Mit Teufelsg’walt. Kriminalroman. - Christine Lehmann - E-Book

Mit Teufelsg’walt. Kriminalroman. E-Book

Christine Lehmann

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Beschreibung

In aller Herrgottsfrühe schreckt Lisa Nerz aus dem Schlaf: Die Wohnung über ihr bebt von knarrenden Schritten und wildem Geschrei. Oben trifft sie auf drei Damen vom Jugendamt, die den fünfjährigen Tobias mitnehmen wollen. Ein richterlicher Beschluss liegt nicht vor. Lisa schaltet auf stur, bietet der Obrigkeit die Stirn und setzt die amtlichen Vollstreckerinnen erst mal vor die Tür. Doch die Sache geht ihr nach. Und kurz darauf finden sie und Staatsanwalt Weber im Wald eine Leiche mit seltsamem Gepäck … In ihrem achten Fall stößt Lisa Nerz auf blinde Flecken im deutschen Sorgerecht, entdeckt ungeahnte Eigenschaften bei Staatsanwalt Richard Weber und bringt sich in Teufels Küche. »Um eine Figur wie Lisa Nerz glaubwürdig zu gestalten, muss eine Autorin schon was können. Tatsächlich kann Christine Lehmann viel mehr. Das hat so viel Tempo, die Figuren sind so liebevoll charakterisiert, da verbinden sich dynamischer Vorwärtsdrang und fortgesetzte Seitwärtsbewegung zu einer durchweg unterhaltsamen Provinzinvestigation. Mehr davon!« Ekkehard Knörer, Perlentaucher

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Über das Buch

In aller Herrgottsfrühe schreckt Lisa Nerz aus dem Schlaf: Die Wohnung über ihr bebt von knarrenden Schritten und wildem Geschrei. Oben trifft sie auf drei Damen vom Jugendamt, die den fünfjährigen Tobias mitnehmen wollen. Ein richterlicher Beschluss liegt nicht vor. Lisa schaltet auf stur, bietet der Obrigkeit die Stirn und setzt die amtlichen Vollstreckerinnen erst mal vor die Tür. Doch die Sache geht ihr nach. Und kurz darauf finden sie und Staatsanwalt Weber im Wald eine Leiche mit seltsamem Gepäck …

In ihrem achten Fall stößt Lisa Nerz auf blinde Flecken im deutschen Sorgerecht, entdeckt ungeahnte Eigenschaften bei Staatsanwalt Richard Weber und bringt sich in Teufels Küche.

»Um eine Figur wie Lisa Nerz glaubwürdig zu gestalten, muss eine Autorin schon was können. Tatsächlich kann Christine Lehmann viel mehr. Das hat so viel Tempo, die Figuren sind so liebevoll charakterisiert, da verbinden sich dynamischer Vorwärtsdrang und fortgesetzte Seitwärtsbewegung zu einer durchweg unterhaltsamen Provinzinvestigation. Mehr davon!« Ekkehard Knörer, Perlentaucher

Über die Autorin

Christine Lehmann lebt in Stuttgart und Wangen (Allgäu), ist als Nachrichten- und Aktuellredakteurin beim SWR tätig und schreibt Romane, Kurzkrimis, Kriminalhörspiele (Radio Tatort) und Glossen. Mehr Informationen finden Sie auf ihrer Homepage.

Weitere Lisa-Nerz-Krimis finden Sie auf

Christine Lehmann

Mit Teufelsg’walt

Der 8. Lisa-Nerz-Krimi

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2016

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Printausgabe: © Argument Verlag 2009

Lektorat: Iris Konopik

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: 17.05.2016

ISBN 978-3-95988-051-0

Vorwort

Wenn ich Christine Lehmann lese, spüre ich, dass das Genre grenzenlose Möglichkeiten bietet und ich dessen niemals müde werde. Ich liebe literarische Krimis mit starken Charakteren, die mich mitreißen und die düsteren Seiten der Realität nicht aussparen. Am meisten bewundere ich Krimis, die mich nötigen, meinen Standpunkt anzuzweifeln. Wenn ich mich bei Vorurteilen erwische, beim Denken in Schubladen, wo das Leben eigentlich widersprüchlicher ist, dann ist die Lektüre eine Offenbarung. Lisa Nerz hat mich schon öfter so ins Wanken gebracht. Sie hat so eine Art, in Konflikte hineinzuschliddern und Unstimmigkeiten ans Licht zu zerren. Das muss für sie entsetzlich anstrengend sein – ich aber kann gefahrlos genießen, wie ihre turbulenten Erfahrungen meine Welt weiten und an meinen Ansichten sägen. Zuverlässig entwickelt sich alles anders, als ich vorhergesehen habe, und bleibt doch glaubhaft, wasserdicht, exzellent recherchiert. Das ist Krimi-Leseluxus für mich.

»Mit Teufelsg’walt« drängt sich jetzt das Thema Kinder in Lisas Leben: ein Thema voller Emotionen und Fallstricke, die den klaren Standpunkt auf harte Proben stellen. Nicht nur die Tabus und Glücksversprechen rund um Kinder bieten Zündstoff. Die Kinderfrage ist so eng mit großen Menschheitsfragen verwoben – Moral und gesellschaftliche Konditionierung, Macht und Ohnmacht, Lebensraum, Privatsphäre, Verantwortung und Zukunft … Und da stürzt sich Lisa Nerz mitten hinein und durchwühlt diesen Humus unserer Kultur. Ein nüchternes Wort wie Sorgerecht entpuppt sich als Labyrinth aus Machtverhältnissen. Ein obsessiv vernunftbetonter Staatsanwalt mutiert köstlich zum gurrenden Clown. Rasant und wahrhaftig, beklemmend und urkomisch, finster und heiter: »Mit Teufelsg’walt« ist für mich ein schwindelerregend guter Kriminalroman über unsere Welt.

Else Laudan

1

Ein Kind kreischte, eine Frau schrie in höchsten Tönen, die Zimmerdecke über meinem Bett knarrte unter Leuten. Dabei war es stockfinster draußen. Mein Wecker zeigte kurz nach sechs.

Stach da oben gerade der Vater seine Familie ab? Und das in meinem Mietshaus! Der körpereigene Adrenalinalarm wuppte mich aus dem Bett und trieb mich in Jeans und Pullover, ehe ich einen klaren Gedanken fassen konnte. Cipión stand auch schon an der Wohnungstür mit steil aufgestellter Rute. Zum Bellen konnte er sich auch jetzt nicht entschließen. Der Rauhaardackel hatte, seit ich ihn aus einer Höhle gerettet hatte, noch nie gebellt. Erst hatte ich gedacht, er sei traumatisiert, inzwischen war ich zu dem Schluss gekommen, dass er es für sinnlos hielt, Krach zu machen. Wir verstanden ohnehin nie, was er uns damit sagen wollte.

Ich warf mir den Parka über, nahm den Schlüssel vom Haken und öffnete die Tür. Cipión trabte hinaus. Das hölzerne Treppenhaus war dezembernachtkalt. Und es roch nach Stressschweiß. Hier waren Leute mit aggressiven Absichten in den vierten Stock gestiegen. Ich zitterte plötzlich. Nicht vor Kälte. Denn knapp unterhalb meines bundesrepublikanischen Vertrauens in die Rechtsstaatlichkeit polizeilicher Maßnahmen staute sich das viel ältere Menschheitswissen von staatlicher Willkür und nächtlichen Abtransporten in Folterlager.

Ich nahm zwei Stufen auf einmal. Auf halbem Weg verlosch das Treppenhauslicht. Die Wohnungstür ein Stockwerk höher stand halb offen. Lampenlicht fiel auf den Treppenabsatz. Das Holz war, weil weniger Menschen in den vierten Stock stiegen, glatter als in den unteren Bereichen. Ich glaube, ich war noch nie hier oben gewesen. Und nur einmal hatte ich unten im Hauseingang die Frau getroffen, die mit ihren beiden Kindern seit einem halben Jahr über mir lebte und den Briefkasten mit dem Namensschild »Habergeiß« leerte. Sie war bebrillt und dick. Die Tochter zählte schätzungsweise dreizehn Jahre, der Bub fünf oder sechs.

Er schrie tief drin in der Wohnung. »Ich will nicht mit! Ich will nicht!«

Ich stieß die Tür auf, genau in den Rücken einer Frau im Wintermantel. Die Wohnung hatte anders als meine einen Flur. An dessen Ende stand gestikulierend die Tochter und redete auf eine Person ein, die ich nicht sehen konnte. Cipión dackelte unerschrocken hinein. Die Frau im Flur fuhr herum.

