Allmachtsdackel. Kriminalroman - Christine Lehmann - E-Book

Allmachtsdackel. Kriminalroman E-Book

Christine Lehmann

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Beschreibung

Als Richard Webers Vater mit 84 das Zeitliche segnet, begleitet Lisa Nerz ihren Gefährten in seine Heimatstadt. Dort wird sie prompt zur Frontberichterstatterin im kalten Krieg der Familie, und das Waagenstädtchen Balingen erweist sich als Grenzland. Staatsanwalt Weber spielt Flügelhorn für eine Herde wilder Kühe, die protestantische Ethik spielt verrückt, und Lisa Nerz spielt voll auf Risiko. »Ganz stark! Ein Kommentar zur globalen Situation, situiert im Schwabenland. Christine Lehmann kann das, souverän und überzeugend.« kaliber38 »Eine provokante, schnoddrige, nie slangprotzige Sprache ... Lehmann lässt ihre Heldin weder ihre Gewöhn-dich-dran-Manieren noch ihr Rempelmaul zügeln. Gerade dass es uns nicht recht gemacht werden soll, bindet uns an die Figur.« Stuttgarter Zeitung

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Seitenzahl: 488

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Über das Buch

Als Richard Webers Vater mit 84 das Zeitliche segnet, begleitet Lisa Nerz ihren Gefährten in seine Heimatstadt. Dort wird sie prompt zur Frontberichterstatterin im kalten Krieg der Familie, und das Waagenstädtchen Balingen erweist sich als Grenzland.

Staatsanwalt Weber spielt Flügelhorn für eine Herde wilder Kühe, die protestantische Ethik spielt verrückt, und Lisa Nerz spielt voll auf Risiko.

»Ganz stark! Ein Kommentar zur globalen Situation, situiert im Schwabenland. Christine Lehmann kann das, souverän und überzeugend.« kaliber38

»Eine provokante, schnoddrige, nie slangprotzige Sprache ... Lehmann lässt ihre Heldin weder ihre Gewöhn-dich-dran-Manieren noch ihr Rempelmaul zügeln. Gerade dass es uns nicht recht gemacht werden soll, bindet uns an die Figur.« Stuttgarter Zeitung

Über die Autorin

Christine Lehmann lebt in Stuttgart und Wangen (Allgäu), ist als Nachrichten- und Aktuellredakteurin beim SWR tätig und schreibt Romane, Kurzkrimis, Kriminalhörspiele (Radio Tatort) und Glossen. Mehr Informationen finden Sie auf ihrer Homepage.

Christine Lehmann

Allmachtsdackel

Der 6. Lisa-Nerz-Krimi

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2016

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Printausgabe: © Argument Verlag 2007

Lektorat: Iris Konopik

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: 17.05.2016

ISBN 978-3-95988-049-7

Vorwort

Kriminalromane mit literarischem und sozialkritischem Anspruch – geschrieben von Frauen. Ist das überhaupt zeitgemäß? Feministische Kritik an Gesellschaft ist out. Der neoliberale Mythos von Erfolgschancen für jeden hat sich längst auf beide Geschlechter ausgedehnt. Die zunehmende soziale Schere stellt Frauen keineswegs besser. Trotzdem haben patriarchale Glücksversprechen wieder Konjunktur. Das im Konsumzeitalter so wichtige Selbstverkaufsdesign begünstigt die alten Klischees: Dress for success – Frauen, seid feminin. Unsere Lisa Nerz aber unterläuft alle Identitäts-Schablonen, was im »Allmachtsdackel« für Spannung und Komik sorgt. Nerz fügt sich in keine Rolle, der typische Situationswitz entsteht, weil sie die normalen Erwartungen klar erkennt und geradezu sportlich unterläuft. Das ist für uns subversiv im allerbesten Sinn. Glaubt man den begeisterten Kritiken, ist es sogar zeitgemäß. Krimiblog.de zum »Allmachtsdackel«: »Souverän führt Christine Lehmann ihre skurrilen Figuren durch dieses moderne Bauerntheater. Meisterhaft inszeniert sie einen Krimi vom Lande, der nichts gemein hat mit der weit verbreiteten romantisierenden Heimatliteratur deutscher Krimiautoren. So ist Lisa Nerz keine glatt gebügelte Superschnüfflerin und Sympathieträgerin, sie ist ein unbequemes, nervendes Miststück. Genau das braucht spannende Kriminalliteratur: Figuren, die bunt bis schrill schillern und glaubwürdig gestaltet sind. Doch es sind nicht nur die Figuren, die Lehmanns Krimis haushoch aus dem trüben Allerlei der deutschen Kriminalliteratur hervorstehen lassen. Da sind ihre Sprachspielereien, die über bloßen Wortwitz hinausreichen. Es sind wunderbar geformte Bilder aus der Wirklichkeit, literarischer Realismus verdichtet in wenigen Worten. Da ist ein geschickt verflochtener Plot, der zwischen Trauer und Komik pendelt und von der Autorin zu einem knallharten und packenden Ende geführt wird. Klar und ohne moralischen Zeigefinger: Christine Lehmann schreibt ausgeklügelte, witzige und kunstvolle Krimis mit Klassikerqualität.«

Else Laudan

1

Ich hatte sie die Max-und-Moritz-Toten getauft. Damals in meinem ersten Artikel für die Sonntagsbeilagen als Schwabenreporterin Lisa Nerz kurz nach meinem Rauswurf beim Stuttgarter Anzeiger. Anfang der Sechziger war ein Bub in Weilstetten vom Mähdrescher zerdroschen worden, in den Siebzigern wurde ein Bursche in Balingen von der Schneckenwelle in die Stotzinger Mühle gezogen und zermahlen. In den Neunzigern hatte ein betrunkener Konfirmand in einer Hecke seinen Rausch ausschlafen wollen und wurde vom Hochleistungshäcksler eines Erzinger Bauern zerstückelt, und vor fünf Jahren versprühte ein Bauer in Heselwangen mit seiner Gülle Knöchlein auf dem Feld.

Ich löschte die alten Geschichten von meinem Computer. Es gab so Endzeittage, gerne freitags. Seit Wochen dörrte der Sommer Felder und Gehirne aus. Der Stuttgarter Kessel hustete Feinstaub und schwitzte Kohlendioxid. Die Glasfassaden der neuen Autohäuser, die zusammen mit dem Roten Kreuz den Bunker der Staatsanwaltschaft bedrängten, spiegelten erbarmungslos die Sonne in den Schacht der Neckarstraße. Nur Cipión wollte unermüdlich Gassi.

Ich fuhr nach Degerloch hinauf, aber auch der Wald versagte die Kühlung. Meinem Rauhaardackel hing alsbald die Zunge so weit aus dem Maul, dass ich befürchtete, er werde drauftreten. Ich kürzte über den Dornhaldenfriedhof ab, direkt an den RAF-Gräbern mit den beiden vaterlosen Söhnen und der Pfarrerstochter vorbei. Gott ja, dreißig Jahre war das jetzt auch schon her, dass man sie mit den Füßen voran aus der JVA Stammheim getragen hatte.

Viertel vor acht schlüsselte ich mich frisch geduscht und neu verschwitzt im silbergrauen Leinenanzug, rosafarbenem Seidenhemd mit hellgrüner Krawatte, braunweißen Golfschuhen und Diamantknopf im Ohr in die Wohnung von Dr. Richard Weber, der in der Kauzenhecke 6 B in nobler Halbhöhe am Haigst sein Stockwerk mit einem Bechsteinflügel und Jugendstilstuck teilte.

»Wozu habe ich eigentlich einen Spamfilter«, fluchte er und löschte. »Für so was bin ich zu prüde.«

Da hatte ich es als gelernte Katholikin leichter. Ein sündiger Blick und dann die Beichte. »Beide so offen und versaut wie andere Girls, nur dass sie Mutter und Tochter sind. Die schwanzgeilen Luder machen sich sogleich über den dicken Lümmel her.«

»Hoffentlich ist die Kleine nicht minderjährig!« Der Staatsanwalt witterte Straftatbestände und wurde nervös.

»Wann müssen wir dort sein?«, erkundigte ich mich.

»Um acht.« Richard klickte seinen Computer ins Aus. Er trug einen cognacfarbenen Anzug, ein cremefarbenes Hemd, eine kupferfarbene Krawatte und italienische Slipper.

