesellschaftspolitisch in unterschiedlichen Gremien. Seit Anfang 2022 ist sie Vorstandsmitglied der Kölner Fachberatungsstelle „Zartbitter e.V.“

Ihr erstes Buch „Für immer traumatisiert? Leben nach sexuellem Missbrauch in der Kindheit“ ist 2019 im Mabuse-Verlag erschienen.

Beate Kriechel

Missbrauchtes Vertrauen

Wie sich sexualisierte Gewaltin der Kindheit auf Angehörige auswirkt

Gefördert durch:

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren AutorInnen und zum Verlag finden Sie unter: www.mabuse-verlag.de.

Wenn Sie unseren Newsletter zu aktuellen Neuerscheinungen und anderen Neuigkeiten abonnieren möchten, schicken Sie einfach eine E-Mail mit dem Vermerk „Newsletter“ an: [email protected].

© 2023 Mabuse-Verlag GmbH

Kasseler Str. 1 a

60486 Frankfurt am Main

Tel.: 069 – 70 79 96–13

Fax: 069 – 70 41 52

[email protected]

www.mabuse-verlag.de

www.facebook.com/mabuseverlag

Umschlagabbildung: ©iStock.com/EoNaYa

Korrektorat: Inga Westerteicher, Bielefeld

Satz und Gestaltung: Walburga Fichtner, Köln

Druck: SOL Service GmbH, Schrobenhausen

ISBN: 978-3-86321-611-5

eISBN: 978-3-86321-587-3

Printed in Germany

Alle Rechte vorbehalten

Inhaltsverzeichnis

Vorab

ELTERN

Wir waren in der allergrößten Not, und keiner hat uns geholfen!

Elisabeth Brodesser

Es gibt ein Leben vor und ein Leben nach dem Missbrauch

Monika Stein und Henning Stein

Mein schöner Rucksack

Melanie

Es ist ein unerträgliches Gefühl von Alleinsein

S. Jaeger

GESCHWISTER

Unser Leben war nicht mehr dasselbe

Stefanie Lachmann

Ab da ist für mich die Welt zusammengebrochen

Emilia

Abschied von einer Täterin

KINDER

Ich hoffe, dass es von Generation zu Generation leichter wird

Sophia Wolf

Es gab für mich nie einen Grund, mich zu sorgen

Joschua

PARTNER:INNEN

Missbrauch ist wie ein Stein, der ins Wasser fällt und Kreise zieht

Emma

Wir hatten als Paar einfach keine Chance

Elena

Es war ein beidseitiger Lernprozess

Markus K.

FREUNDINNEN

Natürlich hätte ich sie nie retten können

Irmi Wette

Wir reden zu wenig über schwierige Themen

Kristina

Dank und Hinweis

Vorab

Als selbst Betroffene, die sexualisierte Gewalt in der Kindheit und Jugend erfahren hat und weitestgehend mit der Bewältigung der Folgen alleingelassen wurde, fand ich die Idee, ein Buch zu veröffentlichen, in dem Angehörige ihre Sicht schildern, lange befremdlich. Und ich wusste nicht, ob ich mich auf das nicht nur für mich schwierige Wagnis würde ausreichend einlassen können.

Aber nachdem ich mein erstes Buch „Für immer traumatisiert? Leben nach sexuellem Missbrauch in der Kindheit“1 veröffentlicht habe, sind, neben vielen anderen Betroffenen, auch Angehörige auf verschiedenen Wegen auf mich zugekommen. Mit einigen von Ihnen entwickelte sich punktueller Austausch, mit anderen längere Gespräche. In diesem Austausch zeigte sich, dass Angehörige sich oft mit ähnlichen Gedanken und Gefühlen in Bezug auf die stattgefundene Gewalt auseinandersetzen müssen wie die direkt Betroffenen. Und auch in der öffentlichen Wahrnehmung gibt es Parallelen.

Betroffene haben lange darum kämpfen müssen, dass sie überhaupt als Betroffene wahrgenommen und die weitreichenden Folgen der Gewalt ernst genommen wurden. Spätestens seit den 80er-Jahren haben sich einige von ihnen, (Kinder-) Fachkräfte aus der Praxis und Wissenschaft und auch Mitarbeiter:innen meist feministischer Fachberatungsstellen immer wieder öffentlich zu Wort gemeldet und über die Gewalt und die immensen Auswirkungen berichtet. Und auch darauf aufmerksam gemacht, dass es sich nicht um tragische Einzelfälle am Rande unserer Gesellschaft handelt. Sie wurden aber nur sporadisch gehört, lange nicht ernst genommen, oft als hysterisch diskreditiert und/oder der Täter-Opfer-Umkehr bezichtigt und „die Parteinahme für das Opfer als unwissenschaftlich, unprofessionell und/oder grundgesetzwidrig abqualifiziert“2. Die vor allem in den 90er-Jahren von Befürwortern vom „Recht von Kindern auf Sexualität mit Erwachsenen“ und von Täterlobbyist:innen angeführte Debatte des vermeintlichen „Missbrauchs mit dem Missbrauch“, derer die Fachleute beschuldigt wurden, beeinflusste die öffentliche Debatte immens zum Nachteil der Betroffenen und ihrer Unterstützer:innen und sie beeinflusst sie bis heute.

Erst das Jahr 2010 gilt als Wende. Mit Bekanntwerden zahlreicher Vorfälle von sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen durch Geistliche und Lehrer an sogenannten Eliteschulen, wie etwa am Canisius-Kolleg in Berlin, im Internat des bayrischen Benediktinerklosters Ettal oder auch erneut an der hessischen Odenwaldschule (ein Bericht in der FAZ im November 1999 hatte noch keine nennenswerten Reaktionen zur Folge), rückte das Thema vermehrt in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung und hat seitdem zu entscheidenden Veränderungen in der Gesellschaft und der Politik geführt. Und spätestens seit der Aufdeckung von Missbrauchskomplexen wie Lügde, Bergisch Gladbach und Münster wurde auch über Betroffenen- und Fachkreise hinaus deutlich, wie nah, wie weit verbreitet und alltäglich die Gewalt ist – in bundesweiten Netzwerken trafen sich Täter aus dem familiären Umfeld online, um Hunderttausende Fotos und Videos mit Gewaltdarstellungen an Kindern und Jugendlichen zu tauschen, herzustellen und sich auch zum realen Missbrauch von Kindern zu verabreden. Inzwischen gibt es fast wöchentlich neue Berichte von sexualisierter Gewalt an Schulen, in Kindertageseinrichtungen, in (Sport-)Vereinen, Behinderteneinrichtungen, Kliniken, bei Ferienfreizeiten … Sie findet überall statt, wo sich Kinder und Jugendliche aufhalten. Dass es durchschnittlich ein bis zwei betroffene Kinder in jeder Schulklasse gibt3, gehört inzwischen fast zum Allgemeinwissen und zeigt sehr deutlich die gesellschaftliche Realität vieler Kinder und Jugendlicher auf.

All diese betroffenen Kinder und auch die heute erwachsenen Betroffenen haben Angehörige. In Diskussionen um Angehörige der Betroffenen sexualisierter Gewalt wird vor allem Eltern, aber auch Geschwistern und anderen nahen Verwandten, nach der Offenlegung der Taten oft unterstellt, sie hätten „es doch gewusst“ oder „merken müssen“ oder auch sie hätten bewusst weggeschaut. Gerade wenn es um innerfamiliären oder familiennahen Missbrauch geht, werden Eltern nicht selten als Mittäter:innen dargestellt.4 Und gerade bei Müttern wird oft das Narrativ der „rachsüchtigen Ehefrau“, die etwa in Scheidungsverfahren „plötzlich mit dem Vorwurf des Missbrauchs herausrückt“ als „Argument und Beweis“ für falsche und übertriebene Berichterstattung angeführt.

Bisher fast völlig ausgeblendet werden in dieser Diskussion aber etwa die Strategien der Täter und Täterinnen, die alles dafür tun, dass der Missbrauch nicht aufgedeckt wird. Und wenn doch, die Schuld und die Verantwortung für Ihre Taten eben nicht ihnen zugeschrieben wird. Lange konnten Sie sich hierbei auch auf eine Gesellschaft verlassen, die diese Strategien mittrug, sei es auch „nur“ weil sie tatsächlich, trotz lang bekannter Fakten, weiter weggeschaut und/ oder Betroffenen nicht geglaubt hat oder auch „(Täter:innen-)Argumenten“ wie die der „hilflosen Verführten“ oder „verkannter Liebe“ (unreflektiert) gefolgt ist.