»Was ist hier los?«, fragte ich im Polizeiton.

Die Tochter sah mich – ob sie mich auch erkannte, weiß ich nicht – und schrie: »Die wollen Tobi mitnehmen!«

Hinter der Ecke am Ende des Flurs trat eine weitere Frau hervor. Sie war eine von denen, die ihre grauen Haare nicht färbten und naturtrübe Kleidung biologischer Weltanschauung trugen, was sie als bewusst und sozial verantwortungsbewusst lebende Gutmenschen auswies. Unter dem Mantel leuchtete ein möhrenfarbenes Wollkleid.

»Wir sind vom Jugendamt«, erklärte sie. »Gehen Sie bitte und lassen Sie uns unsere Arbeit machen.«

»Und ich bin von der Presse.« Ich zog meinen gewerkschaftlichen Presseausweis aus dem Parka und hielt ihn hoch. »Schwabenreporterin Lisa Nerz. Ich wohne ein Stockwerk tiefer. Und ich bin eine aufmerksame Bürgerin, die sich nicht im Bett umdreht, wenn im Haus ein Kind schreit, als würde es abgestochen.«

Das musste die Dame vom Jugendamt gutheißen, auch wenn der Zeitpunkt gerade ungünstig war.

»Können Sie sich auch ausweisen?«, fragte ich.

»Ja, genau!«, schrie die halbwüchsige Tochter. »Sie haben sich gar nicht ausgewiesen.«

»Doch, das haben wir«, antwortete die Grauhaarige im Möhrenkleid betont leise. »Außerdem kennst du mich, Katarina.«

Jetzt erschien in einer Tür die Mutter. Der Morgenmantel hing schief, das Gesicht war grau, das Haar hing wie welker Schnittlauch vom Kopf, die Brille hatte Schlagseite.

»Bitte gehen Sie wieder auf Ihr Zimmer, Frau Habergeiß«, sagte die Grauhaarige streng.

»Na hören Sie mal!«, entfuhr es mir. »Das ist ihre Wohnung!«

»Und Sie verlassen diese Wohnung jetzt auch!«

Eine dritte Frau erschien, aus dem Kinderzimmer hervorgezerrt durch den Jungen, den sie am Handgelenk gepackt hielt, als wolle sie ihn nie wieder loslassen. Vor lauter Protest und Gegenwehr hatte Tobi sich den Schlafanzug fast ausgezogen und einmal um den Leib gewickelt. Er zerrte an der Hand der Frau zu seiner Schwester, doch die Frau zog ihn so heftig zurück, dass er den Boden unter den Füßen verlor. Er war so erschrocken, dass er nicht einmal brüllte.

»Lassen Sie meinen Bruder los«, kreischte Katarina. »Sie tun ihm weh!« Sie sprang vor, mit erhobener Faust.

»Katarina!«, schrie die Mutter gellend.

Die Grauhaarige stellte sich schützend vor ihre Kollegin. Es gab ein kurzes Gerangel.

»He!«, rief ich.

Cipión knurrte. Er mochte Handgemenge nicht.

Alle Augen richteten sich auf den kleinen Rauhaardackel mit dem borstigen Schlappohrgesicht und der steil erhobenen Rute. Cipión war schätzungsweise zwei Jahre alt und bereit, die Verantwortung des Rudelführers zu übernehmen.

»Schaffen Sie den Hund hier raus!«, herrschte mich die Frau an, die den Flur blockierte. »Und gehen Sie!«

»Nicht, bevor Sie sich ausgewiesen haben.«

»Wir müssen uns Ihnen gegenüber nicht ausweisen!«, belehrte mich die Grauhaarige.

»Dann hole ich eben die Polizei! Für mich sieht das hier nach Indianerüberfall vor Morgengrauen und nach Kindsraub aus.«

»Die Polizei wird Ihnen nicht helfen!« Selbstsicherheit der Staatsmacht straffte die Stimme der Frau im Möhrenkleid.

»Wie Sie wollen!«, antwortete ich lächelnd. »Es war mehr zu Ihrem Schutz gedacht. Denn ich gehöre zu den gewaltbereiten Personen. Aber vielleicht zieht ja Frau Habergeiß eine gewaltfreie Einigung vor.«

Die Mutter nickte mit aufgerissenen Augen hinter dicken Brillengläsern.

»Hier geht es nicht um eine Einigung«, belehrte mich die Dame. »Sie sollten sich nicht einmischen. Sie machen es der Familie nur noch schwerer.«

Ein Zittern flutete mich. »Warum wollen Sie das Kind mitnehmen? Morgens um sechs?«

»Das diskutiere ich mit Ihnen nicht. Verlassen Sie bitte unverzüglich die Wohnung. Sonst hole ich die Polizei.«

»Bleiben Sie hier!«, schrie die Tochter. »Helfen Sie uns!«

Der Junge an der Hand der dritten Frau fing unversehens an zu röcheln und nach Luft zu schnappen.

»Das Spray!«, rief Katarina und stürzte fort in den Raum, der vermutlich das Badezimmer war. Sekunden später kam sie mit einem Asthmaspray zurück. Doch wieder zerrte die Frau Tobi am Handgelenk zurück wie einen unartigen Hund. »He!«, kreischte das Mädchen. »Wenn er stirbt, sind Sie schuld!«

»Gib mir das Spray!«, antwortete die Frau betont ruhig.

Die Mutter wankte mit Neigung zur Ohnmacht. Katarina stampfte mit dem Fuß auf die Dielen und schleuderte, plötzlich grün vor Zorn, das Asthmaspray von sich. Es knallte der Frau, die Tobi am Arm hielt, gegen die Stirn, fiel zu Boden und schoss über die Dielen auf Cipión zu, der mit allen vieren in die Höhe sprang, und blieb vor meinen Füßen liegen.

»Katarina!«, seufzte die Mutter tonlos. »Bitte!«

Das Mädchen brach heulend zusammen und sank mit dem Rücken an der Wand zu Boden.

Die Grauhaarige im Möhrenkleid warf mir einen Da-sehen-Sie-es-Blick zu. Der Junge pumpte angestrengt. Sein Atem ging pfeifend.

Ich bückte mich, hob das Asthmaspray auf. »So, und Sie lassen jetzt den Jungen los, oder Sie haben eine Anzeige wegen Körperverletzung nach Paragraph 223 StGB am Hals.«

Leichte Unsicherheit flackerte zwischen den drei Frauen. Der Paragraph war ein sehr einfacher, der immer galt, wenn es zu Gewalt kam, nur deshalb konnte ich ihn zitieren. Aber es machte Eindruck.

»Außerdem können Sie morgen im Stuttgarter Anzeiger nachlesen«, fuhr ich fort, »dass bei einer Aktion des Jugendamts beinahe ein Kind gestorben wäre, weil Sie eine Hilfeleistung behindert haben. Wollen Sie das?«

Ich kniete mich neben den röchelnden Knaben und setzte ihm das Spray an die Lippen. Er atmete routiniert ein, die Augen auf Cipión geheftet, der hundefreundlich heranwedelte.

»Darf ich ihn streicheln?«

»Na klar.«

Da endlich ließ die Frau seine Hand los.

»Wie heißt er denn?«, fragte Tobi.

»Cipión.«

»Thippionn?«, sprach er mir nach.

Ich gab ihm noch einen Hub aus der Flasche. Doch Tobi war schon ganz auf Cipións Schlappohren, bärtige Schnauze und raues Fell konzentriert und dachte nicht mehr ans Atemholen. Sein dünnes Handgelenk war krebsrot von der Zerrerei an der Hand der Frau vom Jugendamt. Seine Arme, sein Hals und sein Gesicht waren zudem von kleinen Wunden übersät. Vermutlich Neurodermitis.

Aus der Augenhöhe des Jungen, in der ich mich befand, wirkten die drei Damen vom Jugendamt groß, wuchtig und böse. Die Grauhaarige stand starr, als würde sie sich niemals zu einem Kind hinunterbeugen. Die Frau, die Tobi gehalten hatte, rieb sich die Stirn und warf Katarina einen bösen und zugleich triumphierenden Blick zu. »Das wird Konsequenzen haben, das ist dir doch wohl klar!«

Katarina zuckte mit den Schultern.

»Ja, für Sie!«, sagte ich und richtete mich auf. »Hausfriedensbruch, Körperverletzung, Amtsmissbrauch. Am besten, Sie verschwinden jetzt. Und nächstes Mal bringen Sie einen richterlichen Beschluss mit.«

»Wir benötigen keinen richterlichen Beschluss!«, erklärte mir die Grauhaarige.

