Mit Maria Montessori im Kinderhaus - Gernot Uhl - E-Book
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Mit Maria Montessori im Kinderhaus E-Book

Gernot Uhl

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Beschreibung

Montessori mal anders: Die berühmte Pädagogin sitzt im Kreis ihrer Kinder und erklärt, wie man sich die Nase putzt. Wenn Rotznasen laufen, sind die Großen zwar schnell beim Schimpfen, aber weit weniger engagiert dabei, zu erklären, was man dagegen tun kann. Maria Montessori hat dagegen auf vielen Expeditionen in die Kinderseele erkannt, dass man den jungen Menschen am besten gerecht wird, wenn man sie als kleine Persönlichkeiten ernst nimmt. Und ihre jungen Zuhörer danken es ihr mit begeistertem Applaus: Sie hängen gebannt an Montessoris ihren Lippen (oder besser gesagt: an ihrer Nase), als sie vorführt, wie man gescheit mit einem Taschentuch umgeht. Dieses E-Book aus der »Bibliothek der Wagemutigen« nimmt Sie mit in Maria Montessoris Lebensgeschichte von Kinderliebe und Karriereplänen: Träumen Sie mit dem kleinen Mädchen von Berufen, die Frauen im 19 Jahrhundert noch verschlossen sind, erobern Sie mit der anmutigen Medizinstudentin die Männerwelt und folgen Sie dem Fräulein mit Doktorhut auf ihrem Weg von der Wissenschaft über die Arbeit mit geistig zurückgebliebenen Kindern bis zum Weltruhm als gefeierte Reformpädagogin.

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Seitenzahl: 133

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Gernot Uhl

Mit Maria Montessori im Kinderhaus

Expeditionen in die Kinderseele

Die Bibliothek der Wagemutigen

Rebellische Künstler, furchtlose Freiheitskämpfer, kühne Sportler – Wagemut hat viele Gesichter. Starke Persönlichkeiten folgen nicht flüchtigen Trends, sondern inneren Überzeugungen. Leidenschaftlich, streitbar und risikobereit gehen die Helden dieser Reihe außergewöhnliche Lebenswege, auf denen nichts unmöglich ist. Erleben Sie unterhaltsam und spannend erzählte Lebensgeschichten voller Überzeugung: Wo ein Wille ist, ist auch ein Lebensweg. Die E-Books aus der Bibliothek der Wagemutigen führen Sie zu den dramatischen Schicksalsmomenten im Leben von Menschen, die Geschichte machen.

Aufschrei der Kinderseele

Eile ist geboten. Ein paar Straßenzüge weiter geht es mit zwei Säuglingen zu Ende. Also unverzüglich das Medizinbuch zugeklappt und geschwind die große Tasche gegriffen, die schon fertig gepackt auf dem Sims steht. Jetzt rasch in den Mantel geschlüpft und die vornehmen Röcke gerafft, die ganz dem Schick des ausgehenden 19. Jahrhunderts entsprechen. Dann mit kleinen, aber schnellen und sicheren Schritten die knarzenden Stufen des Treppenhauses hinunter, hinaus auf die Straße und hinein ins hektische Gewusel von Rom. Männer drehen sich nach der hübschen jungen Frau mit den sorgsam und ansehnlich nach oben gesteckten dunklen Locken um, die sich mit dem schweren Koffer durch die Spaziergänger drängelt, als sei der Leibhaftige hinter ihr her. Ganz falsch ist das nicht, denn Maria Montessori läuft ja gewissermaßen mit dem Sensenmann um die Wette. Wer wird die beiden Zwillinge zuerst erreichen?

Etwas außer Atem, aber innerlich ruhig und gefasst, klopft Maria Montessori an die Tür. Der Vater, der ihr öffnet, kann kaum glauben, dass die fesche Dame der Arzt sein soll, nach dem seine Frau geschickt hat.

Maria Montessori kennt das schon. Vor ihr hat noch nie eine Frau in Italien Medizin studiert.[1] Sie dagegen hat das Studium gegen alle Widerstände und trotz aller Widrigkeiten durchgezogen und ist seit ein, zwei Jahren die erste Ärztin mit Doktorhut. Sie ist Fachfrau für Kleinkinderkrankheiten und hat schon während ihres Studiums an zwei Kliniken und in einer Kinderambulanz ausgeholfen. Ihren ersten richtigen Job hat Dr. Maria Montessori als Assistenzärztin in der Chirurgie verrichtet und nebenbei 1897 eine kleine Privatpraxis aufgebaut, weil sie nicht genug davon kriegen kann, für und mit Menschen zu arbeiten – am liebsten mit kleinen Menschen.