»Dann aber hurtig. Wir kommen zu spät! Was ist denn heute los mit dir?«

Cipión hob den Kopf. Er lag, wie nur ein Hund sich betten konnte, zwiespältig und unbequem auf der Schwelle der Balkontür, den Hintern auf dem Teppich im Zimmer, den Kopf auf den Balkon und die Nase in den Lüften, die aus der Stadt heraufstrichen.

»Gehen wir zu Fuß?«, schlug Richard vor. »Ein bisschen Bewegung tut uns gut.«

Bis zum Restaurant waren es nur ein paar hundert Meter die Alte Weinsteige hinunter, an Zäunen und steilen Hangstücken entlang, begleitet vom Ausblick über den Kessel hinweg bis hinüber zu den Weinhängen des Schnarrenbergs mit der Esse der Müllverbrennungsanlage im Licht des Abends, der die Sonne nicht gehen lassen wollte. An der Haltestelle, an der zweigleisig die Begegnung der Zahnradbahnen geregelt wurde, duckte sich stadtseitig im Hang der Flachbau des Restaurants Wielandshöhe.

Das Entree war taktvoll gekühlt, das Lächeln der Empfangsdame sonnig. Vincent Klink materialisierte sich aus den Tiefen der Küche und begrüßte Richard per Du. Sicher nicht aus Freundschaft, sondern weil er wusste, dass zahlende Gäste den Wirt bieder haben wollten. Zu gegensätzlich waren ansonsten die beiden Männer, Richard mit seinem normativen Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit, die er vertrat, und Vincent, der nicht nur fürs Fernsehen kochte, sondern auch zuweilen kabarettistisch durch Szenekneipen tourte und sich für Motorradfahrten einlederte.

»Und«, erkundigte sich Richard, »hast du die Gänseleber wieder auf deiner Speisekarte?«

Vincent verneinte. Er habe noch keinen Betrieb gefunden, der die Gänse wie weiland seine Großmutter im Nördlinger Ries mit Brennnesseln und Teignudeln stopfte. »Und dass man ohne Gänseleber seinen Michelinstern verliert, das will ich einfach nicht glauben.«

»Sicher nicht«, sagte Richard.

Ich nickte dazu, als hätte irgendjemand Interesse an meiner Meinung. Cipión machte es besser: Er zerrte in Richtung Küche.

Vincent verabschiedete uns an einen Tisch am Fenster. Dort saßen schon Staatsanwältin Meisner und der frisch beförderte Hauptkommissar Christoph Weininger, drehten ihre Aperitifs, knabberten ihre Amuse-Gueule und versuchten so auszusehen, als schüchtere sie die Zahl der Kellner, Beistelltische und Weinkelche auf dem Tisch nicht ein.

»Pünktlich wie die Maurer«, bemerkte Meisner. »Guten Abend, Herr Dr. Weber, Frau Nerz. Wie elegant Sie wieder aussehen.«

Christoph stand auf. Wenn er und Richard sich die Hände gaben, sah es immer so aus, als hätten sie Reißnägel dazwischen. Cipión machte sich daran, schnüffelnd mein Stuhl- und ein Tischbein zu umrunden, bis ihn der Würgegriff der Leine zum Hinlegen zwang. Eine Kellnerin forderte lächelnd erste Entscheidungen. Ich bestellte einen Martini. Richard schüttelte wie üblich den Kopf.

»Da muss erst ein Gebäudereiniger verknackt werden«, bemerkte Meisner, »damit ich mal in die Wielandshöhe komme. Dabei habe ich fast gar nichts dazu beigetragen.« Sie war eine rundliche brünette Person von undefinierbarem Alter, gehörte dem Dezernat für Tötungsdelikte an und redete gern. »Kalbsrücken vom Balinger Archerind?«, rätselte sie beim Studium der Karte. »Was ist das wieder für eine Rasse?«

»Ganz normales Fleckvieh«, antwortete Richard, der immer alles wusste. »Das Besondere ist, dass es völlig frei auf der Weide gehalten wird, Kühe, Kälber und Stiere, alle zusammen. Eine archetypische Rindergesellschaft gewissermaßen. Sie steht in Balingen.« Er beugte sich galant vor. »Geführt wird die Herde übrigens nicht von einem starken Stier, sondern von einer starken Kuh!«

»Darf man Sie so verstehen, Herr Dr. Weber, dass Sie das für ein gesellschaftstüchtiges Modell halten, beispielsweise für unsere Staatsanwaltschaften?«

»Aber, Frau Meisner«, erwiderte Richard liebenswürdig, »Sie werden sich doch nicht mit einer Kuh vergleichen wollen.«

Meisner lachte und hob ihren Sherry. »Auf die diskrete Unverschämtheit des Patriarchats!«

Christoph Weininger senkte die Nase in die Karte. »Feiern wir wirklich nur den Abschluss des Prozesses?«, erkundigte er sich flüsternd bei mir in der irrigen Annahme, ich müsste über Richards wahre Beweggründe Bescheid wissen.

»Wahrscheinlich auch deine Beförderung zum Hauptkommissar, Christoph.« Ich prostete ihm mit meinem Martini zu. Dessen Wermutbitter zog augenblicklich meine ausgehungerten Magenwände zusammen, während der Alkohol mein Hirn einlullte. Zusätzlich textete Christoph mich mit den Feinheiten der Vermögensabschöpfung zu.

»Die Gesetze stammen aus den Neunzigern. Man wollte die Gelder aus dem Drogenhandel abschöpfen. Außerdem sollte niemand ein paar Jahre Gefängnis auf einer Arschbacke absitzen und danach Jachten kaufen. Der Fehler war, dass man nur die Einnahmen einbehalten wollte. Deshalb mussten Staatsanwälte und Gerichte sich damit beschäftigen, wie viel ein Dealer wohl für den Kauf der Drogen, für Fahrtkosten und Rabatte an Kleindealer ausgegeben hatte, und das vom Reinverdienst abziehen. Seit ein paar Jahren gilt nun das Bruttoprinzip. Alles fällt an den Staat. Und jetzt haben wir das umgekehrte Problem. Wie hoch ist beispielsweise die Ersparnis für jemanden, der Giftmüll an die Elfenbeinküste schippert und dort in die Kanalisation kippt? Nicht ganz leicht auszurechnen.«

»Habe ich nie drüber nachgedacht.«

»Die Staatsanwaltschaft auch nicht. Baden-Württemberg soll aber Vorreiter werden. Deshalb hat man jetzt Hunderte Beamte zu Finanzermittlern ausgebildet, darunter meine Wenigkeit.« Er lächelte böse zu den Staatsanwälten hinüber. »Was aber dazu geführt hat, dass wir uns besser in der Materie auskennen als die Staatsanwaltschaften. Das konnte unser Freund Weber nicht auf sich sitzen lassen. Er hat sich prompt der Schwerpunktstaatsanwaltschaft für Vermögensabschöpfung angenommen. Bei allen Verfahren über 100 000 Euro muss er eingeschaltet werden, als Oberstaatsanwalt für Wirtschaftsstrafsachen beim Landgericht Stuttgart. Übrigens gibt es da gerade bei der Staatsanwaltschaft Hechingen einen interessanten Fall. Einen Hofverkauf in Balingen. Dabei geht es um den Verfall ordnungswidriger Einnahmen von einer Viertelmillion Euro.«

Die Ankunft eines weiteren Gastes unterbrach uns.

»Entschuldigen Sie, dass ich zu spät komme. Ein Unfall bei Tübingen hat mich aufgehalten.«

Statt uns den Neuankömmling vorzustellen, griff Richard sich hastig ins Jackett. Sein Handy brummte. Ein Blick auf das Display zog ihm die Brauen zusammen. Er entschuldigte sich, stand auf und nahm, während er den Speisesaal Richtung Ausgang durchquerte, das Gespräch an.

»Nobel«, bemerkte der Neuankömmling, während er Platz nahm. »Weiß jemand, warum unser Oberherrgöttle uns solche kulinarischen Segnungen zuteilwerden lässt?«

Meisner hüstelte.

Daraufhin fiel der Blick des Neuen auf mich. »Oh, guten Abend, Frau Nerz. Sie sind doch Frau Nerz? Wir sind uns noch nicht begegnet. Klaus Kromppein ist mein Name, Staatsanwaltschaft Hechingen.«

»Angenehm«, log ich.

