Vergeltung am Degerloch. Der erste Lisa Nerz-Krimi - Christine Lehmann - E-Book

Vergeltung am Degerloch. Der erste Lisa Nerz-Krimi E-Book

Christine Lehmann

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Beschreibung

Über das Buch Der erste Fall für Lisa Nerz: An der Johanneskirche liegt totgeschlagen ein junger Mann. Laut Boulevardpresse wurde er zum Opfer blinder Emanzenwut. Tobt hier der Krieg der Geschlechter? Lisa Nerz, Redakteurin der Frauenzeitschrift »Amazone«, ist skeptisch und zieht ihre eigenen Schlüsse. Gemeinsam mit einem depressiven Trinker vom »Stuttgarter Anzeiger« setzt sie sich auf die Fährte des Opfers. Doch ihre anarchische Ermittlung schlingert in neue Widersprüche – und jemand versucht sie aus dem Weg zu räumen … Wie alles anfing: Lisa Nerz, Deutschlands beste Hardboiled-Krimifigur, schnüffelt in ihrem ersten Fall kalten Fährten nach und schlägt sich auf dünnem Eis zur Wahrheit durch. »Christine Lehmann ist den meisten deutschen Krimischreibern stilistisch haushoch überlegen. Man kann sich diesen Sound nicht antrainieren. Bei Lehmann beruht er auf Menschenkenntnis, Lebenserfahrung, Selbstironie und Belesenheit.«Perlentaucher »Einsam, aufsässig und notorisch respektlos.« Konkret »Christine Lehmann schreibt mit Herz und, eine Rarität im D-Krimi, (Wort-)Witz.« Tobias Gohlis, Die Zeit

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Über das Buch

Der erste Fall für Lisa Nerz: An der Johanneskirche liegt totgeschlagen ein junger Mann. Laut Boulevardpresse wurde er zum Opfer blinder Emanzenwut. Tobt hier der Krieg der Geschlechter? Lisa Nerz, Redakteurin der Frauenzeitschrift »Amazone«, ist skeptisch und zieht ihre eigenen Schlüsse. Gemeinsam mit einem depressiven Trinker vom »Stuttgarter Anzeiger« setzt sie sich auf die Fährte des Opfers. Doch ihre anarchische Ermittlung schlingert in neue Widersprüche – und jemand versucht sie aus dem Weg zu räumen …

Wie alles anfing: Lisa Nerz, Deutschlands beste Hardboiled-Krimifigur, schnüffelt in ihrem ersten Fall kalten Fährten nach und schlägt sich auf dünnem Eis zur Wahrheit durch.

»Christine Lehmann ist den meisten deutschen Krimischreibern stilistisch haushoch überlegen. Man kann sich diesen Sound nicht antrainieren. Bei Lehmann beruht er auf Menschenkenntnis, Lebenserfahrung, Selbstironie und Belesenheit.« Perlentaucher

»Einsam, aufsässig und notorisch respektlos.« Konkret

»Christine Lehmann schreibt mit Herz und, eine Rarität im D-Krimi, (Wort-)Witz.«Tobias Gohlis, Die Zeit

Über die Autorin

Christine Lehmann lebt in Stuttgart und Wangen (Allgäu), ist als Nachrichten- und Aktuellredakteurin beim SWR tätig und schreibt Romane, Kurzkrimis, Kriminalhörspiele (Radio Tatort) und Glossen.

Vorbemerkung von Else Laudan

Wer sagt, dass eine Frau immer und überall weiblich sein muss? Journalistin Lisa Nerz ist in keiner Rolle verhaftbar. Sie überschreitet die Grenzen von Geschlecht und Konvention, weigert sich, bequem in bereitstehende Schubladen zu passen. Notorisch Nerz, das heißt, dass Illusionen zerplatzen und Träume auf der Strecke bleiben. Wie im richtigen Leben. Was zu lachen gibt es trotzdem, denn Lisas Frechheit siegt – wenigstens manchmal.

»Vergeltung am Degerloch« erschien 1997 zuerst bei Rowohlt unter dem Titel »Der Masochist». Für die Ariadne-Ausgabe 2006, auf der diese eBook-Ausgabe beruht, hat Lehmann ihren Krimi liebevoll überarbeitet und mit einem kleinen Auftakt ergänzt. Denn heute – viele Nerz-Fälle später – ist dieser Roman schon historisch: Er erzählt die Frühgeschichte der Lisa Nerz in der Blütezeit feministischer Kultur.

Christine Lehmann

Vergeltung am Degerloch

Lisa Nerz – ihr erster Fall

Roman

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2014

www.culturbooks.de

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Printausgabe: © Ariadne Verlag 2006

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

Erscheinungsdatum: 3.2.2014

ISBN 978-3-944818-37-5

Prolog

Inzwischen ist alles anders. Der genetische Fingerabdruck hat die Ermittlungen revolutioniert. Am Tatort erscheint die KT in weißen Ganzkörperkondomen und sucht nach Haaren und Hautschuppen. Die Frage nach dem Alibi wird überflüssig.

Mittlerweile besitze ich ein Handy und erschließe mir die Daten der Welt übers Internet. Aber die Grundfragen ändern sich nicht. Im Stuttgarter Anzeiger lädt der Damenstammtisch der CDU zu einer zwanglosen Diskussion in die Weinstube Trollinger am Feuersee ein: »Liegt es wirklich an den Frauen, dass nicht genug Kinder geboren werden?« Und gerade vorhin habe ich in der Zeitung noch ein Fragezeichen gelesen: »Mord am Feuersee nach Streit unter Alkoholikern?« Bezieht sich das Fragezeichen auf einen Mord oder auf den Streit unter Alkoholikern? Beides schlösse sich aus. Im Falle eines Streits über die Frage, wer zur Tanke unter der Paulinenbrücke gehen musste, um Alk zu besorgen, wäre es doch wohl nur Totschlag gewesen. Die Leiche allerdings ist eine Tatsache. Sie lag in ihrem Blut an der Toilettenanlage am Feuersee neben der Johanneskirche unweit des Männerwohnheims der Heilsarmee. Neben dem Sterbenden ausgeharrt hat der Zimmernachbar aus dem Wohnheim. Zugeschaut hat er die halbe Nacht, wie dem anderen das Blut aus dem Hals lief und einen Teich bildete, in dem, den Enten gleich, die braunen Blätter, die der Herbstwind pflückte, landeten mit ihren hochgebürzelten Stielen. »Blattenten«, sagt er zur Polizei. Alkoholikerpoesie. Aber erinnern kann er sich an nichts.