Keine Frage: Die in ein trendiges Korsett geschnürte Ärztin weiß, was sie tut. Sanft, aber entschieden schiebt sie den konsternierten Vater beiseite, der sie aus traurigen Augen müde anblickt und abwinkt. Zu spät? Leblos liegen die beiden dick eingepackten Babys bei ihrer Mutter, die fertig mit sich und der Welt, aber ansonsten einigermaßen gut versorgt ist. Wie oft hat Montessori erlebt, dass sich nach einer Geburt alles um die Mutter dreht. »Die Mutter, heißt es, hat gelitten. Hat das Kind etwa nicht gelitten?«, ärgert sie sich im Stillen. »Ist denn das Kind nicht erschöpft?« Montessori nickt der geschwächten Frau knapp zu, dann legt sie den Mantel ab und schaut sich in der Wohnung um. Wo ist der Ofen? Es ist ja viel zu kalt für Neugeborene. Montessoris Gedanken ordnen schon mal die nächsten Schritte: »Die Wärme, deren das Neugeborene bedarf, soll ihm von seiner Umgebung zugeführt werden, nicht aber von seiner Kleidung. Der Raum, in dem es sich aufhält, muss warm sein, und in diesem Falle stellen Kleider nur ein Hindernis für die warme Luft dar, an den Körper des Kindes heranzugelangen.«[2]

Ohne zu zögern legt die junge Ärztin zwei, drei Scheiter Holz auf und zündet ein Feuer an, das kurz darauf nicht nur gemütlich prasselt, sondern auch lebensrettende Wärme spendet. Daraufhin steckt sie die total erschöpfte Mutter ins Bett und kümmert sich um die beiden Winzlinge, die vor dem Öfchen zumindest beide wieder zucken und leise wimmern. Sobald es die Temperatur zulässt, zieht Montessori sie nacheinander aus und badet sie in körperwarmem Wasser, das für die beiden Babys so etwas wie eine vertraute Umgebung ist. Jedes von ihnen war schließlich noch vor ganz kurzer Zeit im Mutterleib, denkt sich Montessori, »wo es vor jeder Erschütterung, vor jeder Temperaturschwankung geschützt war, umgeben von einer weichen, gleichmäßigen Flüssigkeit, die eigens dafür geschaffen war, ihm völlige Ruhe zu gewähren.«[3] Nach dem Bad trocknet Maria Montessori ihre winzigen Patienten vorsichtig ab, reibt sie behutsam mit einem wohltuenden Öl ein und redet leise mit ihnen. Sie nimmt sie ernst: nicht als kleine Erwachsene, aber als kleine Persönlichkeiten. Sie versucht herauszufinden, was die Bedürfnisse der beiden Säuglinge sind.

Der Vater, der seine Kinder schon aufgegeben hatte, sieht staunend zu, wie Maria Montessori die beiden vorsichtig hochnimmt. Dem einen Kind scheint die Armbeuge als Wiege gut zu gefallen, das andere liegt lieber bäuchlings. Beide mögen es, an Montessoris Brust gedrückt zu werden, unter der ruhig und gleichmäßig ein starkes Herz schlägt. »Auch das neugeborene Menschenkind ist nicht bloß ein Körper, bereit, seine animalischen Funktionen aufzunehmen«, erklärt die Kinderärztin, »sondern ein geistiger Embryo mit latenten seelischen Kräften.«[4] Während sie sich um beide Kinder kümmert, räumt Maria Montessori nebenbei ein bisschen in der Küche herum und zaubert den Zwillingen, die nun schon die Augen öffnen und hin und wieder quäken, eine köstliche Milchmahlzeit. Erst nachdem beide Babys sich wieder berappelt haben und in ein friedliches Verdauungsschläfchen gesunken sind, verabschiedet sich Maria Montessori von den Eltern. Glücklich, dass sie zwei Leben gerettet hat, wendet sie sich voller Tatendrang ihren planmäßigen Aufgaben zu.[5]

Da gibt es viel zu tun: Seit Maria 1896 für eine Arbeit über Wahnvorstellungen den Doktorhut aufgesetzt bekommen hat, interessiert sie sich vor allem für geistig behinderte und krankhaft nervöse Kinder. Deshalb steigt sie nur wenige Monate später auch an der Psychiatrischen Klinik der Universität als freiwillige Assistentin ein. Dort hatte sie schon für ihre Doktorarbeit Patienten beobachtet und deren Krankheitsverläufe erforscht. Jetzt ist sie dabei, sämtliche Irrenhäuser und sogenannte Verwahrungsanstalten für geistig Zurückgebliebene zu besuchen, um für die Psychiatrische Klinik besonders therapiewürdige Fälle ausfindig zu machen. Denn das Rätsel der an der Jahrhundertwende sogenannten Idioten beschäftigt die Mediziner seit geraumer Zeit:

