Mit dir wird es leichter - Titus Reinmuth - E-Book

Mit dir wird es leichter E-Book

Titus Reinmuth

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Beschreibung

Tim ist Mitte 50, glücklich verheiratet, stolzer Vater. Ein sicherer Job, ein Einfamilienhaus auf dem Land. Theater-Abo, Geburtstagsessen, Grillpartys. Es könnte immer so weiter gehen. Doch plötzlich ist sie da - die Diagnose Krebs. Auf einmal schaut Tim anders auf sein Leben als bisher. Sarah ist freischaffende Künstlerin, Autorin und Trauerrednerin - denn von irgendwas muss man ja leben. Sie ist alleinerziehend und lebt mit ihrer Tochter in Hamburg. Hangelt sich von einem Auftrag zum nächsten. Sie hat eine älter werdende Mutter, einen nervenden Ex und wenig Zeit. Tim und Sarah sind alte Freunde. Und sie teilen alles aus ihrem Leben per Messenger-Nachrichten. Das Schöne, den Alltag, die großen Fragen. Die Krankheit, die Liebe, die Trauer, das Glück, sich selbst. Im Miteinander entdecken sie neu, woran sie glauben und was sie zum Leben brauchen. Ein fesselnder Dialog über ein ganzes Jahr. Und ein besonderes Buch über die große Kraft der Freundschaft.

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24. Dezember, 23:32 Uhr

Hallo Sarah, bist du noch wach?

Hey Sarah, wenn du das hier siehst, antworte mir, ja? Bitte! Gleich!

Hallo mein Lieber, frohe Weihnachten! Was gibt’s denn?

Sorry, ja, frohe Weihnachten, … ich muss gerade noch mal mit jemandem reden oder schreiben. Geht das? Hast du Zeit?

Okay. Was ist passiert?

Ich weiß noch nicht so recht. Ich muss es einfach mal irgendwo loswerden. Sophie und Lena hab’ ich es noch nicht gesagt. Ich will es über die Feiertage noch für mich behalten. Also halt dich mal fest, ja? Bist du zu Hause? Sitzt du?

Ja, Pia ist schon im Bett. Was ist denn los um Himmels willen? Hast du im Lotto gewonnen? Ist jemand gestorben?

Heute Morgen unter der Dusche habe ich etwas ertastet. Eine Schwellung unter der linken Achsel. Ziemlich groß. Ich weiß gar nicht, wo die herkam. Ich meine, man duscht doch jeden Morgen genauso wie immer. Wie am Morgen davor. Und am Morgen davor. Immer dieselben Bewegungen. Routine. Aber jetzt ist da dieses Ding. So groß wie eine Mandarine. Also wenn ich den Arm nach oben und leicht nach hinten strecke, dann tritt es hervor. Das ist mir etwas unheimlich. Wenn ich den Arm wieder runternehme, fühle ich nichts mehr. Da ist nur weiches Gewebe. Als wäre es weg. Aber es ist da. Und es ist groß.

Ich habe keine Ahnung, was das sein soll. Ich kann doch jetzt nicht zum Arzt gehen. Es ist Heiligabend. Morgen ist Bescherung. Du weißt ja, wir machen das immer so, erst am ersten Feiertag. Wie bei uns zu Hause früher. Also habe ich beschlossen, ich sag erst mal nichts und wir feiern Weihnachten. Dann ist immer noch Zeit.

Etwas unheimlich? Tim, das ist richtig unheimlich. Das kann alles Mögliche sein. Du musst zum Arzt!

Ich weiß, aber jetzt will ich noch nicht. Es musste nur irgendwie mal raus, weißt du? Wenn ich es jetzt hier zu Hause erzähle, dann haben wir drei Tage schlechte Stimmung und viele Fragen. Dann machen sich alle Sorgen. Am Ende soll ich noch zum Bereitschaftsdienst oder in die Notaufnahme. Da habe ich auch keine Lust drauf.

Und du hast heute ganz normal weitergemacht als wäre nichts? Kirche, Abendessen, Weihnachtsbaum? Musik, Geschichten, Kekse? Und im Hinterkopf immer dieses Ding? Puh …

Ja. Die wunderbare Kraft der Verdrängung. Es ging erstaunlich gut. Ich habe es einfach weggeschoben. Ente, Rotkohl, Weihnachtsgeschichte, alles bestens.

Oh Mann. Ich mache mir auch Sorgen. Das weißt du schon, oder? Hast du mal gegoogelt, was es überhaupt sein kann?

Ja. Genau eine Seite. Danach wirst du sowieso verrückt. Dann ist nichts mehr mit Verdrängen.

Und?