Aber ich! Ich erinnere mich.

Dort hat es angefangen. Mit dem Toten am Feuersee. In einem früheren Jahrhundert, mitten in den Neunzigern, als das Klonschaf Dolly geboren und der Rinderwahnsinn auf einmal für den Menschen gefährlich wurde, als Lady Di noch lebte, bevor Harry Potter zaubern lernte und als der Zeppelin am Bodensee wieder zu fliegen begann. In den Jahren der Leggins und Karottenhosen, kurz vor der Wiedergeburt der Siebziger und dem Abba-Mamma-Mia-Wahnsinn im Radio und als wir noch gar keine Ahnung vom Euro hatten.

Aber das Frauencafé Sarah, das gibt es tatsächlich immer noch mit Tanzfrauentee, feministischem Diskurs und Aktzeichnen nur für Frauen. Ich müsste wirklich mal wieder hingehen. Ob es auch noch so aussieht wie damals vor zehn Jahren, als meine Geschichte begann. Und zwar so:

1

Die Frau beäugte mich. »Hasch’n Typ?«

Ich grinste vage. Burschen mit leerem Hosenstall waren nicht unbedingt mein Typ. Ich bevorzugte die kühle, blonde Weiblichkeit mit vollem Hintern, Wasserballonbrüsten und feuchter Verheißung.

»Ich heiße Gabi«, sagte der Bursche.

»Lisa«, sagte ich.

Gabi stand an der Theke des Frauenkulturzentrums Sarah, trug Weste, Hemd und Jeans, hielt die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger, die Glut in den Handteller gekehrt, und schob lässig die Hüfte vor. Sie hatte schwarze Augen hinter einer Brille, aber es war kein Blick von der glühenden exotischen Sorte, sondern er war hart, direkt und misstrauisch gegen sich selbst.

Auf dem Lesbenmarkt entdeckte ich damals gerade meinen Wert wieder. Mit meinem schwarz gefärbten und gegelten Haarkamm, den lila geschminkten Augen und der naturbelassenen Narbe, die mein Gesicht von der Nasenwurzel bis zum Mundwinkel furchte, konnte ich immerhin als harter Bursche durchgehen.

Gabi steckte sich bauarbeitermäßig die Kippe zwischen die Lippen. »Bisch noch Hetero?«

Ich schätzte sie auf zwanzig. Das schwarzbraune Haar trug sie kurz geschnitten. Der männliche Habitus stand, fand ich, eigentlich nur dünnen Frauen ohne Hüften und Titten. Gabi war jedoch stabil gebaut, vermutlich nicht unintelligent und darum rundherum disharmonisch. Aber im Sarah konnte frau es sich durchaus erlauben, die maskuline Wirkung voll auszutesten. Warum auch nicht? Es gab auch Heterofrauen, die hierher kamen, um ihre weibliche Attraktivität zu testen. Sie machten sich vorher stundenlang zurecht, nur um sich hinterher darüber zu beschweren, dass frau nicht mal in einem Frauencafé in Ruhe gelassen wurde.

»Ich hatte mein Coming-out vor drei Jahren«, erklärte sie. »Du kommsch au no auf den Trichter.«

Ich lächelte. Das hatte ich ein paar Jahre zuvor erst wieder lernen müssen, nachdem eine berstende Windschutzscheibe meine mimischen Weichteile zerstört hatte. Ich hatte vor dem Spiegel ein schiefes Seeräubergrinsen eingeübt. Gabi musste im Herzen ein Mädchen sein, wenn sie das interessant fand. Sie streichelte mir die Backe. »Hasch Angst, sag mal?«

Gott ja, ich war fast zehn Jahre älter als sie. Wie stellte sie sich das wohl vor? Alte Lesben beherrschten ausgefeilte Techniken, aber die Jungen verließen sich manchmal gern auf die Erfahrungen und Ideen der anderen. »Liegst du oben oder unten?«

Gabi lächelte etwas. »69.«

Ich schüttelte den Kopf.

Sie wandte sich abrupt ab. Vielleicht auch, weil Zilla aus der Küche kam und ihr einen Teller mit Salat hinstellte.

Zilla beugte sich über die Theke und begrüßte mich mit Küsschen. Petra hantierte mit den Flaschen und blickte kiebig. Sie war Zillas Freundin. Zilla war eine feine Dicke mit Igelhaarschnitt, vollen Lippen und einem Mutterblick. Sie war seit fünf Jahren geschieden und Mutter zweier Kinder, die sie dem Mann überlassen hatte. Seitdem führte sie das Sarah und lebte in einer Altbauwohnung über dem Café. Vor einem Jahr hatte sich Petra in sie verliebt, was ich durchaus verstand. Petra war klein, zerbrechlich und jung. Die gerade ausgestandenen Kräche mit den Eltern standen ihr noch wie Schweißperlen auf der Stirn. Und sie war rasend eifersüchtig. Dass ich nie was mit Zilla gehabt hatte, noch haben würde, konnte sie höchstens mit dem Verstand begreifen. Tapfer lächelnd nickte sie mir zu, wenn ich den Laden betrat, doch ließ sie Zilla und mich nie aus den Augen. Auch Gabi beobachtete uns. Und an einem der Tische saß inmitten von rauchenden und essenden Freundinnen eine Rothaarige, deren grünem Blick ich mittlerweile auch schon mehrmals begegnet war.