Auch ich habe es lange vermieden, mir diese Strategien anzuschauen. Oder besser gesagt, sie mit meiner eigenen Situation damals als Kind in meiner Familie in Verbindung zu bringen – gewusst habe ich um die Strategien aus eigener Erfahrung leider schon lange. Und auch ich bin teilweise der Erzählung gefolgt, dass vor allem Eltern es merken müssen, dass das gar nicht geht, nichts zu merken. Aber neben den anfangs vereinzelten Gesprächen mit Angehörigen, die nicht aus meinem direkten Umfeld kommen, hat vor allem auch ein Redebeitrag des Soziologen und Psychologen Prof. Arnfried Bintig über Eltern von Betroffenen in einer Sendung des WDR5, in der ich als Betroffene als Studiogästin teilnahm, bei mir ein Umdenken auf den Weg gebracht.

Ich bin mir dennoch der Gratwanderung bewusst – denn ja, es gibt Angehörige, die wegschauen, verharmlosen, verleugnen, vertuschen und/oder in anderen Formen davon „profitieren“, Betroffenen nicht beizustehen und sich ihrer Verantwortung nicht zu stellen. Diese Angehörigen kommen in diesem Buch nicht zu Wort. Und Angehörige, die ebenso Täter und Täterinnen sind, selbstverständlich auch nicht.

Dann weiß ich, dass es für viele Betroffene schmerzhaft sein kann zu lesen, dass es Angehörige gibt, die unterstützend und solidarisch an der Seite Betroffener stehen. Mir ging es jedenfalls bei meinen ersten intensiveren Gesprächen mit Angehörigen, die ich schon vor der endgültigen Entscheidung zu diesem Buch hatte, so, dass ich erst erstaunt und fassungslos war. Dann kamen Phasen der Enttäuschung, Trauer und Wut darüber, noch mal aufgezeigt zu bekommen, dass ich vor allem als Kind und Jugendliche vieles weitestgehend alleine bewältigen musste. Aber inzwischen habe ich so viele unterstützende Angehörige kennengelernt, mit ihnen gesprochen und ihr Engagement erlebt und beobachtet, dass es mich letztlich ein Stück weit in meiner eigenen Geschichte tröstet, dass es sie gibt. Und es bewegt mich zu sehen, dass sich viele von ihnen in irgendeiner Form für Betroffene und ihre Familien, die Prävention von sexualisierter Gewalt und gesellschaftliche Veränderungen einsetzen oder einfach „nur“ an der Seite von Betroffenen sind.

Damit sie das tun können, mussten und müssen sie sich mit ihrem eigenen Schmerz in all seinen Facetten auseinandersetzen, sind oft in Therapien gewesen. Aber das meist erst dann, wenn sie – wie es zunächst und bei Eltern zu Recht erwartet wird – nach der Aufdeckung der Gewalt für die Betroffenen da waren. Die unterstützenden Angehörigen, die ich kennengelernt habe und von denen ein paar hier zu Wort kommen, waren das auch. Oft über lange Strecken und bis heute und oft ausschließlich. Viele Angehörige holen sich erst dann für sich selbst Hilfe, wenn sich „ihre Betroffenen“ stabilisiert haben und es ihnen etwas besser geht. Oder leider (erst) dann, wenn sie in einigen Fällen den Suizid einer/ eines Betroffenen verarbeiten müssen. Oft kommen im Zuge der Aufdeckung und/oder dann, wenn sich die Situation vermeintlich etwas entspannt hat, Teile ihrer eigenen oft schmerzhaften Vergangenheit auf und „zwingt“ sie, auf zugrunde liegende Strukturen, Verwandtschafts- und Freundschaftsbeziehungen, blinde Flecken oder verdrängte Anteile in ihrer Biografie zu schauen. Manchmal werden ihnen erst zu diesem Zeitpunkt eigene sexuelle Gewalterfahrungen wieder bewusst.

Auch Angehörige brauchen Unterstützung, Begleitung, Informationen. Auch sie wurden aus ihren bis dahin für sie tragenden Selbstverständlichkeiten und ihrem Alltag geworfen, ihre Werte und Ansichten wurden erschüttert, ihre Arglosigkeit und ihr (Grund-)Vertrauen von Tätern und Täterinnen missbraucht, getäuscht, hintergangen. Sie wurden belogen und oftmals ebenso von anderen Angehörigen, von Institutionen, von staatlichen Stellen wie etwa dem Gericht oder Jugendämtern alleingelassen, ausgebremst, getäuscht, bedroht – die Formen der Abwehr bei sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen sind vielfältig. Viele Angehörige haben ein schlechtes Gewissen und machen sich Vorwürfe, dass sie nichts bemerkt haben. Oft haben sie etwas bemerkt, aber sind nicht (gleich) auf die Möglichkeit Missbrauch als Ursache gekommen oder haben kein Gehör gefunden, wenn sie Veränderungen an (ihren) Kindern bemerkt und diese geäußert haben. Sie sind damit konfrontiert und setzen sich damit auseinander, dass sie ihr Kind, ihre Schwester, ihren Bruder, ihre Freund:innen nicht schützen, die Taten nicht verhindern konnten. Sie empfinden Scham, Wut und Verzweiflung, vor allem, wenn sie den oder die Betroffene nicht „retten“ konnten.

Und oft wird ihre Not von ihrem Umfeld (oder auch Fachpersonen) lange nicht gesehen und viele haben Schwierigkeiten, selbst ihre eigene Betroffenheit anzuerkennen. Das spiegelte sich auch in den vielen Vorgesprächen und Interviews für dieses Buch wider – einige der von mir angefragten Menschen haben teils zögerlich, oft vehement mit dem Hinweis abgelehnt, dass sie ja nicht diejenigen wären, die den Missbrauch erlebt und darunter zu leiden hatten und somit nichts zu sagen hätten bzw. ihre Sicht nichts wirklich zum „eigentlichen Thema“ beitragen könnte. Aber nicht selten erleiden auch Angehörige durch die Gewalt und die Folgen ein Trauma. Seelische Traumata werden als psychische Ausnahmesituationen definiert, die, ausgelöst durch überwältigende Ereignisse wie psychische, körperliche und sexuelle Gewalt, schwere Erkrankungen, das Erleben von Krieg oder anderen Katastrophen, eine Bedrohung für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit der Betroffenen, aber auch für die einer nahestehenden Person darstellen. Auch die Information über sexuelle Gewalt gegen die eigenen Kinder, Geschwister, Partner oder engen Freunden zählen dazu.

In oder nach unseren Gesprächen zeigten sich aber ein paar meiner Gesprächspartner:innen froh und erleichtert, dass auch sie (endlich) mal danach gefragt wurden, wie es ihnen geht und welche Folgen die Gewalttaten für sie haben.

Sexualisierte Gewalt ist kein Einzelschicksal. Sie kommt in allen gesellschaftlichen Schichten vor und wird meist nicht von Fremden verübt. Sie entsteht nicht im luftleeren Raum, sie hat ihre Ursachen in gesellschaftlichen, familiären, kulturellen und politischen Verhältnissen. Täter und Täterinnen sind Teil unserer Gesellschaft, sie wurden in ihr und durch sie sozialisiert. Und ebenso hat die Gewalt nicht nur Folgen für die direkt Betroffenen. Sie wirkt sich – spätestens nach der Offenlegung – unmittelbar auf das Leben von Eltern, Geschwistern, Großeltern, Tanten, Onkel, und anderen familiennahen Bezugspersonen aus. Hinzu kommen spätere Partner:innen, Kinder, Freund:innen – Missbrauch an Kindern und Jugendlichen prägt und beeinflusst alle familiären und sozialen Beziehungen und somit Gesellschaft insgesamt.

Es ist nicht damit getan, dass sich Betroffene mit den Folgen und Ursachen auseinandersetzen. Werden die Folgen der Gewalt nicht auch von Angehörigen und von uns als Gesellschaft aufgearbeitet, wirkt sie fort und wird oftmals an die nachfolgenden Generationen weitergegeben6. „Missbrauch ist wie ein Stein, der ins Wasser fällt und Kreise zieht“ – so beschreibt es die Partnerin einer Betroffenen in unserem Gespräch.

