Mit aller Macht - Rainer Wittkamp - E-Book

Mit aller Macht E-Book

Rainer Wittkamp

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Beschreibung

Ostberlin 1967: Peter Körber hält die ­Tagebücher seines leiblichen Vaters in den Händen, den er nie kennen­gelernt hat. Zwischen den Seiten steht ein Teil der Familiengeschichte, den man besser im Dunkeln ­gelassen hätte. Doch Peter kann nicht länger die ­Augen davor verschließen, denn die Geschichte droht sich zu wiederholen: Er soll Henker werden, so wie auch sein Vater vor ihm. Kann er sein Schicksal noch abwenden oder hatte er von Anfang an keine Wahl?

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Rainer Wittkamp

MIT ALLER MACHT

Aus dem Nachlass herausgegeben von Günther Butkus und Alexander Häusser

Mit einem Nachwort von Christian Adam

Inhalt

Prolog

Teil 1: (1949-1967)

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Teil 2: (1924-1946)

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Teil 3: (1967-1986)

Kapitel 18

Kapitel 19

Epilog

Nachwort

Prolog

Er konnte nicht ungeschehen machen, was er getan hatte. Niemand konnte ihm die Schuld nehmen. Aber hatte er sich denn überhaupt schuldig gemacht? War er nicht lediglich zum Opfer seiner Zeit geworden, war nicht sein ganzes Leben nur eine Aneinanderreihung von Zufällen gewesen? In seinem Kopf drehte sich ein Kreisel – immer dieselben Fragen, derselbe Zweifel. Jetzt galt es, eine Entscheidung zu treffen.

Peter Körber saß im verwaschenen Morgenmantel an seinem alten Wohnzimmertisch, der viel zu groß war für das Wochenendhäuschen. Hier in seiner Datscha hatte der ehemalige Hauptmann des Ministeriums für Staatssicherheit in den vergangenen fünf Jahren so etwas wie Ruhe gefunden. Bis zum heutigen Morgen. Bis es an der Tür geklopft hatte und der unerwartete Besuch gekommen war – der alte Weggefährte, der längst keiner mehr war.

»Peter, du musst noch einmal etwas für uns tun«, hatte er gesagt und sich an den Tisch gesetzt.

»Warum sollte ich dir helfen, Genosse?«

»Weil ich Informationen habe, die dein Leben verändern.«

Peter Körber blickte auf. Er hatte die Zeit vergessen und die einsetzende Dämmerung nicht bemerkt. Nur noch Dunkelheit umgab ihn. Er stand auf, schaltete das Licht an und ging in die Abstellkammer. Da lag der verschnürte Stapel Notizbücher. Ja, er hatte eine Entscheidung zu treffen, und mit einem Mal wusste er, dass die einzig richtige Antwort in diesen Aufzeichnungen stand – in den Tagebüchern seines Vaters, den er nicht gekannt hatte.

Teil 1

(1949-1967)

1

Die frühesten Erinnerungen hatte Peter an seine Tante Edith, Vaters jüngere Schwester. Bei ihr hatte sein Vater ihn als Dreijährigen nach den verheerenden Bombenangriffen auf Leipzig Ende 1943 untergebracht. Sie wohnte in Berlin-Schöneweide, war unverheiratet und arbeitete als Fernschreiberin in der Verwaltung von Siemens & Halske.

Im ersten Sommer nach Kriegsende wurde er eingeschult und wuchs als ganz normaler Junge auf. Zwar ohne Vater, aber viele seiner Spielgefährten hatten ihre Väter auf den Schlachtfeldern verloren.

Seinen neunten Geburtstag feierten Tante Edith und Peter nicht wie üblich zu zweit, denn es gab eine Überraschung – ein Gast hatte sich angekündigt.

»Er ist ein sehr netter Mann, Peter. Du wirst ihn mögen. Und vielleicht … vielleicht hat er sogar ein Geschenk für dich!«

»Wirklich? Glaubst du?«

»Warte es ab«, sagte Tante Edith geheimnisvoll.

Ein Geschenk von einem Unbekannten …

Edith hatte einen Napfkuchen gebacken. Einen Gugelhupf mit ganz vielen Rosinen und drei Zentiliter Kirschwasser, das sie in einem Schanklokal an der Wuhlheide aufgetrieben hatte.

Punkt 15 Uhr klingelte es. Tante Edith eilte zur Tür, um zu öffnen. Kurz darauf kam sie mit einem hageren Mann zurück, der sein linkes Bein ein wenig nachzog. Tante Edith strahlte, als sie ihn ihrem Neffen vorstellte.

»Peter, das ist Paul Körber … Herr Körber, mein Neffe Peter.«

Die zwei schauten sich an, musterten sich eine ganze Weile, dann lächelten sie.

»Lieber Peter, es ist mir eine große Ehre, dass ich bei deiner Geburtstagsfeier dabei sein darf.«

Peter gab ihm die Hand und machte eine tiefe Verbeugung.