»Sag mal«, sagte Zilla, »wer von euch ist denn auf die schwachsinnige Idee gekommen, die Amazone eine Zeitschrift von Frauen für Menschen zu nennen? Der Mensch ist männlich.«

»Louise natürlich«, sagte ich.

Zilla kniff die Lippen zusammen. Sie mochte meine Chefin Louise nicht. Beide kamen aus der achtundsechziger Bewegung. Aber während Zilla sich zunächst in einer bürgerlichen Ehe verzettelte, hatte Louise am feministischen Diskurs gebastelt und die Frauenzeitschrift Amazone zu einem überregional bedeutsamen Blatt ausgebaut. Mittlerweile rechnete sich Zilla zu den autonomen Lesben und hielt Louise vor, sich beim patriarchalischen Establishment anzubiedern, weil sie sich von einer Talkshow zur nächsten weiterreichen ließ.

»Und was sollen die Kontaktanzeigen«, kritisierte Zilla weiter, »Sie sucht Ihn?«

»Louise sagt«, sagte ich, »nicht alle Amazonen seien Lesben. Und ein Mann, der die Amazone liest, sei allemal besser geeignet für eine Amazone, als einer, der den SPIEGEL liest.«

»Wann hörst du endlich auf, für Louise zu schreiben?«

»Ich habe gerade erst angefangen«, sagte ich.

»Schade, dass es die Glamour nicht mehr gibt«, bemerkte Zilla. »Übrigens, Gabi hat ganz nette Artikel geschrieben.«

Gabi blickte absichtlich weg. Zilla schmunzelte.

»Stuttgart hält keine zwei Emanzenblätter aus«, behauptete ich. »Ich habe die letzten drei Monate wieder nur Dreiviertel meines Gehalts bekommen. Wir brauchen halt auch männliche Leser.«

»Wir kommen sehr gut ohne männliche Gäste aus«, sagte Zilla.

Gabi wandte mir jetzt den Rücken zu. Sie hatte einen quadratischen Hintern. Die schwarzen Jeans waren zu neu, um sich sexy anzupassen. Es gab zu viele Reibungspunkte und Leerstellen unter dem Gürtel, der die Männerhosen in der Taille zusammenzurrte.

Zilla lächelte weise. »Hast du dich immer noch nicht entschieden?«

»Na ja«, sagte ich, »wenn ich nicht angemacht werden will, gehe ich ins Jenseits.«

Der Unterschied zwischen dem Schwulencafé und dem Sarah war, dass die Tunten Frauen hereinließen, die Sarahs aber keine Männer. Unlängst hatte es sogar Krach gegeben, weil eine Frau ihren männlichen Säugling mitgebracht hatte.

Das kleine Frauencafé hatte seinen Eingang in der Johannesstraße. Auch an einem Sonntag füllten die Gästinnen – wie Zilla zu sagen pflegte – wenigstens vier der sechs runden Tische und die paar Plätze an der Bar. Es gab genügend Frauen, die sonntags auch mal ohne ihren Freund ausgehen wollten. In einem zweiten Raum fanden gelegentlich Vorträge statt, die durchschnittlich zehn Frauen anlockten. Die Atmosphäre war lila, schwarz und silberspiegelig. Auf der Speisekarte standen damals Milchshakes, Mondsalate und Müslis.

An dem Tisch mit der Rothaarigen, die ihre Augen nicht von mir lassen konnte, saßen drei Studentinnen, deren hübsche Langhaarköpfe und beringte Finger immer wieder in die Blicklinie zwischen der Rothaarigen und mir gerieten. Wenn der Weg wieder frei war, senkte sie die grünen Augen auf ihren Salat.

Zilla verschwand in die Küche.

Bei Petra bestellte ich einen Calvados. Sie sah mich immer an, als hätte sie Grund, Angst vor mir zu haben. Ich war stets versucht, das schmale Geschöpf in den Arm zu nehmen. Es musste sich anfühlen wie ein Vogel in der Hand. Um der Versuchung aus dem Weg zu gehen, zog ich mich an ein leeres Tischchen in der Ecke hinter der Bar zurück.

Gabi kam mir nach – »Darf ich?« – und ließ sich auf den Bistrostuhl fallen. »Du bist doch nicht beleidigt? Ich bin immer so direkt. Das ist vielleicht ein Fehler.«

»Nur wenn man es selber nicht verträgt«, bemerkte ich.

Gabi äugte und überlegte. »Darf ich dich mal was fragen?«

»Wenn es sein muss.«

»Für wen hältst du mich? Ich meine, wer bin ich, deiner Meinung nach?«

»Ein Mädchen, das nicht weiß, welche Rolle es spielen soll.«

Gabi schluckte. »Glaubst du, dass ich nicht normal bin?«

Ich schüttelte den Kopf. »Welpen bespringen sich im Spiel, egal welches Geschlecht sie haben. Aber irgendwann entscheiden sie sich für eine Rolle in der Horde. Deckrüde, Leithündin oder Underdog.«

»Und was bist du?«

»Outsider.«

Gabi starrte auf meine Narbe. »Wer hat dich so ...«

»Vorsicht«, sagte ich, »ich beiße, wenn mir jemand von dieser Seite kommt.«

»Okay, okay.« Gabi hob die Hände. »Ich glaube, das wird nichts mit uns, nicht wahr? Schade. Aber kann man wohl nichts machen.« Sie schaute auf die Uhr, erschrak und stand auf. Sie bezahlte an der Theke, nahm einen Lederblouson vom Kleiderhaken und verließ eilig das Café. Es war elf Uhr.

Ich wurde das Gefühl nicht los, dass es nicht an mir gelegen hatte. Sie hatte ein Schauwerben abgezogen, hinter dem etwas anderes steckte als das, wonach es ausgesehen hatte.