Na ja, erst stehen da so Sachen, die man sowieso weiß: Geschwollene Lymphknoten können ein Hinweis auf einen Infekt sein. Dann tun sie in der Regel auch weh, wenn man sie tastet. Und du merkst ja, ob du krank wirst, ob du Fieber hast oder so. Habe ich aber nicht. Ich fühle mich wie immer. Und bei mir ist das alles vollkommen schmerzfrei. Da tut nichts weh. Es ist einfach nur da. Und es ist verdammt groß. Na ja, und ein paar Zeilen weiter auf der Seite wird schnell klar, dass es auch eine bösartige Veränderung der Lymphknoten sein kann. Also irgendeine Form von Krebs. Schon nach wenigen Sätzen rät mir der Netdoctor: „Gehen Sie zu einem Arzt!“ Sehr nett von dem Netdoctor, oder?

Mensch, Tim, ich bin völlig sprachlos. Aber danke, dass du mir schreibst. Das war gut. Was willst du denn jetzt tun? Versprich mir, dass du das nicht mit dir rumträgst bis ins nächste Jahr, ok?

Ich weiß nicht. Zwischen den Jahren hat doch keine Arztpraxis auf. Damit will ich nicht zu irgendwem, der mich gar nicht kennt. Auf jeden Fall werde ich es am Tag nach Weihnachten Sophie erzählen. Ich kann ja mal in der Arztpraxis anrufen und hören, was der Anrufbeantworter sagt. Ich habe mir überlegt, wenn meine Ärztin da ist und Dienst hat, dann gehe ich hin. Sonst warte ich bis zum 2. Januar. Das habe ich jetzt mal so mit mir verabredet. Damit komme ich klar. Was meinst du?

Okay. Das hört sich gut an. Versprich mir, dass du es genau so machst! Ich mach mir auch Sorgen.

Alles klar, so mach ich das. Danke, dass du da warst.

Schlaf schön

Tim

Du auch. Halt mich auf dem Laufenden, ja?

Umarmung

Sarah

28. Dezember, 18:27 Uhr

Hallo Sarah, heute war ich bei meiner Ärztin. Sie hat zwischen den Jahren Dienst. Man muss auch mal Glück haben. Sie ist dabei, ihre Praxis an eine junge Kollegin zu übergeben. Und die war heute Morgen da. Ist schon seltsam: Da sitzen dann lauter Patienten mit Husten, Schnupfen, Heiserkeit oder irgendwelchen Wehwehchen und dazwischen ich mit diesem Ding unterm Arm.

Ich bin also zuerst bei der Kollegin gelandet. Bei ihr war ich noch nicht so oft. Aber egal, dachte ich, Hauptsache, es geht weiter. Ich hatte mir einen ersten Satz überlegt: „Ich bin hier, weil ich Angst habe.“ Das wäre ehrlich gewesen. Komischerweise sage ich das nicht. Sie kommt rein und eröffnet mit dem üblichen „Was kann ich denn für Sie tun?“. Und ich sage einfach: „Ich habe da so eine Schwellung unter dem linken Arm, in der Achselhöhle.“ Warum sage ich nicht meinen Satz? Ich habe Angst, verdammt noch mal! Und sie soll mich beruhigen. Oder klären, was los ist. Ich will wissen, wohin mit dieser Angst. Aber ich verrate ihr nichts davon. Sitzt da irgendwer in meinem Kopf und legt eine Sekunde vorher einen Hebel um, nach dem Motto: Bleib mal sachlich, mein Lieber?

Also untersucht sie mich. Guckt sich das an, tastet. Murmelt irgendwas von „… für einen Lymphknoten sitzt es eigentlich zu tief“. Ich denke sofort: Hurra, es ist gar nicht ein Lymphknoten! Aber was ist es dann?

Sie fragt bei den Mitarbeiterinnen vorne nach: „Wann wollte die Chefin heute kommen?“ „Um zehn Uhr.“ Es ist halb zehn. Sie ruft sie an. Sie sagt mir, dass wir jetzt einen Ultraschall machen müssten und dass sie gerne zu zweit draufgucken würde, mit der Chefin zusammen. Sie sei schon unterwegs. Ich weiß nicht, ob mich das beruhigen oder beunruhigen soll. Dass gleich die Erfahrenere von beiden mit draufgucken wird, beruhigt mich. Sie kennt mich seit zwanzig Jahren. Ich habe Vertrauen zu ihr, weißt du? Wenn so etwas ist, was mich total verunsichert, gibt mir wenigstens das ein wenig Sicherheit. Ihre Art, ihre Genauigkeit bei der Untersuchung, ihre Fragen, ihre Zugewandtheit, ihre Stimme, all das. Aber irgendwie beunruhigt mich das auch. Es muss schon etwas Besonderes sein. Etwas, das man nicht so leicht einordnen kann. Wo man lieber noch mal jemanden dazuholt.