Paul Körber griff nach seiner Schulter, richtete ihn energisch auf.

»Peter! Du darfst dich vor niemandem verbeugen. Vor keinem Menschen. Nie im Leben. Verstehst du mich?«

Der Neunjährige nickte verwirrt.

»Dann ist es gut«, sagte Körber. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Peter. Ich habe …«

Tante Edith unterbrach ihn. »Wir trinken erst einmal einen Kakao und essen Gugelhupf. Setzt euch bitte hin, meine Herren.«

Paul Körber und Peter nahmen Platz.

»Wie haltet ihr Wernickes es denn? Gibt es bei euch zum Geburtstag noch so was wie Geschenke? Oder verzichtet ihr auf diesen bourgeoisen Unsinn?«

Gespielt empört zog Tante Edith die Kakaokanne zurück. »Solche schlimmen Worte dulde ich nicht in meiner Wohnung, Herr Körber!«

»Umso besser, dann bin ich hier ja richtig.«

Umständlich zog er ein verpacktes Geschenk aus seiner abgewetzten Ledertasche hervor, legte es außerhalb Peters Reichweite auf den Tisch und zwinkerte Tante Edith zu.

Sie lächelte, nahm ihr eigenes Geschenk vom Buffetschrank und gab es ihrem Neffen mit einem zärtlichen Kuss. »Na los, aufmachen …«

Peter öffnete das Paket seiner Tante und war sprachlos. Darin war ein Karton der Firma Schuco mit einem Spielzeugmotorrad aus Blech, auf dem ein behelmter Rennfahrer saß. Auf dem Rücken trug er die Startnummer 3. Aber das Tollste, das Verrückteste war, dass das Motorrad von alleine im Kreis fuhr, wenn man es mit einem Federschlüssel aufzog.

Peter strahlte über das ganze Gesicht. »Vielen Dank, Tante Edith!«

»Ich habe es in der amerikanischen Besatzungszone besorgt. War ganz schön schwierig.«

Paul Körber zog die Brauen hoch, doch Edith lächelte ihn entwaffnend an.

Daraufhin lächelte er zurück und schob dem Jungen sein Geschenk zu. »Auch von mir alles Gute zu deinem neunten Geburtstag!«

Peter nahm das Päckchen und öffnete es. Es war ein Buch mit einem farbigen Umschlag – Huckleberry Finns Fahrten und Abenteuer von Mark Twain. Versonnen blätterte der Junge das Buch durch. Es enthielt im Inneren viele bunte Zeichnungen.

»Vielen Dank, Herr Körber«, sagte Peter.

Paul Körber war gelernter Drucker, fünf Jahre älter als Edith, hatte ein Holzbein und war erst wenige Monate zuvor aus der mexikanischen Emigration in die Sowjetische Besatzungszone gekommen. Er war Kommunist, ehemaliger Angehöriger der Internationalen Brigaden und hatte im Spanischen Bürgerkrieg im Thälmann-Bataillon gekämpft.

Wie Edith sehnte sich Paul nach ein bisschen Glück. Zwei Menschen, die zwangsläufig zueinander finden mussten. Edith störte sich nicht an seinem fehlenden Unterschenkel, Paul sich nicht am Sohn ihres Bruders.

Am nächsten Tag zog Paul Körber als Untermieter bei Edith Wernicke ein. Exakt zwei Monate später, am 7. Oktober 1949, wurde die Deutsche Demokratische Republik gegründet. Ein Aufbruch zu neuen, besseren Zeiten, wie Paul beim Abendbrot Edith und Peter versicherte.

Auch sonst gab es Veränderungen. Denn Paul wechselte von seiner kalten Schlafstätte im Zwischenflur schon bald unter Ediths warmes Plumeau.

Am 1. März 1950 heirateten Edith und Paul. Anschließend adoptierten sie Peter und er erhielt offiziell den Namen Körber. Der Name seines leiblichen Vaters wurde von da an nie mehr erwähnt.

Sogleich nach Gründung der DDR war Paul zum Direktor der Zentralen Druckerei-, Einkaufs- und Revisionsgesellschaft ernannt worden.

Von seiner Zeit während des Spanischen Bürgerkrieges sprach Paul nie, wich Peters Fragen aus. Nur ein einziges Mal, nach dem Tod seines Kampfgefährten Juan Santos, mit dem er bei der Internationalen Brigade gekämpft hatte, erzählte er Peter davon. Da war sein Adoptivsohn allerdings schon dreizehn Jahre alt.

Peter war nachts wach geworden und hatte in der Küche noch Licht brennen sehen. Paul Körber saß allein am Küchentisch vor einer Flasche Wodka, das Gesicht tränennass.

»Was hast du, Papa?«, fragte Peter erschrocken und setzte sich zu ihm.