2

Martha brachte den Kaffee. Die ungeheuer runde Sekretärin der Amazone machte den besten Kaffee, den ich kannte. Und sie ließ es sich nicht nehmen, ihn morgens auf die Zimmer zu verteilen und einer jeden Redakteurin ein paar selbst gebackene Plätzchen auf einer Untertasse dazuzustellen. Der stets aufwändige Dank war ein Ritual, das Marthas Hausmuttergesicht zum Lächeln brachte. Sie ging so leise, wie sie kam, umwallt von gemusterten Röcken und Blusen, mit denen sie das Unglück ihres Körpers auftrug.

Ich legte die Füße auf den Schreibtisch und las den Stuttgarter Anzeiger. Im Lokalteil fand ich eine kleine Notiz. Ein Toter in den Grünanlagen an der Johanneskirche. Ein Junge Anfang zwanzig, Jeansanzug, Identität ungeklärt. Die Polizei ermittelte zunächst im Drogen- und Obdachlosenmilieu. Nichts Wichtiges. Es war ja keine Frau gewesen, die tot in einer Grünanlage liegen geblieben war. Allerdings: Wo gab es an der Johanneskirche Grünanlagen? Dort gab es den Feuersee, etwas Gebüsch, einen U-Bahn-Eingang, die neugotische Kirche und öffentliche Toiletten, in denen die Penner hausten. Außerdem war es nicht weit weg vom Sarah.

Louise war abwesend. Ob sie auf Reisen war oder in ihrem Monrepos auf der Schwäbischen Alb weilte, das wusste vermutlich nur Martha. Jedenfalls war es angenehm ruhig. Ich süffelte den Kaffee und knabberte die Plätzchen. Die Kekse waren goldgelb und von geheimnisvoll untergründig würzigem Geschmack. Niemand kannte sich wie Martha in der Alchemie der Zubereitung von Lebensmitteln aus.

Von meinem Fenster aus hatte ich Einblick in das Einkaufsgetriebe der Eberhardstraße. Parkplatzkampf im Schacht zwischen Fünfzigerjahrebauten und dem wuchtigen Schwabenzentrum. Trachtenboutiquen, Sondergrößen ab 42, Juweliere, Glas. Frauen der Größen 36 bis 38 in Kostümen und Wintermänteln der Saison sichteten Pullover, Seidenoveralls und Blusen in den Ständen vor den Boutiquetüren. Ich hörte, dass es klingelte. Martha würde öffnen. Ich gab meiner Bürotür einen Stoß. Fremde Menschen am Morgen waren nicht mein Fall. Die Tür schwang wie üblich zwar entschlossen auf den Rahmen zu, wurde aber von einem Hubbel im Teppich kurz vor der Falle gestoppt. In meinem Hirn gab es den üblichen Klick von Frust. Seit ich hier arbeitete, wünschte ich mir knallende Türen.

Im selben Moment ging die Tür wieder auf. Marthas sorgenvolles Gesicht erschien. Hinter ihr drängelte, jegliche Körperdistanz missachtend, Gabi. Martha schien es zu missbilligen, konnte aber nichts mehr ändern.

Es war noch nie vorgekommen, dass mir eine Lesbe, die sich in mich vergafft hatte, bis ins Büro nachgestiegen war. Das versprach unangenehm zu werden. Ich flegelte.

Gabi sah ganz anders aus als vor zwei Tagen. Schwer zu sagen warum. Sie trug immer noch diese schwarzen Jeans, dazu diesmal einen hellblauen Sweater, aber sie sah nicht im Mindesten nach dem Burschen aus, der mir am Sonntagabend auf den Leib gerückt war. Ihre Hände zitterten. Ein schlechtes Zeichen. Auch unter Frauen kosteten Liebeserklärungen anscheinend Überwindung. Und offenbar ging es um existenzielle Fragen, denn Gabis schwarze Augen nahmen das beeindruckende Chaos und den Dreck um mich herum nicht wahr. Ich legte Wert auf Kaffeebecherränder auf Schreibtischholz, überquellende Aschenbecher mit Höfen von Asche, Papier mit Kekskrümeln und Staubflocken in der Schreibmaschine. Schmuddelig war ich mir selbst am nächsten.

»Zur Sache, Schätzchen«, sagte ich.

Gabi brach ohne Umschweife in Tränen aus. Auf ihren kindlichen Backen entstanden rote Punkte. Der Riechkolben schwoll zu einer Tomate an.

Ich nahm erst mal die Füße vom Tisch. Gabi konnte schließlich nichts dafür, dass ihre Sehnsüchte sich nicht mit den realistischen Möglichkeiten deckten. Auch ich hatte meine Jugend in einem Quallenzustand von Wollen und Nichtkönnen verbracht, beschränkt auf Onaniephantasien und einen unbeschälten Welpenkörper.

»Was ist denn los?«, fragte ich sanft.

Gabi wischte sich die Augen aus und zog den Rotz hoch.

»Nun red schon, Mädel.«

»Ich ...«, schluchzte sie, »ich hab ihn erschlagen.«

»Wen?«

»Er hatte ein Messer.«

Ich überlegte. »Du redest doch nicht von dem Toten an der Johanneskirche, oder? Von einem Messer stand nichts in der Zeitung.«

Gabi wischte sich die Augen. »Aber er hatte ein Messer. Ich wollte ihn nicht totmachen. Aber plötzlich lag er da. Was soll ich denn jetzt tun? Die Polizei war schon bei Zilla.«

»Quatsch«, sagte ich. »Die Polizei ermittelt in Dealerkreisen. Die müssen Drogen bei dem Jungen gefunden haben.« Ich griff dennoch zum Telefon. Zilla war nicht in ihrer Wohnung, dafür aber unten im Café.