Kromppein war ein von der Ehe gemästeter und von seinen Kindern ermüdeter Mann in kariertem Jackett mit roter Krawatte zu weißem Hemd. Wenn er mich erkannte, ohne mich zu kennen, dann bewies das sein gespitztes Ohr für die über Land wabernden Gerüchte über die unpassenden privaten Neigungen des Oberstaatsanwalts für Wirtschaftsstrafsachen und mein extravagantes Benehmen samt der Narben einer geborstenen Windschutzscheibe in meinem Gesicht.

»Sie sind also die Schwabenreporterin Lisa Nerz. Ich habe Ihren Artikel in der Sonntagsbeilage übers Spätzleschaben gelesen. Meine Großmutter hat dabei übrigens immer Beethovens Fünfte gesummt. Da-da-da-daaa. Sie müssen ja einen Rhythmus beim Schaben kriegen, gell.«

Ich suchte nach einem konversationstüchtigen Synonym für Klugscheißer. Aber niemand wartete auf meine Antwort.

Kromppein schlug die Karte auf und wandte sich an Meisner. »Und noch ein Gutes hat die Sache. Ich bin einer Buchvorstellung im Zollernschlössle entkommen. Unser Gerichtsmediziner hat ein Buch geschrieben, leider über die Waagenindustrie von Balingen. Bemühte Reden, Honoratioren, aufgedonnerte Gattinnen und angetrocknete Lachsschnittchen, eine wahrhaft tödliche Mischung für den Magen!« Er lachte. »Und alle meinen, ich sei ein kostenloser Rechtsberater, der einen Kuhhandel nur abnicken muss, damit es vom Finanzamt keine bösen Überraschungen gibt.«

»Und mit mir wollen sie immer über den perfekten Mord reden«, plauderte Meisner. »Erstaunlich, wie viele Menschen glauben, ein Mord könnte begangen werden, um zu beweisen, dass es den perfekten Mord gibt. Das Agatha-Christie-Prinzip nenne ich es immer. Wir scheinen zu wünschen, dass Mord eine Leistung der Intelligenz sei. Dabei sind die meisten Morde Totschlag und die Folge atavistischer Gefühle wie Wut, Eifersucht und Herrschsucht. Vor allem Herrschsucht. Was nehmen Sie denn, Herr Weininger?«

Christoph dehnte ein Äh.

»Ah, es gibt Balinger Archerind!«, bemerkte Kromppein. »Garantiert BSE-frei.«

»Haben Sie Angst vor Hirnerweichung?«, erkundigte ich mich interessiert.

In diesem Moment kam Richard an den Tisch zurück. Seine milchkaffeebraunen Augen waren noch asymmetrischer als sonst. »Das war eben meine Mutter«, sagte er mit Verwunderung in seiner Stimme. »Mein Vater ist tot.«

Das klingelnde Karussell des Alltags und Alkohols stoppte in meinem Hirn.

»Oh, das tut mir leid!«, sagte Meisner geistesgegenwärtig. »Hat man denn damit rechnen müssen?«

»Nein, gar nicht. Er hat das ewige Leben, habe ich sogar vorhin noch gedacht.«

»Mein Beileid, Herr Doktor«, sagte Kromppein. Christoph hängte sich mit einem Gemurmel an.

»Dann hat er also nicht leiden müssen«, stellte Meisner mit ihrer weiblichen Konversationskompetenz fest, während die beiden Männer in ihren Mienen nach Mitgefühl suchten, ohne es zu finden.

»Er ist wohl einfach eingeschlafen«, antwortete Richard ungewöhnlich mitteilsam. »Während des Mittagsschlafs. Als meine Mutter vorhin nach ihm schaute, war er tot.«

»Wie alt war er denn, Ihr Herr Vater?«

»Fünf ... äh, nein, vierundachtzig.« Richard entglitt der Blick durchs Panoramafenster in die Stadt hinab. »Tja, dann werde ich jetzt wohl nach Balingen fahren müssen.«

Der Hechinger Staatsanwalt zuckte zusammen. Balingen gehörte zu seiner Gemarkung, und ein unerwarteter Tod rief normalerweise einen Staatsanwalt auf den Plan. Aber das war nicht der Punkt. »Balingen?«, stieß er hervor. »Dann sprechen wir vom Herrn Dipl.-Ing. Martinus Weber? Das ist Ihr Vater? Sie sehen mich erschüttert!«

Für den Bruchteil einer Sekunde bohrte sich Richards Blick mit der gesamten aggressiven Intelligenz, die er sonst auf Sparflamme hinter langen Wimpern köcheln ließ, in die Augen seines Hechinger Kollegen, der verwirrt den Blick senkte. Ich ahnte plötzlich, wem es heute Abend in der Wielandshöhe hatte an den Kragen gehen sollen. Und zwar im Schutz einer Morddezernentin und eines Kriminalkommissars und in Anwesenheit der Presse in Gestalt meiner Extravaganz.

»Ja«, rief Meisner, »fahren Sie nach Balingen, Herr Dr. Weber. Ihre Mutter braucht Sie jetzt.« Sie griff nach ihrer Handtasche.

»Nein, bitte bleiben Sie doch, Frau Kollegin, meine Herren!« Richard panzerte sich wieder mit Dreiteilerhöflichkeit. »Lassen Sie sich den Abend nicht verderben. Genießen Sie Vincents Köstlichkeiten. Sie sind selbstverständlich von mir eingeladen, auch wenn ich bedauerlicherweise nun nicht dabei sein kann.«

Christoph Weininger konnte seine Befriedigung nur unvollkommen verbergen.

2

»Als ob ich’s gespürt hätte«, sagte er, als wir in seinem diplomatendunklen Mercedes südwärts aus Stuttgart hinausfuhren. »Ich musste vorhin urplötzlich an meinen Vater denken. Die Glocke der Haigstkirche schlug gerade sechs.«

Das Übersinnliche widerstand dem Gebläse der Klimaanlage und baute sich zwischen uns auf.

»Er hat das ewige Leben, dachte ich. Wahrscheinlich hat Gevatter Tod Angst, dass er auf die Uhr tippt und ihn anfährt: ›Du kommsch zu spät, jetzt kriegsch mi nemme! Da hätsch bälder uffstehe müsse.‹« Er lachte.

»Hast du ihm verziehen?«, erkundigte ich mich.

»Ich wüsste nicht, was. Er war doch auch nur ein Gefangener seiner Weltanschauung. Wie wir alle.«

»Lieblosigkeit«, schlug ich vor. »Das könntest du ihm vorwerfen. Dass er sich nie für dich interessiert hat. Dass es ihm egal war, wer du bist und was du treibst.«

Richard knurrte. Seine eigenen Gefühle hatte er schon immer für zu nebensächlich gehalten oder für zu eindeutig, um darüber nachzudenken oder gar darüber zu reden. »Es war ihm nie egal, was ich tue. Im Gegenteil!«

Seine Hände lagen ruhig auf dem Lenker der schweren Limousine. Wir rasten über die Filderebene auf den dunkelblauen Riegel der Schwäbischen Alb zu. Die sinkende Sonne glühte mir durchs Seitenfenster ins Ohr und warf die Schatten der Bäume auf vergilbte Wiesen. Die Getreidefelder waren schon geschoren, der Mais stand noch, wenn auch kümmerlich infolge der Hitze, das Filderkraut spitzte sich schon.

»Wann warst du zuletzt bei deinen Eltern?«, fragte ich, als wir uns durch Tübingen fädelten, nicht weil es mich interessierte, sondern um den Mann am Reden zu halten, der andernfalls in autistisches Schweigen versunken wäre.

»Zu Pfingsten. Es war saukalt. Mein Vater hatte noch kein Heizöl wieder gekauft. Der Kälteeinbruch hatte ihn überrascht. Und schon immer hat er das Öl im Sommer gekauft, ungeachtet aller Nahostkrisen.«

»Klingt nach Geizkragen«, bemerkte ich. »Leben nicht in Balingen die meisten Millionäre?«

»Nein. Und mein Vater wollte nie reich sein, er war nur sparsam.«

»Alte pietistische Schule. Man gönnt sich ja nix.«

»Nichts wider Gott, nichts wider das Gewissen und nichts wider die Liebe des Nächsten. Das war sein Lebensgrundsatz.«

Mir grauste.