Anstatt sie von vorne herein aufzugeben oder in gefängnisartige Verwahrungseinrichten abzuschieben, muss es doch möglich sein, sie zu therapieren und sie vielleicht sogar zu erziehen. Dafür beschäftigt man sich ab und an sogar mit praktischen Erziehungsfragen. Das liegt Maria Montessori.

Und wieder sind es die Kleinsten, die ihre Aufmerksamkeit erregen: Fast hätte sie die Gruppe von geistig behinderten Kindern gar nicht entdeckt, denn in dem Irrenhaus, das sie gerade besichtigt, sind sie in einer schmucklosen Kammer untergebracht, wo sie möglichst wenig auffallen und Ärger machen können. Selbst die Aufsichtsperson, ein resolutes und stämmiges Mannsweib, ist eher eine Gefängniswärterin als eine Erzieherin oder Pflegerin. Maria Montessori sieht die Abscheu in ihren Augen und fragt sie, warum sie so angewidert von den schwachsinnigen Kindern sei. »Weil sie sich, kaum dass sie aufgegessen haben, auf den Boden stürzen und die Krümel aufklauben«, lautet die knappe Antwort, die Montessori zum Nachdenken bringt. Ihre Gastgeberin drängt ungeduldig zum Weitergehen – bei den Kindern gäbe es ja eh nichts zu sehen –, aber Maria lässt nochmal den Blick durch den Raum schweifen. Es gibt tatsächlich nichts zu sehen: Keine Bauklötze, keine Puppen, keine Steckenpferde, keine Schaukel: nichts! Dann schließt sie die Tür und die Führung durch das Irrenhaus geht weiter. Maria Montessori folgt ihr langsam. In Gedanken bleibt sie aber bei den bedauernswerten Menschlein, die ihr Leben vor sich haben – aber keine Chance, es zu genießen. Vielleicht haben sich die Kleinen ja gar nicht auf die übrigen Brotkrümel gestürzt, um sie zu essen. Vielleicht haben sie nur verzweifelt nach irgendetwas gesucht, mit dem sie spielen und das sie anfassen konnten. Vielleicht sehnen sie sich ja wie gesunde Kinder danach, die Welt zu entdecken und zu begreifen. Wenn das wahr wäre, dann müsste man ihnen doch ganz anders helfen! »Die Tatsache, dass die Pädagogik sich in der Therapie mit der Medizin zusammentun musste, war die praktische Errungenschaft des Denkens der damaligen Zeit«, erklärt Maria Montessori in ihrem wohl wichtigsten Buch Die Entdeckung des Kindes. »Im Gegensatz zu meinen Kollegen hatte ich jedoch die Eingebung, dass das Problem der geistig Zurückgebliebenen eher überwiegend ein pädagogisches als überwiegend ein medizinisches war.«[6] In diesem Moment beschließt die erste Ärztin Italiens, den zurückgebliebenen Kindern weniger mit medizinischen als mit pädagogischen Mitteln »zur Unabhängigkeit von der Hilfe anderer und zur Menschenwürde zu verhelfen.«[7]

Ein Mädchen steht seinen Mann

Maria Montessori kommt am 31. August 1870 im italienischen Chiaravalle in der Region Ancona zur Welt. Die Italiener feiern in diesem Jahr eine riesige Geburtstagsparty und freuen sich über Italiens eigene Wiedergeburt als eigenständiger Nationalstaat. Eine gefühlte Ewigkeit waren die italienischen Fürstentümer zerrissen und fremdbestimmt. Nur Ruinen zeugen noch von den glorreichen Zeiten, in denen Rom der Mittelpunkt der Welt und das Römische Reich die alles bestimmende Supermacht gewesen sind. Schlimmer noch: In den vergangenen Jahrzehnten hat man unter der Knute anderer Eroberer gestanden: Erst hat sich Napoleon Bonaparte das Land für Frankreich unter den Nagel gerissen, dann sind die Österreicher gekommen. Auch der mächtige katholische Kirchenstaat, der zu dieser Zeit noch weit größer gewesen ist als die heutige Vatikanstadt, hat die Einigung Italiens nicht gerade vorangetrieben. Erst mitten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben sich die Italiener mit mehreren militärischen Befreiungsschlägen ihre Unabhängigkeit und ihre Einheit erkämpft.[8]

Einer, der zu den Waffen gegriffen und sich im Feld sogar eine kleine Auszeichnung verdient hat, ist ein gewisser Alessandro Montessori. Nach den siegreichen Unabhängigkeitskriegen arbeitet Marias Vater als typischer Berufsbürokrat daran mit, das neue Italien aufzubauen. Er hat Arithmetik und Rhetorik studiert und kann also rechnen und reden. Das sind die richtigen Voraussetzungen, um eine Laufbahn als Finanzbeamter anzutreten.