»Sag mal«, sagte ich, »meine Zuträger flüstern mir, dass die Polizei bei dir war.«

Zilla lachte heiter und schön. »Ach das! Wer hat dir das erzählt? Das war nur das Übliche. Irgendwelche Nachbarn haben sich wieder mal beschwert, weil eine der Frauen mit ihrem Motorrad durch die Straße geheizt ist.«

»Also kein Grund, zu einem längeren Artikel über Diskriminierung auszuholen.«

»Das kommt alle paar Monate vor. Aber wenn du noch eine Geschichte für die Amazone brauchst ...«

»Danke. Wir sind im Prinzip voll.«

Zilla schluckte. Ich legte auf.

Gabi hing mit roten Hundeaugen an mir. »Ich habe ihn ermordet.«

»Mord heißt Niedertracht und Berechnung.«

»Jetzt muss ich ins Gefängnis. Das halte ich nicht aus!«

»Unsinn! Oder kanntest du den Jungen?«

Gabi schüttelte heftig den Kopf.

»Dann kommt die Polizei auch nicht auf dich.«

»Aber ich habe meine Brille verloren.«

Ich bezweifelte, dass die Polizei Gabi aufgrund eines Kassengestells identifizieren konnte. Andererseits hatten die Optiker der Stadt natürlich Karteikarten.

»Was ist denn wirklich passiert?«

Gabi schluchzte auf. »Ich wollte zur U-Bahn. Plötzlich steht er vor mir. Ich war wie gelähmt. Ich dachte nur: Jetzt bist du dran. Jetzt ist es so weit. Jetzt geht es dir wie all den anderen Frauen. Du bist fällig. Ich glaube, ich habe ihm einen Stein über den Schädel gehauen.«

»Woher hattest du den Stein?«

»Die bauen da irgendwas. Ich war wie in Trance. Ich habe überhaupt nichts mehr mitgekriegt. Ich bin heim und gleich ins Bett und habe gar nicht darüber nachgedacht. Es war alles wie weggeblasen. Erst als ich das heute früh in der Zeitung las, da ist es mir wieder eingefallen. Ich dachte doch nicht, dass er tot ist!«

»Und wie war das mit dem Messer?«

Gabi angelte eine feuchte Strähne aus dem Gesicht – selbst ihre Haare wirkten heute länger – und stierte auf meine Füße. »Er muss doch ein Messer gehabt haben, sonst hätte ich doch niemals ... Ich meine, ich wäre doch nie auf die Idee gekommen, dass er mir was tun will.«

»Und warum kommst du zu mir?«

Vor mir hockte das Unglück in Gestalt einer von Angst und Verwirrung überforderten Studentin, deren verheulter Blick an meine nicht vorhandene Mütterlichkeit appellierte. Wenn man es genau betrachtet, verfügte ich damals eigentlich über keinerlei soziale Fähigkeiten. Das Unglück einer missglückten Ehe hatte mich gerade eben aus einem Dorf am Albtrauf in die Stadt katapultiert, die nicht mehr von mir verlangte, als dass ich in der Straßenbahn schwieg und an der Kasse eines Supermarkts bezahlte. Ich hielt es für nicht ganz ausgeschlossen, dass das, was Gabi Sonntagabend im Gebüsch an der Johanneskirche angerichtet hatte, die Kurzschlusshandlung einer pathologischen Fehleinschätzung gewesen war. Doch das bleibt unter uns. Selbstverständlich hegen wir keinen Verdacht gegen Frauen.

»Erst wollte ich nicht kommen. Aber dann dachte ich, du bist doch die Einzige, die das versteht ...«

»Was soll ich verstehen?«, fragte ich alarmiert.

Gabi blickte zur Tür, die einen Spaltbreit offen stand, und senkte die Stimme. »Das kann ich jetzt nicht erklären, nicht hier. Könnten wir nicht ... irgendwohin gehen?«

Ich stand auf. »Unten, gegenüber gibt es ein Bistro.«

Martha trat uns in den Weg, als wir durchs Sekretariat kamen, durch das jeder Weg von den Büros zur Redaktionstür führte.

»Wo wollt ihr hin? Es ist gleich Konferenz.«

Ich hatte keine Zeit, mich über den familiären Ton zu wundern, denn Gabi fauchte sofort ebenfalls ziemlich familiär: »Das ist unsere Sache!«

Martha fuhr zurück. »Bitte. Ich wollte ja nur sagen, dass die Redaktionskonferenz in fünf Minuten anfängt.«

»Dann seien Sie bitte so gut und entschuldigen Sie mich bei Marie«, sagte ich.

Doch Gabi war inzwischen gänzlich kopfscheu. »Nein, ist schon gut. Ich komme schon allein zurecht. Entschuldige, dass ich dich gestört habe. Wird nicht wieder vorkommen.«

Im nächsten Augenblick war sie zur Tür raus.

»Was hat sie denn?«, fragte Martha großäugig.

»Probleme«, sagte ich.

Ich hätte wirklich gleich drauf kommen können, worin Gabis Hauptproblem lag, aber ich dachte zu wenig darüber nach.

3

Am folgenden Tag rief mich Zilla an. Gabi war festgenommen worden. Sie hatte am Abend im Sarah damit geprahlt, einen Vergewaltiger erschlagen zu haben. Psychisch ein bisschen instabil, das Mädchen. Zwar hatte ihr niemand wirklich geglaubt, aber heute früh hatte dann Gabis Freundin Hede Zilla angerufen und mitgeteilt, dass Gabi zur Polizei gegangen sei, um sich zu stellen, obgleich Hede ihr dringend davon abgeraten hatte. Offenbar steckte Gabi noch massiv in der Trotzphase.

Ich versprach Zilla, mich darum zu kümmern, und bereute es sogleich. Es widersprach meiner Faulheit, meinem Mangel an Initiative und meinen geringen journalistischen Erfahrungen.