»Er war ein Unternehmer alter Schule. Ein Patriarch. Geschafft hat er nicht für sich, sondern für die Firma. Das Geld, das ihm seine Leute erwirtschafteten, hat er wieder investiert. Bei Weber-Waagen gab es nie einen Betriebsrat. Mein Urgroßvater, Carl Weber, hatte Krankenversicherung und Acht-Stunden-Tag schon eingeführt, ehe Bismarck auf die Idee kam, mit seiner Sozialgesetzgebung den Sozialisten das Wasser abzugraben.«

»Und warum gibt es Weber-Waagen nicht mehr?«

»Mein Vater hat die Umstellung auf elektronische Waagen verpasst. Er war kein Tüftler wie mein Großvater Heinrich. Der hat nach dem Ersten Weltkrieg die Neigungsschaltgewichtswaage entwickelt. Du kennst sie von früher aus den Kaufläden: eine Platte, eine Grammskala und ein Schalter, mit dem man die Kilos umstellen konnte. Neu daran war, dass man das Gewicht der Ware direkt ablesen konnte. Doch weil die Gewichte verborgen waren, durfte man sie nicht öffentlich verwenden. Erst die Besatzungsmächte haben nach dem Krieg diese Regelung aufgehoben, und die Neigungsschaltgewichtswaage trat ihren Siegeszug über die Welt an. Dann kamen die elektronischen Waagen, und Anfang der Neunziger musste mein Vater dichtmachen.«

»Und was erbst du jetzt?«

»Lisa, er ist noch nicht einmal kalt!« Auf Geldfragen reagierte Richard noch kopfscheuer als auf Pornospams.

»Das Totenhemd hat keine Taschen«, bemerkte ich. »Irgendwas ist immer übrig, und wenn es ein Siegelring ist. Meine Mutter hat früher bei uns im Dorf die Toten gewaschen. Als ich ein kleines Kind war, musste ich immer mit. Wo hätte sie mich auch sonst lassen sollen? Ich habe dann das Geld gesucht, in Keks- und Zuckerdosen, in der Wäsche, unter der Matratze. Von dem, was ich fand, behielt meine Mutter den Zehnten. Den Rest gab ich bei den Verwandten ab, und wenn die mir Finderlohn gaben, dann sagte ich artig danke.«

Der Wagen wackelte kurz, denn Richard schüttelte sich.

»Tja, wir Katholiken haben halt doch ein lustvolleres Verhältnis zum Geld als ihr. Wir verschwenden es für Totenmessen und damit die Kirche funkelt, während ihr Pietisten es spart, damit Gottes Gnade ein bisschen glitzert.«

»Der Wohlstand auf der Zollernalb hat mit Pietismus nichts zu tun, sondern mit der Realteilung.«

»Aha. Und was wäre dann eine Irrealteilung?«

»Die heißt Anerbe, Lisa. Da kriegt den Hof nur einer der Kinder. Bei der Realteilung wurde der Hof dagegen aufgeteilt. Die Folge war eine heillose Zerstückelung von Land, bis es keinen mehr ernährte. In allen Gegenden mit Realteilung hat sich Handwerk entwickelt. Im Schwarzwald – erzkatholisch – die Uhrenindustrie, in der Pfalz die Schuhindustrie und auf der Zollernalb die Waagenindustrie. Als 1871 das Deutsche Reich gegründet wurde, kamen über achtzig Prozent aller geeichten Waagen von der Zollernalb. Auch in Frommern, heute ein Teilort von Balingen, hatte der Mechanicus Gottlieb Weber eine Werkstatt zum Bau von Balkenwaagen gegründet. Außerdem hat er ein Andachtsbuch geschrieben und Stunden gehalten.«

»Was?«

»Stunden! Das waren Zusammenkünfte zu Hause – nach Geschlechtern getrennt –, bei denen man die Predigt besprach, die Bibel las und betete. Auch mein Vater hat noch Stunden gehalten.«

»Nach Geschlechtern getrennt?«

»Eher für Jugendliche. Er kann die Bibel so anschaulich erklären, hieß es immer. Mit mir hat er sich da vielleicht weniger Mühe gegeben. Aber so ist das ja oft. Der Prophet gilt nichts im eigenen Haus.«

Hinter Hechingen tauchte in der Flucht der Schnellstraße zwischen zwei Tankstellen die Burg Hohenzollern auf. Sie saß mit sechs gespitzten Türmen auf ihrem bewaldeten Kegelberg wie eine Fregatte unter Segeln auf hoher See.

3

Balingen wurde von Autotrassen mit Leitplanken stranguliert. Wir passierten die weiße Wand des alten Fabrikgebäudes von Bizerba mit Türmchen und Mobilfunkantenne obenauf. Die Firma des einstigen Mechanicus Andreas Bizer in Balingen hatte die Umstellung auf elektronische Waagen geschafft. Wer auch immer in einem Supermarkt sein Beutelchen Äpfel auf eine Obstwaage legte und das Preisschildchen auf die Tüte klebte, hatte es mit einer Waage von Bizerba zu tun. Auch mal ein gutes Thema für Schwabenreporterin Lisa Nerz.

Die Schnellstraße entführte uns zwischen Hügel und Wiesen mit Pappeln. Leitplanken und querende Brücken verstellten den Ausblick auf die sich aufhügelnde Schwäbische Alb. Frommern empfing uns mit Flachdächern futuristischer Gewerbebetriebe. Ihnen folgten die Produktionsstätten zwischen Vorgestern und Annodunnemals. Ein Blechschild erinnerte an Möbel Erhard oder erinnerte nicht, sondern hoffte noch immer auf Kunden. An der Ecke das Backhaus Mahl mit Stehcafé. Alte Bauernhäuser, deren Fachwerk verputzt worden war, giebelten zur Dorfstraße hin, hier eine Betongarage mit Wellblech, dort ein Stapel Holz. Weiter drüben gipfelte der Ort in einer weißen Kirche mit einem massiven achteckigen Turm und roter Tüte. Richard blieb auf der Hauptstraße. Ein Komplex gestutzter Hochhäuser vom Charme randstädtischer Problemzonen beherrschte eine weitläufige Kreuzung. Wo die Landstraße dem nächsten Ort zustrebte, verfiel ein Fabrikgebäude. Die Fenster waren blind und zum Teil in Scherben. Zusammen mit dem schwärzlichen Putz fielen die verblasste Nachkriegsaufschrift »Weber-Waagen« und das Zeichen zweier ineinandergehäkelter Ws von der Wand und entblößten Ziegel. Auch ein späterer Schlossereibetrieb, der sich ein Blechschild geleistet hatte, war längst weggerostet. Etwas zurückgesetzt stand links daneben das Fabrikantenhaus. Der Vorgarten war mit Koniferen besetzt. Eine gepflasterte Einfahrt führte hinters Haus, links die Garage, rechts ein Gärtchen mit Rasen, Rosen, Oleandertöpfen auf einer Terrasse und einer Eibenhecke. Richard fuhr bis zum Zaun vor. Dahinter fiel ein Hang mit verwildertem Gebüsch hinunter in ein Tal, dessen Grund man nicht sah. Eine Reihe dunkler Pappeln markierte den Lauf der Eyach. Das Geblöke von Kühen quoll herauf. Mücken spielten in der Dämmerung. Es herrschte Land. Es war weniger heiß, aber kühl war doch anders.

Cipión begegnete den fremden Gerüchen der Welt, in die das Auto ihn versetzt hatte, indem er seine Duftmarke in eine Konifere pinkelte.

Das Haus hatte zwei Stockwerke, Erker und spitzbogige Fensterstürze aus Schwarzjurasandstein.

Richard klingelte.

Nach einer Weile öffnete ein kaum achtzehnjähriges Mädchen mit rotblonder Mähne, dunklen Knopfaugen und einem verwaschenen Mund.

»Hallo, Jacky«, sagte Richard.

»Hallo, Onkel Richard«, antwortete die Landschönheit mit einem halben Lächeln und naturspitzer Stimme. »So schnell sieht man sich wieder.« Sie drehte sich um und zeigte uns einen hübschen Hintern in hüftig verschlissenen Jeans.

Wir betraten ein Vestibül mit Schmuckparkett und Treppe. An den Wänden verloren sich eine Ablagekommode, eine Garderobe und ein paar Stühle. Es roch nach Pfefferminztee – oder bildete ich mir das nur ein? – und sauren Gürkchen.