Nach einer Station im Vatikan (vor dem Krieg) wird Alessandro Montessori später Verwaltungsinspektor und kontrolliert die Abgaben der Salz- und Tabakindustrie für die italienische Regierung. Der brave und angesehene Herr Inspektor ist mit seinen dunklen Locken und seinem dichten Schnäuzer ein echter Hingucker – zumindest in den Augen seiner Zeitgenossinnen – und dazu noch weiß er sich vornehm zu kleiden. Alessandro Montessori ist eine gute Partie, selbst für Töchter aus wohlhabendem Haus. Das ist sein Glück, denn Alessandro verliebt sich in die hübsche Renilde, die aus einer Familie von katholischen Gutsbesitzern und Intellektuellen stammt: den Stoppanis. Alessandro wirbt erfolgreich um die gebildete und selbstbewusste Renilde und 1866 feiern die beiden Hochzeit.

Die Stoppanis gehen nicht nur in die Kirche, sie gehen auch mit der Zeit und haben ein feines Gespür für gesellschaftliche Entwicklungen. Sie lieben Italien, die Freiheit und den Fortschritt. Nationalstolz, Wissenschaft und Glauben sind für sie keine Gegensätze. Renildes Onkel Antonio Stoppani ist Priester und Geologie-Professor. Mit seinem fachlich fundierten und literarisch wertvollen Buch Das schöne Land über die wunderbaren italienischen Landschaften hat er nicht nur das akademische Fachpublikum erreicht. Nicht wenige Italiener, die in diesen Tagen ihren Patriotismus neu entdecken, lesen begeistert darin. Italien sehnt sich nach der jahrzehntelangen Unterdrückung und Bevormundung nach solchen Büchern, die seine Schönheit zeigen und preisen.

Dabei ist beileibe nicht alles schön. Viele Italiener sind bitterarm, weil Italien im Gegensatz zu England oder Deutschland kaum industrialisiert ist. Auf gute Bildung konnte man bislang auch nicht bauen und genützt hätte sie ebenso wenig, weil eine nachhaltige Sozial- und Schulpolitik so gut wie nicht betrieben worden ist. Das soll jetzt alles anders werden. Die Italiener sind voller Tatendrang und guter Hoffnung, dass jetzt alles besser wird.

Ganz vorne dabei ist Maria Montessoris Mutter Renilde, die selbst als Vielleserin nach Bildung und Wissen dürstet, obwohl sie selbst nicht mehr aus der althergebrachten Rolle der Frau ausbrechen kann. Das hindert sie aber nicht daran, selbst aus dem Kartoffelschälen eine philosophische Fragestunde zu machen und die Familienmitglieder zum Nachdenken zu bringen: Woher kommt die Kartoffel? Wie kommt es, dass der Mensch hinter das Geheimnis der sättigenden Knolle gekommen ist?[9]

Damit es nicht bei weiblicher Küchen-Philosophie bleibt, unterstützt Renilde ihre einzige Tochter engagiert darin, freundlich, aber bestimmt einen eigenen Weg zu gehen. Von Anfang an erzieht sie Maria nicht nur zu hilfsbereitem Miteinander – sie kümmert sich um ein behindertes Mädchen aus der Nachbarschaft und strickt für die Armen –, sondern auch zur Selbstständigkeit und zu einem gesunden Selbstbewusstsein.