Das Bewusstsein darüber und die Anerkennung, dass sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen kein individuelles Problem ist, weitet den Blick für die weitreichenden Folgen der Gewalt für die gesamte Gesellschaft.7 Und es öffnet vor allem den Raum zu schauen, welche gesellschaftlichen Strukturen, diese Form der Gewalt gegen Kinder begünstigen und seit Jahrzehnten mittragen. Es reicht nicht, dass sich „die Betroffenen“ in Therapie begeben, um wieder „heil“ zu werden. Das ändert nicht die systemischen Ursachen. Und es ist nicht allein die Aufgabe der Betroffenen und ihrer Angehörigen, den Missbrauch aufzuarbeiten und vor allem nachhaltige strukturelle gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. Ebenso, wie es für uns Betroffene meist nicht möglich war und ist, sich den Folgen und Auswirkungen nicht zu stellen, sollte es für uns als Gesellschaft, nicht weiter möglich sein, sich dem zu entziehen. Erst wenn wir alle dazu beitragen, den „Circle of violence“, das gesellschaftliche System, das diese Gewalt verursacht und aufrechthält, zu unterbrechen, kann sich die gesamte familiäre und gesellschaftliche Dynamik ändern, um heute und in Zukunft Kinder zu schützen.

1„Für immer traumatisiert? Leben nach sexuellem Missbrauch in der Kindheit“, Mabuse-Verlag 2019

2s. „Zart war ich, bitter war’s“, Ursula Enders, KiWi-Verlag, 6. Auflage 2019, S. 460

3Schätzungen bezogen auf das sogenannte Dunkelfeld; s. auch „Expertise Häufigkeitsangaben“ der „Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs“ (UBSKM): www.beauftragte-missbrauch.de

4s. beispielsweise „Mütter melden sich zu Wort. Sexueller Missbrauch an Mädchen und Jungen“, Ursula Enders/Johanna Stumpf, Volksblatt Vlg. 1991 und „Eltern von sexuell missbrauchten Kindern. Reaktionen, psychosoziale Folgen und Möglichkeiten der Hilfe“, Dirk Bange, Hogrefe Verlag 2011

5WDR5 Stadtgespräch aus Köln, „Was schützt unsere Kinder vor Missbrauch“, Sendung vom 16.01.2020

6Zu den transgenerationalen Folgen s. beispielsweise „Generationsübergreifende Auswirkungen von Traumata“, Ali Jawaid und Isabella M. Mansuy in „Trauma und Bindung zwischen den Generationen“, Klett-Cotta, 2022

7Im Versuch, die Folgen von Traumata ökonomisch zu erfassen, nennt die „Deutsche Traumafolgekostenstudie“ neben den Kosten für das Gesundheits- und Sozialsystem beispielsweise auch die „Opportunity Costs“ („… Kosten für Individuen und Gesellschaft, die durch einen schlechteren Zugang zu Bildung und schlechtere Möglichkeiten der Selbstverwirklichung[…] entstehen“). In der Studie sind die Folgekosten für/durch Angehörige nicht eingeflossen.

ELTERN

Wir waren in der allergrößten Not, und keiner hat uns geholfen!

Elisabeth Brodesser

Wir haben immer viel über alles gesprochen, ganz viel. Wir gehörten nie zu den Leuten, die gesagt haben, das dürfen wir bloß keinem erzählen. Ich hätte am liebsten alles rausgebrüllt, auch den Schmerz.

Es fing alles an, als wir den ersten Geburtstag meines Enkels gefeiert haben. Ich bekam so eine komische Nachricht und ich habe erst gar nicht gesehen, dass die von Markus, meinem Sohn, war. Wir saßen zusammen und haben gedacht, warum kommt der Markus nicht? Er war immer ein Familienmensch, er war immer dabei und wollte immer dabei sein. Und dann ging es irgendwann peu à peu los, dass er sich zurückgezogen hat – erst ist er relativ früh nach Hause gefahren, das hat mich schon immer gewundert, und jetzt kam er auf einmal gar nicht. Da habe ich gedacht – und jetzt? Will er uns nicht mehr oder was hat der jetzt mit uns? Ich dachte, der ist aus irgendeinem Grund beleidigt. Nach der Feier habe ich die Nachricht noch mal angeguckt und sehe, dass die von ihm ist. Und als ich sie gelesen habe, dachte ich gleich, da stimmt was nicht. Es war mitten in der Nacht, die anderen waren schon im Bett. Ich habe alle wach geklopft, die wohnen ja nebenan, und dann haben wir bei Markus angerufen und gefragt, ob wir jetzt zu ihm kommen können.

Meine beiden Töchter und ich saßen bei ihm am Tisch, ich ihm gegenüber, und ich habe ihn gefragt: „Markus, was ist denn los?“ Und dann kam er damit raus: „Ja, in der Kindheit.“ Ich sage: „Wie, was war denn in der Kindheit, was war denn?“ Und dann sagt er, dass er missbraucht worden ist bei den Pfadfindern. Und er glaubte dann, auch so Neigungen zu haben vielleicht. Kann sein, kann nicht sein. Ich glaube es aber nicht, dass er die wirklich hatte. Ich glaube, dass er eher total verunsichert war – er hatte all diese Bilder von früher im Kopf, vom Missbrauch, von sich und den anderen Jungen, die auch gegenseitig Handlungen an sich vornehmen mussten.

Er hatte einige Zeit vorher die Arbeit verloren. Verwandte meinten: „Der muss den Arsch hochkriegen.“ Ich sagte: „Da stimmt was nicht.“ Ich wusste nicht was, aber ich hatte schon länger das Gefühl. Ich bin aber nicht an ihn rangekommen. Ich habe gesagt: „Ihr wisst, der Markus war nie unpünktlich, der ist immer von alleine früh aufgestanden, immer zur Arbeit gegangen.“ Als ich ihn gefragt habe, warum er die Arbeit verloren hat, hat er gesagt, es sei ein Aufhebungsvertrag. Ich habe es immer noch nicht verstanden und habe ihn gefragt: „Warum? Du hast Verbesserungsvorschläge gemacht, du hast Geld bekommen für die Vorschläge. Ganz am Anfang nach der Probezeit wollten sie, dass du ins Ausland gehst. Also wieso denn dann jetzt der Auflösungsvertrag?“ Es war aber nichts weiter aus ihm rauszukriegen. Er sagte immer nur: „Weil ich ein Arschloch bin.“ Ich sagte: „Wieso bist du denn ein Arschloch?“ Er war nämlich gar kein Arschloch. Er war ein ganz liebenswerter, kluger Mensch. Und dann sitzt er da und sagt, dass er bei den Pfadfindern missbraucht wurde. Und nicht nur er, sondern die anderen Jungs aus seiner Gruppe auch.

Für mich ist eine Welt zusammengebrochen und ich habe einen Heulkrampf bekommen. Und meine Töchter waren natürlich auch geschockt. Und dann steht mein Sohn auf, kommt zu mir und tröstet mich. Ich sagte: „Markus, du brauchst Trost, nicht ich.“

Als mein Sohn so mit neun Jahren zu mir kam und sagte, er möchte zu den Pfadfindern, fand ich das toll, das hat zu ihm gepasst. Er liebte ältere Leute, er liebte kleine Kinder. Er hat sich zum Beispiel immer aufgeregt, wenn die Nachbarin so streng mit ihren Kindern war, das konnte er nicht vertragen. Er kam immer und erzählte es mir, wenn er wieder was mitbekommen hatte. So war er immer, so was hat ihn einfach aufgeregt. Und er hat auch die Natur geliebt und die Bäume, den Sternenhimmel, einfach alles daran. Das war immer seins. Und als er kam und sagte, dass ein Freund ihn gefragt hat, ob er auch mit zu den Pfadfindern möchte, habe ich gesagt, dass er sich das mal angucken kann und wenn ihm das Spaß macht, gerne. Zu der Zeit kam bei uns einiges zusammen und ich habe auch gedacht, dass er dann sinnvoll beschäftigt ist, seine Sachen machen kann, die er gern mag und nicht so viel allein ist nach der Schule.