Die nächstliegende Idee war, beim Stuttgarter Anzeiger anzurufen und den Mann zu verlangen, dessen Kürzel Krk unter dem Artikel über den Toten an der Johanneskirche gestanden hatte. Der, den ich nach einer Weile Durchschalterei und Gesinge, Getöse und »Bitte warten, please hold the line« am Ohr hatte, bellte »Kraus« in meinen Kopf. Er hatte eine Stimme zum Kotzen – wie man im Schwäbischen zum Räuspern und Husten sagte –, kurz: eine derartig verfroschte Stimme, dass ich mich unbedingt selbst erst einmal freihusten musste. »Lisa Nerz, Amazone.«

Ein schmutziges Lachen. »Oh! Welche Ehre!«

»Ich rufe an«, sagte ich, »wegen des Toten an der Johanneskirche. Haben Sie da nähere Informationen?«

Der Mann räusperte sich. »Und warum rufen Sie nicht bei der Polizei an? Soll ich Ihnen die Nummer des Pressesprechers geben?«

»Danke«, log ich, »der hat mir praktisch nichts gesagt.«

»Ich bin kein Auskunftsbüro«, hustete Krk.

Ich stellte mir einen fetten alten Reporter vor, den man nach jahrelanger Faulheit, Sauferei und Unfähigkeit zu den Polizeiberichten abgeschoben hatte.

»Wie wär’s mit ein bisschen Amtshilfe unter Kollegen?«, säuselte ich.

»Und was kriege ich dafür?«

»Ich weiß zum Beispiel, dass in der Sache jemand festgenommen worden ist.«

»Das wird mir das nächste Polizeifax auch mitteilen. Was weiter?«

»Erst Ihre Informationen.«

Es war einen Moment still. Das heißt, ich hörte ihn röcheln. »Na gut. Wenn Ihnen damit gedient ist ... Moment ...« Ich hörte es krusteln, dann das Klappern einer Computertastatur. »Ein Junge, Identität ungeklärt, Anfang zwanzig, Jeansanzug ...«

»Ich habe die Zeitung gelesen«, unterbrach ich. »Wurde ein Messer am Tatort gefunden?«

»Soweit ich weiß, nicht. Was hat Ihnen denn die Polizei gesagt?«

»Nichts.«

»Dann haben die auch kein Messer gefunden. Warum sollten sie das verschweigen?«

»Aus ermittlungstaktischen Gründen?«, schlug ich vor.

Krk hustete, nein, er lachte. »Ach Gott. Wenn Sie den Täter schon haben, wozu dann noch Ermittlungstaktik. Und nun sagen Sie mal, was Sie wissen.«

»Noch weniger.«

»Ein bisschen müssten Sie mir schon entgegenkommen.«

»So sehen Sie aus!«

»Dann«, sagte er, »schlage ich Ihnen Folgendes vor: Ich recherchiere ein bisschen für Sie und wir treffen uns heute Abend.«

Das hatte er sich so gedacht. Aber ich mäßigte meine Aversionen. Ich gehörte nicht zu den Journalistinnen, die ihre Geschichten auf der Straße suchten oder herbeirecherchierten. Ich hatte meinen Bau in den Räumen der Amazone. Was sich nicht vom Schreibtisch aus machen ließ, machte ich nicht. Mein Ansehen war das Ergebnis meiner Faulheit. Ich zog es vor, mir etwas auszudenken, als es zu erfragen. Ein Artikel über Witwen, für den ich sämtliche Interviewpartnerinnen erfunden hatte beim Versuch, meine eigenen Gefühle nach dem Tod meines Ehemannes zu erledigen, hatte vor zwei Jahren Louises Neugierde geweckt und mir den Eintritt in die Redaktion verschafft. Leider hatte ich nun Gabi und Zilla irgendetwas versprochen, was nach Hilfe klang. Engagement hatte seinen Preis.

»Also gut. Wo treffen wir uns?«

»Da lasse ich Ihnen völlig freie Hand.«

Ich schlug den Tauben Spitz vor. Im Bohnenviertel kannte sich einer wie Krk aus.

Martha streckte den Kopf zur Tür herein. »Übrigens, Louise hat angerufen. Sie kommt morgen.«

Das bedeutete Konferenzen, Wiederaufwärmung längst abgegessener Themen, Rauswürfe bereitliegender Artikel, Umschmiss des ganzen Heftes, neuer Leitartikel, neuer Kommentar von Louise, hektische Materialbeschaffung aus Archiven, schweinische Arbeit und Überstunden. Meistens waren es die Artikel aus meiner Redaktion, die plötzlich überflüssig wurden, denn ich war für die Kultur zuständig und dafür, meine Autorinnen mit plausiblen Aktualitätsargumenten zu vertrösten. Die Grafikerin Brigitte bekam die Existenzkrise, die Cartoonistin Bettina nagte am Bleistift und übersetzte den Unmut in Bilder und unsere stellvertretende Chefin Marie behielt die Nerven.

Ohne Frage brauchte die Amazone Louise. Erstens war es ihr Blatt, zweitens ihr Geld. Aber wenn Louise fern blieb, entweder auf Urlaub, auf Lesereise, zu Fernsehterminen oder wegen dringend nötiger Depressionsphasen auf ihrem Monrepos, dann blühte die Redaktion auf wie ein Wüstengarten unter Bewässerung. Die zarte Helga schrieb böse Glossen, Martha buk wunderbare Plätzchen und kochte herrlichen Kaffee, Brigitte bastelte Layouts, bei denen man sich der Banalität der eigenen Texte schämte, und Marie verfasste kühle, sogar von der Männerpresse beachtete Reportagen über Frauen in Politik und Wirtschaft, die Rechenkünste und das Alltagsmanagement von allein erziehenden Müttern und sexistische Modefotografie.