Die Dorfschulen in der italienischen Provinz sind dafür der falsche Ort. Schlecht bis gar nicht ausgebildete und mies bezahlte Lehrerinnen regieren dort mit dem Stock. Viel zu viele Kinder sind in viel zu kleinen Räumen zusammengepfercht. Fürs Leben lernt man hier nur Leidensfähigkeit. Für Maria Montessori ist die Schule eine »Stätte größter Trostlosigkeit«. Es kommt ihr so vor, als hätten Kinder darin nichts verloren. »Alles ist hier auf den Erwachsenen zugeschnitten: die Fenster, die Türen, die langen Gänge, die kahlen einförmigen Klassenzimmer.« Die schlichte schwarze Schuluniform bedrückt ihr Gemüt, als müsste sie ein Trauerkleid tragen. Mucksmäuschenstill wie auf einer Beerdigung hat es auch im Klassenraum zuzugehen. »Die zarten, zitternden Glieder sind für drei und mehr Stunden der Agonie in eine Bank gefesselt, für drei und für abermals drei Stunden und lange Tage, Monate, Jahre.« Maria erträgt Höllenqualen, wie alle anderen Kinder, die sich möglichst regungslos in die Bänke kauern, weil für jede Bewegung Schläge drohen: »Da sitzt nun das Kind in seiner Bank, ständig gestrengen Blicken ausgesetzt, die zwei Füßchen und zwei Händchen dazu nötigen, ganz unbewegt zu bleiben, so, wie die Nägel den Leib Christi an die Starrheit des Kreuzes zwangen.«

Starr ist auch der Unterricht. Das Buchstabenwissen wird den Kleinen pädagogisch wertlos eingepaukt: Sie müssen veraltete Lehrbücher Wort für Wort auswendig lernen, obwohl doch in jedem Kind eine neugierige Entdeckernatur steckt, die sich und seine Fähigkeiten kennenlernen und selbstständig den Rätseln der Welt selbst auf die Spur kommen will. »Und wenn dann in jenes nach Wissen und Wahrheit dürstende Gemüt die Gedanken der Lehrerin entweder mit Gewalt oder auf irgendeinem anderen gutbefundenen Weg hineingepresst sind«, klagt Montessori, »dann wird es sein, als blute dieses kleine, gedemütigte Haupt wie unter einer Dornenkrone.«[10]

Niemals, ihr ganzes Leben nicht, ist sich Maria Montessori zu schade dafür, drastische Vergleiche ins Feld zu führen, wenn ihr etwas nicht passt. Schon als Schülerin macht sie kein Geheimnis um ihre Abneigung gegen diese sinnlose Pseudo-Erziehung, die aus verängstigten Kindern mit Drill und Tadel unselbstständige und unmündige Menschen produziert. Maria ist das zuwider und sie macht kein Hehl daraus. Eine ihre Lehrerinnen lästert darüber, wie frustriert Maria dreinschaut, wenn sie zuhören, auswendig lernen und nachsagen soll. Das bloßgestellte und vermeintlich gedemütigte Mädchen senkt die Augen und die Lehrerin wähnt sich schon als Siegerin dieses ungleichen Zweikampfes. Die wahre Demütigung aber kommt erst noch – und sie trifft die spottende Lehrerin. Nie wieder wird Maria den Kopf heben, wenn diese Lehrerin die Lerntexte vorliest.[11] Diese zur Schau gestellte Verachtung ist ein früher Sieg der willensstarken Maria über vermeintlich übermächtige Gegner. Nein, sie gibt sich niemals mit der Rolle einer Untergebenen ab.

Auf dem Schulhof und unter Gleichaltrigen hat Maria von Anfang an das Sagen. Wer von den anderen Kindern nicht mitzieht, fällt in Ungnade. Und wen dieses Schicksal ereilt, der hat es nicht leicht mit Maria: »Erinnere mich bitte daran, dass ich beschlossen habe, nie mehr mit dir zu sprechen«, blafft sie eine Mitschülerin an. Ein anderes Mädchen, das ihr geistig nicht gewachsen zu sein scheint, trifft Marias Verachtung noch schlimmer: »Du!«, fährt Maria sie an, »du bist ja noch nicht einmal geboren.«[12] Wenn die Pause vorüber ist, kann Maria nur sehr schwer wieder auf Gehorchen umschalten, obwohl ihre Lehrer am längeren Hebel sitzen und der Stock droht. Trotzdem gelingt ihr nicht immer, wie alle andern vor den Lehrern zu kuschen.

Ausgerechnet Maria Montessori ist beispielsweise ziemlich genervt davon, dass sie Lebensgeschichten von Frauen eingeimpft bekommt, die es weit gebracht haben. Eine weitere Lehrerin schwärmt dagegen von frühen Heldinnen der Frauenbewegung. Die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts sind die Jahre, in denen langsam, aber sicher ein neues weibliches Selbstbewusstsein erwacht – überall in Europa und auf der ganzen Welt. Mutige Entdeckerinnen, Pionierinnen auf allen Gebieten und Vorkämpferinnen in Sachen Emanzipation wecken in vielen Frauen bis dahin schlummernde Sehnsüchte.[13]