In der Schule im Ort, wo wir gewohnt haben, hatte er eine wirklich schlimme Klassenlehrerin. Die hatte ein paar Kinder, die sie gequält hat, und ein paar Kinder, die sie bevorzugt hat. Ich habe mit der Frau gesprochen und ihr auch einen Brief geschrieben, aber das hätte ich besser gelassen, danach war es nämlich ganz vorbei. Danach hatte mein Sohn gar keine Chance mehr bei ihr. Und da wir gerade dabei waren, in meinem Heimatort zu bauen, der Rohbau stand schon, habe ich meinen alten Lehrer gefragt, ob ich den Markus vorher schon umschulen kann, und er hat zugestimmt. Markus und ich sind dann morgens mit dem Bus zu Schule gefahren und ich anschließend noch ein paar Stationen weiter zum Neubau und habe dort Fliesen gelegt oder, was sonst noch anstand, erledigt. Nach der Schule kam der Markus zu mir, hat sich ein paar Ziegelsteine hingelegt und darauf Hausaufgaben gemacht.

Als wir umgezogen waren, hat mein Ex-Ehemann, ohne es mit mir abzusprechen, von seinem Bruder eine Gebäudereinigung übernommen und unser Haus damit belastet. Gleichzeitig hat er aber auch seinen Job gehalten bei der Standortverwaltung der Bundeswehr. Und weil irgendwer diese Gebäudereinigung leiten musste, habe ich das übernommen. Also Rechnungen und alles, das hat mein Ex-Mann gemacht, aber alles andere ich, Kunden betreut und dies und das. Und auch wegen der Belastung des Hauses hatte ich die größte Existenzangst meines Lebens. Das heißt, ich war viel unterwegs, habe viel, viel gearbeitet. Gleichzeitig habe ich mich um meine Mutter gekümmert, meine jüngere Tochter war mitten in der Pubertät, die ältere war gerade dabei, sich ihr eigenes Leben aufzubauen. Da fand ich die Idee mit den Pfadfindern eigentlich ganz toll. Kinder sollen ja auch unter Gleichgesinnten sein und da konnte er Dinge machen, die er gerne tat. Was sollte ich denn auch dagegen haben? Mit ein paar Unterbrechungen war er etwa drei Jahre dort.

Ich habe schon gemerkt, dass er sich nach einer Weile verändert hat. Er war vergesslicher, ist erst einmal ein bisschen schlechter geworden in der Schule. Er war immer so ein bisschen in Gedanken, aber er war auch eher ein introvertiertes Kind. Und dann die neue Wohngegend, die neue Schule, neue Klassenkameraden. Der Lehrer war auch erst einmal nicht so nett zu ihm. Ich bin hin zur Schule und habe mich auch dagegen gewehrt. Alles hat sich irgendwann wieder gelegt. Ich dachte, es lag an all diesen Dingen, dass er sich verändert hatte.

Nachher war es so, dass sein Freund, der ihn wegen der Pfadfinder gefragt hatte, ganz fies war zu ihm. Ich habe meinen Sohn gefragt, was da los ist. Es war doch sein bester Freund. Ich habe es aber nicht rausbekommen. Später haben wir dann erfahren, dass der Freund so komisch war, weil Markus plötzlich das Lieblingskind vom Uwe war, statt der Freund vorher. Und der Freund wollte doch das Lieblingskind vom Uwe bleiben. Das sind ja auch oft Täterstrategien, dass sie Kinder bevorzugen, denen mehr Aufmerksamkeit schenken als anderen, um sie an sich zu binden und die Bindung zwischen Freunden zu stören.

Ein anderer Freund von Markus, den er von klein auf kannte und der heute noch manchmal zu Markus´ Grab geht, war auch bei den Pfadfindern, aber in einer anderen Gruppe. Der wurde vom Uwe direkt an einen anderen Gruppenleiter weitergereicht. Und mir ist dann später gesagt worden, dass dieser Gruppenleiter wohl der schlimmste von allen war. Markus´ Freund hat immer gesagt, er wusste direkt, dass was nicht stimmt, weil der andere Gruppenleiter direkt hart rangegangen ist. Der Uwe aber, der hat es über die zärtliche, verständnisvolle Schiene gemacht. Und deshalb konnte Markus erst später begreifen, dass da was nicht in Ordnung war. Uwes Strategie war, sich langsam ranzutasten, zuerst die Hand auf das Bein legen und dann immer Schritt für Schritt weiter. Irgendwann hätte der Uwe gesagt, ihr könnt auch Papa zur mir sagen, und dann hat Markus gemeint, er hätte schon einen Vater, er bräuchte ihn nicht Papa zu nennen.

Wenn ich heute darüber nachdenke – der Uwe hat bei mir auf dem Sofa gesessen und Kaffee getrunken. Der ist so geschickt vorgegangen. Er hat den Markus und auch seinen Freund schon mal zu Hause abgeholt und wenn ein Pfadfinderfest war, bin ich mit ihm in die Metro gefahren. Dann hat er ja auch noch meine Tochter Stefanie und ihren Mann beraten. Außerdem war er mit der Mutter einer Klassenkameradin von Markus verbandelt. Wie ich im Nachhinein weiß, alles klassische Täterstrategien, sich einzuschmeicheln, sich nach und nach Vertrauen zu erschleichen. Und nach allem, was wir heute wissen, muss das ein großer Täterverband gewesen sein bei den Pfadfindern, ein Netzwerk, das sich die Kinder gegenseitig zugeschustert hat. Ich habe hochgerechnet, dass die Gruppenleiter in 20 Jahren über 400 Jungs missbraucht haben. Es waren fünf Gruppen, und vier Gruppenleiter waren pädophil beziehungsweise machtbesessen, das sind ja nicht alles Pädophile. Und wenn man dann im Durchschnitt die Gruppenstärke rechnet, wie lange ein Kind so dabeibleibt und das hochrechnet mit der Anzahl an Kindern, die durchschnittlich missbraucht werden, kommt man auf über 400. Und man weiß außerdem auch, dass die oft Mehrfachtäter sind, dass die ein Kind nicht einmalig missbrauchen. Dass das irgendjemand nur einmal macht, glaube ich im Leben nicht. Die hören meist nicht freiwillig auf und deshalb kann ich auch verschiedene Gerichtsurteile nicht begreifen.

Irgendwann wussten wir auch, dass die Kinder teilweise selber nicht wussten, was mit denen passiert ist, weil die auch noch unter Valium gesetzt wurden. Einer der Täter war ein hohes Tier bei einer Pharmafirma, er arbeitet heute noch in dem Bereich.

Als das mit Markus 2007 rauskam, wollte er den Uwe nicht anzeigen. Ich habe ihn gefragt: „Markus, sollen wir ihn nicht doch noch anzeigen?“, und er meinte: „Nein, Mama, ich will das nicht. Weißt du, ich hatte jahrelang Angst, dass der Uwe verhaftet wird.“ Ich habe erst nicht verstanden, wieso er Angst hatte, dass der Uwe verhaftet wird. Das wäre doch richtig gewesen. Und da sind wir wieder bei einer Strategie – die Täter haben es so gehandhabt, dass sie die Kinder zu Mittätern gemacht haben, indem die sich auch gegenseitig anfassen mussten. Den Kindern haben sie erzählt, das sei doch ganz normal alles, auch dass die Eltern dafür kein Verständnis haben, ein bisschen verklemmt seien vielleicht, deswegen sollten sie nichts davon erzählen. Markus hat damals gesagt, dass er zwei Jahre lang Angst hatte, dass der Uwe verhaftet wird. Warum, hat er mir nie gesagt, er konnte es mir einfach nicht erzählen. Ihm haben die Worte gefehlt oder er war so gehemmt oder blockiert, dass er das nicht in Worte fassen konnte. Ich gehe heute davon aus, dass die Täter die Kinder entsprechend geimpft und denen erzählt haben, dass, wenn sie verhaftet werden, sie auch dran wären, weil sie ja auch mitgemacht hätten. Und dadurch, dass die das teilweise über die zärtliche Schiene gemacht haben, sind die Opfer oft im Zwiespalt. Die mögen die Täter leider ja oft ja auch deswegen. Und man schickt niemanden ins Gefängnis, den man mag. Diesen Zwiespalt, diese Strategie und die emotionale Verwicklung, die die Täter herstellen, zu durchschauen, ist ganz schwierig für die Opfer.

Der Markus hatte vorher schon ein paar Gelegenheiten, es mir zu erzählen. Einmal zum Bespiel, da war er 13 oder 14 und schon nicht mehr bei den Pfadfindern, kam der Uwe noch mal vorbei. Markus war oben und ich habe gerufen: „Markus, der Uwe ist da.“ Aber der Markus wollte ihn nicht sehen. Ich bin raufgegangen und habe zu ihm gesagt: „Markus, der Uwe ist da, hast du keine Lust?“ Er meinte nur: „Nee, ich will nicht.“ Als der Uwe wieder weg war, bin ich noch mal zu ihm hin und habe ihn wieder gefragt, warum er ihn nicht sehen wollte, das sei ja ganz ungewöhnlich. Aber er hat es mir nicht gesagt.