Tatsächlich? Ich stutzte. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Aber wie dem auch sei, das nächste Mal wird Frau Habergeiß Ihnen nicht die Tür öffnen.«

Katarina nickte eifrig. »Wir machen Ihnen einfach nicht mehr auf, nie mehr!«

»Und jetzt raus, die Damen!«

»Wir werden nicht gehen!«, erklärte die Grauhaarige. »Jedenfalls nicht ohne Tobias. Wir sind berechtigt …«

»Doch, Sie werden, Frau … äh …«

Sie antwortete nicht.

»Wie heißen Sie denn nun?«

Sie presste die Lippen zusammen, als hätte sie eine Fliege im Mund.

»Haben Sie Angst, mir Ihren Namen zu nennen?«, lächelte ich.

»Ich habe keine Angst! Mein Name ist Hellewart, Leiterin des ASD. Und wenn Sie jetzt diese Wohnung nicht unverzüglich verlassen, werde ich Sie anzeigen wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und Behinderung …«

Lächelnd trat ich an sie heran. »Sehen Sie die Narben in meinem Gesicht, ja? Ich scheue keine Prügel. Und Sie sind sicher klug genug, der rohen Gewalt zu weichen. Denn wenn ich eins gar nicht abkann, dann behördliche Frechheit. Und das morgens um sechs! Ich brauche nämlich meinen Schlaf! Ich bin gestern ziemlich versumpft. Mir ist es scheißegal, ob Sie mich später verklagen, weil ich Ihr Haar ein bisschen zerzaust habe, verstehen Sie?«

2

Sally war mir im Grunde immer noch böse. Sie bemühte sich zwar, den alten Ton wiederzufinden, aber es war nicht mehr dasselbe, wenn ich abends in voller Montur im Tauben Spitz einlief und mich an die Bar setzte wie ein Macker auf Brautschau. Sie kokettierte nicht mehr mit mir, wenn sie mir das Pils und Maultaschen in der Brühe hinstellte.

»Stell dir vor, Sally, was heute passiert ist …«

Sie träufelte den letzten Schaum aus der Flasche ins Weizenglas.

»Ich wache morgens um sechs auf …«

Sally nahm das Tablett hoch. »Seit wann wachst du um sechs auf?«

»Immer wenn in der Wohnung über mir ein Kind schreit, als sollte es abgestochen werden.«

»Und du hast es gerettet! Gratuliere!«

Sallys Freundschaft rettete ich heute auch wieder nicht, dachte ich. Sie zog in den Gastraum der Weinstube ab, ohne den Fortgang meiner Geschichte wissen zu wollen. Ihre Lockenmähne wippte blond auf dem Rücken. Sie reichte ihr bis knapp zum Po.

»Das Jugendamt wollte das Kind mitnehmen«, erklärte ich, als sie wieder hinter dem Tresen stand. »Morgens um sechs!«

Sally füllte Viertelesgläser mit Trollinger und Lemberger. »Man hört doch immer wieder von toten Kindern und dass das Jugendamt zu spät eingegriffen hat. Erst kürzlich hat eine Mutter ihr vierjähriges Töchterle von einer Brücke in den Neckar geworfen.«

Die Mutter sei mit der Erziehung des Kindes hoffnungslos überfordert, Tobias sei in seiner geistigen Entwicklung zurückgeblieben, er fehle wiederholt im Kindergarten, hatte mir Katarina die Urteile des Jugendamts zitiert, während sie nach unserem Sieg über die Damen in Naturtextilien in der Küche eine Zigarette rauchte und die Mutter, Nina Habergeiß, sich einen Wodka eingoss und dabei erklärte, normalerweise trinke sie nicht, aber auf den Schrecken!

Sally verzog das Gesicht. »Wodka morgens um sieben?«

Es hatte keinen Sinn. Ich würde sie nicht gewinnen können für die Sache Habergeiß gegen das Jugendamt. Seit ich Sally vor einem halben Jahr am oberen Ende der achtzig Stufen, die zu ihrer Wohnung führten, hatte stehen lassen, um meinem Lebensabschnittsirrtum hinterherzulaufen, verweigerte sie mir den Bund gegen den Rest der Welt.

»Morgen hole ich dich mit deiner Senta am Sender ab und wir drehen eine Runde im Park, okay?«

»Wenn du nichts Besseres vorhast.«

»Ich muss doch sowieso mit Cipión raus.«

Auch wieder falsch. Was musste ich tun, damit Sally aufhörte, mir zu unterstellen, dass ich für sie nur dann einen Finger krümmte, wenn es mir gerade in den Tageslauf passte? Was ohne Zweifel so war. Nur dass es ihr früher nichts ausgemacht hatte. Doch die Zeiten emotionaler Gemütlichkeit waren vorbei. Sie hatte mir einst das Leben gerettet, als ich neben ihr im Krankenhaus mit allergischem Schock abzudanken drohte, und das wollte sie jetzt vermutlich täglich gewürdigt wissen.

Sally arbeitete hauptberuflich als Sekretärin in einer aktuellen Redaktion des SWR. Doch für ihre drei Katzen, die altersschwache Schäferhündin und den kleinen Luxus von Maniküre, Pediküre, Haarpflege und Rückenschule im Fitnessstudio bediente sie außerdem an drei Abenden im Tauben Spitz. Die schwäbische Weinstube im Bohnenviertele zwischen Parkhäusern, Puffs und Hauptstraßen war zur Feierabendstunde nur noch halb so gut besucht wie vor dem Rauchverbot.

»Noch ein Pils?«, erkundigte sich Sally geschäftsmäßig. »Bist du mit Richard verabredet?«

»Nein, ich wollte zu dir, Sally!«

»Ich muss schaffen.«

»Und vielen Dank auch, dass du mir damals das Leben gerettet hast.«

Sie riss die blauen Augen auf. »Was?«

»Wenn du im Krankenhaus nicht die Ärzte gerufen hättest, dann wäre ich jetzt tot.«

Sie lachte entrüstet. »Das wüsste ich aber!«

»Aber du hast doch …«

»Gar nichts hab ich.«

Ich schluckte. »Erinnerst du dich nicht? Ich hatte den Unfall. Wir lagen auf demselben Zimmer im Katharinenhospital. Mein Gesicht war zerschnitten von der Windschutzscheibe und mein Bein eingegipst. Das Fenster ging nach vorne raus auf die Unihochhäuser und den Stadtgarten. Das hast du mir damals erklärt. Ich kannte Stuttgart nur vom Schulausflug als Sündenpfuhl. Dann kam meine Mutter angereist. Erinnerst du dich nicht? Sie hat es sich nicht nehmen lassen, mir persönlich mitzuteilen, dass mein Mann den Unfall nicht überlebt hat, sie hat es auf Katholisch gemacht: ›Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen. Wer weiß, wozu’s gut ist.‹ Erinnerst du dich nicht daran?«

»Doch.« Sally nickte.

»Und ich habe mich so aufgeregt, dass die Ärzte meinten, sie müssten mir zur Beruhigung was ins Infusionswasser tun. Darauf habe ich dann allergisch reagiert, und wenn du nicht …«

Sally schüttelte die Locken. »Nein, so war das nicht. Du hast dich jesusmäßig über deine Mutter aufgeregt, aber es waren nicht die Medikamente. Du hast die Infusion rausgerissen, du wolltest aufstehen. Du bist total ausgerastet. Deshalb habe ich geklingelt. Die mussten dich festbinden und sedieren.«

»Dann verdanke ich dir nicht mein Leben?«

Sie schüttelte den Kopf. »Bestimmt nicht!«

Das änderte alles. Ich musste mein Leben von Grund auf überprüfen. Womöglich war alles falsch, was ich mir so über mich gemerkt hatte. Vielleicht hatte ich Maultaschen in der Brühe noch nie gemocht und teilte sie nur mit dem Löffel, weil ich im Dorf an der Schwäbischen Alb groß geworden war und mit meinem vernarbten Gesicht sonst in der Szene von Stuttgart keine Identität mehr gehabt hätte. Wieso überhaupt Narben? Man sah sie kaum noch. Vermutlich musste ich schon lange nicht mehr das Biest spielen, den Mummenschanz im Dreiteiler mit Krawatte konnte ich mir sparen. Im Rock hätte man mich trotz meines Gesichts und ohne alle Irritationen als Frau erkannt.

»Sag mal, Sally!«

»Ja.«

»Soll ich eigentlich so bleiben, wie ich bin?«

Sie hielt inne – keine Ahnung, was sie gerade tat – und musterte mich. »Wieso?«

»Du kennst doch Brecht: Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: ›Sie haben sich gar nicht verändert.‹ – ›Oh!‹, sagte Herr K. und erbleichte.«

Sie legte den Kopf schief.