»Richard ist da«, hörten wir Jacky irgendwo mit unwesentlich gedämpfter Schrillstimme vermelden. »Er hat eine Tunte mit Dackel dabei.«

Eine gebeugte magere Frau mit weißem Dutt und tief in den Höhlen funkelnden grauen Augen kam herbeigeeilt. »Richard! Du bist schon da!«

Mutter und Sohn gaben sich die Hände. Bereits das schien sie in Verlegenheit zu setzen. Familiäre Frigidität war mir als Unterschichtkind unverständlich. Meine Mutter hatte immer sofort zugelangt. Da wusste man, woran man war. Mit einem wie Richard konnte man womöglich jahrelang seine Scherze treiben im Irrglauben, ihm gefiele es, bis er eines Tages mit der Armeepistole seines Vaters auf einen abdrückte.

»Wir haben noch gar nicht mit dir gerechnet«, sagte die Mutter und musterte mich aus den Augenwinkeln. Im Grunde hatte sie sich ja auch reichlich Zeit gelassen mit ihrem Anruf.

»Ich bin natürlich sofort losgefahren.«

Ich hätte vielleicht doch nicht mitfahren sollen.

»Dann kommsch ja noch zurecht zur Aussegnung«, bemerkte sie. »Pfarrer Frischlin wird sie machen. Und du, was bisch du für einer?«, fragte die alte Dame mit dem Blick nach unten auf Cipión, der in Richtung Küche zerrte. »Wir hatten ja nie Dackel. Die graben nur die Blumen aus. Das steckt ihnen in den Genen. Erinnerst du dich an unsere Anka, Richard? Das Deutsche Kurzhaar? Ach nein, da warst du ja schon in Argentinien. Der ist doch stubenrein, oder?« Sie blickte ihren Sohn vorwurfsvoll an.

»Mama, das ist Lisa Nerz. Lisa, das ist meine Mutter, Lotte Weber.«

»Lisa? Was für ein komischer Name.«

Fand ich eigentlich nicht.

»Hasch dich im Dienstwagen bringen lassen?«, erkundigte sich Lotte bei ihrem Sohn. »Recht hasch. Der Vati braucht seinen ja nun nicht mehr, und ich kann ihn nicht fahren.«

Im Grunde konnte man ihr den Irrtum nicht verdenken. Ich hatte mich in der Hetze nicht mehr umziehen und eine Reisetasche packen können. Ich hatte nur meinen hellgrünen Schlips in die Jackentasche gesteckt.

»Uniformen sind wohl nicht mehr in Mode«, bruddelte sie. »Dabei hat das den Vorteil, dass man den Chauffeur nicht aus Versehen in den Salon bittet. Darf man Ihnen was zu trinken anbieten, bevor Sie wieder fahren? Wenn Sie einfach in die Küche durchgehen würden.«

»Mama, das ist nicht ...«, versuchte es Richard müde.

»Ergebensten Dank, Frau Ingenieurin«, unterbrach ich ihn mit einer leichten Verbeugung.

Lottes Blick geisterte flüchtig über mich hinweg und nagte sich wieder an ihrem Sohn fest. »Und nun möchtest du sicherlich erst einmal zum Vati hinauf.«

Richard warf mir einen bittenden Blick zu. Also nahm ich Cipións Leine kurz und folgte den beiden die Treppe hinauf. Ein roter Teppich bedeckte die knarrenden Stufen. In den mit Tiffanyglas bestückten Rundbogenfenstern verlosch das Licht.

»Wir lassen ihn die Nacht voll hier«, erklärte Lotte. »Auch wenn ich nicht weiß, wo ich mich heute Nacht hinlegen werde. Ich habe Jacqueline gebeten, dein Bett zu beziehen.«

Hatte sie etwa all die Jahre, auch die, in denen Richard keinen Kontakt zu seinen Eltern gehabt hatte, sein Kinderzimmer konserviert?

»Bitte keine Umstände, Mama. Wir können auch in ein Hotel gehen.«

Sie ignorierte sein Wir. »Aber das macht doch keine Umstände! Sonst heißt es wieder, nicht einmal für den eigenen Sohn ist Platz im Hause Weber. Du weißt ja, wie die Leute sind. Immer drauf aus, etwas hineinzuinterpretieren. Und die Chaiselongue im Lesezimmer ist auch sehr bequem.«

Ein Gästezimmer besaß dieses Haus anscheinend nicht.

»Sie holen ihn dann morgen früh um acht. Ich habe das Bestattungsunternehmen Erdinger beauftragt. Die haben seinerzeit auch Tante Erika beerdigt. Erinnerst du dich? Ach nein, da warst du ja noch in Argentinien. Er selbst ist ja nun auch tot, letztes Jahr gestorben. Die Tochter führt jetzt das Geschäft.«

Im Gang oben stand ein Fenster offen, um dem vom Tag erhitzten Gebäude ein wenig Kühlung zuzufächeln. Doch es wehte nur das Gemuhe von Kühen herein. Die Sonne war untergegangen. Eine Deckenlampe brannte, aber noch war das Fensterviereck heller als der Gang. Ein äußerst fragiles Gleichgewicht. In der nächsten Sekunde würde unser Licht nach draußen fallen.

»Er soll übrigens eingeäschert werden. Du weißt doch, das hat er immer gewollt. Ist ja auch viel hygienischer.«

»Darüber reden wir noch, Mama.«

Im ehelichen Schlafzimmer stand ein gewaltiges Bett aus spiegelblankem Nussbaumholz. Am Kopfende bildete die Maserung sakrale Spitzbögen, am Fußende formte sie Tulpen. Schränke, Kommode und Nachttischchen bestanden aus demselben Gemaser. Alles peinlichst aufgeräumt, wie geleckt, dauerneu. Das Fenster wies ins östliche Violettblau der heraufziehenden Nacht. Es stand offen. Fledermäuse flatterten durchs Zwielicht. Ein dreiflügeliger Spiegel auf der Schminkkommode blitzte düster.

Automatisch rekapitulierte ich die Totenmagie meiner Mutter. Ein Fenster musste offen stehen, damit die Seele entweichen konnte. Als Fliege beispielsweise. Nur sollte sie dann nicht gleich von einer Fledermaus geschnappt werden. Alle Uhren mussten angehalten werden, was aber nicht für Armbanduhren galt. Wer hätte schon die Knopfbatterien herausgepult bekommen? Vor allem aber musste man die Spiegel verhängen. Sonst verirrte sich die Seele in der Geisterwelt der Reflexe.

»Ich hatte Jacqueline doch gebeten, Kerzen hinzustellen!«, fuhr Lotte auf, kaum hatten wir den dämmrigen Raum betreten. Wortlos drehte sie um und hastete hinaus.

Der Verblichene lag unter einer schweren braunen Wolldecke, deren Anblick mir den Hitzschlagschweiß unter die Achseln trieb. Wer so eine Decke aushielt, musste tot sein.

Richard trat nicht ans Bett, sondern an die Spiegelkommode, auf der farbenfrohe kleine Umschläge lagen.

»Was hat der Arzt denn angekreuzt? Natürlicher Tod?«, fragte ich.

Richard nahm das obenauf liegende, einmal gefaltete blaugraue Doppelblatt und nickte.

»Und woran ist er gestorben?«

»Die medizinischen Einzelheiten«, antwortete der Staatsanwalt, »stehen im vertraulichen Teil der Todesbescheinigung.«

Alle Umschläge waren zugeklebt und amtsdeutsch beschriftet: »Inliegend Todesbescheinigung – vertraulicher Teil – zum Verbleib bei der verstorbenen Person.« Drei Umschläge, drei Farben: Grau fürs Standesamt und für die Statistik, Gelb für die Obduktionsscheine und Rosa für ... »Für die Feuerbestattung?«, fuhr ich auf.

»Ja, in diesem Fall muss ein weiterer Arzt den Toten begutachten.«

Richard legte das blaue Blatt auf die Umschläge zurück, ließ aber die Hand auf dem Stapel liegen, als fürchtete er, ich würde sonst die vertraulichen Teile aufreißen. Vielleicht hätte ich es tun sollen. Denn Richard hätte sich sicher viel lieber mit in mehrfachen Durchschlägen ausgefüllten Verwaltungsformularen beschäftigt als mit seinem toten Vater, der auf dem Bett ausgestreckt lag und unter der Wolldecke nicht mehr schwitzte.

Es war kein ausgemergelter Leib. Über der Brust, die kein Atem mehr hob und senkte, war ein Laken über die Wolldecke geschlagen. Darauf ruhten die gefalteten Hände auf einem schwarzen Holzkreuz. Sie waren prall, gelblich und fleischig und von Altersflecken gescheckt.