Endlich ist sie da. Wir begrüßen uns, sie lässt sich kurz von ihrer Kollegin berichten, was wir schon besprochen haben. Dann greift sie nach dem Ultraschallgerät und fährt damit auf und ab, hin und her. Ab und zu hält sie es fest, guckt genau, vermisst alles, was sie da sieht. „Manchmal bildet sich auch Fettgewebe und tritt dann irgendwo hervor. Haben Sie so was anderswo?“ „Nein, habe ich nicht.“ Fettgewebe klingt aber gut. Fettgewebe klingt harmlos. Fettgewebe – mein fettes neues Lieblingswort!

Auf dem Monitor sieht man: Es ist wohl nicht nur eine einzige Schwellung, es sind drei Gebilde, die irgendwie nebeneinander und untereinander da herumliegen. Ich frage, was das nun sein könnte. „Das wissen wir noch nicht. Wir brauchen ein anderes bildgebendes Verfahren.“ Ich soll mich wieder anziehen und dann noch mal zu ihr reinkommen. Sie stellt mir noch allerlei Fragen. Ob ich nachts schon mal stark schwitze. Nein, tue ich nicht. Dann noch ein paar Fragen, die ich schon wieder vergessen habe. Denn ich habe immer noch Angst. Sie machen einen Termin für mich in der radiologischen Praxis neben dem Krankenhaus, gleich für den 3. Januar.

Ich bin verwirrt von allem. „Sie rätseln also immer noch, was es sein könnte?“, frage ich. In dem Moment stehen wir gerade mitten im Raum. Ich ziehe den Pullover über, und sie steht vor mir. „Ja, wir wissen es nicht. So kann ich noch nichts sagen. Wir brauchen ein anderes bildgebendes Verfahren. Deshalb machen wir jetzt zügig ein MRT. Dann wissen wir mehr.“ Dann schaut sie nach unten auf den Boden. Ihre Stimme wird leiser. Den nächsten Satz nuschelt sie irgendwie in sich hinein. „Es kann natürlich auch ein Malignom sein.“ Ich denke: Ein was? Was hat sie gesagt? Ich habe es nicht richtig verstanden. Ein Mal-irgendwas. Ich hab’ ja mal Latein gehabt in der Schule. „Mal…“ heißt böse. Etwas Bösartiges. Es kann natürlich auch etwas Bösartiges sein. Dann guckt sie mich wieder an. „Aber erst mal halten Sie den Ball flach, okay? Schaffen Sie das? Erst müssen die Kollegen in der Radiologie sich das ansehen. Wir wissen es wirklich noch nicht.“ Also: Ruhe bewahren und den Ball flach halten! Dann nehmen sie mir noch Blut ab, um aktuelle Werte zu haben. Next Stop: Radiologie am 3. Januar.

Liebe Sarah, so ist die Lage. Niemand weiß was, niemand legt sich fest. Aber es kann etwas Bösartiges sein. Ein Malignom. Ich habe es nachgesehen. Das Wort, das mit „Mal“ anfängt. Nicht Malefiz, nicht Malibu, nicht Mal-was-anderes, nein, ein MALIGNOM. Ein bösartiger Tumor. Krebs. Vielleicht habe ich Krebs. Das hat meine gestandene, erfahrene Ärztin in sich hinein genuschelt. Dabei verschämt zu Boden gesehen. Aber ich soll den Ball flach halten. Kann ich das? Ich weiß es nicht.

Liebe Sarah, heute grüße ich dich etwas ratlos. Drück mich mal aus der Ferne, ja?

Ach, Tim, mein Lieber … Ich drücke dich ganz, ganz fest. Ich umarme dich. Mannomann, was musst du da durchmachen! Diese Angst – das verstehe ich so gut. Angst vor dem Unbekannten. Angst vor dem, was jetzt kommt.

Ich musste natürlich gleich an deine Geschichte mit dem Schlaganfall denken. Das ist ja auch erst ein paar Jahre her. War das nicht sogar mitten im Urlaub?

Ja, auch so eine Zeit, in der ich das gar nicht gebrauchen konnte. Fast so schön wie Weihnachten. Aber das Schicksal wartet ja nicht, bis es passt. Wenn du das hier alles erzählst, kommen tatsächlich meine eigenen Erinnerungen hoch. Die kleine Ferienwohnung in Alt-Schwerin, direkt am See. Wir durften sogar das Boot benutzen. Und dann plötzlich dieser Mittwochmorgen.

Da ging alles verdammt schnell, oder? Weiß man da sofort, was los ist?