»Sally, du hast die einmalige Chance, mich umzumodeln. Du kannst jeden Wunsch äußern. Soll ich künftig die Regeln der gewaltfreien Kommunikation anwenden?«

»Was?«

»Na, Ich-Botschaften und so Zeugs. Ich möchte, dass du mich wieder magst! Es macht mich traurig, dass du mir böse bist. Das heißt, eigentlich macht es mich kribbelig.«

Ein winziges Lächeln zuckte über Sallys Gesicht. »Dann kratz dich halt!«

Gleich hatte ich sie wieder! Gleich … Aber da schepperte die Lokaltür und mein Lebensabschnittsirrtum, Oberstaatsanwalt Dr. Richard Weber, betrat das Lokal. Sally zog Schulter und Brauen hoch. »Und hör zuallererst auf mit deinen Halbwahrheiten! Von wegen, du bist wegen mir hier.«

»Richard ist mein Zeuge!«, rief ich. »Ich bin nicht verabredet mit ihm. Nicht wahr, Richard?«

Er sagte nie etwas – schon gar nicht, wenn man ihn direkt fragte –, bevor er nicht die Situation durchschaut hatte. Außerdem folgte ihm auf dem Fuß eine Frau in schwarzem Mantel mit violettem Schal. Beim Aufknöpfen offenbarte sie Hüftmassen, auf denen der graue Karriererock falsche Falten schlug. Sie war eindeutig jünger als er, sagen wir 32 Jahre alt. In den Ohrläppchen steckten kleine rote Steine.

Sie hieß Sonja Depper.

Ich nahm mein Bierglas von der Theke und folgte meiner Liebeskomplikation mit Tussi an einen der runden Holztische unter Kupferlampen. Richard zog den Kamelhaarmantel aus. Er bewegte sich wieder mal so geschmeidig, als sei der cognacfarbene Dreiteiler sein bequemster Freizeitanzug. Gewöhnlich waren Frauen sofort hin und weg von ihm und fragten sich zugleich, ob der mächtige Oberstaatsanwalt für Wirtschaftsstrafsachen beim Landgericht Stuttgart schwul war. Es lag an dem schwer zu enträtselnden Widerspruch zwischen Richards kraftvoller Männlichkeit und seiner für Männer untypischen Delikatesse in Kleiderfragen. Nur etwas klein war er geraten, das war vielleicht ein Manko, vor allem für eine Walküre im verrutschten Karrierekostüm. Man wusste ja, kleine Männer waren aggressiv.

Sally brachte ein Viertele Lemberger für Sonja und ein Jever fun für Richard.

Sie war Familienrichterin, wie sich alsbald herausstellte, denn sie gehörte zu den Frauen, die gern spitzmäulig und verächtlich über andere urteilten. »Ausgerechnet die Bildungsfernen und geistig Minderbemittelten kriegen Kinder wie die Karnickel!«

»Im Grundgesetz ist nicht festgelegt, welchen IQ Eltern haben müssen«, bemerkte Richard unwirsch.

»Vom IQ rede ich nicht, Herr Dr. Weber …«

Also nicht nur per Sie, sondern sogar noch per Doktor, registrierte ich.

»So gut müssten Sie mich doch kennen, mein Lieber …«

Ouuu!

»… dass Sie wissen, dass ich keine von denen bin, die meinen, nur wer Abitur hat, dürfe sich zur Gattung des Homo sapiens zählen. Viel wichtiger sind Herzensbildung, Verantwortungsbewusstsein und Lustkontrolle. Und da sitzen Mütter vor mir, die stinken nach Bier! Entzug abgebrochen. Die Wohnung total vermüllt. Das ganze Geld geht für Drogen drauf, aber sich beklagen, dass Obst und Gemüse so teuer sind. Es gibt vier Tafelläden in Stuttgart, sage ich immer! Aber da müsste man ein paar Meter zu Fuß gehen und sich an Öffnungszeiten halten. Zu so etwas hat ein Hartz-IV-Empfänger natürlich keine Zeit! Sie glauben gar nicht, wie viele Mütter allein mit dem Haushalt hoffnungslos überfordert sind, geschweige denn mit der Kindererziehung.«

Ich hatte ein Déjà-vu.

»Aber uns beschimpfen. Sie glauben ja nicht, was ich alles zu hören kriege! Als ob der Staat irgendein Interesse daran hätte, Kinder wegzunehmen.«

»Sagen Sie, Frau Depper«, unterbrach ich das juristische Fachgespräch. »Sie reden jetzt nicht zufällig vom Fall Tobias Habergeiß?«

Die Familienrichterin musterte mich, als gehörte ich zu den Delinquentinnen aus dem Prekariat.

»Da waren heute früh drei Damen vom Jugendamt bei Nina Habergeiß in der Neckarstraße, angeführt von einer gewissen Frau Hellewart.«

Die Richterin hängte Schlösser vor ihre Mimik.

»Ich wohne genau drunter. Deshalb habe ich es mitgekriegt. Sie wollten den fünfjährigen Sohn mitnehmen.«

»Sobald das Jugendamt von einer Kindeswohlgefährdung erfährt, ist es verpflichtet, das Kind unverzüglich in Obhut zu nehmen. Das gilt auch bei einem unverschuldeten Versagen des Personensorgeberechtigten, zum Beispiel nach Alkoholmissbrauch von Vater oder Mutter.«

»Und wer entscheidet das?«

»Zunächst das Jugendamt. Es kann auch ohne richterliche Entscheidung handeln, wenn Gefahr im Verzuge ist. Das Familiengericht muss dann schnellstmöglich einen Beschluss fassen.«

»Und die Eltern? Welche Möglichkeiten haben die?«

»Hier geht es ausschließlich um das Wohl des Kindes.«

»Das heißt, die Eltern verlieren in jedem Fall vor Gericht?«

»So würde ich das nicht ausdrücken.«

»Gegen eine Maßnahme des Jugendamts«, stellte Richard klar, »gibt es keine Rechtsmittel.«

»Man kann beim Oberlandesgericht Beschwerde einreichen oder Berufung beantragen«, widersprach Sonja.

»Bei einer Entscheidung des Familiengerichts, ja«, erwiderte Richard. »Aber bei einer Entscheidung des Jugendamts nicht. Das muss ich Ihnen doch nicht erklären, Frau Depper.«

Die junge Richterin nahm den hochnäsigen Zungenschlag des Oberstaatsanwalts mit einem halben Lächeln hin. Sie musste sehr verknallt sein!

»Die Inobhutnahme eines Kindes«, erklärte mir Richard, »ist ein reiner Verwaltungsakt. Das Jugendamt gehört zur Stadtverwaltung. Oberster Dienstherr ist der Oberbürgermeister.«

»Aber da muss doch ein Richter …«

»Sicher. Doch um eine Inobhutnahme zu erwirken, muss das Jugendamt vor Gericht keinen Nachweis des elterlichen Versagens führen.«

»Was? Die Behauptung, dass es so sei, genügt?«

Richard nickte. »Das Gericht stimmt in der Regel den Maßnahmen des Jugendamts zu. Außerdem kann das Jugendamt einer richterlichen Anordnung widersprechen. Es muss ein Kind nicht herausgeben, auch wenn ein Gericht so entscheidet.«

Ich versuchte, es zu begreifen. »Das heißt, es tut einfach nicht, was das Gericht verlangt?«

»Das kommt durchaus vor. Beim Petitionsausschuss des Europaparlaments liegen 400 Petitionen, die solche Fälle betreffen.«

»Aber das geht doch nicht!«, fuhr ich auf. »Da muss man doch was machen können!«

»Nur mit einem guten Anwalt und viel Geld«, sagte Richard. »Dann kannst du bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen. Der hat schon so manches Jugendamt einschließlich der Bundesrepublik Deutschland verurteilt. Nur, ob die örtlichen Behörden, also das Jugendamt, den Beschluss des EuGH auch umsetzen, steht auf einem ganz anderen Blatt. Das Jugendamt legt beispielsweise neue Gutachten vor, erklärt neue Gefahren für das Kind …«

»Und wer ruft die zur Ordnung?«

»Niemand. Es gibt keine Aufsichtsbehörde. Jugendämter können selbst bei vorsätzlich verantwortungslosem Handeln nicht haftbar gemacht werden. Nicht wahr, Frau Kollegin?« Richard lächelte der dickhüftigen Richterin zu.