»Juan … mein bester Freund … mein einziger«, antwortete er mit schwerer Zunge. »Er ist gestern in Biarritz gestorben.«

»Wo ist das?«

»In Frankreich, kurz vor der spanischen Grenze. Juan wollte uns demnächst in Berlin besuchen. Dich und Mama kennenlernen. Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, da warst du noch nicht einmal geboren.«

Paul griff nach dem Wodka und goss sich nach.

»Juan und ich … uns verbindet etwas … etwas Schreckliches. Etwas, das beinahe unser Leben zerstört hätte.«

»Was denn, Papa?«

»Wir waren damals aufrechte Kommunisten, grundehrliche Kämpfer, denen es nur um die Sache ging. Trotzdem standen wir in Spanien im Bürgerkrieg unter ständiger Überwachung. Nicht durch Francos faschistischen Geheimdienst, sondern durch die eigenen Genossen.«

In dieser Nacht hörte Peter von seinem Adoptivvater andere Töne.

»Über jeden von uns gab es in Moskau eine persönliche Akte. Im Archiv der Komintern. Alle Spanienkämpfer waren dort erfasst. Auch Juan und ich.«

»Warum haben sie das denn gemacht?«

»Das weiß ich nicht. Sie wollten eben alles wissen, die hohen Genossen in Moskau. Aber der Schlimmste war der Politkommissar, den sie uns nach Spanien geschickt haben. Ein Bluthund namens André Marty.«

Peter hatte den Namen noch nie gehört, er klang in seinen Ohren aber irgendwie französisch. Oder doch eher spanisch?

»Marty war ein Kommunist aus Nordkatalonien. Einer der einflussreichsten Funktionäre der Komintern. Leider hatte er die Wahnvorstellung, dass unsere Interbrigaden durch faschistische Spione infiltriert worden waren. Marty sah es als seine Aufgabe an, diese Verschwörer aufzuspüren und zu liquidieren.«

Paul erzählte seinem Stiefsohn von dem, was er und Juan in Spanien während des Bürgerkrieges erlebt hatten, und der Junge hörte gebannt zu. Obwohl die beiden unschuldig waren, gerieten sie schon bald in Martys Fokus. Was sie aber nicht sonderlich ernst nahmen als die aufrichtigen Genossen, als die sie sich sahen.

Im Frühjahr 1937 bekamen die beiden den Auftrag, zwei anarchistische Freiwillige, die in der Schlacht von Jarama angeblich vor dem Feind feige zurückgewichen waren, zur Haft nach Alcala de Henares zu überstellen. Eine unangenehme Aufgabe, die Paul und Juan aber schließlich akzeptierten.

Am Zielort angekommen, mussten sie feststellen, dass es sich um kein normales Gefängnis handelte. Es war eine Abteilung, in der eine sowjetische Geheimsektion Hinrichtungen vornahm. Paul und sein Freund waren bestürzt, sie gaben André Marty ihr Entsetzen mit deutlichen Worten zu verstehen. Der Politkommissar begann, sie als Abweichler zu beschimpfen, setzte die Zwei unter Druck und drohte ihnen ebenfalls den Tod an. Paul und Juan konnten ihre Haut nur dadurch retten, dass sie sich freiwillig als Schützen für die Hinrichtung meldeten.

Im Morgengrauen des nächsten Tages wurde der erste Anarchist in den Hof geführt und an einen Pfahl gebunden. Das Erschießungskommando hob die Gewehre, drückte ab, der Mann sackte tot zusammen. Fünf Minuten später wiederholte sich das Ganze mit dem zweiten Anarchisten. Auch dieser starb unter der mörderischen Gewehrsalve.

Paul war erschüttert, doch er flüsterte Juan zu, dass ihre Waffen statt mit scharfer Munition vermutlich nur mit Platzpatronen geladen worden waren. Das sei üblich, um das Gewissen der Schützen zu erleichtern. Damit sie nicht sicher sein konnten, wer von ihnen den tödlichen Schuss abgegeben hatte.

Da hörten die zwei Freunde hinter sich zynisches Gelächter; Marty hatte ihre Unterhaltung mitbekommen. Bei jedem Durchgang habe es nur zwei scharfe Patronen gegeben, erklärte er, und die hätten beide Male in ihren Gewehren gesteckt.

»Das war einer der schlimmsten Momente in meinem Leben«, sagte Paul zu seinem Adoptivsohn. Dann beschwor er den Jungen, all das Erzählte für sich zu behalten und niemandem davon zu berichten. Selbst seiner Mutter Edith nicht. Paul streckte die Hand aus und Peter schlug ein.

Über diese Nacht hatten sie nie wieder gesprochen. Jahre später kam es Peter vor, als hätte er das alles nur geträumt. Seine Eltern waren bestrebt, Peter eine möglichst gute Erziehung zukommen zu lassen. Als verdientem Spanienkämpfer standen Paul Körber etliche Privilegien zu, die er aber nicht allzu häufig in Anspruch nahm. Nur in Fragen der Bildung wich er davon ab. Peter wurde in jeder Hinsicht gefördert. Egal, ob es sich dabei um seine wissenschaftliche, musische, sportliche oder politisch-weltanschauliche Ausbildung handelte.

