Mit Nachsicht - Sina Haghiri - E-Book

Mit Nachsicht E-Book

Sina Haghiri

0,0
17,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein ermutigendes Buch voller Anregungen, sich selbst und andere in neuem Licht zu sehen

Für uns alle ist die Versuchung groß, Misstrauen gegenüber anderen zu entwickeln und die Welt als kalten Ort zu sehen. Das gilt leider besonders, wenn wir ohnehin psychisch angeschlagen sind oder in einer Krise stecken und uns eigentlich nach Nähe und Vertrauen sehnen – doch das hat Folgen.

Menschen übernehmen Vorurteile, sehen sie durch Einzelfälle bestätigt und übertragen sie auf ganze Gruppen. Auf gesellschaftlicher Ebene werden die Gräben dadurch immer tiefer, auf individueller Ebene lösen wir gerade durch diese Erwartung oft erst irritierte Reaktionen beim Gegenüber aus.

Der Psychotherapeut und Podcaster Sina Haghiri beobachtet zunehmend die Konsequenzen des sinkenden Vertrauens in andere: Mentale Gesundheit und Beziehungen leiden darunter, viele Menschen klagen über Depressionen und Einsamkeit.

Unsere negative Sicht von anderen beruht in Wahrheit jedoch häufig auf menschlichen Fehlern oder zu negativen Darstellungen in Medien und sogar Wissenschaft, und dagegen können wir etwas tun: Wir können uns unserer falschen Annahmen bewusst werden und eine Haltung der Empathie kultivieren. Dafür braucht es vor allem eins: Nachsicht. Sie kann uns nicht nur helfen, andere besser zu verstehen, sondern auch mitfühlender mit uns selbst zu sein – und das Gute in der Welt zu erkennen, statt vom Schlechten auszugehen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 303

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Für uns alle ist die Versuchung groß, Misstrauen gegenüber anderen zu entwickeln und die Welt als kalten Ort zu sehen: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, heißt es schon seit der Antike.

Unsere negative Sicht von anderen beruht in Wahrheit jedoch häufig auf menschlichen Fehlern oder zu negativen Darstellungen in Medien und sogar Wissenschaft, doch dagegen können wir etwas tun: Wir können uns unserer falschen Annahmen bewusst werden und eine neue Haltung der Empathie kultivieren. Der Psychotherapeut und Autor Sina Haghiri nimmt uns mit auf eine Reise durch Psychologie und Geschichte und zeigt uns, dass es dazu vor allem mehr Nachsicht braucht: Sie kann uns nicht nur helfen, andere besser zu verstehen, sondern auch mitfühlender mit uns selbst zu sein. Und das Gute in der Welt zu erkennen, statt vom Schlechten auszugehen.

Der Autor

Sina Haghiri arbeitet als Psychotherapeut ambulant und in einer Klinik in Einzel-, Paar- und Gruppentherapie. Mit der Journalistin Verena Fiebiger moderierte er den Podcast Die Lösung, einen der erfolgreichsten deutschen Psychologie-Podcasts. Im ZDF lief die Serie Fett und Fett, an der er beteiligt war, für die erste Staffel wurde er als Drehbuchautor für den Grimme-Preis nominiert. Sina Haghiri ist Dozent an der School of Life und Autor mehrerer Fachbücher.

Sina Haghiri

Mit

Nachsicht

Wie Empathie uns selbst und vielleicht sogar die Welt verändern kann

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Die therapeutischen Fallbeispiele in diesem Buch sind im Wesentlichen so geschehen, wie hier wiedergegeben. Aus Gründen des Personenschutzes sind jedoch Namen und weitere Identifikationsmerkmale so verfremdet worden, dass die beschriebenen Personen nicht erkennbar sind.

Copyright © 2024 Kösel-Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Julia Sterthoff

Umschlag: zero-media.net, München

Umschlagmotiv: Katrin Schubert

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-31417-0V002

www.koesel.de

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1 Der Mensch ist dem Mensch ein Wolf ...

Kapitel 2 … zumindest so lange, bis man sich kennt

Kapitel 3 Hauptsache überleben

Kapitel 4 Die süße Gefahr

Kapitel 5 Willkommen im Internet

Kapitel 6 Der Teufelskreis der Distanz

Kapitel 7 What’s in it for me?

Kapitel 8 Der Klügere gibt sieht nach. Die Stärkere auch.

Kapitel 9 How to Nachsicht

Kapitel 10 Wut

Danke

Bildnachweise

Anmerkungen

Für alle, die sich bemühenund manchmal zweifeln.

Vorwort

Frau Knöll und ich stehen im Zwischengeschoss einer belebten Haltestelle. Sechs U–Bahnlinien, fünf Straßenbahnen und zwei Buslinien treffen hier aufeinander. Über 100 000 Fahrgäste steigen pro Tag ein, aus oder um. Frau Knöll hält in ihrer Hand einen Einhandzähler, ein kleines metallenes Gerät mit Ziffernblatt, dessen Anzeige man per Daumenklick um eine Zahl erhöhen kann. Bei Veranstaltungen kann Security-Personal mit solchen Geräten zum Beispiel den Überblick darüber behalten, wie viele Gäste bereits den Saal betreten haben.

Frau Knöll ist mittleren Alters und wird immer wieder von einer diffusen, gedrückten Stimmung heimgesucht. Als sie sich vor drei Monaten an mich gewendet hat, berichtete sie mir, dass sich ihr Zustand über die Jahre eher verschlechtert habe. Sie stecke häufiger und länger in diesen schlechten Phasen und wolle etwas dagegen unternehmen.

Wir stehen im Zwischengeschoss, um eine ihrer mittlerweile fest verankerten Annahmen zu überprüfen. Sie meint, die meisten Menschen seien heutzutage rücksichtslos und würden nur auf sich selbst achten. Wer in dieser Gesellschaft sensibel sei, habe keine Chance. Frau Knöll hat viele solcher Grundannahmen über sich und andere, die ihr Erleben und Verhalten prägen. Ich werde sie mit dieser Intervention nicht vom Gegenteil überzeugen, aber vielleicht setzen wir einen ersten Impuls. Denn immer, wenn mein Glauben an die Menschheit schwindet, mache ich die Übung auch selbst im Geiste: Frau Knöll soll jedes Mal, wenn sie jemanden beobachtet, dera sich rücksichtsvoll verhält, den Klicker in ihrer linken Hand betätigen.