»Von Vorsatz würde ich hier auch nie sprechen, Herr Kollege«, sagte sie. »Die Jugendämter entscheiden nach bestem Wissen und Gewissen. Fehler kommen natürlich vor, wir sind alle Menschen.«

»Ja, das alte Problem mit dem Fehler erster und zweiter Art beim Signifikanztest«, sagte Richard genüsslich. »Eine Hypothese ist richtig und wird abgelehnt, oder sie ist falsch und wird angenommen. Wenn nun die Hypothese lautet: ›Das Kind ist gefährdet‹, kann das Jugendamt zwei Fehler begehen, den Fehler 1. Art und den Fehler 2. Art. Fehler 1. Art: Das Jugendamt sagt: ›Nein, das Kind ist nicht gefährdet‹, und lässt es in der Familie, doch dort stirbt es an Misshandlungen. Fehler 2. Art: Das Jugendamt sagt: ›Ja, das Kind ist gefährdet‹, und holt es aus der Familie. Diese Annahme ist jedoch falsch, was sich hinterher allerdings kaum nachweisen lässt, denn das Kind überlebt ja außerhalb der Familie. Der Fehler 1. Art ist für das Jugendamt also eindeutig folgenschwerer, weil die Öffentlichkeit aufschreit, als der Fehler 2. Art. Folglich wird es danach trachten, den Fehler 1. Art zu vermeiden, auch wenn es bedeutet, dass der Fehler 2. Art um ein Vielfaches häufiger begangen wird.«

»Ich denke nicht«, widersprach Sonja Depper, »dass das die Grundlage der Jugendamtsentscheidungen ist.«

Richard lächelte ihr arrogant in die Augen. »Die Beamten können gar nicht anders vorgehen, Frau Depper, und es wäre gut, wenn es ihnen auch bewusst wäre. Das ist Beurteilende Statistik, also Wahrscheinlichkeitsrechnung. Und gerade mit Wahrscheinlichkeiten kann unser Gehirn nur schlecht umgehen. Sonst würden wir nicht Lotto spielen.«

»Aber …« Ich verstand das Wesentliche immer noch nicht. »Aber irgendwo muss ich doch Widerspruch einlegen können gegen eine Entscheidung des Jugendamts! Und zwar einen, der unverzüglich wirkt.«

»Du kannst eine Dienstaufsichtsbeschwerde beim Oberbürgermeister einreichen«, antwortete Richard.

»Und dann?«

»Der schickt deine Beschwerde an den zuständigen Sachbearbeiter beim Jugendamt weiter, damit er Stellung nimmt.«

»Und wie das ausgeht, können wir uns denken. Die Familie sei mit der Erziehung des Kindes hoffnungslos überfordert. Die Entscheidung, das Kind in eine Pflegefamilie zu geben, sei richtig und notwendig gewesen.«

»Neu zu beeltern, wie man so schön sagt«, ergänzte Richard mit schrägem Blick. »Und nach einigen Jahren Rechtsstreit hat sich das Kind bei den neuen Eltern so eingelebt, dass es grausam wäre, es herauszureißen und zu den Eltern zurückzustecken.«

Die Maultaschen klappten das Maul zu in meinem Magen. »Ich dachte, wir leben in einem Rechtsstaat?«

»Jugendämter müssen schwierige Entscheidungen treffen«, sagte Richterin Depper. »Es geht um das Wohl von Kindern.«

»Aber was das Kindeswohl ist«, unterbrach Richard, »ist im deutschen Gesetz nicht definiert. Das definiert das Jugendamt. Und der eine Sachbearbeiter sieht das Kindeswohl schon gefährdet, wenn das Kind ständig bei den Großeltern ist, eine andere Sachbearbeiterin erst, wenn es schwer verletzt im Krankenhaus liegt.«

»Ich kenne Annemarie Hellewart, die Leiterin des Allgemeinen Sozialen Diensts, gut«, widersprach Depper. »Sie ist eine Frau mit Augenmaß und Erfahrung.«

»Verzeihung, Frau Depper. Aber das ist doch gerade die Krux. Sie kennen Ihr Jugendamt. Sie schätzen Frau Hellewart, Sie vertrauen ihr. Die Mutter, die eingeschüchtert oder wütend um ihr Kind kämpft, sehen Sie dagegen zum ersten Mal.«

Die Amtsrichterin schaute den plötzlich so angriffslustigen Staatsanwalt überrascht an. »Leider sehe ich sie nicht zum ersten Mal, wenn es um eine so drastische Maßnahme wie eine Inobhutnahme geht. Wir sind nämlich von Rechts wegen gehalten, vorher alle anderen Mittel auszuschöpfen. Doch wenn die Mutter nicht kooperativ ist, wenn sie das Kind trotz richterlicher Anordnung nicht in den Kindergarten schickt …«

»Wie im Fall Tobias«, hakte ich nach.

Depper blinzelte. »Familiensachen sind grundsätzlich nicht öffentlich, Frau Nerz. Und es handelt sich, wie schon gesagt, um schwierige und komplexe Entscheidungen.« Die Richterin beugte sich vor. »Es ist noch gar nicht lange her, da hat eine Mutter ihre vierjährige Tochter von einer Neckarbrücke ins Wasser geworfen. Es stand ganz groß im Stuttgarter Anzeiger. Sie werden sich erinnern. Angeblich hat sie sich überfordert gefühlt. Für die Presse war der Schuldige schnell ausgemacht: das Jugendamt. Die Frau habe sich mehrmals ans Jugendamt gewandt und um Hilfe gebeten. Aber tatsächlich war sie nie beim Jugendamt. Sie hat sich an andere Stellen gewandt. Doch selbst wenn es so gewesen wäre, dann frage ich Sie, Frau Nerz. Wie würden Sie entscheiden? Da erklärt Ihnen eine Mutter aus einer augenscheinlich intakten Familie, sie fühle sich überfordert. Hätte man ihr sofort das Kind weggenommen, dann hätten die selbsternannten Familienschützer gleich wieder Kindsraub geschrien. Und wer denkt auch so was? Jede Mutter fühlt sich von Zeit zu Zeit überfordert!«

»Tatsächlich?«

»Das ist doch allgemein bekannt.« Sonja Depper griff plötzlich nach dem Weinglas und trank in großen Schlucken.

»Sie haben keine Kinder?«, fragte ich. Eigentlich interessierte es mich nicht, ob die Frau mit den fülligen Hüften Kinder hatte. Aber irgendetwas in Deppers Verhalten zwang zu der Frage.

»Nein.« Sie stellte das Viertelesglas mit einem Klong auf den Tisch. »Aber … aber ich hatte Kinder. Zwei Töchter. Sie sind … nun, sie sind kurz nach der Geburt verstorben. Plötzlicher Kindstod.« Sie lachte unmotiviert. »Wenn das ein Mal passiert … mein Gott, schon davon erholt sich so manche Mutter nicht. Und mir … uns passiert das zweimal. Vermutlich ein Gendefekt. Sie werden verstehen, dass mein Mann und ich es nicht ein weiteres Mal haben … haben herausfordern wollen, wenn ich das mal so ausdrücken darf.«

Ich verspürte das Bedürfnis, hysterisch zu lachen. »Und eine Adoption?«, fragte ich mit mehr weiblichem Entsetzen im Ton, als ich empfand.

Richard hielt den Blick fest auf seine Hand gesenkt, die am Bierglas drehte.

»Wir haben uns das tatsächlich überlegt«, antwortete die Richterin. »Aber es gibt so viele Paare, die auf Kinder warten, und wir werden auch nicht jünger.«

»Dann gehen Sie doch ebayen«, schlug ich vor.

»Was?«

»Im Internet gibt es bestimmt auch Kinder zu kaufen.«

»Das ist geschmacklos, Frau Nerz!«

»Wetten, dass?«

Sie wandte sich dem Mann am Tisch zu. »Kinderpornos im Internet, das ja, aber Kinder?«

Richard fing an, mit der Zigarettenschachtel zu spielen.

Sonja Depper nahm einen weiteren tiefen Schluck und strich sich das Haar hinters Ohr. »Und Sie, Frau Nerz? Haben Sie Kinder?«

»Sehe ich so aus?«

»Lassen Sie mich raten! Sie wollen auch keine.«

»Ach, es gibt so viele auf der Welt, es herrscht Überproduktion, da muss ich nicht auch noch produzieren.« Wieso rechtfertigte ich mich überhaupt!