Mehr musste man vom Fußende des Betts, an das Richard getreten war, nicht sehen, wenn man nicht wollte. Die Jacke eines blaubeige gestreiften Schlafanzugs war dem Toten bis unter den Kehlkopf geknöpft. Das Gesicht war quadratisch und voll. Ein dickes Kissen zwang den Kopf mit dem Kinn aufs Brustbein. Die Lippen standen geringfügig offen.

»Nein, Lisa, nicht!«, warnte mich Richard ahnungsvoll.

Da hatte ich schon das Kinn des Entschlafenen angetippt. Früher, wenn meine Mutter zur Leiche gerufen wurde, hatte sie immer alles stehen und liegen lassen und war sofort losgelaufen. Zuallererst hatte sie mit einem Tuch das Kinn hochgebunden. Seit meiner Kindheit wusste ich, wie es sich mit der Leichenstarre verhielt. Sie begann am Kopf in den kleinsten Muskeln der Augenlider, betonierte das Kinn und kroch über Hals und die Schultern in den Körper.

»Lisa, bitte, geh da weg!«

Cipión machte vom Boden eine lange Nase das Bett hinauf. Seine Schlappohren zitterten. Die Rute hielt er gesenkt. Ich zog ihn weg und trat zurück. Keine Sekunde zu früh, denn die Tür ging auf und Lotte Weber erschien mit einem dreiarmigen Leuchter, aus dem, während sie die Tür schloss, die Kerzen purzelten. Ich bückte mich, hob sie auf, während sie den Leuchter auf den Nachttisch stellte, und reichte ihr die Kerzen.

»Danke, Herr Nerz.« Sie pflanzte die Kerzen wieder in die Leuchternäpfe. »Das sind die letzten, die ich noch in der Speis gefunden habe. Der Vati hatte ja nichts übrig für Kerzenlicht, nicht mal einen Adventskranz hat er geduldet, wegen der Brandgefahr. Immer diese Vorsicht und kein bisschen Gottvertrauen!«

Lotte fischte ein Streichholz aus der Schachtel und riss es an. Aber das Köpfchen zerbröselte. Im Augenwinkel sah ich Richard ins Jackett nach dem Feuerzeug greifen. Aber ich war schneller.

»Vielen Dank, Herr Nerz. Wenn Sie das übernehmen würden. Ich kann mit diesen neumodischen Plastikfeuerzeugen nicht umgehen. Ich verbrenne mir immer die Finger.«

Richards wäre ein Zippo gewesen, ein Geschenk von mir.

Lotte drehte sich um. »Wir dürfen morgen die Streichhölzer nicht vergessen, Richard. Eigentlich sind wir ja immer Freitagvormittag nach Balingen einkaufen gefahren, der Vati und ich, denn samstags ist Markt, und da bekommt man keine Parkplätze. Aber heute Abend hätte ich eh nichts kochen müssen. Wir hätten nach der Buchvorstellung im Zollernschlössle was bekommen, wo der Vati das Grußwort hätte sprechen sollen. Und da er heute früh noch was zu schreiben hatte, haben wir gesagt, wir fahren erst morgen einkaufen.«

Hatte nicht Staatsanwalt Kromppein, der jetzt in der Wielandshöhe saß und Archerind aß, sich glücklich geschätzt, genau dieser Buchvorstellung entkommen zu sein? Ein Gerichtsmediziner hatte ein Buch über die Balinger Waagenindustrie geschrieben. Eine tödliche Mischung! Oder hatte Kromppein sich auf angetrocknete Gattinnen und aufgedonnerte Lachsschnittchen bezogen?

Ich vergewisserte mich, dass die Kerzen festsaßen, und ließ die Flamme springen. Aus den Dochten wuchsen Flammen.

»Hätte er nur was gesagt«, sagte Lotte vorwurfsvoll. »Wie hätte ich denn wissen sollen, dass er sich nicht wohlfühlte? Und ich bin wie jeden Freitag die Heidegisela im Heim besuchen gegangen. Sie sitzt im Rollstuhl seit ihrem Schlägele. Und die Tochter kommt auch nicht mehr, seit sie diesem Heiratsschwindler aufgesessen ist. Dann habe ich noch den Garten gegossen. Es vertrocknet ja alles. Um halb sieben bin ich in sein Arbeitszimmer gegangen, damit er sich fertig macht. Aber da war er nicht. Also bin ich hinauf. Und da lag er noch im Bett. Und wie ich ihn anpacke, merke ich, dass er tot ist.«

Richard schloss kurz die Augen.

»Da hat auch schon die Barbara angerufen. Ob der Arzt schon da gewesen sei. Wozu soll ich denn den Arzt anrufen, habe ich gesagt. Er ist doch schon tot.«

Ein Luftzug brachte die Flammen zum Wanken. Martinus lächelte. Sein Mundwinkel flackerte, der Nasenflügel bebte. Die arrogante Sparsamkeit dieses Lächelns kannte ich von Richard. Ähnlich auf einmal auch der kantige Dickschädel, das kampfbereite Kinn, die Sturheit auf der breiten Stirn.

Richard ließ sich auf den Stuhl sinken, der vor dem Schminktisch mit dem offenen Flügelspiegel stand. Lotte legte die Hand auf seine Schulter. Aber sie irrte sich, wenn sie glaubte, die Fassungslosigkeit habe ihren Sohn gefällt. Richard bekam immer weiche Knie, wenn er Leichen sah. Deshalb war er auch nicht Staatsanwalt für Tötungsdelikte geworden, sondern für Wirtschaftsstrafsachen.

Ich drückte ihm Cipións Leine in die Hand. Er griff dankbar nach dem zappeligen Tier und schob es zwischen seine Füße. »Sitz, Cipión!«

»Na, der gehorcht ja sogar«, bemerkte Lotte.

Ich ging ums Bett herum. Auf der rechten Seite sah der Entseelte anders aus. Der Mundwinkel verlief sich in den zum Ohr gesackten Falten eines Gesichts, das sich in Herrschsucht erschöpft hatte. Aus dem Augenwinkel krallten sich jene Falten in die Schläfe empor, die nicht beim Lachen entstanden, sondern wenn jemand in die Sonne blinzelte.

Ich bekreuzigte mich zeremoniell, ließ mich an der Bettkante auf die Knie nieder, rammte meine Ellbogen auf die Matratze und verschanzte mein Gesicht hinter gefalteten Händen.

»Wann wollte Pfarrer Frischlin hier sein?«, hörte ich Richard fragen. Ohne Zweifel schaute er dabei auf seine Uhr.

»So gegen 22 Uhr. Er kommt aus Tübingen, wo er im Stift noch irgendeine Veranstaltung hat.«

»Also eine Viertelstunde noch«, stellte Richard fest. »Dann könnte ich noch mal schnell ... äh, zum Wagen hinunter und das ... Gepäck ... Und den Hund ins Auto tun«, fiel ihm im letzten Moment doch noch etwas Sinnvolles ein. »Da stört er nicht.«

Ich hörte Kleider rascheln und Cipións Krallen auf dem Parkett. »Komm, Mama«, sagte Richard. »Lisa kommt gleich nach.«

Die Türklinke knackte. Die Chance stand fifty-fifty, dass Richard seiner Mutter jetzt erklärte, dass ich nicht sein Chauffeur, sondern irgendwas zwischen Lebensabschnittsgefährtin und Störenfried war.

4

Warum wollte Richard keine Feuerbestattung? Etwa wegen der zweiten Leichenschau? Ich knipste das Licht an und nahm mir den Totenschein vor. Der Name des Arztes lautete Dr. Reinhold Zittel. Er hatte den Toten als ihm bekannt identifiziert, beim Todeszeitpunkt »etwa 18 Uhr« notiert und bei Punkt 5, natürlicher Tod, sein Kreuzchen gemacht. Ich drehte den grauen Umschlag fürs Standesamt in den Händen. Wie viele solcher Umschläge wurden wohl täglich von Unbefugten geöffnet, von Bestattungsunternehmen oder Friedhofsverwaltungen? In meinem Fall wäre es reine Neugierde gewesen. Ein Motiv, das ich als legitim betrachtete. Aber musste es sein?