Mit der Zeit wurde sein Adoptivvater jedoch etwas nachgiebiger und schließlich konnte ihn Edith überreden, seinen Einfluss geltend zu machen, um von der engen Wohnung in Berlin-Schöneweide in die Mitte der Stadt zu ziehen. Im Frühjahr 1955 erhielten die Körbers eine großzügig geschnittene Wohnung in einem der beiden neu errichteten Turmhäuser am Strausberger Platz. Im Haus des Kindes, auf der rechten Seite der Stalinallee.

Endlich hatte Peter ein eigenes Zimmer. Und er ging jetzt auf die Immanuel-Kant-Oberschule in Lichtenberg. Natürlich waren seine Tage mit Lernen und Arbeit gefüllt. Aber das ging den Kindern der anderen sozialistischen Führungskader genauso. Peter leitete mehrere schulische Arbeitsgemeinschaften und war in der Freien Deutschen Jugend aktiv.

Das Hören von Westsendern war den Schülern strengstens verboten. Peters Klassenkamerad Bruno besaß aber bereits 1957 ein Transistorradio, das sein Vater, ein führender Ökonom bei der Kammer für Außenhandel, von einer Japanreise mitgebracht hatte. Zu einem Zeitpunkt, da man in der Republik solch komplizierte Wundergeräte noch nicht herzustellen vermochte.

Irgendwann hörte Peter auf dem Schulhof, dass sich eine Gruppe Mitschüler jeden Samstag im südlichen Teil des Volksparks Friedrichshain traf. Sie hatten ihren festen Treffpunkt hinter der Freilichtbühne, hörten dort heimlich Club 18, eine Jazz-Sendung für junge Leute vom RIAS Berlin, dem verhasstesten aller Westberliner Feindsender im Amerikanischen Sektor.

Sein Banknachbar Grischa Benthien war schon ein paarmal dabei gewesen und ziemlich begeistert. Er wollte ihn überreden, mitzukommen. Doch obwohl er sein bester Freund war, zögerte Peter.

»Das ist verboten, Grischa. Was ist, wenn uns die Volkspolizei schnappt?«

»Die sind da nie. Außerdem legt John Hendrik am Samstag immer die allerneueste Jazzplatte aus Amerika auf. Letzte Woche hat er A Blowin’ Session von Johnny Griffin gespielt. Kannst du dir das vorstellen? Ich glaube nicht. So was hast du nämlich noch nie gehört!«

Das war ein Argument, dem Peter erlag.

Am nächsten Samstag spielte John Hendrik im RIAS allerdings nicht Johnny Griffin, sondern die neueste Langspielplatte von Thelonious Monk, Brilliant Corners. Nicht nur die Musik war für Peter verwirrend, sondern auch das japanische Transistorradio, aus dem sie erklang.

Es war ziemlich klein, aus grün-weißem Kunststoff, batteriebetrieben und besaß, wie Bruno ihm kundig erklärte, fünf Transistoren. Auf der Vorderseite hatte es eine kleine schwarze Skala, die von der Schriftzeile Transistorized gekrönt wurde.

Transistorized … Ein Wort, das Peter noch jahrzehntelang ohne nachzudenken buchstabieren konnte.

»Ihr Schweinehunde! Was macht ihr da?«

Zwei Volkspolizisten ließen ihre Fahrräder fallen und stürmten auf die Schüler zu.

Bruno versuchte, das Transistorradio unter seiner Jacke zu verstecken, doch einer der Polizisten riss es ihm aus der Hand.

»Westsender hören … Lumpenpack!«

Die Jungen gerieten in Panik und stoben in alle Richtungen davon wie wildgewordene Hühner, denen ein Marder die Kehle durchbeißen will. Niemand von ihnen dachte an Bruno, den die Polizisten in der Mangel hatten.

»Du bleibst hier, Saukerl!«

Peter und Grischa rannten durch den Volkspark bis zum östlichen Ende. Vorbei an einer Brigade Forstarbeiter, die junge Birken an der Hauptallee pflanzten, vorbei an angeregt plaudernden Spaziergängern, vorbei am Mont Klamott, wo sich die Liebespaare in der Dämmerung zum Knutschen trafen, immer weiter in Richtung Ausgang, so schnell sie konnten.

Endlich standen die beiden auf der Dimitroffstraße und hielten sich keuchend die schmerzenden Seiten.

»Scheiße«, sagte Grischa.

»Und Bruno?«

»Sag ich doch: Scheiße.«

Sie schauten sich an, waren aber beide zu feige, um zur Freilichtbühne zurückzulaufen.

»Der entkommt den Polizisten schon.«

»Glaubst du?«

»Klar. Bruno ist ausgefuchst.«

Aber Bruno war nicht ausgefuchst genug, um am nächsten Montag zum Unterrichtsbeginn in der Klasse antreten zu können. Bruno kam überhaupt nicht mehr in die Immanuel-Kant-Oberschule.