Ich glaube, wenn ich das alles gewusst hätte, ich hätte den Uwe umgebracht, ich wäre dem an den Hals. Der war nicht sehr groß und ich hätte dem den Hals zugehalten. Ehrlich. Und im Nachhinein habe ich mir da immer meine Faust vorgestellt und immer auf die Zwölf, bis die Faust blutig war. Ich weiß aber nicht, warum ich mir das vorgestellt habe, das kam einfach so. Irgendwo musste ich hin mit all dem. Und ich muss immer dran denken, wie der Uwe mal erzählt hat, dass er zu seiner Eigenmotivation morgens im Spiegel zu sich selber sagt: „Guten Morgen, lieber Uwe, wie geht es dir denn heute? Ich wünsche dir einen schönen Tag.“ Da muss ich so oft dran denken, da könnte ich so reinhauen. Ein paar Wochen nach Markus’ Beisetzung habe ich ihm einen Brief geschrieben, den ich aber nicht abgeschickt habe. Unter anderem habe ich geschrieben, ob er überhaupt noch in den Spiegel gucken kann, dass er Abschaum ist und was weiß ich nicht alles. Dass ich ihm in der Stunde seines Todes oder auf dem Weg dorthin das ganze Leid all dieser Menschen wünsche, denen er Leid zugefügt hat und dass er das dann kumuliert erleben darf. Solche Ambitionen hat man dann auch, wenn man erfährt, was das eigene Kind erleiden musste und er sich auch noch das Leben genommen hat.

In all den Jahren vorher, bevor es mit Markus auf einmal bergab ging, ging es ihm gut. Er hatte Freundinnen, er hat seine Ausbildung fantastisch gemacht, er war pünktlich. In den Jahren habe ich den vielleicht zwei, drei Mal morgens gefahren, weil er verschlafen hatte. Er hat dann nicht gesagt, dann bleibe ich zu Hause oder ich bin dann später da, sondern er hat mich geweckt und gesagt: „Hör mal, Mama, kannst du mich fahren, ich habe verschlafen.“ Und ich habe immer gesagt: „Na klar!“ Schluffen an und weg. Kein Thema. Also so war er. Er hat das alles sehr ernst genommen und er war sehr genau, er war wirklich sehr genau und sehr reinlich und hat viel Zähne geputzt. Ich darf da heute nicht drüber nachdenken. Ich habe immer gedacht, was der seine Zähne pflegt! Irgendwann sagte meine Tochter mal: „Mama, was meinst du denn, warum der die so gepflegt hat?“ Ich sagte: „Hör auf!“ Ich hatte sofort Kopfkino und ich musste dann sehr aufpassen, dass ich das wieder wegkriege. In der Zeit damals, als alles rauskam und der Markus sich umgebracht hatte, hatten meine Töchter Angst, ich würde mir was antun. Wären all die anderen, meine Töchter und die Enkel nicht da gewesen, hätte ich das getan. In den ersten Wochen danach kann man nicht mehr.

Als mein Sohn uns endlich alles erzählt hat, war das natürlich erst einmal ein Schock für uns. Ich habe ihm in der Nacht gesagt, dass ich ihn in dem Zustand nicht alleine lassen möchte, und gefragt, ob er mit zu mir geht. Er meinte direkt: „Ja, Mama.“ Dann sage ich: „Pack dir ein paar Sachen, den Rest holen wir später.“ Er ist direkt mitgefahren. Ich habe damals, nach der Trennung von meinem Mann, in einer Souterrainwohnung gewohnt, in der Nähe meiner Töchter. Im Haus meiner jüngeren Tochter und meines Schwiegersohns war oben eine Wohnung frei. Die Kinder wollten gerne, dass ich dort einziehe, was ich gerne getan habe. Markus habe ich gefragt, was er davon hält, wenn er in die Souterrainwohnung einzieht. Da wäre er in unserer Nähe und nicht allein. Wir könnten uns dann auch jeden Tag sehen und zusammen essen. Er war damit einverstanden.

Im Nachhinein konnte man sehen, dass es aber eigentlich schon zu spät war. Er hatte vorher schon sein Sofa und seine Schrankwand verkauft. Ich habe ihn gefragt, warum er die verkauft hat, ich habe aber keine Antwort bekommen. Was mache ich denn, wenn ich keine Antwort bekomme? Soll ich es rausprügeln? Er hatte sich außerdem viel im Internet beschäftigt, hat Gedichte geschrieben und er war in einer Suizidgruppe. Wir wussten das alle natürlich nicht. Nachher, als die Kinder nach seinem Tod seinen PC angeschaut haben, haben sie unter anderem gesehen, dass einer aus der Gruppe geschrieben hat: „Ich bin schon seit Jahren eigentlich tot. Ich lebe eigentlich nur noch für meine Familie, weil ich denen das nicht antun kann.“ Das ist ganz furchtbar, wenn man das dann liest.

Und als der Markus bei mir war und wir noch dabei waren, in den beiden Wohnungen alles für ihn und für mich zu richten, wusste ich eines Nachts plötzlich, weshalb er immer mein Auto geliehen haben wollte. Ich hatte mir von Bekannten einen uralten Fiesta für 250 Euro gekauft und Markus einen Zweitschlüssel gegeben. Ich hatte bei der einen Firma aufgehört, über die ich einen Firmenwagen auch mal privat nutzen oder auch an den Markus mal verleihen konnte. Bei der neuen Firma ging das nicht mehr. Ich musste bei denen eine Vereinbarung unterschreiben, dass ich mit dem Firmenwagen niemand anderen fahren lasse. Ich dachte, ich kaufe erst einmal den preiswerten Fiesta, bevor ich mich nach einem besseren Auto umschaue. Ich war nach alle dem so fertig, dass ich mir erst einmal ein paar Wochen Zeit lassen wollte, um mich auch darum zu kümmern. Ich wollte ihn mit dem Auto unterstützen, damit er auch mal rumfahren kann und mal rauskommt.

Wir hatten den Wagen gerade, als da plötzlich ein Riss in der Windschutzscheibe war, nachdem er damit gefahren war. Ich meinte zu ihm, dass ich das gar nicht melden könnte, da ich die Kfz-Versicherung noch gar nicht bezahlt hatte. Und irgendwann später hat er mich gefragt: „Mama, hast du eigentlich die Versicherung inzwischen bezahlt?“ „Ja, habe ich überwiesen“, sagte ich, an nichts weiter denkend. Und an einem Abend danach wollte er wieder mal mit dem Auto los. Ich telefonierte mit meiner Schwester, die damals noch lebte, und unterbrach das Gespräch mit ihr, um ihn zu fragen, wann er denn wieder da ist. Und er ganz streng zu mir: „Mama, ich bin 29 Jahre alt!“ Ich sagte: „Markus, ich weiß das. Aber in der jetzigen Situation wäre mir viel, viel lieber, ich wüsste, wann du ungefähr wieder da bist.“ Er meinte, irgendwas um zwölf, ein Uhr oder so. Ich habe natürlich kein Auge zugemacht. Irgendwann, gegen zwei Uhr in der Nacht, kam er. Und so habe ich meinen Sohn noch nie gesehen, er war kreidebleich. Er sagte direkt: „Ich gehe ins Bett, Mama.“ Und irgendwie habe ich gedacht, das war es aber doch noch nicht, irgendwas kommt da noch. Und es hat nicht lange gedauert, da klingelte die Polizei und wollte wissen, ob ich einen Sohn habe und ob das mein Auto sei, dass da draußen steht. Sie meinten, mein Sohn sei beim Obi-Parkplatz gesehen worden von einem Herrn, der mit seinem Hund unterwegs war. Der Markus hatte Abgase ins Auto eingeleitet. Da wusste ich, warum er so aussah. Ich bin zu ihm und habe nur gesagt: „Markus, die Polizei ist da.“ Es war so schwer, da die Nerven zu behalten und nicht auszurasten. „Du“, sagte ich, „kommst du dann mal eben oder sollen die zu dir kommen?“ Meinte er: „Nee, nee, ich komme.“ Die Polizisten unterhielten sich darüber, ob sie ihn mitnehmen sollten. Aber sie sagten, dass man ihn am nächsten Tag eh wieder heim schickt. Er hätte nur freiwillig in der Klinik bleiben können.