Ja. Wir hatten gerade gefrühstückt, ich las noch in der Zeitung, als mir plötzlich schlecht wurde. Dann machte der Raum seltsame Sachen. Die Decke wölbte sich nach unten, die Bilder an der Wand zerflossen und sahen aus wie von Miró. Sie blieben ständig in Bewegung. Erst fühlte ich das Kribbeln im linken Bein, dann hatte ich schlagartig keine Kraft mehr im linken Arm. Ich weiß noch, wie ich zu Mama sagte: „Das ist ein Schlaganfall. Ich habe einen Schlaganfall!“ Sie rief sofort den Notruf.

Und das mitten im Niemandsland …

Genau das schoss mir durch den Kopf. Ich dachte nur: Mist, wo sind wir hier? Mecklenburgische Seenplatte, hübsche Städtchen mit dreitausend Einwohnern. Bestimmt muss der Rettungswagen bis nach Schwerin fahren. Dann kam die Angst: Ich will meine Sprache nicht verlieren. Alles, bloß das nicht! Wie stark wird das Ganze? Diese Ungewissheit. Furchtbar. Aber ich hatte Glück im Unglück. Die Stroke-Unit in Plau am See war zehn Minuten entfernt. Ein Schnelltest, ein CT und dann ab auf Intensiv. Ein Schlaganfall, ja. Aber einer, von dem ich mich erholen könnte. Vielleicht. Wahrscheinlich. Eine Infusion und die Hoffnung, dass sich alles löst. Im wahrsten Sinne des Wortes auflöst.

Ich glaube, ich kenne dieses Gefühl: unbedingt Klarheit darüber haben zu wollen, was es ist. Und die erste Aussicht, dass man etwas machen kann. Aber dann hatte ich noch Tage voller Unsicherheit. Ob das alles funktioniert. Ob wirklich alles wiederkommt. Dass es hoffentlich keinen zweiten Schlag gibt, einen stärkeren womöglich.

… und mir hast du das alles erst erzählt, als es wirklich vorbei war.

Stimmt. Da fing es ja gerade erst wieder an, dass wir etwas mehr Kontakt hatten. Noch lange nicht so eng wie heute. Was ich sagen will: Ich kann mir gut vorstellen, wie anstrengend das Warten ist. Die Angst wird ja erst wieder kleiner, wenn alles konkret wird. Wenn man nicht mehr fantasieren muss, sondern den Gegner kennt. Ein Bild vor Augen hat. Im wahrsten Sinne des Wortes. Dann kannst du die Lage vermessen. In Zentimetern. In Zellstrukturen. In was auch immer. Dann kannst du wieder damit umgehen. Alles wird überschaubar, handhabbar. Auch das Schlimme. Weil es dann einen Namen hat. Weil es dann eine Diagnose gibt und einen Plan. Bei mir war es jedenfalls so.

Aber bis dahin? Da kannst du eigentlich nur alle Fantasien verdrängen. Ein großes Stoppschild aufstellen. Die Musik aufdrehen. An etwas anderes denken. Sonst wirst du ja bekloppt. Das habe ich jedenfalls im Rettungswagen versucht und dann wieder in der ersten Nacht auf der Intensivstation. Nun ja. Ist so mäßig gelungen damals. Ach, ich wünsche dir so sehr, dass sich bald alles aufklärt. Und dass es dann einen Weg gibt.

Du, ich muss leider gleich los, ich bin noch verabredet heute Abend. Mädelsabend mit Moni und Elena. Die sind immer zwischen den Jahren hier in Hamburg, da müssen wir uns einfach sehen. Ich drücke dich. Vielleicht bis morgen noch mal, okay?

Ganz liebe Grüße

Sarah

PS. Und sag der Angst gute Nacht! Vielleicht schläft sie ja vor dir ein …

Danke für deine Worte, Sarah! Ich versuche das mal. Amüsiere dich! Und pass auf dich auf!

LG

Tim

29. Dezember, 1:49 Uhr

Hallo Sarah, bist du wieder zu Hause? Na ja, wahrscheinlich schläfst du schon. Oder du machst gerade erst richtig Party. Egal. Das Schöne am Schreiben ist ja, es wirkt sofort. Egal, wann du es liest. Ich schreibe, und es geht mir besser. Es hat nicht geklappt bei mir mit dem Einschlafen. Ich bin um eins noch mal aufgestanden und hab noch eine Runde um den Block gedreht. Manchmal stelle ich mir vor, du gingst dann neben mir. Dann erzähle ich dir, was mir alles im Kopf herumschwirrt, und du hörst zu. Schon werde ich ruhig. Schön, oder? Dies als kleine Freundschaftsbekundung zur Nacht. Als ich wieder zurück war, bin ich direkt eingeschlafen. Schön, dass du da bist. In meinem Kopf. In meinem Herzen. In meiner Fantasie. Und gerade irgendwo in Hamburg.