Warum? Darüber sprach man in der Lehranstalt nicht. Und erneut war Peter feige. Zu feige, um seine Lehrer darauf anzusprechen.

Neun Monate später hatte er die Angelegenheit bereits vergessen, als ein Mitschüler einen Brief aus Italien unter den Schulbänken kreisen ließ. Mit einer aufgeklebten Fotografie. In Farbe.

Das Bild zeigte den Schiefen Turm von Pisa, der sich gefährlich schräg nach rechts bog. Neben dem Turm stand Bruno. Und bog sich zur anderen Seite, ganz weit nach links, als würde er den Turm stützen, der ohne seine Hilfe jeden Moment umzukippen drohte.

Bruno grinste über das ganze Gesicht. Unter Italiens greller Sonne. Als wollte er seine ehemaligen Klassenkameraden von der Immanuel-Kant-Oberschule auslachen, die alle feststeckten im doofen, ollen Ostberlin. Peter war überzeugt, dass Bruno das auch beabsichtigt hatte – seine alten Schulfreunde auszulachen.

Egal, Peter ignorierte Brunos Spott, schob ihn in die hinterste Ecke seines Gehirns, zu den unangenehmen Erinnerungen, die schon da waren und zu denen noch etliche andere kommen sollten.

2

Grischas Vater Edgar war ebenfalls ein leitender Genosse und arbeitete im Ministerium für Kultur. Er und Paul kannten und mochten sich. Deshalb sahen sie es gern, wenn ihre Söhne die Freizeit miteinander verbrachten.

Da der Genosse Edgar Benthien im Kulturministerium Vorsitzender der Abnahmekommission war, die alle ausländischen Filme auf ihre sozialistische Tauglichkeit überprüfte und festlegte, ob sie eventuell für die Bürger der Republik in Frage kamen, konnte Grischa immer wieder Streifen sehen, die aus verschiedenen Gründen niemals auf die heimischen Kinoleinwände gelangten. Hin und wieder schaffte Grischa es, Peter mit in den dunklen Vorführraum hineinzuschmuggeln, wo sie sich in die letzte Reihe setzten und atemlos das Geschehen auf der Projektionswand verfolgten. Welche unglaublichen Filme er dort gesehen hatte. Kein Bürger der Republik würde das Peter jemals glauben.

Im Januar 1959 waren Grischa und Peter allerdings unvorsichtig und ein übereifriger Genosse schnappte die beiden, als sie sich gerade in den Vorführraum schleichen wollten.

»Moment mal, Jungs …«

Der Mann brachte die Schüler zur Leiterin der Bildervorführeinheit und erwartete wohl, dass man die jugendlichen Missetäter bestrafen würde. Doch die Genossin Pleißner, die Grischas Vater seit Jahren kannte, sprang ihnen bei.

»Das ist doch ein Film unserer polnischen Genossen, Kurt. Der wird schon korrekt sein. Den können sich die beiden ruhig anschauen.«

»Wenn du meinst, Genossin Pleißner …«

»Ja, ja, da bin ich sicher …«

Erlöst nahmen Grischa und Peter in der letzten Reihe Platz. Und bekamen die nächsten anderthalb Stunden den Mund nicht mehr zu. Auf der Leinwand erschien eine Naturgewalt. Ein Schauspieler, wie sie ihn zuvor noch nie gesehen hatten – Zbigniew Cybulski, der den polnischen Partisan Maciek Chelmicki spielte. Der Film hieß Asche und Diamant und endete tragisch, als der Partisan von Milizsoldaten angeschossen wurde und auf einer Müllhalde elend krepierte.

Cybulskis Erscheinung, sein Spiel, alles an ihm war für Peter und Grischa eine Offenbarung. Den ganzen Film über trug Maciek eine dunkle Sonnenbrille, durch die er undurchschaubar und unheimlich lässig wirkte. Und dazu kam, dass er auch noch eine Liebesnacht mit einer Bardame hatte. Dieser Maciek verkörperte alles, was sie selbst einmal sein wollten.

Doch Asche und Diamant wurde von der Abnahmekommission einstimmig abgelehnt, da die Konzeption des Films keinen positiven Klassenstandpunkt erkennen ließe. Zwei Wochen nachdem sie Asche und Diamant bestaunt hatten, schauten Peter und Grischa in einem Kino am Kurfürstendamm einen Film mit dem amerikanischen »Zbigniew Cybulski«. Der Streifen hieß … denn sie wissen nicht, was sie tun und die Hauptrolle verkörperte ein Schauspieler namens James Dean. Aber Peter konnte mit der Geschichte um den halbstarken Jim Stark, der gegen seine Eltern und die Gesellschaft rebelliert und sich mit dem Anführer einer Bande Gleichaltriger anlegt, nichts anfangen. Die Mutprobe der beiden, in schnellen Autos einer Klippe entgegenzufahren und möglichst spät aus den Wagen zu springen, erschien Peter völlig sinnlos. Mut beweisen wofür? Wo waren denn die Ideale, für die es sich zu kämpfen lohnte?