Ich dagegen arbeitete weder besser noch schlechter, wenn Louise da war, denn ich arbeitete so wenig wie möglich. Ich hatte mich vor zwei Jahren auf gut Glück als Sekretärin bei der Amazone beworben – Fremdsprachenkenntnisse vorhanden – und war von Louise empfangen worden. Aus irgendeinem Grund hatte sie sich zu meiner Mentorin aufgeworfen, ohne mich ins Bett gezogen zu haben. Seitdem waren gerade einmal drei Artikel von mir in der Amazone erschienen, einer über Christa Wolf, einer über die Galerie Mondin, die kurz darauf einging, und einer über das Frauenkulturzentrum Sarah, anlässlich dessen Louise mich ermahnt hatte, mich nicht mit den Objekten meiner Arbeit zu solidarisieren. Den Veröffentlichungen waren lange Diskussionen vorausgegangen und ich hatte sie ein halbes Dutzend Mal umschreiben müssen. Auch meine Aufträge an unsere freien Autorinnen ergingen erst nach umständlicher Instruierung und wurden sowieso von Louise gegengelesen. Als Redakteurin war ich überflüssig, als Autorin eine Niete und als Mensch unerheblich.

Martha goss die Blumen.

Marie saß in ihrem Büro an der Schreibmaschine, die blonden Haare hinterm Ohr, eine rote Bluse um die straffen Schultern, knappe Jeans. Sie war kompetent, unbestechlich, logisch, aufrichtig, zupackend und intelligent, außerdem schön, sportlich, weiblich, klar und gerade, ohne modischen Kleinkram und so wunderbar blauäugig, dass keine schmutzigen Gedanken aufkamen.

Sie blickte auf. Ich störte.

»Was gibt’s?«

Selbstverständlich herrschte Ordnung in ihrem Büro.

»Ich bin da an einer Geschichte dran«, sagte ich. »Kennst du eine gewisse Gabi?«

»Meinst du Gabriele Weiß, Marthas Tochter?«

»Ach du Scheiße!« Das war es, was mir gestern bei Gabis Besuch so komisch vorgekommen war. Die Distanzlosigkeit.

»Sie ist unter Mordverdacht festgenommen worden«, erklärte ich.

Marie blinzelte nicht.

»Sie soll einen Jungen auf der Straße erschlagen haben. Gabi sagt, der Junge habe sie mit einem Messer angegriffen. Aber die Polizei hat wohl kein Messer gefunden. Gabi hat sich selbst gestellt. Soll ich dranbleiben?«

Marie nickte. Sie schien mit ihren Gedanken woanders. »Wir reden morgen drüber, wenn Louise da ist, ja?«

Martha putzte den Kühlschrank in der Küche, die wir im ehemaligen Badezimmer der zum Büro umorganisierten Fünfzimmerwohnung untergebracht hatten. Mit resolutem Blick sackte sie Joghurtbecher jenseits des Verfallsdatums, verschimmelte Käseecken und Reste eines Büfetts in eine Tüte.

»Das mit Gabi tut mir leid«, sagte ich.

»Was ist denn mit ihr?«

»Ach, dann wissen Sie es noch gar nicht. Gabi ist zur Polizei gegangen und hat erklärt, sie habe diesen Jungen umgebracht, der am Feuersee gefunden wurde.«

Martha ließ den Putzlappen ins Spülwasser sinken. »Mein Gott, warum denn?«

»Ich denke, es war Notwehr.«

Martha sprach nie viel. Ihre Domäne war die stille liebevolle Dienstbarkeit. Sie hatte sämtliche Termine Louises im Kopf, alle wichtigen Telefonnummern, die kulinarischen Vorlieben und Abneigungen aller Menschen, mit denen sie zu tun hatte, und organisierte unauffällig und effizient das soziale Leben der Redaktion. Immer war Kaffeesahne da, stets Kaffee, Süßstoff und Zucker. Hitzige Konferenzen kühlte sie mit Plätzchen und Säften ab. Und wenn Louise in Lobeshymnen ausbrach, lächelte sie nur und wallte stumm von dannen. Nach einigen Monaten hatte auch ich meine Bedenken gekillt, dass wir Amazonen uns eine Redaktionsmutti hielten. Es war einfach zu schön, wenn sich jemand um die alltäglichen Kleinigkeiten kümmerte.

»Das hat wohl so kommen müssen«, seufzte sie und zog den triefenden Lappen wieder aus dem Wassereimer. »Was treibt sie sich auch immer dort herum!«

Wahrscheinlich war es gut, dass die Sekretärin so selten mitredete. Ihre geistige Welt entsprach nicht dem aufgeklärten Standard, den wir pflegten.

»Auch Frauen haben das Recht, jeden Ort in der Stadt zu jeder Zeit ohne Gefahr für Leib und Leben aufzusuchen«, sagte ich.

Martha widersprach nicht. Sie widersprach selten. Sie dachte sich ihren Teil und wischte den Kühlschrank aus.

»Machen Sie sich keine Sorgen. Wir holen Ihre Tochter da wieder raus«, sagte ich. Wieso hatte ich nur den Eindruck, als wäre Martha das nicht recht?

Den Nachmittag über bewegte ich in meinem Hirn das Konzept einer Polemik gegen öde Unterführungen, einsame Grünanlagen und die zynische Empfehlung der Polizei an Frauen, stets wachsam zu sein. Dann meldete ich mich zur Recherche ab.

Es war feuchtkalt draußen. Den Menschenmassen nach zu schließen, die mit bösen Mienen und dicken Tüten herumschusselten, war Weihnachten ziemlich nahe. Vom Markt wehten Brandmandeldüfte herüber. Beim Kaufhaus Breuninger verteilte ein Weihnachtsmann Parfümproben, aber nicht an mich. Ein Mann in Lederjacke prallte gegen mich. Ich hatte ihn kommen sehen und den Ellbogen ausgefahren. Es riss ihn um seine eigene Achse. Ein Sekundenbruchteil flight or fight, dann entschuldigte er sich erschrocken. Seit ich aufgehört hatte, auf der Straße entgegenkommenden Männern auszuweichen, kam es immer wieder zu Zusammenstößen. Die meisten Männer waren unfähig, einen Zusammenprall vorherzusehen.