»Nach meiner Erfahrung«, urteilte die Richterin, »ist das Argument der Überbevölkerung ein vorgeschobenes Argument. Tatsächlich sind es meist egoistische Gründe, warum Frauen keine Kinder wollen. Sie scheuen die Verantwortung, die Arbeit, die Opfer und Einschränkungen.«

Ich lächelte böse zurück. »Es gibt sowieso nur niedere Beweggründe, Frau Richterin. Sie haben Ihre Kinder doch auch nicht wegen der Rentenkasse bekommen!«

Sonja Depper leerte das Weinglas, wischte sich Schweiß von der Stirn und sah plötzlich mädchenhaft aus. Richard hielt hartnäckig den Blick auf seine kurzen kräftigen Finger gesenkt, atmete aber auch nicht mehr ruhig. Ein Anflug von Scham streifte mich.

Da sie von Richard keine Hilfe bekam, zwang Depper ihre grauen Augen, mich die Nadelstreifenweste hinab zu mustern, und startete ihren Angriff: »Und Sie, Frau Nerz, Sie spielen hier also die Dragqueen.«

»Dragqueens sind die Männer, dressed as a girl«, erklärte ich.

»Wie nennt man das dann? Transvestit? Oder heißt das bei Frauen anders?«

»Keine Ahnung. Bei mir heißt das Lisa Nerz.«

»Sie haben ein Problem mit Ihrer Weiblichkeit, Frau Nerz.«

Als sich unsere Blicke trafen, war der Grundstein für tiefen Hass gelegt. In mir häuften sich niedere Beweggründe für einen sinnlosen Mord.

»Ich bin jedenfalls gern Frau!« Sie warf Richard einen schnellen Blick zu.

Aber auch dazu sagte er nichts.

»Als Frau hat man auch viele Vorteile.«

»So, welche denn?«, fragte ich.

Richard zog eine Zigarette aus der Schachtel. »Wenn Sie mich einen Moment entschuldigen würden?«

Auf knisternden italienischen Ledersohlen flüchtete er vors Lokal.

»Habe ich was Falsches gesagt?«, fragte Sonja.

»Ist das wichtig?«, fragte ich zurück. »Entscheidet er über Ihre Karriere? Oder haben Sie sich in ihn verknallt?«

»Ihre Raubeinigkeit können Sie sich sparen, Frau Nerz. Das beeindruckt mich nicht.«

»Womit könnte ich Sie denn beeindrucken?«

Der betrunkene Blick der Richterin eierte über mein Gesicht. »Wollen Sie mich anmachen? Sind Sie so eine?«

Ich lachte.

»Dann ist ja gut.« Sonja Depper angelte nach ihrer Handtasche, legte den Geldbeutel auf den Tisch und schaute sich nach Sally um. Sie zog auch schon mal den Schal aus dem Ärmel ihrer Jacke, faltete ihn halb und schlang die beiden Enden durch die Schlaufe, so dass nach Art moderner Karrieredamen der Bollen auf ihrer Brust zu liegen kam. Man hätte nur an den Schalenden ziehen müssen, damit sich die Schlinge zuzog und sie strangulierte.

»Übrigens«, lockte ich. »Falls Sie wissen wollen, warum Herr Weber genau jetzt eine rauchen gegangen ist …«

»Bestimmt nicht!«

»Er möchte nicht Zeuge der Wette sein, die ich Ihnen vorschlage.«

»Was für eine Wette?«

»Ich beweise Ihnen, dass Ihre Freundin Annemarie Hellewart vom Jugendamt aus niederen Beweggründen handelt.«

Der beschwipste Blick der Richterin rutschte von meinem Gesicht ab und glitt über den Tisch. Sie sank über ihrer Handtasche zusammen und schüttelte den Kopf.

»Alternativ dazu beweise ich Ihnen, dass es im Internet Kinder zu kaufen gibt. Was ist Ihnen lieber? Sie dürfen wählen.«

Sonja Depper zog fröstelnd die Schultern hoch. »Wissen Sie, wie mir das hier vorkommt? Als müsste ich stante pede einen Pakt mit dem Teufel schließen.«

3

»Stante pede!« Aus welchen Mottenkisten hoben Juristen ihren Wortschatz? »Stehenden Fußes«, verriet mir das Internet.

Richard hatte angeboten, sie nach Hause zu fahren – »Liststraße, das liegt auf meinem Weg« –, und ich hatte mich auf mein Fahrrad geschwungen und war in die andere Richtung geradelt. Die Dezemberkälte hatte mir in die Ohren gebissen und mir geholfen, wieder runterzukommen. Noch zwei Minuten länger, und ich hätte die Richterin umgebracht, und zwar ohne zu wissen, aus welchen Gründen. Was hatte mich nur dermaßen aufgeregt? Diese eigenartige Unempfindlichkeit? Dieses Rechthaben, der urteilende Ton? Und so was war Richterin. Ich zitterte immer noch.

Das weltweite Netz nahm mich freundlich auf. Ein Kind war schnell gefunden. Da gab es Eltern in Hoyerswerda, die bei Ebay ihre Kinder angeboten hatten, allerdings nicht zum Kauf, sondern zum tageweise Mieten. Der Staatsanwalt ermittelte nun in Richtung Kinderhandel. Und es gab eine Siebzehnjährige, die bald niederkommen würde und sich in einem Forum erkundigte, ob es eine Möglichkeit gab, das Kind wegzugeben, ohne es an die Anonymität einer Adoption zu verlieren.

Gab es, nämlich die sogenannte offene Adoption.

Gegen elf schlüsselte sich Richard in meine Wohnung. Cipión sauste unter dem Heizkörper hervor, rannte mit fliegenden Schlappohren zur Tür und warf sich in maßlos übertriebener Freude auf den Rücken, wie immer, wenn er beschämt war, weil er Richard nicht schon vorher auf der Treppe gehört hatte. Auch ich wunderte mich, schließlich hatte ich aus seinem Fahrdienstangebot an Sonja Depper schließen müssen, dass er zu sich nach Hause fahren würde.

»Und«, fragte er, »schon ein Kind gefunden?«

»Hat sie sich über mich beschwert, deine Walküre?«

»Du hast sie halt ein bissle verschreckt, Lisa.«

»Oh, das tut mir aber leid!«

Mit der unnachahmlichen Geste der Erleichterung zog er sich den Schlips aus dem Kragen und öffnete den obersten Hemdknopf.

»Nimm dich vor der in Acht, Richard! Die geht über Leichen!«

»So, gefällt sie dir nicht?« Er lachte, hängte sein Jackett über eine Stuhllehne und ging in die Küche, um den Kaffeeautomaten anzustellen. Mit Sicherheit warf er dabei einen Blick aus dem Fenster über die Neckarstraße hinüber auf den Bunker der Staatsanwaltschaft, um sich zu vergewissern, dass bei ihm im Büro in Augenhöhe meines Küchenfensters kein Licht brannte. Nachdem er festgestellt hatte, dass er folglich nicht dort, sondern hier war, kam er ins Zimmer zurück, stellte den Fernseher an, warf sich auf mein altes Sofa und zappte sich durch bis Snooker. Richard konnte stundenlang Snooker gucken. Das Klackklack der Billardkugeln störte nicht, die Kommentatoren pflegten in raunendem Ton die Spielzüge zu erklären, und der Beifall beschränkte sich auf ein Fingerschnippen.

»Übrigens«, sagte ich, »ein Kind hätte ich schon für Frau Depper. Da will eine Siebzehnjährige ein Kind loswerden, das sie bald bekommt.«

»So?« Er erinnerte sich, dass der Kaffeeautomat inzwischen aufgeheizt sein musste, und stand auf. Ich hörte, wie er aus der Spüle einen meiner Becher nahm und unter dem Wasserhahn ausspülte.

»Sie hat dir doch sicher von unserer Wette erzählt, oder?«

Richard erschien in der Tür, einen tropfenden Kaffeebecher in der Hand und Alarm im Blick.

»Nicht? Ich habe ihr angeboten, dass ich ihr beweisen werde, dass ihre Busenfreundin vom ASD, Annemarie Hellewart, aus unlauteren Beweggründen handelt. Die gefährlichsten Menschen auf der Welt, Richard, sind diejenigen, die es gut meinen!«

»Soso.«

»Hellewart trägt möhrenfarbene Kleider und die Haare biograu. Sie strotzt vor moralischer Eitelkeit!«

»Und du bist natürlich total objektiv.« Er drehte sich um und verschwand wieder in der Küche. Ich hörte das Mahlwerk der Kaffeemaschine. Wasser knatterte aus dem Überdruckbehälter. Ich stand auf und tappte strümpfig hinüber.

»Im Ernst, Richard. Das, was das Jugendamt heute früh da oben veranstaltet hat, das hat mich erinnert an …«

»Scht! Lisa! Vergleiche mit Gestapo oder Stasi zeugen nur von historischer Unbildung!« Er zog den Kaffeebecher aus der Maschine und blies in den Schaum.