Ich rechnete. Halb sieben hatte Lotte ihren toten Mann gefunden, dann hatte sie mit Barbara – wer auch immer das war – telefoniert. Danach erst hatte sie den Arzt gerufen, der dann vermutlich so gegen halb acht gekommen war. Von Leichenstarre war zu diesem Zeitpunkt praktisch noch nichts zu bemerken gewesen, aber im Nackenbereich hatten sich bereits Totenflecken gebildet. Die erschienen nach etwa zwanzig Minuten, weil das Blut innerhalb des Körpers nach unten sickerte und die Unterhaut mit violetten Flecken füllte.

Wenn die Augen des Toten offen gestanden hatten, hatte Dr. Zittel außerdem eine Hornhauttrübung bemerkt und daraus geschlossen, dass Martinus seit mindestens einer Dreiviertelstunde tot war. Eine Temperaturmessung im Anus musste ihm Ähnliches beschieden haben.

Ich wandte mich dem Toten zu. Martinus’ Gesicht war glatt rasiert. Am Kinn hatte er wie viele Männer eine kleine Narbe. Bei Kriegsausbruch war er dreiundzwanzig gewesen, ein Alter, in dem kein Mann der Wehrmacht entkam, es sei denn, er hatte seine Unentbehrlichkeit an der Heimatfront geltend machen können, als Ingenieur und Feinmechaniker beispielsweise, der nicht nur Waagen, sondern auch Verschlussfedern oder Auszieher für Pistolen produzieren konnte.

Ich knöpfte den Schlafanzugkragen auf. Druckstellen an Hals und Schlüsselbeinen waren nicht zu sehen. Ich ruckelte am Nasenbein. Nicht gebrochen. Kein Hinweis auf Ersticken. Auch keine roten Pünktchen um die Augen herum, also kein Hinweis auf einen Innendruck durch Erwürgen oder Erdrosseln. Braune Augen, leicht getrübt.

Ich knöpfte den Schlafanzug wieder zu und beschaute die Hände. Ein schmaler goldener Ehering war tief in den Ringfinger der rechten Hand eingeschmolzen. Die Fingernägel hätten mal wieder geschnitten werden müssen. Sie waren zwei Millimeter lang und nicht wirklich sauber. Mit einem Nagelreiniger aus Lottes Nachttischschublade grub ich etwas Dreck aus den Nägeln und faltete ihn in den Beipackzettel einer Schachtel Paracetamol aus derselben Schublade, den ich in meine Jackeninnentasche steckte.

Am mittleren Glied des Zeigefingers von Martinus’ rechter Hand befand sich eine kleine frisch verschorfte Scharte, höchstens einen Tag alt. Am Handgelenk gab es Kratzer wie von Dornengebüsch. Aber daraus musste man nicht mehr schließen, als dass die Webers einen Garten mit Rosen hatten.

Ich hob Decke und Laken an und schlug sie hoch. Der Tote trug auch eine Schlafanzughose. Die Füße waren leicht geschwollen, die Haut an den Fesseln tendierte ins Gelbliche. Die Hornhaut war dick und rissig überall dort, wo Ferse, Ballen und Zehen auf die Schuhnähte und Sohlenkanten trafen. Die Kniegelenke waren schon ziemlich teigig, die Hüftgelenke vollständig steif. Ich rechnete. Die Totenstarre begann nach zwei Stunden in den Augenlidern. Nach vier Stunden war der Kiefer fest, nach sechs bis acht Stunden schließlich der ganze Körper. Warum sich die Muskulatur versteifte, war bekannt. Es ging ihr während des postmortalen Stoffwechsels das Energiemolekül ATP aus, das angespannte Muskeln wieder lockerte. Seltsam nur, dass es dem Körper am Kopf zuerst ausging und an den Füßen zuletzt. Und Martinus war noch keine vier Stunden tot. Dennoch war er steif bis zu den Knien. Vielleicht lag es an der Hitze, dass es schneller ging. Oder aber irgendetwas anderes hatte ATP bei ihm schon zu Lebzeiten reduziert. Zum Beispiel eine große körperliche Anstrengung.

Da er bretthart war, ließ er sich gut in Seitenlage aufstellen. Dabei gluckerte der Leib ein bisschen. Ich schob das Schlafanzughemd hoch. Das Blut, das großflächig in die Rückenpartie gesunken war, färbte die Haut dunkel. Vom Schlafanzug hatten ein paar Falten und der Hosenbund helle Streifen hinterlassen. Die Aufliegestellen der Schulterpartie und Pobacken waren hell. Alles, wie es sein musste. Die dunkle Masse ließ sich mit dem Daumen wegdrücken. Ob Martinus auf dem Rücken verstorben war oder ob Lotte oder der Arzt ihn auf den Rücken gedreht hatte, verrieten die Totenflecken nicht. Blut ist noch lange Zeit flüssig genug, um nach unten zu sinken, wo auch immer gerade unten ist bei einer Leiche.

Ich kippte den Körper zurück in Rückenlage und arrangierte Decke und Laken wieder. Blieb noch eine letzte Prüfung, um den Todeszeitpunkt einzukreisen. Ich blies die Kerzen aus, drehte eine nach der anderen aus der Halterung und balancierte sie mit dem flüssigen Wachshäubchen am Docht hinüber zum Fenster, wo ich sie draußen aufs steinerne Fensterbrett legte.

In der dörflichen Stille bullerte ein Motorrad. Die Kühe aber mussten inzwischen woandershin gezogen sein. Ihr Muhen kam aus weiter Ferne.

Ich fasste den Kandelaber am Stamm und schlug mit gemäßigter Kraft den Fuß des Leuchters auf den Bizeps des Seeligen. Die Hand an diesem Arm zuckte nicht mehr, aber der Wulst der postmortalen Muskelkontraktion ließ sich unter dem Stoff des Ärmels noch ertasten. Folglich war Martinus Weber unter sechs Stunden tot. Frühester Todeszeitpunkt 16 Uhr.

Ich stellte den dreiarmigen Leuchter zurück auf den Nachttisch, holte die Kerzen vom Fensterbrett, steckte sie wieder in die Halterungen, zündete sie erneut an und strich Decken und Laken glatt.

Martinus hatte es sich und seinen Nächsten leicht gemacht. Kein Krankenhaus und Siechtum an Schläuchen auf der Intensivstation, kein Koma an der Herz-Lungen-Maschine, kein Elend im Pflegeheim in geistiger Umnachtung und Windeln, begleitet vom schuldgefühlreichen Warten der Angehörigen auf Erlösung und das Erbe. Das alles hatte er sich und uns erspart.

Eine Türglocke gongte durchs Haus.

Ich ging ums Bett herum und zog die wandseitige Nachttischschublade auf. Darin eine Lesebrille, Fettcreme, fünf gespitzte Bleistifte, eine Lutherbibel, ein Büchlein mit Sudoku-Quadraten, die zum Teil ausgefüllt waren, und ein rotes Buch, auf dem Die Losungen stand. Es schlug von selbst den heutigen Tag auf.

»Ich habe mein Herz vor dem Herrn ausgeschüttet. 1. Samuel 1,15«, las ich. Darunter stand: »Jesus sprach zu Bartimäus: Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen. Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach auf dem Wege. Markus 10,52.«

Na, wenn das kein guter Tag zum Sterben war!

Im Haus setzte ein dumpfes Knarren ein, das ich der Treppe zuordnete. Ich löschte das elektrische Licht.

5

Die mähnenhaarige Jacky, alias Jacqueline, geleitete eine gebeugte alte Frau mit Stock und schiefem Sommerrock herein, die ächzend auf dem Stuhl an der Schminkkommode Platz nahm. Zwei weitere Mädchen, beide mit rotblonden Mähnen und dunklen Knopfaugen wie Jacky, traten zur Tür herein und verdrückten sich in eine Ecke, die eine höchstens fünfzehn in Jeans, die so tief saßen, dass man die Beckenknochen und fast auch das Schamhaar sah, die andere Anfang zwanzig, breithüftig und mit dem Lebenstrotz dörflicher Frustrationen im Gesicht. Jacky stellte sich zu ihnen und faltete die Hände.

In schneller Folge huschten ein Dutzend Leute in das von den drei Kerzen mehr verdunkelte als erhellte Zimmer. Sie kamen auf Zehenspitzen, sie falteten die Hände, sie hatten graue Topfhaarschnitte, blasse Gesichter trotz des langen Sommers, trugen Brillen, die aus der Mode waren, und brachten den Brodem nach Schweiß eines geschaffigen Tages mit. Auch drei Männer waren darunter, zwischen sechzig und achtzig, die gern nach allen Seiten gelächelt hätten, wenn der Anlass es erlaubt hätte, und beflissen waren, Platz zu machen und beiseitezutreten.