Am nächsten Morgen habe ich mir das Auto angeguckt, der Sitz war in Liegeposition, eine Tüte von McDonalds und ein leerer Becher Cola lagen rum, sein Radiosender war eingestellt, 1Live. Als er wach war, habe ich mit ihm gesprochen. „Markus, ich kann dir sagen, was du getan hast. Die Polizisten hatten recht. Du warst beim Mäcces, hast dir was Leckeres zu essen geholt, hast dir eine lecker Cola geholt, hast dir den Sitz schon zurückgelegt, hast deine Musik gewählt und hast gedacht, du isst und trinkst nett was und mit den Abgasen bist du dann einfach weg.“ Und er sagte nur: „Gut recherchiert, Mama.“

Rückblickend betrachtet, waren die Wochen bei uns eigentlich nur noch sein Abschied.

Aber erst mal haben wir für ihn nach Ärzten gesucht, nach Psychotherapie. Aber jeder sagte ab, als er gehört hat, worum es ging. Das ging bei jedem so – „Ja, worum geht es denn? Nein, nein, wir haben keinen Platz.“ Der nächste: „Worum geht es denn? Nein, wir haben keinen Platz.“ Wir haben bestimmt 30, 40 Therapeuten abgeklappert, meine Töchter und ich. Sobald man gesagt hat, worum es geht, haben die alle, ich sage das jetzt mal so, den Schwanz eingekniffen. Ob die sich selber schützen wollten? Da ist man als Familie völlig hilflos, man sucht 30, 40 Therapeuten und alle sagen ab. Das war so schrecklich. Man musste sich ja fast entschuldigen, dass man angerufen hat. Da wollte doch überhaupt keiner was mit zu tun haben, überhaupt niemand. Letztlich bin ich zu meinem Hausarzt und habe gesagt: „Was machen wir? Wir brauchen verdammt noch mal Hilfe!“ Über ihn haben wir dann einen Platz im Evangelischen Krankenhaus, in der Psychiatrie bekommen. Mein Sohn wollte da eigentlich nicht hin, aber er ist dann doch mitgegangen. Am nächsten Tag haben wir ihn hingefahren, aber am dritten Tag ist er weggelaufen. Weil er als selbstmordgefährdet galt, hat die Polizei ihn gesucht und wieder eingesammelt. Das war noch schrecklich und wir wussten damals ja noch nicht, dass sie das nicht einfach gedurft hätten. Er hat uns später erzählt, dass er seine Hände auf die Rückenlehne des Vordersitzes legen musste. Er hat zu ihnen gesagt: „Ich bin doch kein Verbrecher.“ Hat er aber trotzdem gemusst und dann kam er auf die Geschlossene. Ich war jeden Tag bei ihm und der Arzt meinte, ich sei so eine fürsorgliche Mutter. Ich sagte: „Der ist doch mein Kind, das ist doch klar, dass man sich kümmert.“

Das Evangelische Krankenhaus war eigentlich auch ein großer Fehler. Auch die waren gar nicht auf solche Fälle wie meinen Sohn spezialisiert. Die waren nicht sensibel genug und haben mit Druck gearbeitet. Das konnte der Markus schon mal gar nicht haben. Außerdem waren auf der Station auch Mitpatienten, die immer fürchterlich laut geschrien haben. Der Markus hat sich vor denen fast gefürchtet. Er hätte insgesamt etwas völlig anderes gebraucht. Keinen Druck, keinen Lärm, eher liebevolle Ruhe. Ich weiß nicht mal, ob die damals schon irgendwie auf Traumafolgen ausgerichtet waren.

Wir haben uns damals als Familie nicht nur alleingelassen gefühlt, wir waren vollkommen alleine damit. Wir waren in der allergrößten Not, und keiner hat uns geholfen, weniger als nichts. Wir hätten einen Arzt gebraucht, ich weiß nicht, ob ich ihn Therapeut nennen soll oder sonst irgendwen, der wirklich die Dinge ernst nimmt und sich bemüht, da die entsprechenden Einrichtungen zu finden. Von Fachberatungsstellen hatte ich bis dato nie was gehört.

Heute denke ich, es muss für Betroffene von Missbrauch spezielle Einrichtungen geben, die auf solche Geschichten ausgerichtet sind. Und auch Anlaufstellen, die einem den Rücken stärken. Und damit meine ich jetzt nicht nur uns als Familie. Klar, auch die Familie ist nervös und manchmal denke ich, vielleicht war ich zu hektisch. Vielleicht hätte ich ihn mehr fragen müssen, wie wir ihm helfen können. Auch wir hätten Informationen und Unterstützung gebraucht. Aber erst mal muss der Betroffene versorgt sein. Wenn der versorgt ist, dann braucht die Familie das nachher vielleicht gar nicht mehr so sehr. Es braucht Anlaufstellen, die Betroffene wirklich auffängt, sie zur Ruhe kommen lässt, ihnen Sicherheit gibt, sich um nichts kümmern zu müssen. Und die gemeinsam mit ihnen in aller Ruhe eine passende Klinik suchen. Wenn erst einmal die Betroffenen versorgt sind, dann kann alles andere kommen. Wir mussten damals alles auffangen, weil sonst kein anderer da war, der das gemacht hat. Uns hat damals auch keiner gefragt, wie es uns geht. Aber in dem Fall hätte es uns gereicht, und ich bin überzeugt, dass die Mädchen das genauso sehen, wenn wir eine Einrichtung gehabt hätten, wo wir gewusst hätten, der Markus wird aufgefangen. Natürlich hätten wir uns weiterhin um ihn gekümmert und uns jeden Tag erkundigt, das ist ganz klar. Aber es wäre so wichtig gewesen, ihn aufgehoben zu wissen und zu wissen, dass er Hilfe bekommt und runterkommt.

Wie es uns, wie es mir damals ging, das kann ich gar nicht in Worte fassen. Es ist, als ob du in einem Film bist. Und du denkst, hoffentlich ist dieser Scheißtraum bald zu Ende. Und eine ganz lange Zeit danach denkst du immer noch, ich denke heute manchmal noch, das hast du geträumt.

Ich würde sagen, so ab Mai gab es einen Cut bei ihm, wo man gedacht hat, er wird immer komischer, und sich gefragt hat, was denn da bei ihm los ist.

Ein paar Wochen vor der Klinik hatte er auch schon so komische Ängste und eine Angst vor Männern entwickelt. Er hatte zum Beispiel meiner jüngeren Tochter bei der Renovierung geholfen, aber sobald einer seiner Schwager kam, hat es keine fünf Minuten gedauert und er war weg. Aber weil er keine Arbeit mehr hatte, habe ich immer gesagt: „Raus, du musst raus. Geh!“ Ich hatte Arbeit ohne Ende, ich hatte nicht viel Zeit, ich musste sehen, dass ich Geld verdiene. Ich sagte ihm: „Markus, geh raus, und wenn du beim Roten Kreuz als Ehrenamtlicher hilfst.“ Hat er aber nicht getan. Und einmal kam ich zu ihm, da hatte er die Gardinen zugezogen. Ich sage: „Warum hast du die Übergardinen zugezogen am helllichten Tag, was ist los?“ Oder er fing dann damit an, dass er Angst hätte, dass ihm einer vielleicht Post aus dem Briefkasten nimmt. Ich habe das da noch ernst genommen. Ich habe ja nicht dran gedacht, dass er vielleicht schon ein bisschen paranoid wurde oder so. Das war noch, bevor wir alles wussten.

Er hat sich ab Mai immer mehr verändert, aber man hatte nichts Greifbares. Und als wir dann den Grund wussten, war das Schlimmste, dass alle Psychotherapeuten abgesagt haben. Das war eine ganz schreckliche Erfahrung. Wir wollten ihn doch retten, wir wollten, dass er bei uns bleibt und heilt. Wir waren total fertig, aber die konnten einen nicht schnell genug quitt werden.

Am 1. Juli haben wir den ersten Geburtstag meines Enkels gefeiert, wo dann diese komische Nachricht kam, am 2. August hatte mein Sohn Geburtstag, da ist er 29 geworden, am 11. August hat er sich totgefahren, am 20. August war die Einäscherung und am 30. August die Beisetzung. Ich kann das gar nicht beschreiben, was für eine Katastrophe das alles war.