»Und warum ziehst du mit dieser Richterin Depper herum?«

Er nagelte seinen asymmetrischen Blick in meinen.

»Was ist es? Ihr Kutschpferdearsch im Karrierekostüm oder die verständnislose Bewunderung für dich in ihrem Blick?«

Er schnaubte, dass der Schaum über den Becherrand trielte. »Sie hat mich heute im Amt besucht, und ich wollte nicht unfreundlich sein.«

»Was macht eine Richterin denn in der Staatsanwaltschaft?«

»In Baden-Württemberg springt man auf der Karriereleiter zwischen Staatsanwaltschaft und Richteramt hin und her. Bis vor drei Jahren war Depper noch Staatsanwältin. Sie hat allerdings keinen einzigen Fall zum Abschluss gebracht.«

»Und warum besucht sie dich?«

»Aus Langeweile?« Er schmunzelte. »Nun ja, sie betrachtet mich als ihren Mentor.« Es klang peinlich berührt. »Und jetzt, wo Trautwein ans Oberlandesgericht geht, möchte sie wieder zu uns zurück. Ins Dezernat für Tötungsdelikte, nicht in meines. Meisner intrigiert schon seit Wochen, um das zu verhindern.«

Ich lachte.

»Und weißt du, warum Depper so schrecklich gern Frau ist?«

»Weil die Frauen die Kinder bekommen.«

»Und weil sie damit Karriere machen will.«

»Wie bitte? Heißt es nicht allenthalben, Kinder seien der Karriere eher abträglich?«

»Reine Propaganda, Lisa! Vergiss alle Studien über Karriere, Kinder und Kindertagesstätten. Die sind zwanzig Jahre alt oder gefälscht. Kinder sind kein Beförderungshindernis, sondern ein Beförderungsgrund. Kinderlose Frauen haben heutzutage ein Karriereproblem. Die mit Kindern nicht. Alle erfolgreichen Frauen haben Kinder. Es müssen nicht gleich sieben sein wie bei Familienministerin von der Leyen. Bei gleicher Qualifikation … ach was red ich, bei halbwegs ausreichender Qualifikation bekommt die Frau mit Kind den Posten, nicht die ohne.«

Ich konnte es nicht beurteilen. Meine Karriere als Fremdsprachensekretärin war nie in die Gänge gekommen und die als Journalistin hatte nach wenigen Jahren beim Stuttgarter Anzeiger einen steilen Abstieg erfahren. Zum Nachteil meiner beruflichen Entwicklung und gesellschaftlichen Integration hatte ich ein Vermögen geerbt, was es mir erlaubte, mein Leben ziel- und verantwortungslos zu verplempern.

»Oder unverheiratete Männer«, bemerkte ich. »Und ob deine Beobachtungen im Amt für eine solche Analyse ausreichen, Richard, das …«

»Holla, Lisa!« Er lachte heiter und hämisch. »Auf das feministische Dogma von der Benachteiligung der Mütter fällst sogar du rein!«

Ich schluckte und fuchste mich. »Was ist, Richard? Hat Depper die Indiskretion besessen, dir deine Kinderlosigkeit vorzuhalten, oder was hast du gegen Mütter mit Karriere?«

»Ich habe nichts gegen Mütter in Führungspositionen, Lisa. Das weißt du. Ich rege mich auch nicht darüber auf, wenn eine Amtsrichterin die Sitzung regelmäßig Viertel vor zwölf unterbricht, weil sie die Kinder aus dem Kindergarten holen muss, egal, wie viele Zeugen noch warten. Ich arbeite wirklich lieber mit Kolleginnen zusammen. Die lassen sich wenigstens nicht durch jede Niederlage des VfB Stuttgart aus dem Konzept bringen. Aber Kinder als Leistungsbeweis für die Karrierefähigkeit, da komme ich nicht mit. Das hat was von … von Missbrauch.«

Richard war feinfühlig, wenn es um Kindheiten ging. Seine eigene hatte er im Zeichen des »Gewogen und zu leicht befunden« einem erbarmungslosen Vater zum Trotz und nur mit Blessuren überlebt.

»Na hör mal«, sagte ich. »Wenn Kinder nix bringen, wozu sollte man sie dann kriegen? Schon bei den Affen bringen Kinder Prestige. Deshalb klauen ranghöhere Affen den rangniedrigeren gern mal das Baby. Auch wenn es dann an den eigenen trockenen Titten stirbt.«

4

Damit hätte die Sache erledigt sein können. Doch noch einmal forderte Richterin Depper unsere volle Aufmerksamkeit.

Eigentlich hatte ich mich am Morgen noch dreimal im Bett umdrehen wollen, aber die Erinnerung an den gestrigen Überfall hielt mich wach. Ich lauschte nach oben. Da hätten Dielen knarren müssen, zwei Kinder mussten für Kindergarten und Schule fertig gemacht werden. Ich fluchte, schwang die Beine aus dem Bett, zog mich an, stieg zusammen mit Cipión ein Stockwerk höher und klingelte. Zuerst tat sich gar nichts, dann hörte ich jenseits der Tür Katarinas verschlafene Stimme. »Nicht schon wieder!«

»Ich bin’s, Lisa von unten«, sagte ich. »Mach auf!«

Sie öffnete mit dem Hörer der Gegensprechanlage in der Hand und blickte mich vertränt an.

»Musst du nicht in die Schule? Und Tobi in den Kindergarten?«

»Wie spät ist es denn? Scheiße!« Sie ließ den Hörer fallen, schrie in die Wohnung: »Mama!«, und riss die nächste Tür auf. Ich hängte den Hörer der Gegensprechanlage auf, während Cipión schon mal das Kinderzimmer stürmte. »Aufstehen, Tobi«, hörte ich Katarina ihren Bruder wecken. »Schau mal, da ist das Hundle!«

Aus dem Schlafzimmer ihrer Mutter kam Katarina unverrichteter Dinge wieder heraus. Sie machte eine resignierte Geste und fuhr Tobi an, der bei Cipión hockte und ihn streichelte: »Zieh dich an!«, und verschwand im Badezimmer.

Die Küche sah unerwartet ordentlich aus. Es gab eine Mikrowelle, eine Kaffeemaschine, die Spüle war sauber. Aber ich fand keinen Kaffee, kein Brot, keine Butter im Kühlschrank, keinen noch so verschrumpelten Apfel. Eine Dose Kakao gab es, aber die Milch im Kühlschrank roch faulig. Zum Frühstücken war jetzt vermutlich ohnehin keine Zeit mehr. Wann fing eigentlich die Schule an?

Ich hörte Katarina Tobi zur Eile antreiben, mütterlich keifend: »Deine Hose kannst du selber anziehen. Du bist groß genug!« Dann kam sie in die Küche, steckte sich eine Zigarette an und begann, sich vor einem kleinen Spiegel am Küchentisch zu schminken. Make-up, Puder, Lidschatten, Lidstrich, Wimperntusche, als ob sie alle Zeit der Welt hätte.

»Es ist nichts da für ein Pausenbrot«, bemerkte ich.

Katarina winkte ab. »Tobi kriegt was im Kindergarten.«

»Und du?«

Sie sah mich über die Wimpernbürste hinweg an. »Ich bin eh zu fett.«

Cipión brachte Tobi in die Küche. Die Hose hatte der Junge an, allerdings falsch herum, mit dem Reißverschluss hinten.

Katarina stöhnte. »Du bist wirklich selten blöd! Zieh die Hose wieder aus! Ausziehen! Hörst du schlecht?«

Tobi verzog das Gesicht.

»So geht das nicht, Katarina«, bemerkte ich.