Zunächst scheint sie solche Menschen nicht zu bemerken – auch das ist eine Folge ihrer Grundannahmen und ihres aktuellen Befindens, eine Art Symptom. Ich erinnere sie noch einmal an unsere Aufgabe und lenke ihre Aufmerksamkeit auf die vielen Leute, die anderen den Vortritt auf der Rolltreppe lassen. Menschen, die Platz für andere beim Aussteigen machen und geduldig abwarten oder eine Tür aufhalten. Sie klickt los: 1, 2, 3, 4. Jemand rennt einer Person hinterher, um ihr den aus der Tasche gefallenen Schal zu bringen. Klick. Eine junge Frau hilft einem älteren Herrn dabei, sein Fahrrad auf der Rolltreppe zu stabilisieren. Klick. Jemand geht unaufgefordert auf zwei orientierungslos wirkende Reisende zu und bietet Hilfe an. Klick. Nach dreißig Minuten klickt der Einhandzähler in ihrer linken Hand zum 44. Mal. Halbzeit und Handwechsel. Mit dem Klicker in der rechten Hand soll Frau Knöll nun alle negativen Verhaltensweisen zählen. Rücksichtslose Menschen, unhöfliches Verhalten und gefährliche Situationen, die durch Nachlässigkeit entstehen. Sie betätigt den Klicker zum Beispiel, als ein Jugendlicher noch in die U–Bahn hechtet, während die Türen sich schon schließen und die Weiterfahrt dadurch verzögert.

Ich hatte Frau Knöll in der ausgiebigen Vorbesprechung der Übung unter anderem gebeten, eine Schätzung abzugeben. Wie wird das Verhältnis der positiven und negativen Beobachtungen am Ende sein? Mindestens ausgeglichen, meinte sie. So wie sie diese U–Bahnstation kenne, wahrscheinlich deutlich negativer.

Nach einer Stunde stellen wir die Zahlen gegenüber: in der linken Hand stehen 44 Klicks. In der rechten sind es sechs. Frau Knöll fängt an zu weinen.

Dabei sind die Zahlen nicht überraschend. Das ist nicht nur meine persönliche Erfahrung, es gibt sogar einen tragischen, wissenschaftlichen Beleg dafür, dass fremde Menschen selbst unter furchtbaren Umständen sehr viel besser zueinander sind, als Frau Knöll vermutet. 2005 gab es eine Serie von Terroranschlägen in London, Selbstmordattentäter zündeten insgesamt vier Bomben in U-Bahnen und einem Bus. 52 Menschen starben, viele hunderte weitere wurden verletzt. Eine Forschungsgruppe der University of Sussex analysierte, wie sich die verunsicherte Londoner Bevölkerung verhielt.1 Die Wissenschaftler werteten über zweihundert Berichte aus unterschiedlichen Quellen über das Verhalten in den U-Bahnschächten direkt nach den Anschlägen aus. Sie analysierten Aussagen Betroffener aus Zeitungsberichten, lasen Zeugenaussagen, die direkt im Anschluss an die Katastrophe gemacht wurden und führten selbst ausführliche Interviews. Sie kamen zu einem eindeutigen Ergebnis:

Nur achtzehn Menschen berichteten von annähernd egoistischem Verhalten. Die Zahl ist großzügig gewertet. Es ging zum Beispiel darum, dass vier Menschen sich selbst als egoistisch bezeichneten, da sie »nicht genug« geholfen hätten. Jemand anderes störte sich daran, dass ein Passagier zu sehr in sein Telefon vertieft gewesen sei.

Mehr als zweihundert Personen hatten dagegen gesehen, wie jemand anders sich hilfreich verhielt. Sie beobachteten, wie Menschen jemanden tröstend umarmten, anderen Mut zuredeten oder den Vortritt ließen, sich gegenseitig über Hindernisse halfen oder andere aus Trümmern herauszogen. Das alles taten sie, während sie in großer Angst um ihr eigenes Wohl waren. Warum hat Frau Knöll im ganz normalen Alltag trotzdem etwas ganz anderes, etwas Schlechteres, von ihren Mitmenschen erwartet?

Es ist nicht ihre Schuld, dass sie sich so verschätzt hat. Der Kontext, in dem sie aufgewachsen ist und die Zeit, in der sie jetzt lebt, haben Druck auf sie ausgeübt. Und nicht nur auf sie. Für uns alle ist die Versuchung groß, Misstrauen gegenüber anderen zu entwickeln. Die Welt als kalten Ort zu sehen, in der andere Personen eine mögliche Gefahr darstellen, vor der es sich zu schützen gilt.

Für dieses Welt- und Menschenbild lassen sich unzählige vermeintliche Belege finden. Die Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts beschrieb den Menschen oft als Wesen voll niederträchtigster Instinkte, die nur unter dem Mantel der Zivilisation zurückgehalten werden können. Die Sozialpsychologie untermauerte diese Annahme zeitgleich mit Experimenten, deren Ergebnisse zu den am meisten verbreiteten Werken der gesamten Psychologie gehören. Und heute liefert jede Tageszeitung und Nachrichten-App 24 Stunden am Tag weitere Hinweise darauf, dass die Welt ein gefährlicher Ort ist. Verbrechen, Katastrophen und Konflikte soweit das Auge reicht.

Wie könnten wir unter diesem Eindruck anders, als misstrauisch oder zumindest vorsichtig auf andere zuzugehen? Es kann uns dann jedoch sehr leicht passieren, dass wir anderen Menschen böse Absichten unterstellen und ihr Verhalten als Bestätigung eben dieser vermuteten Intentionen interpretieren. Auf gesellschaftlicher Ebene werden die Gräben dadurch immer tiefer. Menschen übernehmen Ressentiments, sehen sie durch Einzelfälle bestätigt und übertragen sie auf ganze Gruppen. Auf individueller Ebene lösen wir gerade durch diese Erwartungshaltung oft erst die irritierten Reaktionen beim Gegenüber aus. Andere Menschen nehmen Abstand von uns – häufig, ohne dass wir es bemerken –, da sie es uns kaum recht machen können. Das verstehen wir wiederum als Beleg dafür, dass wir uns nicht auf sie verlassen können. Ein sich selbst verstärkender Teufelskreis beginnt. Und wir sind gerade dann anfällig für den ersten Schritt hinein, wenn es uns selbst am schlechtesten geht und wir ihn am wenigsten gebrauchen können.