»Und Cybulski ist auch der bessere Schauspieler«, sagte Peter schließlich.

»Aber die Bilder sind beeindruckend«, meinte Grischa nur.

Die Abiturfeier des Jahrgangs 1959 an der Immanuel-Kant-Oberschule war fast schon pompös gestaltet worden. Man hatte die komplette Aula bestuhlt, links und rechts der Bühne standen riesengroße Gestecke mit Nelken, Flieder und Gerbera, an der Rückwand prangte mannshoch das Ernst-Thälmann-Ehrenbanner des Zentralrates der FDJ.

Die meisten Väter trugen das SED-Parteiabzeichen an den Revers ihrer dunklen Anzüge, die Mütter festliche Kleider und man sah ihnen an, dass sie am Vormittag noch alle beim Friseur gewesen waren.

Es wurden zahlreiche Reden gehalten, zunächst vom Schuldirektor, dann von Mitgliedern des Lehrkörpers, vom Sekretär der FDJ-Grundorganisationsleitung, von zwei Vertretern der Patenbrigade bis hin zum Lichtenberger Bürgermeister.

Paul Körber und Edgar Benthien hatten sich herzlich begrüßt und waren ein paar Schritte beiseite gegangen, während Peter und Grischa sich mit ihren Müttern in die zweite Reihe setzten. Die beiden Männer redeten eine Weile miteinander.

Dann klopften sie sich einvernehmlich auf die Schultern und nahmen bei ihren Familien Platz, um die Freude ihrer Söhne hautnah mitzuerleben.

Bevor die Reifezeugnisse übergeben wurden, spielte ein Kammerorchester die Festouvertüre 1948 des Komponisten Ottmar Gerster. Ein Werk von höchster sozialistischer Qualität, wie der Schuldirektor einleitend sagte. »Diese Tonschöpfung vollzieht musikalisch den Übergang vom feudalistischen System zur kapitalistischen Gesellschaft nach, um schließlich in einer Hymne auf den kommenden Sozialismus auszuklingen.«

Peter fand die Ouvertüre ziemlich langweilig. Mittelmaß. Der Komponist hatte viel zu viele der Arbeiterlieder abgekupfert, die Peter bei der FDJ immer und immer wieder hatte singen müssen. Er sehnte sich nach Thelonious Monks kühnen Klängen aus dem japanischen Transistorradio.

»Den gleichen Schund hat er schon unter den Faschisten komponiert«, flüsterte Paul Körber seinem Stiefsohn zu. »Wenn man so einen Mist überhaupt als Komponieren bezeichnen kann. Hitler persönlich hat die Drecksau auf seine Gottbegnadeten-Liste gehievt. Und jetzt macht dieser Verbrecher bei uns weiter, als wäre nichts gewesen.«

Endlich wurden die Zeugnisse überreicht. Peter gehörte zu den Klassenersten, bekam nach Grischa das zweitbeste Abiturzeugnis. In Staatsbürgerkunde, Russisch, Französisch und Einführung in die sozialistische Produktion erhielt Peter die Note sehr gut. In Betragen, Ordnung und Fleiß bekam er gut. Ihm stand jetzt also die Welt offen.

Fragte sich nur, was Peter in ihr machen sollte.

Nach der Feier luden Paul und Edith ihren Sohn in ein bulgarisches Spezialitätenrestaurant ein. Bei feurigen Schaschlikspießen und einer Flasche Rosenthaler Kadarka kamen sie auf seine Zukunft zu sprechen.

»Was für Pläne hast du denn nun?«, fragte Paul Körber. »Wie stellst du dir deine Zukunft vor?«

Edith legte ihrem Mann die Hand auf den Arm. »Lass den Jungen doch erst einmal sagen, was er sich wünscht … Also, Peter, was möchtest du?«

»Noch ein Schaschlik wäre toll.«

»Sicher, selbstverständlich«, schmunzelte Paul Körber. »Kriegst du. Deine Mutter und ich wollen aber eigentlich wissen, welche Fächer du studieren möchtest.«

»Na ja, ich habe in Russisch und Französisch eine Eins … Vielleicht könnte ich … irgendwas mit Sprachen machen … Dolmetscher oder so.«

Paul und Edith tauschten einen Blick aus und schwiegen, da der Ober gerade nachschenkte.

»Keine schlechte Idee, aber du könntest ruhig etwas ehrgeiziger sein«, sagte der Stiefvater. »Wie Grischa zum Beispiel.«

»Wieso? Der weiß doch auch nicht, was er machen soll.«

»Da hat mir sein Vater aber etwas anderes gesagt.«

»Was denn?«

»Grischa wird im Herbst ein Studium in Babelsberg beginnen, an der Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft. Wir fragen uns, ob das nicht auch etwas für dich sein könnte, Peter.«

»Als Absolvent der DASR bist du für alle Leitungspositionen hervorragend ausgebildet«, ergänzte Edith. »Jede staatliche Stelle wird dich mit Kusshand nehmen. Im ganzen Land braucht man dringend neue Leitungskräfte für den Aufbau des Sozialismus. Stimmt doch, Paul, oder?«

»Selbstverständlich, Edith, selbstverständlich.«

Der Ober servierte Peter den zweiten Schaschlikspieß.