»Scheiße, ich weiß!« Braune Augen blitzten mich an. »Das brauchen Sie mir nicht zu sagen! Was kann ich dafür, wenn Mama den Wecker nicht hört? Und ich muss jetzt hier fertig machen, verdammt!«

»Stell dir selber einen Wecker!«

»Ich hab keinen.«

»Dann kauf dir einen.«

»Ich habe kein Geld.«

»Katarina! Was willst du? Andern die Schuld geben oder selber handeln?«

Der Übergang von Vernunft zum Jähzorn war blitzkurz. Die Dreizehnjährige schleuderte das Schminkmäppchen durch die Küche und kreischte: »Warum lassen Sie uns nicht einfach in Ruhe? Ja?«

Stifte, Döschen und Tuben spratzelten durch die Küche, klongten in die Spüle, klackerten hinter den Kühlschrank, kullerten über den PVC-Boden. Ich erwog, die gekränkte Helfersseele zu geben und beleidigt abzuziehen, natürlich nicht ohne düstere Drohungen mit dem Jugendamt, verwarf es aber. Allerdings auch nicht ohne Drohung: »Tobi muss regelmäßig in den Kindergarten. Wenn ihr das nicht hinkriegt, ist er weg.«

»Dann ist er halt weg! Verdammte Scheiße! Was kann ich denn dafür? Vielleicht begreift Mama es dann endlich!«

»Wenn sie Tobi erst mal haben, seht ihr ihn nicht so schnell wieder. Ist dir das klar?«

»Ja und!«, brüllte das Mädchen und sprang auf. »Was kann ich dafür? He? Was kann ich denn da machen? Ich habe auch ein Leben!«

»Katarina, du solltest dringend was gegen deine Zornesausbrüche unternehmen. Sonst hast du bald ein schönes Leben im Knast.«

Das beruhigte sie urplötzlich. »Es klappt doch normalerweise«, schwindelte sie. »Heute ist echt eine Ausnahme! Ich schwör!«

»Okay. Wer bringt Tobi in den Kindergarten?«

»Ich nehme ihn mit. Das liegt auf dem Weg.«

»Wohin?«

»Ich gehe ins Ostheim.«

Das war eine Grund- und Gesamtschule knapp zehn Minuten zu Fuß von der Neckarstraße entfernt.

»Tobi?«, rief Katarina, sich umwendend. »Wir müssen los! Komm!«

In diesem Moment erschien die Mutter. Sie trug einen Bademantel über dem Nachthemd und hatte sich die Haare gekämmt. Ihr »Guten Morgen« klang nicht wirklich erfreut und ihr Versuch, die mütterliche Regie zu übernehmen, wirkte ungeübt. »Katarina, ihr müsst los! Ihr kommt zu spät«

»Tobi stellt sich wieder mal an wie ein Mongo!«, blaffte Katarina ihre Mutter an. »Wo ist seine Jacke?«

»In der Wäsche.«

Katarina stöhnte. »Es ist kalt, Mama!«

Der Junge stand in der Küchentür und kratze sich die verschorften Arme.

Katarina zwängte sich an mir vorbei, ging hinter dem Küchentisch in die Hocke, riss die Klappe der Waschmaschine auf und begann, Klamotten herauszuzerren, Jeans, Pullover, Shirts, bis sie eine grüne Jacke mit Kapuze gefunden hatte, die ziemlich verdreckt war.

»Komm her, Tobi!«

Tobias rümpfte die Nase. »Das stinkt. Das zieh ich nicht an!«

»Ihr stinkt eh alle!«

»Ich will aber nicht stinken!«, kreischte nun Tobi los und trat nach Katarinas Hand.

»Au!«, rief das Mädchen und versetzte dem Jungen eine Ohrfeige.

Tobi schrie und fing an zu heulen.

Cipión stellte besorgt die Ohren und sträubte den Schnauzbart.

»Hört auf zu streiten!«, rief die Mutter schwach. »Katarina, du sollst Tobi nicht schlagen. Das habe ich dir schon hundertmal gesagt.«

»Du kannst mich mal!«, schnappte das Mädchen. »Wenn du die Wäsche mal waschen würdest, dann hätte Tobi was zum Anziehen! Und ich auch! Außerdem brauche ich fünf Euro!« Ihr Ton wurde übergangslos freundlich bettelnd. »Fürs Werken. Das habe ich dir doch erzählt.«

Die Mutter warf mir einen kurzen Blick zu und ging den Geldbeutel holen. Ich ahnte, dass sie es in meiner Gegenwart nicht auf ein Gezerfe ankommen lassen wollte. Und Katarina nutzte meine Anwesenheit, um ohne Geschrei an Geld zu kommen. Einzeln zählte Mutter Habergeiß ihrer Tochter die Euromünzen in die Hand. »Und kauf Tobi was zum Frühstück beim Bäcker. Und jetzt marsch! Ihr kommt zu spät!«

Halbwegs befriedet zog Katarina ihrem Bruder die Jacke an und schubste ihn zur Wohnungstür hinaus. »Danke noch mal«, sagte sie, sich kurz zu mir umdrehend. Dann fiel die Tür ins Schloss.

Stille!

Nina Habergeiß raffte den Morgenmantel über dem Busen. Ungebetene Helfer wurde man nur mit Erklärungen wieder los.

»Ich hab Migräne«, murmelte sie. »Ich musste heute Nacht eine Tablette nehmen. Deshalb habe ich heute früh den Wecker nicht gehört.«

So wollte ich mich aber nicht wegschicken lassen. »Das ist doch gelogen! Sie haben getrunken!«

Brillengläser blitzten mich an. »Wie reden Sie eigentlich mit mir, Frau Nerz?«

»Wenn Sie Tobi behalten wollen, dann müssen wir den Tatsachen ins Auge sehen, Frau Habergeiß!«

»Wir?« Sie lachte entrüstet.

Ich schluckte. Jetzt nicht beleidigt sein! Und nicht Aber sagen! »Aber«, sagte ich, »Sie haben doch objektiv ein Problem. Das Jugendamt will Ihnen Tobias wegnehmen. Und zwar weil Sie bereits die Anordnung missachtet haben, den Jungen regelmäßig in den Kindergarten zu schicken. Und die kommen wieder!«

»Und was für ein Problem haben Sie?«

»Wie?«

Sie lächelte halb. »Sie mischen sich in fremde Angelegenheiten ein. Sie drohen den Frauen vom Jugendamt Gewalt an. Natürlich kommen die wieder, mit Polizei und allem. Besser haben Sie es dadurch nicht gemacht. Und jetzt stehen Sie hier und erwarten, dass ich mich bedanke. Alle scheinen zu meinen, nur weil ich Hartz-IV-Empfänger bin, kriege ich nichts auf die Reihe. Alle wissen ganz genau, was ich tun und lassen muss. Würden Sie der Frau Matuschek von unten ins Gesicht sagen, dass sie Alkoholikerin ist?«

Okay. Nina hatte schon gestern früh nicht mit mir reden wollen. Eigentlich hatte ich erwartet, dass sie später bei mir klingelte, um sich zu bedanken, sich mir anzuvertrauen und mit mir zusammen eine Strategie zu entwickeln. Aber ich hatte vergeblich gewartet.

»Dabei könnte ich Ihnen vermutlich sogar helfen«, versuchte ich mich aus der Psychokiste zu retten. »Ich meine, als Journalistin. Wenn ich Ihren Fall öffentlich machen würde …«

»Danke, ich melde mich dann schon, wenn ich das wünsche.«

»Warum wollen Sie nicht mit mir reden?«

»Warum können Sie uns nicht einfach in Ruhe lassen? Sie leben Ihr Leben und wir unseres.«

»Verdammt, Frau Habergeiß! Der Kühlschrank ist leer, es gibt kein Brot. Die Kinder brauchen Frühstück!«

»Gleich unten ist ein Bäcker!«

»Aber …«

»Wissen Sie was, Frau Nerz …«

»Lisa«, sagte ich und lächelte duzhaft.

Sie bemühte sich zu lächeln, brachte es aber kaum fertig. »Frau Nerz, Sie führen sich auf wie die Familienpflegerin vom Jugendamt. Die ging hier durch und sagte: Der Kühlschrank ist leer, die Waschmaschine ist zu alt, das Bad ist zu klein. Es fehle die Badewanne. Kinder müssten baden. Ich habe ihr erklärt, dass Tobias das nicht verträgt. Er hat Neurodermitis. Das hat sie als Ausrede abgetan. Der Junge sei gestresst, er brauche ein geregeltes Familienleben und Erziehung zur Hygiene. Und wenn ich keine Badewanne einbauen lasse, dann … Von welchem Geld?, habe ich sie gefragt. Tja, wenn ich meinen Kindern keine angemessene Versorgung gewährleisten könne, dann müsse man sich andere Lösungen überlegen.«

»Tut mir leid«, sagte ich.

»Gewährleisten!« Die Frau zerkaute das Wort zwischen den Zähnen. »Eine Sprache haben die drauf. Entweder sie reden mit einem, als wäre man ein kleines Kind, oder sie reden in hochgestochenem Amtsdeutsch. Dann sind sie böse. Dann wollen sie, dass man sich klein und dumm fühlt.«

Ungebildet jedenfalls klang Nina Habergeiß nicht, auch wenn ihr die Haare wie welker Schnittlauch auf die Schultern hingen. Da blieb mir nur noch der ehrenvolle Rückzug.

»Okay, Frau Habergeiß, dann …«

Cipión erhob sich und trabte in den Flur zur Tür.