Liebe Grüße

Tim

29. Dezember, 12:37 Uhr

Guten Morgen mein Lieber. Da gehe ich endlich mal wieder aus und drehe gleichzeitig eine Runde um den Block mit dir? Verrückte Welt. Aber wenn es dich irgendwie beruhigt, ist das auch ein schönes Gefühl für mich. Wozu hat man gute Freunde? Ich könnte dir auch am Abend ab und zu ein Flüstern aufs Kissen legen. Statt Schokolade. Als Betthupferl.

So, nachdem ich meinen kleinen Rausch ausgeschlafen habe, gibt’s jetzt erst mal Frühstück. Pia ist beim Ex. Ich glaube, ich mache mir mal Rührei mit Speck. Orangensaft habe ich auch noch. Hotel-Frühstück am eigenen Küchentisch. Ich liebe das.

Tim, ich denke an dich!

Ein Flüstern aufs Kissen? Hast du noch Gedichte gelesen vorm Einschlafen?

„I lay a whisper on your pillow …“ So fängt ein Song an. Lief gestern Abend irgendwann. Von wem war der noch? Ich weiß es nicht mehr.

Egal. Klingt schön. Und Schokolade soll ja nur wach machen am Abend. Dann lieber ein Flüstern. Was immer das bedeutet. Rührei hab ich mir übrigens auch gerade gemacht. Bei mir ist es wohl das zweite Frühstück. Dann essen wir jetzt beide was und denken aneinander. Kannst du mir mal den Orangensaft rüberreichen? Hab einen schönen Tag!

4. Januar 2019, 9:50 Uhr

Guten Morgen, Sarah! Eins muss man den Ärzten ja lassen: Wenn es ernst wird, geht es Schlag auf Schlag. Der zweite Arbeitstag des neuen Jahres, und schon schieben sie mich in die Röhre. Das Zauberwort des Tages heißt: behandelbar! Nach einem langen Tag rief mich die Ärztin, die junge, abends noch zu Hause an. Da hatte sie den Bericht aus der Radiologie bekommen. Sie hat mir viel erklärt, es kommt jetzt viel auf mich zu, und einen Satz hat sie wie ein Mantra immer wiederholt: „Das ist heute in der Regel gut behandelbar.“ Hat sie endlich meine Angst bemerkt? Mindestens fünfmal hat sie diesen Satz gesagt.

Ich fühle so eine Art angespannte Erleichterung. Ich habe Krebs, aber er ist behandelbar. Die Krankheit ist da, aber die Prognose ist gut. Ich bin immer noch angespannt, aber trotzdem erleichtert. Verstehst du das? Man kann die Sätze ja auch umdrehen: Die Prognose ist gut, aber erst mal ist die Krankheit da. Es ist behandelbar, aber ich habe Krebs. Ich stelle fest, so herum gefallen mir die Sätze nicht. Wir alle zu Hause, Sophie und Lena, halten uns an diesem einen Wort fest: BEHANDELBAR!

Mensch, Tim, das ist großartig! Was für ein tolles Wort! Ich bin so erleichtert.

Warte mal, ich muss dir noch erzählen, wie das ablief gestern. Sarah, das kannst du dir nicht vorstellen. Das war wirklich schräg. Sie sind ja alle guten Willens, sie machen auch alle einen total wichtigen Job in so einer radiologischen Praxis, aber die Ärzte dort konnten wieder nicht reden. Dabei ist das doch so wichtig. Einfach sagen, was ist. Was ist so schwer daran? Ich verstehe das nicht. Ich glaube, ich biete irgendwann mal Seminare an. Den Titel habe ich schon: „Sagen, was ist. Kommunikation für Ärztinnen und Ärzte“.

Erst gab es eine etwas skurrile Situation. Da sitzt ein Arzt in einem kleinen Raum, den Rechner und ein Mikrofon vor sich. Er guckt auf die Aufnahmen und diktiert Berichte. Aber er hat die Tür aufgelassen Richtung Wartezimmer. Und da sitze ich mit vier, fünf anderen Patienten. Alle starren vor sich hin, manche warten auf ihre Untersuchung, andere auf ihre Ergebnisse. Es ist still. Nur der Arzt sitzt über seinen Berichten, und wir hören ihn. Er diktiert das in sein Mikrofon wie der Sportreporter seinen Bericht über die letzte Heimniederlage des 1. FC Köln. „Hector verletzungsbedingt ausgefallen. Die Viererkette völlig ungeordnet. Der Befund ist hochgradig suspekt auf …“, und dann nennt er irgendeinen bestimmten Tumor. Der Patient ist abstiegsgefährdet, so viel ist klar. Lakonisch und routiniert gibt er die Befunde durch. Ein anderes Mal klingt er so wie der Kollege aus dem Wirtschaftsressort, der seine Analyse der Börsenkurse diktiert. Deutliche Verluste im Bankensektor. Börse schließt im Minus. „In erster Linie ist an ein Lymphom zu denken.“ Wenn du das hörst, fallen deine Kurse ins Bodenlose.