»Wenn du dort erfolgreich abschließt, gehörst du automatisch zur kommenden Nomenklatur unserer Republik.«

»Im Ernst?«, fragte Peter kauend.

»Ja, glaub mir. Die Akademie ist die beste Ausbildungsstätte für Nachwuchskader. Deine Generation wird schon in wenigen Jahren im Land die Verantwortung übernehmen. Überleg es dir also gut.«

»Und Grischa geht da auch hin?«

»Er wurde gestern von den maßgeblichen Stellen für ein Studium vorgeschlagen. Das Gleiche könnten deine Mutter und ich auch für dich in die Wege leiten. Es liegt allein an dir.«

»Du müsstest natürlich von Montag bis Freitag in Potsdam im Internat wohnen und könntest nur am Wochenende nach Berlin kommen«, sagte Edith. »Aber mit Grischa zusammen würdest du das schon überstehen.«

»Also … wenn ihr beide der Meinung seid, dass ich in Babelsberg studieren soll, dann wird es schon richtig sein.«

»Dann bist du einverstanden?«, fragte Edith.

»Unter einer Bedingung …«

»Und die wäre?«

»Ich wünsche mir ein Sternchen.«

»Ich verstehe nicht ganz«, sagte Paul.

»Das ist ein kleines tragbares Transistorradio von Stern. Ist ganz neu. Im Radio haben sie darüber berichtet.«

»Daran soll es nicht scheitern«, sagte Edith erleichtert. »Paul mit seinen guten Kontakten schafft das schon.«

Die Deutsche Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft lag am äußersten Rand von Babelsberg, direkt an der Grenze zu Westberlin. Von seinem Zimmer im zweiten Stock des Internats hätte Peter mit ein bisschen Glück glatt zum Klassenfeind hinüberspucken können.

Er teilte sich den Raum mit seinem Freund Grischa. Das Zimmer verfügte über zwei Betten, zwei Spinde, zwei Stühle, zwei schmale Arbeitstische. Der Waschraum lag am Ende des Ganges, gegessen wurde in einem Speisesaal im Erdgeschoss.

Hatte ihre Zeit auf der Immanuel-Kant-Oberschule mit zahlreichen staatstragenden Reden geendet, so begann sie in Babelsberg ziemlich ähnlich. Professor Herbert Keuchel, der Leiter der Akademie, hatte die neuen Studenten in einem nicht enden wollenden Vortrag über die Grundsätze und Ziele der Akademie aufgeklärt: Sie seien keine normalen Studenten der Jurisprudenz, sondern würden in Babelsberg zuallererst zum richtigen Denken erzogen.

»Wie es Walter Ulbricht, der Erste Sekretär des Zentralkomitees, wiederholt erklärt hat, müssen die Juristen der Deutschen Demokratischen Republik begreifen, dass ihr Staat und das von ihm geschaffene Recht zuvorderst dazu dienen, die Politik der Partei und der Regierung durchzusetzen. Diesem Ziel können aber nur politisch zuverlässige Juristen dienen. Im Lehrplan Ihrer ersten beiden Semester wird deshalb die Vermittlung der marxistisch-leninistischen Theorie eine zentrale Rolle einnehmen.«

Peter und Grischa sahen sich mit Lehrstoff konfrontiert, den sie bereits aus zahlreichen Unterweisungen in der Schule, bei der FDJ und natürlich auch aus ihren Elternhäusern kannten. Trotzdem verhielten sie sich diszipliniert, waren immer perfekt vorbereitet und gehörten schon bald zu den besten Studenten an der DASR.

Die Studentenschaft war gemischt. Männer und Frauen, Abiturienten und Absolventen der Arbeiter- und Bauern-Fakultäten. Allerdings hatte man die freizügigen Zugangsmöglichkeiten der Gründerjahre aufgegeben, in denen Arbeiter und werktätige Bauern dank einer Sonderprüfung ohne den Nachweis der Hochschulreife zugelassen worden waren. Auch saßen in den Hörsälen neben den Abiturienten Mitarbeiter des Staatsapparates, die ihren geforderten Abschluss nachholen sollten. Die moralischen Anforderungen waren streng und es wurde vom Lehrkörper stets darauf geachtet, dass die männlichen und weiblichen Studenten keine sexuellen Beziehungen unterhielten.

»Hast du schon mal mit einer Frau geschlafen, Peter?«, fragte Grischa, als die Freunde nach der Sperrstunde in ihrem dunklen Zimmer lagen.