Bei Frau Knöll war es eine Trennung, es hätte aber auch eine Erkrankung, ein Unfall oder jede andere Krise sein können. Es ist ihr zu dem Zeitpunkt nicht bewusst gewesen, aber mit einigen Jahren Abstand sieht Frau Knöll, dass sie damals zutiefst verletzt und darum nicht sie selbst gewesen ist. Sie steckte unverschuldet und hilflos in einer katastrophalen Situation, in der sie keinen Zugriff mehr auf ihre normale Kraft und Gelassenheit hatte. In ihrer Not stiegen ihre Erwartungen an die Menschen in ihrem Umfeld, gleichzeitig wurde sie in ihrem Urteil immer härter mit anderen. Sie wurde dünnhäutiger, reagierte gereizter und interpretierte das Verhalten anderer immer skeptischer. Wurde ihr Hilfe angeboten, war es die falsche Art von Hilfe. Meldete man sich zu oft bei ihr, meinte sie, man mache ihr Druck. Ließen ihre Freunde sie stattdessen in Ruhe, fühlte sie sich von ihnen im Stich gelassen. Ist das allein ihr vorzuwerfen? Oder ist es allein ihrem Umfeld anzulasten? Natürlich weder noch.

Ihre persönlichen Lebenserfahrungen und ihre Prägung durch das Menschenbild, das ihr durch den öffentlichen Diskurs über Jahrzehnte vermittelt worden ist, haben ihren Teil dazu beigetragen. Die unauflösbare Schuldfrage bringt Frau Knöll sowieso nicht weiter, sie hätte auch damals nichts verbessert. Aber wie jeder Teufelskreis lässt sich auch dieser durchbrechen. Was hätte in dieser Situation geholfen? Was hätte verhindert, dass sie sich immer weiter isoliert?

Nachsicht, auf beiden Seiten. Von ihrem Umfeld, für ihre Notlage und Hilflosigkeit. Aber auch von ihr, dafür, dass auch ihr Umfeld manchmal unbeholfen reagiert und nicht genau so, wie sie es sich wünscht.

Ich mache die kleine Zähl- und Beobachtungsübung häufig. Sie behebt nicht das Problem, aber sie bereitet den Weg, um Nachsicht zu entwickeln. Sie ist ein Beginn, um langsam an unserem Weltbild zu arbeiten, um die Welt nicht mehr nur als Haifischbecken wahrzunehmen, sondern als durchaus schwierigen und harten Ort, in dem aber jeder und jede von uns mit dieser Härte zu kämpfen hat. Und das ist schwer, besonders, wenn wir diese Härte gerade abbekommen haben. Wenn wir uns allein fühlen und nicht verstehen, warum es andere so leicht haben im Leben. Aber selbst, wenn es so aussieht, als ob sich jemand anders leichttut, kennen wir die Person wahrscheinlich einfach nicht gut genug, um auch ihre Ängste, Sorgen und Unzulänglichkeiten zu erahnen.

Mit einem nachsichtigeren Menschenbild gehen wir davon aus, dass uns genauso wie anderen aufgrund dieser Unzulänglichkeiten, aufgrund der Hilflosigkeit und den unzähligen komplexen Problemen, die uns allen begegnen, Fehler passieren werden. Fehler, die andere Menschen verletzen, ohne dass dies Absicht gewesen ist. Und weil wir alle schon mal jemanden verletzt haben und das auch in Zukunft wieder tun werden, egal, wie sehr wir uns bemühen, ist es Nachsicht, die wir dringend brauchen. Von anderen – aber auch für andere. Denn dann gelingt es uns, auch Nachsicht mit uns selbst zu entwickeln.

a Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei der Nennung von Personen- und Berufsbezeichnungen größtenteils auf eine explizite Differenzierung der Geschlechter verzichtet. Es werden randomisiert verschiedene Pronomen verwendet, es sind natürlich ausdrücklich alle Personen angesprochen.

Kapitel 1

Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf ...

Am Anfang einer Psychotherapie stehen meistens Symptome. Patientinnen wie Frau Knöll wenden sich an mich und berichten von Stimmungsschwankungen, Ängsten, Antriebsverlust oder Schlafproblemen. Um diese Symptome effektiv behandeln zu können, ist es fast immer notwendig, ihre Entstehung zu verstehen. Darum beginnt die eigentliche Psychotherapie zumeist mit einer über mehrere Sitzungen dauernden, ausführlichen Anamnese. Dabei werden zum Beispiel sogenannte Glaubenssätze identifiziert. Das sind Überzeugungen, die wir im Laufe unseres Lebens erwerben und die unser Denken, Fühlen und Handeln beeinflussen. Sie können hilfreich oder auch destruktiv sein. Sie zu verändern ist nicht leicht, aber möglich. Dazu müssen wir jedoch ein Verständnis dafür entwickeln, wie sie zustande gekommen sind. Unsere biologischen Veranlagungen, zentrale Personen, prägende Erfahrungen und Lebensbedingungen spielen dabei eine Rolle.

Über die Jahre ist mir besonders eine solche grundsätzliche Annahme in der Arbeit mit psychisch belasteten Menschen immer häufiger aufgefallen. Die Menschen (die anderen!) seien rücksichtslos und egoistisch. Dieses zynische Gefühl gegenüber der Gesellschaft ist so destruktiv für das eigene Empfinden, Denken und Handeln, dass man es selbst als Symptom betrachten kann. Es scheint mittlerweile so weit verbreitet zu sein, dass es sich lohnt, analog zum individuellen Vorgehen der biografischen Anamnese einen Blick auf unsere gemeinsame, gesellschaftliche Biografie zu werfen.