Ich sitze da und werde immer blasser. Denn ich gucke ja gerade nicht „Sportschau“ oder „Börse vor acht“, sondern gleich, in wenigen Minuten, auf meine Röntgenbilder. Ist hier irgendjemandem klar, dass da Patienten sitzen, die das alles mithören? Stell dir das mal vor! Das war gruselig.

Dann werde ich reingerufen. Ich gucke auf die Aufnahmen von meinem Bauch, Rumpf und Hals. Die Arme musste ich nach oben nehmen und über dem Kopf ablegen. So sieht man jetzt in der linken Achsel ein Konglomerat aus drei großen Knoten. Riesige Teile. Der oberste etwa 8 x 6 x 4 cm groß. Darunter zwei weitere, flache. „Sie sehen hier etwas, was da nicht hingehört.“ Na, wer hätte das gedacht! „Gut ist, dass keine weiteren Lymphknoten betroffen sind“, erläutert mir der Arzt. „Es ist lokal begrenzt, es liegt so, dass keine Organe berührt werden.“ Das kann ich wohl auf der Haben-Seite verbuchen.

Zu dem jüngeren Arzt kommt kurz darauf der ältere Kollege dazu, der Inhaber der Praxis. Der, dessen Name vorne auf dem Schild steht. Auf mich wirkt es so, als käme er immer dazu, wenn es ernst ist. Er legt seine Stirn in Falten, guckt nachdenklich auf die Bilder, guckt mich ernst an, nickt vor sich hin, so als müsste ich ja wissen, was das bedeutet. Aber er spricht nicht aus, was es bedeutet. „Ist bei Ihnen schon mal was vorgefallen?“, fragt er. „Nein.“ „Melden Sie sich bei Dr. Fischer im Krankenhaus. Das ist der Chefarzt. Auf der Inneren. Die müssen eine Biopsie machen. Dann weiß man Genaueres.“ Ernster Blick. Händedruck. Alles Gute.

Unfassbar das alles, oder? Sei lieb gegrüßt von Tim, dem neuen Patienten an der Behandel-BAR! Welchen Drink empfiehlst du heute Abend?

Tim, Tim, Tim! Mein Lieber, darauf müssen wir anstoßen! Whisky Sour hast du doch früher immer bestellt. Wenn einem das Leben etwas Hartes zumutet: Zuckersirup und Zitronensaft rein und dann runter damit! Zum Wohl!

Ähm, ging das nicht anders? Wenn dir das Leben eine Zitrone gibt, mach Limonade draus?

Kann sein. Aber das hier passt doch viel besser zu uns, oder?

Stimmt. Danke!

4. Januar, 22:37 Uhr

Liebe Sarah, ich hab mal was geschrieben …

Behandel-Bar

Klar bin ich anders

doch ich bin nicht allein

bin auch besonders

wie sollt es anders sein

Klar will ich echt sein

das in jedem Moment

das könnt’ dir recht sein

weil mich so keiner kennt

Ich bin an der Behandelbar

bei all den Zweifelsfällen

manch wunderbares Exemplar

gibt’s nur an dieser Stelle

Ein Einzelfall bin ich

und schwer zu deklinieren

nicht überall gibt’s mich

bin nicht zu kalkulieren

Will gut genug sein

und sogar geliebt

Es könnte klug sein

zu sagen, dass das geht

Ich bin an der Behandelbar

bei all den Zweifelsfällen

manch wunderbares Exemplar

gibt’s nur an dieser Stelle

Nehm mir das Leben

und von allem genug

will nehmen und geben

ganz ohne Betrug

Vielleicht sind wir zwei

wär das denkbar für dich

bin ich dabei

so annehmbar für dich

Triff mich an der Behandelbar

bei all den Zweifelsfällen

manch wunderbares Exemplar

gibt’s nur an dieser Stelle

Vielleicht wird es dann offenbar

bei all den Zweifelsfällen

Du bist genauso wunderbar

nicht nur an dieser Stelle

5. Januar, 23:05 Uhr

Liebe Sarah, zu Hause sind wir alle noch ziemlich durcheinander. Wir halten uns tatsächlich an diesem Wort fest: behandelbar. Lena reagiert ziemlich gefasst. Sie ist ja immerhin 16. Ich überlege manchmal, wie ich als Jugendlicher in dem Alter war. Wie steckt man so eine Nachricht weg? Kann man die überhaupt schon richtig einordnen? Wie gesagt, sie wirkt recht gefasst. Sie sagt mir dann – und vielleicht auch sich selbst: „Es ist behandelbar. Das ist doch gut. Das schaffst du.“ Daumen hoch, lächeln, alles wird gut.