Peter zögerte mit der Antwort, dann rang er sich zur Wahrheit durch: »Nein. Und du?«

»Ich auch nicht.«

»Es wird langsam Zeit …«

»Denke ich auch. Aber hier … keine Chance.«

»Uns bleiben ja die Wochenenden in Berlin.«

»Zum Glück.«

Und die gemeinsamen Samstagabende waren für die beiden Freunde in den nächsten drei Jahren der wöchentliche Höhepunkt. Peter und Grischa trafen sich am späten Nachmittag in der Wohnung der Körbers, um in der nahe gelegenen Milchbar in der Stalinallee das abendliche Vergnügen zu starten. Es war ein idealer Treffpunkt, um mit Mädchen anzubandeln.

Aber richtig perfekt war für Peter und Grischa ein Wochenende erst dann, wenn sie in einem Kulturhaus oder sonst wo eines der seltenen Jazzkonzerte besuchen konnten. Zumeist waren es inoffizielle Sessions von Bigband-Musikern, Mitgliedern des Orchester Eberhard Weise, des Rundfunk-Tanzorchester Leipzig oder der Dresdner Tanzsinfoniker.

Viel zu selten traten Jazzmusiker aus den benachbarten sozialistischen Bruderstaaten auf, die den heimischen Jazzern klar überlegen waren und den Sound der großen amerikanischen Musiker in die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik brachten. Es waren großartige Konzerte, doch am Sonntagabend ging es für die beiden Freunde zurück nach Potsdam. Zu Marx, Engels, Lenin und den anderen Klassikern.

Nachdem die zwei Freunde alle Lehrveranstaltungen und Prüfungen in Marxismus-Leninismus absolviert hatten, wurden die Vorlesungen endlich anspruchsvoller und entsprachen erstmals den Erwartungen, die sie an ein Hochschulstudium hatten.

Während Grischa sich auf die Rechtssysteme im nichtsozialistischen Ausland konzentrierte, war Peter vor allem an kniffeligen rechtlichen Problemen auf dem Gebiet der DDR interessiert.

Als einer von lediglich vier handverlesenen Kommilitonen wurde Peter zu dem Seminar »Strafrechtspolitik als Korrektiv der sozialistischen Gesellschaft« zugelassen. Zu seinem Erstaunen musste jeder der Studenten zu Beginn eine Erklärung unterschreiben, dass sie über das in dem Seminar Gehörte absolutes Stillschweigen bewahren würden. Sollten sie dagegen verstoßen, würde dies nicht nur unmittelbar die Relegation nach sich ziehen, sondern auch weitere Restriktionen unterschiedlichster Art.

Peters Interesse war geweckt und er unterschrieb.

Das Seminar wurde nicht von einer Lehrkraft der Akademie geleitet, sondern von Heinz Oechselhauer, einem promovierten Juristen und Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Der Dozent bat die vier Studenten in einen abgelegenen Seminarraum, schloss sorgfältig die Tür ab, ließ die Rollladen halb herunter und setzte sich an ein Schreibpult.

Dann eröffnete er den Studenten, dass seine Lehrveranstaltung die Todesstrafe in der Deutschen Demokratischen Republik unter rechtlichen und wissenschaftlichen Aspekten erörtern werde. Peter und seine Kommilitonen waren überrascht. Keiner von ihnen hatte vermutet, dass ihr Staat regelmäßig Menschen zum Tode verurteilte und diese Urteile auch vollstreckte.

Oechselhauer erläuterte ihnen, dass in der DDR die Todesstrafe für Mord, Hochverrat, Völkermord, Sabotage, Kriegsverbrechen, Spionage und Terrorismus verhängt werde. Aus Gründen der Staatsräson unterließ es die Parteiführung aber, die Vollstreckungen öffentlich zu verkünden. Selbstverständlich würden aber sämtliche Todesurteile auch dem Politbüro der SED vorgelegt und vom Vorsitzenden des Staatsrats, Walter Ulbricht, persönlich gegengezeichnet.

»Die Todesstrafe dient der Sicherung und somit dem dauerhaften Schutz unseres souveränen sozialistischen Staates. Also der Erhaltung des Friedens und des Lebens der Bürger. Deshalb trägt sie einen zutiefst humanistischen Charakter«, sagte Oechselhauer und blickte in die Runde. »Irgendwelche Unklarheiten, Genossen Studenten?«

Peter hielt die Hand hoch.

»Es leuchtet mir ein, dass die Todesstrafe äußerst menschlichen Zielen dient«, sagte er. »Aber wieso muss unsere politische Führung dann die Vollstreckungen geheimhalten?«

»Eine sehr gute Frage, Genosse Körber. Das kann Ihnen sicher unser Gast beantworten, der uns in der dritten Stunde besuchen wird«, Heinz Oechselhauer sah auf seine Uhr und lächelte. »Ein kurze Pause. Dann sehen wir uns hier wieder. Und bitte seien Sie alle pünktlich.«