In der Einzelpsychotherapie schauen wir auf unsere Eltern, Geschwister, Lehrerinnen und Freunde, deren Ansichten wir vielleicht schon früh und unabsichtlich übernommen haben. Was haben sie uns gelehrt? Auf gesellschaftlicher Ebene sind es selten Einzelpersonen, es sind Institutionen, Disziplinen und Organisationen. Religion, Regierungen, politische Ideologien, Wissenschaft und Kultur. Um die gegenwärtigen Symptome, Frau Knölls latente Melancholie und den weitverbreiteten Pessimismus in Bezug auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt, zu verstehen, müssen wir deshalb zurück in die Zeit, in der unser gesamtgesellschaftliches Menschenbild entscheidend geprägt worden ist – das war insbesondere Mitte und Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Eine Zeit, in der Wissenschaft und Kultur danach strebten, uns das wichtige Gut der Selbsterkenntnis näherzubringen. Und dafür ganz neue Wege gingen.

Psychologie als Wissenschaft

Die Geschichte der Psychologie als Wissenschaft ist noch jung. Erst Ende 1875 gründete Wilhelm Wundt das weltweit erste Psychologische Institut an einer Universität. In den folgenden Jahrzehnten bemühten sich viele Vertreter der Psychologie, sie von einer eher spekulativen, philosophischen Disziplin hin zu einer empirischen Naturwissenschaft zu entwickeln. Gelungen ist dies zunächst vor allem den sogenannten Behavioristen.

Der Behaviorismus ist die psychologische Schule, die sich auf das Verhalten als Hauptobjekt der Studien konzentriert. Gedanken oder Emotionen spielen hierbei keine Rolle, das Verhalten soll nur durch äußere Faktoren erklärt werden. Das bekannteste Beispiel ist vermutlich Iwan Petrowitsch Pawlow, der Hunde so konditionierte, dass ihnen der Speichel im Mund lief, wenn sie Glockenläuten hörten. Sein geistiger Nachfolger Burrhus Frederic Skinner arbeitete lieber mit Ratten und Tauben. Er prägte ihnen unterschiedliche Verhaltensweisen ein. Dabei war er so erfolgreich, dass das amerikanische Verteidigungsministerium ihn mit 25 000 Dollar unterstützte, damit er Tauben beibringt, Lenkraketen zu steuern. Obwohl es ihm gelungen ist, einen funktionstüchtigen Prototyp inklusive Taubenpiloten vorzustellen, wurde diese aus heutiger Sicht natürlich absurd anmutende Idee letztlich nicht weiterverfolgt. Die Tauben lernten stattdessen Tischtennis zu spielen.

John Broadus Watson waren Tier-Experimente nicht genug. Er war davon überzeugt, dass er, würde man ihm vollkommen freie Hand lassen, theoretisch jedes Kind »so trainieren kann, dass aus ihm jede beliebige Art von Spezialisten wird – ein Arzt, ein Rechtsanwalt, ein Kaufmann und, ja, sogar ein Bettler und Dieb, ganz unabhängig von seinen Talenten, Neigungen, Tendenzen, Fähigkeiten, Begabungen und der Rasse seiner Vorfahren.«2 Dieses Selbstbewusstsein erlangte er durch Experimente wie bei seiner Little-Albert-Studie. Dabei zeigte er einem Kleinkind namens Albert eine weiße Ratte, auf die dieser zunächst gleichgültig reagierte. Watson schlug dann jedes Mal, wenn die Ratte wieder zu sehen war, mehrfach auf einen Metallstab und erzeugte dabei ein für das Kind sehr unangenehmes und erschreckendes Geräusch. Nach mehreren Wiederholungen zeigte Albert starke Angstreaktionen bei der bloßen Sichtung der Ratte, aber auch bei ähnlichen weißen Gegenständen. Der kleine Albert hatte eine Phobie entwickelt und wurde so auch wieder nach Hause geschickt.

Watson wurde mit diesem Experiment berühmt. Glücklicherweise würde der Versuchsaufbau heute aus ethischen Bedenken so nicht mehr durchgeführt werden können, doch zu Watsons Zeit wurden nur wenige Bedenken dazu geäußert, einen Säugling geplant und wiederholt in Angstzustände zu versetzen. Watson verlor seine Professur später trotzdem, aufgrund eines Verhältnisses mit einer Mitarbeiterin. Er wechselte in die Werbebranche.

Rivalität im Haus der Psychologie

Parallel zur Entwicklung der Psychologie an den Universitäten setzten sich Sigmund Freud, dessen Psychoanalyse und ihre Vertreterinnen im klinischen Alltag durch. Die Psychoanalyse basiert auf der Annahme, dass das Verhalten und die emotionalen Probleme eines Menschen auf unbewusste Konflikte und Traumata, zumeist aus der Kindheit, zurückzuführen sind. Um diese zu verstehen, ließ Freud seine Patientinnen und Patienten frei über deren Gedanken, Erinnerungen und Träume sprechen. Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts dominierte die psychoanalytische Methode die Praxen. Sigmund und seine Tochter Anna Freud, Melanie Klein und Carl Gustav Jung gehörten zu den bekanntesten intellektuellen Persönlichkeiten ihrer Zeit und weckten das Interesse der breiten Öffentlichkeit weit über ihr eigenes Fachgebiet hinaus.

Ihre Arbeit wurde jedoch auch damals schon kontrovers diskutiert. Die Kritik an Freud und seinen Theorien kam vor allem aus nächster Nähe, von Seiten der universitären Psychologie und den bereits erwähnten Behavioristen. Skinner und Watson lehnten die psychoanalytischen Hypothesen strikt ab. Der Mensch, so die Kritiker der Psychoanalyse, solle durch objektive Beobachtungen und Experimente untersucht werden, sein Verhalten könne nicht auf unbewusste Motive zurückgeführt werden. Diese seien nicht messbar und damit weder empirisch noch wissenschaftlich.