Mit Sophie saß ich gestern Abend auf dem Sofa, nur wir zwei, und wir haben geheult. Das muss dann auch mal raus. Dann haben wir uns gegenseitig festgehalten. Das tat gut. Einerseits. Anderseits bist du auch irgendwie zusammen allein. Wenn die Titanic sinkt, kannst du dir auch in den Armen liegen. Aber sie sinkt. Plötzlich ist die Sicherheit weg. Alles gerät ins Rutschen. Was ist, wenn ich es nicht schaffe? Was heißt „in der Regel behandelbar“? Vielleicht bin ich auch die Ausnahme von der Regel. Wer weiß das schon? Was ist, wenn uns nur noch Monate bleiben?

Plötzlich haben wir völlig verrückte Dinge gemacht. Sind ins Arbeitszimmer an die Aktenordner gegangen. Wie viel Restschuld ist eigentlich noch auf dem Haus? Wo ist die Lebensversicherung? Wie lange läuft die noch? Eigentlich weiß ich das alles so ungefähr. Und natürlich läuft die Risikolebensversicherung lange genug. Aber plötzlich willst du das in die Hand nehmen, das Papier fühlen, die Zahlen alle noch mal mit eigenen Augen sehen, mit dem Finger über die Zeilen fahren, bis unten rechts die Summe auftaucht. Es ist, als würdest du gucken, wo die Rettungswesten sind, wo man sich einfinden muss, wenn der Alarm losgeht. Sophie und ich haben da auch dummerweise so eine Arbeitsteilung: Überweisungen, Versicherungen, Arztkosten mit der Krankenkasse abrechnen, die Steuererklärung machen, … das mache alles ich.

Manchmal habe ich Angst, dass zwar für alles gesorgt ist, Sophie das aber nicht umsetzen kann. Ist wahrscheinlich völlig unbegründet. Natürlich kann sie das, wenn es sein muss. Aber so bin ich. Es würde mich einfach beruhigen, wenn jemand da wäre, der dabei helfen könnte. Wenn ich mal nicht mehr bin oder auch nur keine Kraft mehr habe, ist das meine Hauptsorge. Okay, da sind noch ein paar andere, aber die drängt sich gerade in den Vordergrund.

Irgendwann habe ich Sophie gefragt: Wenn es hart auf hart kommt, wenn du Hilfe brauchst, wer von unseren Freunden soll dann am ehesten kommen? Auch das wollte ich plötzlich regeln. Und zwar lieber gleich am Anfang als irgendwann auf dem Weg. Wieder nur, um mich selbst zu beruhigen. Wir haben ja ein paar gute alte Freundinnen und Freunde, aber die leben heute in alle Welt verstreut. Wenn es um Freunde geht, die hier vor Ort sind, die auch mal schnell vorbeikommen können, stellt sich die Frage ja noch mal anders. Für mich selbst könnte ich schnell beantworten, wer das ist. Aber bei Sophie war ich mir gar nicht so sicher.

Also: „Wenn es schwer wird, wer soll dann da sein? Bei wem fühlt sich das am besten an? Wo hast du am meisten Vertrauen?“ Das war schnell klar. Martin und Iris sind gute Freunde. Iris war schon mal da, als es Sophie sehr schlecht ging und ich nicht bei ihr sein konnte. Da ist sie einfach vorbeigekommen. Mit Martin spiele ich in der Band. Ich mag ihn sehr. Ein sensibler Typ. Das Herz am rechten Fleck. Hat einen guten inneren Kompass. Auch unsere Töchter sind gute Freundinnen. Als zweite Möglichkeit nannte sie noch eine Kollegin.