Missbrauch war bei uns eigentlich immer ein Thema, immer, wenn es in der Zeitung gestanden hat oder man es im Fernsehen gesehen hat. Und wir haben darüber gesprochen, weil ich zwei Onkel hatte, die die Pfoten nicht von mir lassen konnten. Die haben mich nicht penetriert, aber die haben mich befummelt, mir blöde Sachen ins Ohr gesagt und mir die Zunge in den Hals gesteckt. Ich habe immer unheimlich aufgepasst auf meine Mädels und habe gedacht, den Jungs passiert das ja nicht so. Das war ein Irrtum. Das ist heute noch so, dass viele das nicht mit Jungs verbinden. Ich habe natürlich auch auf ihn aufgepasst, aber ich habe bei ihm jetzt nicht – da sucht man die Schuld ja schon wieder bei sich selbst – die Sexualität, die Gefahr von Missbrauch im Vordergrund gesehen.

Muss ich denn da eigentlich so bestraft werden? Oder ist das Schicksal? Eine Freundin hat mal zu mir gesagt: „Elisabeth, es hätte jeden erwischen können. Guck mal, meine zwei Kinder habe ich überall alleine hingeschickt. Denen hätte das viel eher passieren können.“ Aber warum passiert es da, wo man eigentlich aufpasst?

Bei den Mädels hatte ich noch mal einen anderen Blick. Ich hatte den Blick für die ja auch, weil meine Onkel mich so befummelt haben. Beide waren sehr, sehr christlich. Jeden Sonntag in die Messe und die Söhne schön alle Messdiener. Und jedem Mädchen hinterher, jeder Nichte. Also wir haben schon auch über das Thema gesprochen, aber nicht so, dass ich die Kinder jetzt gewarnt hätte ohne Ende. Aber es war ein Thema und es wurde drüber gesprochen. Und dann sagt dir plötzlich dein Sohn, dass er als Kind bei den Pfadfindern missbraucht worden ist. Da bricht eine Welt zusammen, unendlich. Und man sucht Versäumnisse, man sucht die eigenen Fehler, man sucht, wo man nicht aufgepasst hat. Ich habe mich gefragt, hätte ich was sehen müssen oder wo hätte ich was merken können? Und dann werden einem im Nachhinein so ein paar Sachen bewusst, wie zum Beispiel sein verändertes Verhalten als Kind. Aber damals habe ich es auf den Schulwechsel und den Ortswechsel geschoben.

Ich denke jeden Morgen, jeden Abend an den Markus. Jeden Tag. Das wird sich auch nicht ändern.

In den Wochen nach seinem Suizid, war ich völlig am Ende. Ich hatte nichts, ich habe alles für meinen Anteil an seiner Beisetzung verkauft, meinen ganzen Schmuck verkauft, meine Möbel, alles weg, ich habe auf der Luftmatratze geschlafen. Von meiner Tochter Stefanie habe ich dann zunächst einmal einen Tisch gekriegt und zwei Stühle, die Vitrine hatte ich noch. Andere Sachen habe ich mir dann später vom Sperrmüll zusammengeholt. Ich konnte vier Jahre nicht arbeiten. Man zermartert sich das Hirn. Man findet gar keine Ruhe. Ich hatte so Schuldgefühle, weil ich ihn zu den Pfadfindern geschickt und zu viel gearbeitet habe. Das würde ich heute nicht mehr tun, ich bin ganz ehrlich, ich würde nie mehr so viel schuften. Nie mehr. Es war zu viel, ich habe Tag und Nacht gearbeitet. Ich habe ein Foto, da sitze ich auf dem Sofa und mache eine Kalkulation, der Markus sitzt neben mir im Schneidersitz. Und wenn ich mir das Bild angucke, dann sieht es so aus, als ob er mir was erzählen wollte, dieses Gefühl habe ich. Ich habe auch das Gefühl, dass der Markus viel Rücksicht auf mich genommen hat, damit ich mich nicht aufrege. Ich glaube, er hat gedacht, die Mama hat so viel am Hals, die lasse ich in Ruhe. Aber sein bester Freund von damals, hat mir gesagt, dass selbst er und der Markus ganz selten darüber gesprochen haben. Nur ab und zu mal einen Satz oder zwei, auch nicht oft, und sonst nicht. Als Kinder sowieso nicht, aber auch später nicht. Die hatten sicherlich, ohne es zu wissen, das Gefühl, das ist nicht richtig, was da läuft. Und die hatten, glaube ich, selber ein schlechtes Gewissen, weil sie sich dann auch selbst gegenseitig anfassen mussten, weil man sie zu Verbündeten, zu Mittätern gemacht hat. Und dann kommt bestimmt auch noch Scham dazu. Untereinander wäre es vielleicht noch egal gewesen, Kinder machen ja schon mal Doktorspielchen. Aber dadurch, dass Erwachsene dabei waren …

Ich konnte vier Jahre nicht arbeiten gehen, zumindest nicht in Vollzeit. Ich hatte meinen Job aufgegeben, wollte fünf, sechs, Wochen Ruhe und mir dann wieder was suchen. Aber das ging nicht und ich bin in Hartz IV gefallen. Und weil die bei Hartz IV keine Rentenbeiträge mehr bezahlen, wurde dann auch mein Rentenanspruch immer weniger. Die Hunderter purzelten von der Rente so runter. Nach den vier Jahren waren es über 400 Euro weniger. Ich habe eine Therapie gemacht und irgendwann wieder angefangen zu arbeiten. Erst als Integrationshelferin in einer Fröbelschule. Dort hatte ich einen 15-Jährigen mit einer Spastik und ein schwerst mehrfachbehindertes Kind. Ich bin mit denen eigentlich gut klargekommen, aber mein Therapeut meinte irgendwann, der Job täte mir nicht gut, und hat mich krankgeschrieben. Im Nachhinein war es richtig, dass er mich da rausgeholt hat. Unterm Strich hat es mir auch wirklich nicht gutgetan. Ich war da eigentlich noch nicht dazu in der Lage, wieder arbeiten zu gehen. Außer, dass ich immer noch verarbeiten musste, dass mein Sohn nicht mehr lebte, haben mir das Heben in dem Job und meine Arthrose und der desolate Rücken auch noch den Rest gegeben. Ich war dann wieder siebeneinhalb oder achteinhalb Monate krank und dann haben sie mir die Kündigung geschickt. Ich habe das schon verstanden – die können ja nicht so lange auf einen warten. Später habe ich eine Stelle beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben bekommen, da bin ich dann bis zur Rente geblieben.

Mit der Therapie und später auch der Arbeit ging es mir so peu à peu wieder besser. Irgendwann, ich weiß nicht, wie viel später das war, bin ich zu einer Familienfeier geladen worden und dann habe ich auch wieder etwas gelacht. Es ging mit etwas besser, aber ich hatte auch gleich wieder ein schlechtes Gewissen. Wenn man sich erlaubt zu lachen oder man merkt, man lacht, dann denkt man: „Du lachst, wie kannst du lachen? Dein Kind ist tot und du lachst?“

Trotzdem gab es auch da noch mal eine Situation, in der ich mich wieder völlig alleingelassen gefühlt habe. Und das von einer Seite, von der ich das überhaupt nicht erwartet hatte. Ich habe nach zwei Therapien bei meinem ersten Therapeuten noch eine bei einer Therapeutin gemacht. Bei der dachte ich erst, „Klasse, die und ihr Mann“, er ist auch Psychotherapeut, „die schreiben auch Gerichtsgutachten, da bist du gut aufgehoben“. Und die ersten Stunden liefen auch ganz gut, dachte ich. Aber dann irgendwann mittendrin, da war der Suizid meines Sohnes schon etwas her und ich arbeitete schon im Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben, sagte sie zu mir: „Mit Verlaub, Frau Brodesser, das ist schlimm, aber es gibt Schlimmeres.“ Das hat sie zu mir gesagt, wortwörtlich gesagt. Ich habe das erlebt.

Ich weiß, dass die Frau keine Kinder hat mit ihrem Mann. Vielleicht muss man ja welche haben, um nachvollziehen zu können, was es bedeutet, ein Kind so zu verlieren.

Ich hatte noch etliche Therapiestunden bei ihr übrig. Ich habe mir dann gedacht: „So, die Stunden nimmst du alle noch wahr, aber das nächste Mal, wenn du hier bist, machst du nur noch bla bla.“ Die hat von mir nichts mehr bekommen. Und dann habe ich mir gedacht: „So eine Person, die so was von sich gibt, schreibt Gutachten für das Gericht? Die armen Leute, das darf doch nicht wahr sein.“ Das war schon ganz schön hart, das so von ihr gesagt zu bekommen. Wir haben einiges erlebt auf dem Weg, unglaublich, und immer wieder sind wir alleingelassen worden.