Trotz dieser Einwände erlangten Sigmund Freud und seine Kollegen die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit, Freud avancierte gar zu einer Art Popstar und schaffte es gleich zweimal auf das Cover des Time Magazine.3 Das lag unter anderem daran, dass er sehr viel weitreichendere Erklärungen über den Menschen liefern konnte als Pawlow, Watson und Skinner. Ein speichelnder Hund? Eine Tischtennis spielende Taube? Ein Kind, das sich vor Ratten erschreckt? Banal im Vergleich zu Freud, der sich selbst in einer Reihe mit den großen Denkern Nikolaus Kopernikus und Charles Darwin sah.4

Die Menschheit, erklärte Freud, habe drei große Kränkungen erfahren. Die kosmologische Kränkung durch Kopernikus, der uns zeigte, dass wir nicht der Mittelpunkt des Universums sind. Die biologische Kränkung durch Darwin, der uns auch noch die übergeordnete Rolle auf der Erde wegnahm. Seitdem wissen wir, dass wir keine einzigartigen, gottgleichen Wesen auf dem Planeten sind, sondern einfach nur Verwandte der Affen und sonstigen Tiere um uns herum. Und Freud selbst habe uns mit der schmerzhaften Einsicht konfrontiert, dass der Mensch nicht einmal »Herr sei in seinem eigenen Haus«, was er als die letzte und größte, die psychologische Kränkung sah.

Gut möglich, dass bei derart grandiosen Erfolgen seinerseits auch die ihm gegenübergestellte wissenschaftliche Psychologie gekränkt war. Neue Einsichten mussten her. Die Behavioristen und Universitätspsychologen brauchten dringend aufsehenerregende Experimente, erschütternde Ergebnisse und laute Schlagzeilen. Die Sozialpsychologie nahm sich der Herausforderung an und rückte schon bald mitten in das Zentrum des gesellschaftlichen Diskurses.

Anklagepunkt 1: Mitläufer

Den Auftakt machte 1951 Solomon Elliot Asch. Er wuchs in einer polnisch-jüdischen Familie auf und emigrierte 1920 im Alter von dreizehn Jahren in die USA. Es heißt, er habe bei der Ankunft kaum Englisch sprechen oder verstehen können. In der Schule habe er deswegen Probleme sowohl im Unterricht als auch im Umgang mit Gleichaltrigen gehabt. Er ließ sich davon in seiner akademischen Laufbahn jedoch nicht zurückhalten und promovierte später an der Columbia University in New York. Seinen Platz unter den einflussreichsten Psychologen des zwanzigsten Jahrhunderts sicherte er sich vor allem mit seinen Experimenten zur Konformität.

Ziel seiner Studien war es zu untersuchen, wie Menschen auf Gruppendruck reagieren und ob sie ihre eigene Wahrnehmung der Realität ändern, um der Gruppenmeinung zu entsprechen. Sein berühmtestes Experiment wurde mit Gruppen von acht bis zehn Teilnehmern durchgeführt.5 Asch wählte dafür männliche Studenten im Alter von 17 bis 25 Jahren. Alle Teilnehmer, mit Ausnahme des einen echten Probanden, waren allerdings in Wirklichkeit Mitarbeiter des Labors. In jeder Gruppe war dieser eine Teilnehmer, der echte Proband, der Einzige, der nicht über den wahren Zweck der Studie informiert war. Die Gruppe saß an einem Tisch und bekam eine einfache visuelle Aufgabe gestellt. Die Teilnehmer sahen linksseitig eine vertikale, gerade Linie. Mit etwas Abstand dazu standen auf der rechten Seite drei weitere vertikale Linien, die jeweils unterschiedlich lang waren, eine davon war aber immer genauso lang wie die erste Linie auf der linken Seite. Die Aufgabe war, unter den drei Linien rechts die eine auszuwählen, die genauso lang sei wie die Linie links.

Welche der drei Linien A, B oder C ist genauso lang wie die Linie links?

Ja, die Aufgabe ist sehr einfach und die korrekte Antwort offensichtlich. Die Komplizen, also Labormitarbeiter, die nur so taten, als ob sie auch an der Studie teilnehmen, wurden jedoch instruiert, manchmal alle gleichzeitig bewusst die falsche Antwort zu geben. Der Proband war immer der Letzte oder Vorletzte, der antwortete. Das Ziel war zu sehen, ob die echten Teilnehmer den falschen Antworten der Komplizen folgen, sich also dem Gruppendruck beugen, obwohl es offensichtlich die falsche Antwort ist. 75 Prozent der Teilnehmer taten dies mindestens einmal. Für Asch ein besorgniserregender Befund. Der Mensch, so folgerte er, sei von der bloßen Anwesenheit einer Mehrheitsmeinung so weit zu bringen, sich der offensichtlichen Unwahrheit anzuschließen.

Anklagepunkt 2: Streitsüchtig

Laut Asch sind wir Menschen also Opportunisten, deren Urteil nicht zu trauen ist und die lieber lügen, als gegen die Mehrheit aufzubegehren. Ein anderes aufsehenerregendes Experiment zeigte ebenfalls die besorgniserregende Macht der Gruppe.6 Durchgeführt wurde es 1954 von dem renommierten Psychologen Muzafer Sherif und seiner späteren Ehefrau Carolyn Wood.

Sherif stammte aus der Türkei und studierte zunächst in Istanbul, bevor er in die USA emigrierte und seine akademische Karriere erst an der Harvard University, dann an der Columbia University fortsetzte. Während seiner gesamten Laufbahn beschäftigte er sich intensiv mit dem Verhalten von Gruppen. Bekannt machte ihn vor allem das sogenannte Ferienlager-Experiment. Carolyn Woods Beitrag an diesem Experiment wird bis heute oft unterschlagen, was einerseits an der enormen Bekanntheit Sherifs lag, andererseits aber auch strukturelle Gründe hatte. Zum Zeitpunkt des Ferienlager-Experiments arbeitete Muzafer Sherif an der Princeton University. Carolyn Wood Sherif hätte sich ihm gerne in offizieller Position angeschlossen, doch die Princeton University akzeptierte damals keine weiblichen Studierenden – das dauerte noch bis 1969. Ihre Mitarbeit wurde also zunächst kaum honoriert.

In einem aufwendigen, dreiwöchigen Experiment wurden 22 »normale, gut angepasste« zwölfjährige Jungen, die sich gegenseitig nicht kannten, mit möglichst ähnlichem sozio-kulturellen Hintergrund in einen amerikanischen Nationalpark gebracht. Die Sherifs teilten die Jugendlichen vorher per Zufall in zwei Gruppen ein. Diese zwei Gruppen wussten nichts voneinander und durften zunächst eine Woche mit Spaß und Spiel im Park verbringen, ohne der jeweils anderen Gruppe zu begegnen. Verschiedene Forscher und Wissenschaftlerinnen übernahmen dabei die Rollen der Campleitung. Die Jungs machten Ausflüge, freundeten sich untereinander an und genossen ihr Ferienlager.