Heute Vormittag habe ich dann Martin mal angeschrieben, ob er Zeit hat vorbeizukommen. Ich muss mich etwas kryptisch ausgedrückt haben, er machte sich ziemlich Gedanken, was wohl los ist. Nach der Arbeit kam er vorbei, und als er dann bei uns auf dem Sofa saß, haben wir ihm die Lage geschildert. Er fragt nach, nimmt Anteil, bietet Hilfe an. Was Freunde so machen, weil sie Freunde sind. Das tut gut. Dann Tränen auch bei ihm. „Ich sitze hier und mir geht es gut, und du hast diese Sch… Krankheit. Warum? Das ist doch nicht fair.“ Ich stutze. Diese Krankheit ist Schicksal. Ich kann nichts dafür, dass ich sie habe. Er kann nichts dafür, dass er sie nicht hat. Muss sich denn jemand schlecht fühlen, weil er gesund ist? Oder ist das eine Spielart von Mitgefühl? Oder von Angst? Mir gegenüber muss sich doch niemand schämen, weil er gesund ist. Diese Krankheit löst seltsame Dinge aus. Aber Martin ist da. Er verspricht fest und hoch und heilig und wie man es nur versprechen kann, für uns da zu sein. Das gelte bestimmt auch für Iris. Das tut gut. Bei ihnen zu Hause ist es übrigens umgekehrt: Iris kümmert sich um all den Verwaltungskram. Damit kennt sie sich aus. Er nicht. Interessant, oder? Einerseits ganz natürlich, dass man sich die Sachen aufteilt. Aber auch eine Falle. Wenn was ist, bleibt einer erst mal etwas hilflos zurück.

Manchmal betrachte ich mich mit etwas Abstand. Ich habe das ja alles mal gelernt in der Hospizarbeit. Habe selbst Seminare gehalten für Ehrenamtliche, die Sterbende begleiten möchten. Frage in die Runde: „Wenn Sie sich wünschen könnten, wie Sie einmal sterben, wie sollte es dann sein?“ Wenn dann alle für sich überlegen, sich mit dem Nachbarn austauschen, dann kommen in der Regel Wünsche in vier Bereichen heraus. Dann geht es um körperliche, seelische, soziale und spirituelle Bedürfnisse. Die Bedürfnisse Sterbender: keine Schmerzen haben, unerledigte Konflikte klären, die anderen versorgt wissen, sich selbst getragen wissen, egal, was kommt.

Und jetzt erwischt es mich selbst. Aber deshalb kann ich ja nichts besser. Ich brauche das, was alle brauchen. Interessant: Bei mir sind es zuerst die sozialen Fragen. Ich möchte, dass meine Lieben versorgt sind. Dass sie finanziell klarkommen, den Alltag gemanagt kriegen und dass Freunde für sie da sind. Wenn ich das weiß, bin ich beruhigt und kann mich um mich selbst kümmern. Weißt du, was völlig verrückt ist? In solchen Runden habe ich früher oft gesagt: Ich will bewusst aufs Sterben zugehen. Nicht so ein plötzlicher Tod. Dann lieber eine gepflegte Krebserkrankung, wo man alles kommen sieht, noch Dinge regeln kann, noch eine ganze Weile mit den Liebsten sprechen und zusammen sein kann. Gut versorgt natürlich, schmerzfrei, versteht sich. Darunter würde ich es nicht machen. Tja, da haben wir den Salat. Nun ist sie da, die „gepflegte Krebserkrankung“.

Aber hey, erst mal bin ich ein Lebender, okay? Vielleicht ist das ja alles nur ein Test. Eine Vorbereitung. Und der Ernstfall kommt dann mit 83 Jahren oder so. Dann könnte ich die Krankheit immerhin als alte Bekannte begrüßen. Hat vielleicht Vorteile, oder?

Ach, Tim, du bist schon so einer. Da hast du diese Diagnose und denkst erst mal an die anderen. Das ehrt dich, klar. Ist auch irgendwie typisch für dich. So kenne ich dich. Aber denkst du auch an dich? DU bist doch krank. DU machst dir Sorgen, DU hast Angst. DU hast ein paar Monate vor dir, die kein Spaziergang werden. Wer weiß, was da alles auf dich zukommt. Was brauchst DU denn jetzt? Wen brauchst DU an deiner Seite? Was wird DIR selbst guttun?

Ach, Sarah, wenn ich das schon so genau wüsste. Es ist schon mal gut, dass du da bist. Dass wir uns hier schreiben können. Und die beiden, von denen ich erzählt habe, Martin und Iris, das sind auch meine Freunde. Und es sind ja nicht die einzigen. Nach und nach werden wir es allen erzählen.

Aber es ist auch so: Wenn ich weiß, dass Sophie und Lena klarkommen, dass Sophie beruhigt ist, weil sie sich zu jeder Zeit Hilfe holen kann, dann sorge ich damit auch für mich. Denn vielleicht werde ich nur für diese Krankheit Kraft haben und sonst nicht viel geben können. Dann will ich wissen, dass andere an ihrer Seite sind, sie trösten, ihr bei irgendwelchen praktischen Dingen helfen, für sie da sind. Das kann ich wahrscheinlich nicht auch noch schaffen. –