Ein System von Ladenpassagen, Treppen, Rolltreppen und kleinen Plätzchen leitete mich unter das Schwabenzentrum. Hier vereinigten sich die Einkaufsströme aus den großen Kaufhäusern mit Obst- und Blumenverkäufern, Zeitschriftenhändlern und um Pfennige singenden Bettlern mit struppigen Hunden. Ein Teil zweigte an den Kassenautomaten ins Breuningerparkhaus ab. Der schäbigere Rest fand sich in dämpfigen U-Bahnen ein, die sich unter der Innenstadt hindurchtunnelten. Charlottenplatz, Staatsgalerie, Neckartor. Dort zuckelte die Bahn in den Winterabend hoch zum Stöckach in der Neckarstraße. Im Vorteil-Discount volle Einkaufswagen mit Großpackungen von Taschentüchern, Klopapier und Dosentomaten. Ich beschränkte mich auf ein Netz Orangen. Seitdem ich im dritten Stock wohnte, hatte ich mir Großeinkäufe abgewöhnt.

Meine Holzdielenwohnung mit ihren zugigen Fenstern und einem staubigen Gasofen im Zentrum teilte ich mir mit einer Kaffeemaschine, einem Kühlschrank, einem Kleiderschrank, einem Bett, einem Fernseher, einigen Kisten Büchern und diversen Kosmetikartikeln. Ich schwang die Orangen auf die Spüle, die ich beim Einzug vor einem Jahr zusammen mit dem Küchenmobiliar und einer Bastverkleidung am Ofen für sechstausend Mark hatte ablösen müssen. Noch fehlte mir ein Tisch. Aber ich stand in Verhandlungen mit Sally, die einen übrig hatte.

Ich stellte den Fernseher an, damit ein wenig Farbe in den Salon kam. Das Fenster ging auf einen Hinterhof, in dem ein KfZ-Betrieb seine Heimstatt hatte. Vom Küchen- und Schlafzimmerfenster hatte ich einen schönen Ausblick auf die Haltestelle Stöckach und den Bunker der Staatsanwaltschaft gegenüber.

Ich hatte genügend Zeit, mich aufzustylen. Nach einer Stunde konnte ich als Star des Films Eine Frau steht ihren Mann aus dem Haus gehen: dunkler Anzug, Weste, Binder, Krawattennadel, Taschentuch in der Brusttasche, Schulterklappentrenchcoat, streng gekämmte Haare, Narbe im Gesicht.

Stadteinwärts war die Straßenbahn leer. Die Hausfrauen kochten jetzt, und die Jugend von damals war noch nicht ins Kino aufgebrochen. Alle anderen hatten sowieso ein Auto. Ich besaß auch eines, aber ich bewegte es ungern, um meinen Parkplatz nicht zu gefährden.

4

Es gibt Leute, die erkennen einen Lehrer zehn Meter gegen den Wind oder Theologen am Hinterkopf. Ich erkannte Journalisten am fragenden Blick. Am Eingang zum Tauben Spitz zwischen Rotlichtareal und Fresskulturregion in der sogenannten Altstadt stieß ich mit einem solchen Exemplar zusammen. Obgleich ich mir Krk als aufgedunsenen Alten mit Tomatensoßenflecken auf der Krawatte vorgestellt hatte, identifizierte ich ihn sofort. Ein verlebter Vierziger, nicht groß, aber grobknochig, schwarz behaart, außer auf dem Schädel, wo ein grauer Filz wucherte, schlecht rasiert. Er hatte ein kantiges Gesicht mit großer Nase, gefurchter, breiter Stirn, unruhigen Linien und sagenhaft großen grauen Augen, die träge und feucht auf- und zuklappten. Er war nicht gerade dünn, aber auch nicht dick. Vermutlich trank er und rauchte, aß aber nichts.

»Hoppla«, sagte er und zog den Bauch ein.

»Sie sind Herr Kraus«, sagte ich. »Ich bin Lisa Nerz.«

»Aha!«

Er hatte eine verhärmte Lesbe in unübersichtlichen lila Röcken erwartet. Die Umstellung auf das andere Vorurteil dauerte ein paar Sekunden. Nun wusste er nicht, ob er mir die Tür aufhalten durfte oder nicht. Ich stürmte großzügig das Lokal. Unter der Decke schwebten blaue Schwaden. Um die großen Rundtische duckten sich die Leute Schulter an Schulter unter tief hängenden Kupferlampen. Geschmälzte Maultaschen geisterten an meiner Nase vorbei. Krk prallte zum zweiten Mal auf mich, weil ich plötzlich stehen geblieben war.

»Oh! Entschuldigung.« Seine Augen glitten skeptisch über die Hockenden. »Ob wir hier Platz finden?«

Ein guter Journalist, der die richtige Frage zur richtigen Zeit stellte.

Sally winkte hinter dem Tresen. Sie zapfte gerade Bier. Am Tresen waren noch zwei Barhocker frei. Sally blinzelte mir zu. Die üppigen blonden Locken hatte sie nach hinten gebändigt.

»Hallo, wie geht’s?«, fragte sie. Ihre blauen Augen hüpften zwischen mir und Krk hin und her.

»Es geht so«, antwortete Krk. »Und Ihnen?«

Offenbar hatten Krk und ich eine gemeinsame Bekannte. Sally hatte einst als Sekretärin im Stuttgarter Anzeiger gearbeitet, ehe sie zum SDR wechselte, der inzwischen SWR heißt. Gleichzeitig jobbte sie im Tauben Spitz und in der Praxis eines Kinderarztes. Sie brauchte immer Geld für Kosmetikartikel, Fußreflexzonenmassage, die Menagerie von drei Katzen und einem Hund, mit der sie in einer kleinen Dachgeschosswohnung zusammenlebte, und den Tierarzt. Jetzt nahm sie ein Reserviert-Schildchen von einem Zweiertisch in der Ecke beim Spielautomaten und lud uns ein, Platz zu nehmen. »Was darf ich bringen?«