Dann kam die zweite Woche, und damit auch die nächste Phase des Experiments. Die Gruppen trafen aufeinander. Die Sherifs ließen die Jungs in unterschiedlichen Wettbewerben gegeneinander antreten, die so angelegt waren, dass immer nur eine der beiden Gruppen gewinnen und damit einen Preis ergattern konnte. Damit sollte eine Situation nachgestellt werden, bei der Gruppen im Umgang mit begrenzten Ressourcen in Konkurrenz zueinanderstehen. Die beiden Gruppen schaukelten sich innerhalb weniger Tage von einem vorsichtigen Abtasten über Konkurrenzgebaren zu handfesten Rivalen auf, deren Maßnahmen immer drastischer ausfielen. Flaggen wurden gestohlen und verbrannt, Vorräte geklaut, in Kabinen eingebrochen und letztendlich kam es sogar zu körperlichen Auseinandersetzungen. Die Campleitung sah sich gezwungen, aktiv einzugreifen, um weiteren Schaden zu verhindern. Die Psychologie hatte eine weitere düstere Erkenntnis gewonnen: Stehen Gruppen sich in Konkurrenz um ein knappes Gut gegenüber, ist der gewalttätige Konflikt unausweichlich.

Anklagepunkt 3: Rückgratlos

Bald sollte die nächste ernüchternde Erkenntnis über das Wesen des Menschen folgen – und zwar nur wenige Jahre später, 1961. Stanley Milgram hatte bereits mehrfach für und mit Solomon Asch gearbeitet, bevor er mit dem Experiment, um das es hier gehen soll, berühmt wurde.

Anders als Asch – Sie erinnern sich: Der Mensch ordnet sich dem Gruppenzwang unter. Konformität bei der Beurteilung der Länge von Linien – wollte er sich aber nicht mit etwas so Einfachem und Abstrakten wie der Beurteilung von ein paar Strichen aufhalten. Milgram hatte eindeutig mehr dramatisches Talent. Geboren und aufgewachsen in New York, studierte er zunächst am Queens College, promovierte dann an der Harvard University und trat dort im Anschluss eine Assistenz-Professur an. Später bekam er einen eigenen Lehrstuhl als Professor des Graduate Center of the City University of New York. Aber auch neben dem klassisch universitären Kontext zeigte Milgram vielfältige Interessen: In seiner Freizeit zeichnete er, schrieb Musicals und kooperierte auch immer wieder gerne mit unterschiedlichen TV-Produktionen.

Seine wissenschaftlichen Experimente hatten oft einen Hauch von Performance Art. Er überprüfte etwa, wie schnell man auf einer belebten Straße eine Traube von Menschen zusammenbringen kann, indem man mit der ausgestreckten Hand auf einen zufälligen Punkt am leeren Himmel zeigt. Inspiriert von Edmond Rostands Drama Cyrano de Bergerac, in dem der Hauptcharakter Cyrano die Worte liefert, mit denen der hübsche Christian die ihnen gemeinsame Angebetete umwirbt, arbeitete Milgram außerdem daran, seine wissenschaftlichen Mitarbeiter zu »Cyranoiden« (seine Wortwahl) zu machen, indem er ihnen per Funk in Echtzeit durchgab, was genau sie in der Interaktion mit Testpersonen sagen sollten. Ein anderes Mal überzeugte er das CBS-Fernsehproduktionsstudio von der sehr kostspieligen Idee, eigens für ihn drei unterschiedliche Enden einer Folge der damals populären Serie Medical Center aufzunehmen, um den Zusammenhang von Fernsehen und antisozialem Verhalten zu überprüfen.7

Es verwundert also nicht wirklich, dass Milgram die Erkenntnisse seines Mentors Solomon Asch nicht weit genug gingen:

»Ich versuchte eine Möglichkeit zu finden, Aschs Konformitäts-Experiment menschlich bedeutsamer zu gestalten. Ich war unzufrieden damit, dass der Test der Konformität auf Urteilen über Linien basierte. Ich fragte mich, ob Gruppen eine Person dazu drängen könnten, eine Handlung auszuführen, deren menschliche Bedeutung offensichtlicher war, wie zum Beispiel aggressives Verhalten gegenüber einer anderen Person, indem man ihr zunehmend starke Stromschläge zufügte. (...) Wie weit würde eine Person unter den Anweisungen des Experimentators gehen?«8

Was sagt es schon über das Wesen des Menschen aus, wenn wir zwei unterschiedlich lange Striche als gleichlang bezeichnen? Könnte man unsere Natur nicht besser daran erkennen, ob wir bereit sind, anderen Menschen ohne guten Grund echten Schaden und schlimme Schmerzen zuzufügen? Diese Frage trieb Stanley Milgram um und er ruhte nicht, bis er sie beantwortet hatte.

In den Archiven der Yale University finden sich Notizen seiner akribischen Vorbereitung für das Experiment, das ihn weit über die Grenzen der Psychologie hinaus berühmt machen sollte. Wie auch bei anderen Gelegenheiten ließ Milgram sich hier unter anderem von der Literatur inspirieren, in den Yale-Akten liegen von ihm kopierte Passagen aus William Goldings Herr der Fliegen. Er führte außerdem ständig ein Notizbuch mit sich, um handschriftliche Notizen zu machen, wenn ihm Ideen für den sich langsam in seinen Gedanken abzeichnenden Versuchsaufbau kamen. Er notierte auch zufällige Begegnungen mit möglichen Versuchspersonen wie diese:

»Dieser Mann wäre das perfekte Opfer. Er ist so sanft und unterwürfig; überhaupt nicht akademisch.«9

Ein anderes handschriftliches Dokument gibt einen ersten Einblick in den geplanten Ablauf der Inszenierung:

»75. Au. 90. Autsch. 105. Au. 110. Au hey! Das tut wirklich weh. 135 OW—–150. Au! Das reicht!! Holt mich hier raus!«10

1961 ist Milgram hoch motiviert und mit 25 000 Dollar Förderung ausgestattet bereit, loszulegen. Er schaltet eine Anzeige in einer örtlichen Zeitung:

»Wir werden fünfhundert Männer aus New Haven dafür bezahlen, dass sie uns bei der Durchführung einer wissenschaftlichen Studie über Gedächtnis und Lernen helfen … Es ist keine besondere Ausbildung oder Erfahrung erforderlich … Wir wollen: Fabrikarbeiter, Stadtangestellte, Arbeiter, Friseure, Geschäftsleute, Angestellte, Berufstätige, Telefonarbeiter, Bauarbeiter, Verkäufer, usw. Alle Personen müssen zwischen 20 und 50 Jahre alt sein. Schüler und Studenten können nicht teilnehmen. Sie erhalten einmalig 4,00 $ (plus 50 Cent Fahrpreis), sobald Sie im Labor eintreffen.« 

Wie weit ist zu weit?