Ich hatte auch mit Gerede zu kämpfen. Es gibt Leute, die blöd quatschen, die meinen: „Also ich hätte das gemerkt! Meinem Kind passiert so was nicht“, oder solche Geschichten. Ich habe ja gemerkt, dass es ihm nicht gut ging. Aber ich konnte nichts machen, nichts weiter sagen, ich bin damals einfach nicht an ihn rangekommen. Und letztendlich habe ich es dann an anderen Dingen festgemacht. Gut, nachher weiß man alles besser.

Leuten, die sagen, dass das ihren Kindern nicht passiert, erzähle ich von einem Experiment, das ich mal im Fernsehen gesehen habe. Da ist mehrfach getestet worden, mal auf einem Fußballplatz, mal in einem Kindergarten, ob die Kinder mit Fremden mitgehen, wenn die angesprochen werden. Und das waren alles Kinder von Eltern, die eigentlich gesagt hatten: „Ich habe mein Kind aufgeklärt, das geht nicht mit.“ Eine Testperson hat die Kinder dann aber über bestimmte Themen angesprochen und gelockt. Er hat immer die richtigen Worte gefunden und die Kinder sind immer mitgegangen. Und dann waren die Eltern, die vorher gesagt haben, mein Kind ist aufgeklärt, mein Kind geht nicht mit, total entsetzt.

Und ich sage den Leuten immer, dass es auch ein ganz großer Unterschied ist, ob mein Kind jetzt von der Straße weggeklaut und missbraucht wird. Das Kind, dass von Fremden missbraucht wird, ist, wenn es wieder laufen gelassen wird, vollkommen aufgelöst und ich weiß als Eltern sofort, dass irgendwas nicht stimmt. Das ist was ganz anderes, als wenn der Missbrauch lange in der Familie oder in irgendeinem Sportverein oder sonst wo im Umfeld passiert. Das ist ein Riesenunterschied, weil Kinder da über einen langen, langen Zeitraum psychisch drauf getrimmt und manipuliert werden und die Täter darauf hinarbeiten. Wenn ich mir solche Sendungen angeguckt habe, hat mir das aber im Nachhinein auch ein bisschen was gegeben. Es hat mich irgendwie getröstet und mir ein bisschen meine Schuldgefühle genommen. Und natürlich haben mir auch Gespräche geholfen. Schon als der Suizid passiert war, habe ich meine Schwester angerufen und der ins Telefon gebrüllt. Und dann habe ich meine Freundin angerufen und ihr meine Verzweiflung ins Telefon gebrüllt. Ich habe nach Markus’ Tod mit vielen ganz offen geredet. Auch wir als Familie, ich und meine Töchter, haben geredet, geredet, geredet. Meine Mädchen und ich waren eigentlich immer schon sehr eng, aber ich glaube, das hat uns noch ein bisschen mehr zusammengeschweißt. Aber trotzdem das geht nie vorbei, der Schmerz nicht, die Traurigkeit nicht, die Wut nicht. Das hört nicht auf. Es rückt weiter in den Hintergrund, aber es ist immer da.

Ich bin fest davon überzeugt, wäre die Situation nicht so gewesen, dass ich derart viel gearbeitet habe, wäre es vielleicht noch gut gegangen. Dann hätte ich noch mal anders hingeguckt oder mein Sohn hätte sich mir dann anders anvertraut. Ich hätte meinen Ex-Ehemann mit einigen Dingen alleine lassen sollen. Ich hätte sagen sollen, die Firma war deine Entscheidung, dann guck auch, wie du klarkommst.

Heute muss man aber auch aufpassen, dass man jetzt nicht überall Missbrauch sieht. Ich bin inzwischen viel kritischer und es passiert schneller, dass ich irgendwo schaue, ob da vielleicht Missbrauch passiert. Überall, wo ich heute Kinder alleine sehe mit Männern oder Vätern und je nachdem, wie die Situation ist, läuten bei mir die Alarmglocken. Es sind zu einem bestimmten Prozentsatz zwar auch Frauen, der Anteil ist aber gegenüber dem der Männer wesentlich geringer.

Ich muss in solchen Situationen dann gucken, ob ich mein komisches Gefühl ernst nehmen muss oder mich lieber zurückhalten sollte. Also das passiert schon leichter als früher und heute verhalte ich mich auch ganz anders. Aber eigentlich war ich nie unsensibel bei dem Thema. Nur mal ein kleines Beispiel – als meine Tochter Michaela 12 oder 13 war, schoss die auf einmal hoch und hatte ganz lange Beine. Bei der Verlobungsfeier meiner älteren Tochter, war von der Seite meines Ex-Mannes auch ein Bruder da, so ein loser Vogel. Draußen saßen welche, drinnen saßen welche, und plötzlich war die Michaela weg und der Bruder meines Mannes auch. Draußen saß meine Schwägerin und ich sage: „Wo ist denn die Ela und der soundso?“ Ich war immer aufmerksam. Da sagt meine Schwägerin: „Mein Gott, der tut der schon nix.“ Da habe ich gedacht: „Du blöde Kuh, du hast überhaupt keine Ahnung.“ Also ich war auch da schon hellhörig und sensibel, aber ich wollte keinen Radau machen, also habe ich den Mund gehalten. Das würde ich heute nicht mehr tun. Heute würde ich die entsprechende Antwort geben.

Als wir den Verein Tour41 mitgegründet haben, war das schon auch eine Herzensangelegenheit, dass ich mich da engagieren wollte. Wir hatten erst ein langes Gespräch mit Markus Diegmann und auch mit seinem Bruder. Und anfangs habe ich mehr mitgemacht, aber irgendwann habe ich mich auch wieder zurückgezogen, weil mir das Thema einfach zu viel wurde. Wir haben über den Verein so viele Menschen kennengelernt, Betroffene, aber auch Angehörige, die ihre Geschichten erzählt haben. Und ich habe vielen zugehört, auch gerne zugehört. Ich konnte ja auch viele eigene Erfahrungen einbringen, wie ich mich selbst gefühlt habe, damals als das alles mit meinem Sohn passierte. Das habe ich auch beim Bundesamt schon gemerkt, wenn die Leute mir dann von sich erzählt haben, dass ich immer sehr gerne zugehört habe. Bis zu einem bestimmten Punkt höre ich das schon gerne und echauffiere mich und mich regt das auch auf. Das hilft vielen Menschen ja aber auch, dass man nicht nur zuhört, sondern auch Emotionen zeigt. Wir sind beim Bundesamt auch darin geschult worden, wie man Gespräche beendet innerhalb von drei, vier Minuten. Das habe ich aber nicht gemacht. Ich habe die Leute immer sprechen lassen, weil es mich auch interessiert hat und weil ich weiß, dass es guttut. Weil ich weiß, wie es ist, wenn keiner zuhört. Und es war für mich auch interessant, ihnen zuzuhören.

Als wir dann den Verein hatten, hatte es sich ganz schnell ergeben, dass wir auch Selbsthilfegruppen für Angehörige angeboten haben, die ich dann begleitet habe. Und ich wollte dann eigentlich auch noch ein paar Onlinekurse über Trauma machen, die es kostenlos gab. Aber irgendwann dachte ich, ich kriege das Kopfkino nicht mehr weg. Ich selber habe auch einige Traumen in meinem Leben. Einige schwere, wirklich, das ist nicht dahergesagt. Aber ich habe immer gedacht, ich konnte alles verknüsen, auch das mit meinen Onkeln. Ich dachte, davon habe ich nichts abgekriegt. Aber wenn ich heute in Büchern über Traumatherapie lese, ich lese immer so ein paar Seiten, muss ich sagen, da erkennt man sich dann doch. Da ist doch schon ein bisschen was bei mir hängen geblieben. Ich habe immer gedacht, ich bin prima damit, aber, das ist gar nicht alles spurlos an mir vorübergegangen. Und dann habe ich auch noch einen Mann kennengelernt und alles konnte ich nicht, ich musste ich mich entscheiden. Ich habe mich gefragt, wofür entscheide ich mich? Entscheide ich mich für diese Kurse oder für die Gruppe und meinen Partner? Ich habe mich für die Gruppe und meinen Partner entschieden.