Jeder Interessent erhielt einen eigenen Termin, zu dem nur er selbst, ein Experimentalleiter und ein weiterer vermeintlicher Teilnehmer – in Wahrheit ein von Milgram bezahlter Schauspieler – anwesend waren. Die Teilnehmer wurden im Labor der Yale University von einem älteren Herrn in weißem Kittel, dem Experimentalleiter, empfangen. Dieser erklärte den beiden Versuchspersonen, eine davon die echte, ahnungslose, den Ablauf.

Zunächst wurde zufällig gelost, wer in dem folgenden Experiment die Rolle des Lehrers und wer die des Schülers spielen würde. In Wahrheit war dies natürlich nicht dem Zufall überlassen, der echte Teilnehmer bekam immer die Rolle des Lehrers. Der Experimentalleiter führte die Teilnehmer dann in einen Nebenraum, in dem sich ein Stuhl und eine kleine Schalttafel mit vier Knöpfen befanden. Ihnen wurde gesagt, dass der Stuhl mit einem Generator im Hauptraum verbunden sei. Der Schüler wurde dann auf dem Stuhl festgeschnallt und an seinen Handgelenken wurden Elektroden befestigt. Mit den Fingern konnte er gerade noch die kleine Schalttafel mit den vier Knöpfen erreichen, um später seine Antworten zu geben.

Der echte Teilnehmer wurde daraufhin zurück in den Hauptraum geleitet und an einen Tisch gesetzt, auf dem ihn der zuvor angekündigte »Generator« erwartete. Eine große, kastenförmige Maschine, mit dreißig in einer Reihe angeordneten Schaltern, unter denen jeweils 15 bis 450 Volt stand. Über den Schaltern befand sich ein aufgedruckter Text mit der Aufschrift »Leichter Schock« an einem Ende und »Gefahr – schwerer Schock« kurz vor dem anderen Ende. Ganz am Schluss, bei 425 und 450 Volt, standen drei Kreuze – XXX. Eine auf Gerätschaften übliche Warnung für Todesgefahr. Milgram achtete auch hier auf jedes Detail. Die Apparatur trug die Aufschrift »Shock Generator Type ZLB« mit dem angeblichen Herstellungsort »Waltham, Massachusetts«, eine damals sehr bekannte Region für Elektronikfertigung.

Der Experimentalleiter erklärte den Teilnehmern nun die Regeln. Der Lehrer, also der Teilnehmer, habe vor sich, neben dem Generator, auch noch ein Mikrofon und Lautsprechersystem, das ihn mit dem Schüler im Nebenraum in Verbindung setze. Der Lehrer sollte eine Liste mit Wortpaaren vorlesen: »klare Luft«, »schnelles Auto« und so weiter. Dann sollte er die Liste noch einmal durchgehen und dem Schüler dieses Mal nur das erste Wort aus jedem Paar geben, zusammen mit vier Optionen, um das Paar zu vervollständigen: Er würde »klare« sagen und dann »Sache«, »Luft«, »Fenster« und »Aussicht«. Der Lernende wählte durch Drücken einer der Tasten die seiner Meinung nach passende Antwort aus, und der Lehrer sah, wie eines von vier Lichtern im Hauptraum aufleuchtete, um die entsprechende Antwort zu übermitteln. War die Antwort korrekt, ging es mit der nächsten Frage weiter. Gab der Schüler jedoch die falsche Antwort, sollte der Lehrer ihn mit einem Stromschlag bestrafen. Beginnend mit fünfzehn Volt sollte die Spannung bei jedem Fehler erhöht werden.

Den Teilnehmern wurde gesagt, dass untersucht werden solle, ob die Stromschläge dazu führten, dass sich die Schüler mehr bemühen und dadurch besser konzentrieren würden. Ihnen wurde außerdem versichert, dass die Stromschläge zwar schmerzhaft sein könnten, aber »keine dauerhaften Gewebeschäden« verursachen würden. Den Teilnehmern blieb keine Zeit, die Situation noch einmal zu überdenken. Direkt nach der Einführung ging es los.

Die Versuchsteilnehmer waren räumlich von den Schülern getrennt. Sie konnten diese aber über Lautsprecher hören.

Die echten Versuchspersonen stellten pflichtbewusst in ihrer Rolle als Lehrer die Fragen und auf der anderen Seite der Wand erfüllten die Schauspieler ihre Rolle als Schüler. Sie stellten sich dabei – wie vorher mit Milgram vereinbart – nicht besonders gut an und gaben häufig falsche Antworten. Die Lehrer bestraften dies, ihren Anweisungen folgend, mit immer stärkeren Stromschlägen. Die echten Teilnehmer hörten mit steigender Intensität der Stromschläge über die Lautsprecher zuerst das Erschrecken, später das Ächzen und Stöhnen und zuletzt die panischen, schmerzerfüllten Schreie der Schauspieler. Viele Teilnehmer wendeten sich zwischendurch immer wieder an den Experimentalleiter, der mit ihnen im Raum saß. Sie fragten ihn, ob es nicht besser sei, jetzt aufzuhören? Oder sie sagten ihm, dass sie nicht weitergehen würden. Doch auch die Antworten der Experimentalleiter waren vorab von Milgram festgelegt worden: »Bitte fahren Sie mit dem Experiment fort« oder »Es ist für das Experiment erforderlich, dass Sie fortfahren.«

Die mittlerweile selbst sehr gestressten Teilnehmer befanden sich in einer bizarren Situation. Hinter einer Wand im Nebenraum war ein vor Schmerzen schreiender Mensch, den sie weiter bestrafen sollten. Mit ihnen selbst im Raum saß ein absolut ruhiger, seriös wirkender Wissenschaftler. Diejenigen Teilnehmer, die immer weiter machten und über 350 Volt gingen, hörten schließlich keine Reaktion mehr aus dem Nebenraum. Die Schreie waren verstummt, der Schüler musste mindestens ohnmächtig sein. Der Experimentalleiter gab den Teilnehmern die Anweisung, keine Antwort als falsche Antwort zu werten und die Stromschläge weiter zu verstärken, bis in den mit XXX markierten Bereich. »Bitte fahren Sie mit dem Experiment fort.«

Milgram hatte im Vornherein einigen Psychologen und Psychiaterinnen den Versuchsaufbau beschrieben und um eine Einschätzung gebeten, wie viele der Teilnehmer bis ans Ende der Voltskala gehen würden. Die Experten schätzten übereinstimmend, dass maximal 5 von 100 Personen bereit wären, so weit zu gehen. Viele schätzten die Zahl noch geringer ein und meinten, dass sich vielleicht eine unter einhundert Personen finden ließe, die dazu in der Lage sei. Milgram übertraf mit seinen Ergebnissen diese Erwartungen nicht nur, er sprengte sie. In seinem ersten Experiment erreichten alle 40 Teilnehmer die 300 Volt und 26 von ihnen, also 65 Prozent, gingen bis zu den maximalen 400 Volt. Ein furchtbar erschreckender Befund. Die New York Times berichtete, und schon bald diskutierte die ganze Welt.11 Milgram hatte der Sozialpsychologie ein weiteres Narrativ über den Menschen hinzugefügt: Wenn wir von einer Autorität aufgefordert werden, andere zu verletzen, tun wir das auch. Wir sind alle nur einen Befehl davon entfernt, jemanden zu foltern. Der Mensch ist gehorsam, ohne Skrupel und über die eigene Moral hinweg.

Anklagepunkt 4: Sadisten

Zehn Jahre später, also 1971, folgte ein weiteres aufsehenerregendes Experiment, das bis heute sehr bekannt ist und noch immer gerne als Argument herangezogen wird, wenn es um die Frage geht, ob Macht den Menschen korrumpiert. Geleitet wurde es von Philip Zimbardo.

Genauso wie Stanley Milgram stammte auch Zimbardo aus New York. Schon früh im Leben erfuhr er Diskriminierung, seine Familie lebte teilweise von Sozialhilfe. Zimbardo war der Erste unter ihnen, der einen Schulabschluss machte.12 Er schloss seinen Bachelor in Psychologie, Soziologie und Anthropologie am Brooklyn College ab, machte seinen Master und promovierte in Yale, unterrichtete an der Columbia Universität und ging letztendlich als Professor nach Stanford. Der Name der Fakultät ist bis heute untrennbar mit seiner bekanntesten Arbeit verbunden, dem Stanford-Prison-Experiment.

Es begann mit einer Annonce: »Männliche College-Studenten für eine psychologische Untersuchung des Gefängnislebens gesucht.« Gewillten Teilnehmern wurden 15 Dollar (Inflationsbereinigt entspricht das heute einer Kaufkraft von über 100 Dollar) pro Tag in Aussicht gestellt, um ein bis zwei Wochen in einem provisorisch errichteten Gefängnis im Keller der Stanford Universität zu verbringen.

Die 24 ausgewählten Studenten wurden nach einer Untersuchung ihrer körperlichen und psychischen Gesundheit zufällig in »Gefangene« und »Wärter« eingeteilt. Die Wissenschaftler unternahmen vieles, um die Simulation möglichst realistisch zu gestalten: Die Gefangenen wurden zu Hause »verhaftet« und in das Universitätsgefängnis geführt. Dort mussten sie sich komplett ausziehen, ihre Kleidung abgeben und wurden entlaust. Um das Gefühl einer Kopfrasur nachzustellen, sollten sie sich während des kompletten Aufenthalts abgeschnittene Strumpfhosen über den Kopf ziehen, um die Haare zu fixieren. Die Wärter hatten die Aufgabe, die Gefangenen unter Kontrolle zu halten und für Ordnung zu sorgen.

Zimbardos Berichte zeichnen ein beklemmendes Bild der folgenden Tage. Die Wärter begannen bald, die Gefangenen zu schikanieren. Es begann mit erzwungenen Liegestützen, Zählappellen und dem Entzug von Betten und Kleidung. Später durften die Gefangenen nachts nicht mehr die Toiletten benutzen und mussten sich, zu dritt in einer engen Zelle eingesperrt, einen Eimer teilen. Ein zwischenzeitlicher Aufstand einiger Gefangener wurde von den Wärtern verhindert, daraufhin entzogen sie den rebellischen Gefangenen weitere Rechte und belohnten diejenigen, die sich nicht beteiligt hatten. Einige Tage später änderten sie wieder die Befugnisse einiger bestrafter Gefangener, um den anderen zu suggerieren, dass sie Informationen an die Wärter weitergegeben hätten. Die Gefangenen misstrauten sich in der Folge. Die Gruppe verlor jeglichen Zusammenhalt, jeder war auf sich allein gestellt.

Insgesamt vier Gefangene wurden aufgrund emotionaler Zusammenbrüche in Folge der Behandlung durch die Wärter vorzeitig entlassen. Sie schrien unkontrolliert, oder hatten Wut- und Weinanfälle, bekamen psychosomatische Hautausschläge, verweigerten das Essen und zitterten am ganzen Körper. Die Versuchsleiter waren bereits mehrmals eingeschritten, um diversere psychische Misshandlungen und körperliche Ausschreitungen zu verhindern.

An diesem Punkt besuchte Zimbardos damalige Freundin und spätere Ehefrau die Szenerie und redete ihm ins Gewissen. Sie habe nicht fassen können, was er da mit seinen Studenten veranstalte. Nach sechs Tagen wurde das ursprünglich für zwei Wochen geplante Experiment vorzeitig abgebrochen.