Ein weiterer Mann, der allen den Vortritt gelassen hatte, aber keineswegs so gezähmt war wie die anderen, bahnte sich einen Weg zum Kopfende des Betts. Er war vergleichsweise jung, trug einen gepflegten schwarzen Bart und über einem T-Shirt mit Fischsymbol einen eleganten dunklen Anzug aus leichtem Tuch: Pfarrer Frischlin.

Er stellte eine schwarze Tasche neben dem Bett ab und breitete auf dem Nachttisch ein Deckchen mit dem eingestickten Lamm Gottes aus. Darauf stellte er ein Kreuz aus hellem Holz mit abgerundeten Ecken, ein unerträglicher protestantischer Euphemismus verglichen mit dem Leiden Christi, das in meinem Mutterhaus mit spitzen Knien, zerschundenem Leib, vorstehenden Rippen und Dornenkrone im Herrgottswinkel blutete.

»Wir haben uns hier zur Aussegnung versammelt«, nahm er mit beeindruckend tiefer Stimme das Wort. »Der Friede Gottes sei mit uns allen. Amen.«

»Amen«, raunte es ihm vielstimmig entgegen.

Richard war an der Tür stehen geblieben.

»Herr, unser Gott, dein sind wir im Leben und Sterben. Du hast durch Jesus Christus dem Tod die Macht genommen.«

Richard lehnte sich gegen den Türrahmen.

»Wir bitten dich: Sei in dieser schweren Stunde bei uns mit deinem Trost und deiner Gnade. Amen.«

Ich musterte Füße, schief gelaufene cremeweiße Sandalen mit verrutschten fleischfarbenen Nylonsöckchen, gelochte braune Slipper an den Füßen eines der gezähmten Männer, rosafarbene Chucks unter den Jeans der jüngsten der drei Landschönheiten, Ethnozehensandalen an denen der ältesten. Am Fußende des Betts zuckten außerdem nackte Zehen in braunen Trekkingsandalen. Darüber, hochgekrempelt, ein Paar Jeans, gut gefüllt und glatt gerundet. Die kurzen Haare waren grausilbern wie Stacheldraht und akkurat auf Nackenkante geschnitten. Die Augen hatte sie, soviel ich von schräg hinten sehen konnte, nicht auf den Pfarrer gerichtet, sondern auf die sterblichen Überreste unter der Wolldecke.

»Guter Gott, nun liegt der Mensch leblos vor uns, herausgerissen aus unserer Mitte«, tönte Frischlin. »Wir hoffen zu dir, dass du unseren Gatten, Vater und Freund bergen wirst. Im Vertrauen auf deine Gnade übergeben wir ihn dir. Denn Christus ist von den Toten auferstanden. Wir danken dir für alles Gute, das Martinus an uns zu tun versucht hat.«

Richard straffte sich, sein Blick wanderte zu mir herüber. Er atmete tief ein.

»Wir bitten dich, hilf uns in unsrer Angst, dass wir wissen: Du meinst es gut mit dem, den du gerufen hast für immer. Denn du bist barmherzig. Auch mit uns meinst du es gut, denn du willst das Leben.«

»Amen.«

Frischlin holte den Blick aus den Ecken über unseren Köpfen und schaute uns an. »Jetzt kann ein persönliches Gebet gesprochen werden.«

Ich fühlte mich aufgerufen wie in der Schule und ebenso blank im Gehirn. Aber Gott sei Dank erwartete von mir niemand ein vernünftiges oder gottesfürchtiges Wort.

»Herr Jesus Christus«, nahm der gezähmte Mann mit den Lochschuhen unverzüglich das Wort, »hart trifft mich der Tod meines Cousins. Vergib mir, falls ich in meinem Herzen irgendeinen selbstgerechten Zorn hegen sollte. Amen.«

Es lief wie geprobt.

»Herr, Jesus Christus«, intonierte eine Frau mit großen blauen Augen, die Frischlin Hermine nannte, »hilf uns zu guten Gedanken. Amen.«

Mehr postmortales Mobbing ging auch kaum noch.

»Möchte noch jemand ein persönliches Wort sprechen?«, forderte Frischlin mehr als er fragte.

Die Frau mit dem Silberdrahthaar holte Luft.

»Ja, Barbara.«

»Tja, Onkel Martinus«, sagte sie mit um keinerlei weibliche Helligkeit bemühter Stimme. »Wir haben so manchen Strauß ausgefochten. Vermutlich hast du es gut gemeint. Aber verstanden habe ich dich nicht. Geh in Frieden.«

Aber geh!, ergänzte ich im Stillen.

Kurz blitzte mich aus grauen Augen ihr Blick an, eine Mischung aus Verschwörung, Spott und Geringschätzung. Mein Blutdruck fuhr hoch. Im nächsten Moment hatte sie die Augen abgewandt. Barbara!, durchrieselte es mich. Barbara!

»Der allmächtige Gott erbarme sich deiner. Er sei dir gnädig und nehme dich auf in sein ewiges Reich. Amen.« Frischlin segnete den Toten mit einer Geschmeidigkeit, als habe er als Bub nie vom Lokomotivführen geträumt, sondern nur vom Segnen. Liebevoll schlug er dann die Bibel auf. Die dünnen Seiten raschelten. Er las aus Hiob: »Ich hatte einen Bund gemacht mit meinen Augen, dass ich nicht lüstern blickte auf eine Jungfrau. Bin ich gewandelt in Falschheit, oder ist mein Fuß geeilt zum Betrug? Gott möge mich wiegen auf rechter Waage, so wird er erkennen meine Unschuld.«

Schon in meiner Kindheit hatte das Silbenrauschen der Bibel mein Denken beflügelt. Auf einmal wusste ich, was mir an der Leiche nicht gefiel. Martinus Weber hätte nicht im Schlafanzug stecken oder der Arzt hätte sein Kreuzchen nicht bei »natürlicher Tod« machen dürfen.

Frischlin klappte die Bibel zu und forderte die Anwesenden auf, ein persönliches Wort an den Dahingeschiedenen zu richten.

»Was soll ich jetzt noch sagen, wo du tot bist?«, stotterte Lotte. »Du warst immer so streng mit dir selbst und mit den deinen, die wir nicht so stark waren wie du.« Sie schluchzte.

Dass mir keine Träne auf den Toten fällt!, dachte ich. Sonst kehrte er als Wiedergänger zurück. Ich bekreuzigte mich hurtig, was mir scheele Blicke aus der Mädchenriege eintrug. Aber solche Reflexe saßen tief, auch der, mich im eingespielten Lauf fremder Rituale als Außenseiterin zu outen. Der vor allem!

»Und Sie«, wandte sich Pfarrer Frischlin unvermittelt an Richard, »möchten Sie Ihrem Vater nicht auch etwas mit auf den Weg geben? Etwas, wo Sie von ihm lernen durften. Aber auch, was offen geblieben ist. Auch dazu ist jetzt Raum.«

Man drehte sich um, reckte die Köpfe.

Richard musterte den Pfarrer mit asymmetrischen Augen. »Danke«, sagte er, »aber mein Vater hört mich nicht mehr.«

Frischlins Bart kräuselte sich in den Mundwinkeln. »Dann sprechen wir jetzt das Vaterunser.«

Alles ging im Gemurmel von »Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern« unter. Ich hatte vierzehn Jahre alt werden und Hunderte Male das Vaterunser aufsagen müssen, bevor sich mir das Rätsel des Wortes »Schuldigern« löste.

»... und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.«

»Amen.«

Frischlin hob die Hand, um auch über uns den Segen zu sprechen. Ich räusperte mich. Alle blickten mich an.

»Sie möchten dem Verstorbenen noch etwas sagen?«, erkundigte sich Frischlin. Seine gotteslüsternen Augen glänzten mich an. »Sie sind ...?«

»Lisa Nerz.«

Barbara wandte den Kopf, zog das Kinn an und lagerte ihren Blick auf mir ab.

»... Lisa«, fuhr der Pfarrer fort. »Sie möchten dem Verstorbenen noch etwas mit auf den Weg geben?«

Augen blitzten in Augenwinkeln. Ich schaute mich lieber nicht nach Richard um. Er wäre jetzt vermutlich gerne im Boden versunken, allerdings nicht ohne mich vorher auf den Mond geschossen zu haben.

»Ich frage mich«, sagte ich, »woran Martinus Weber so plötzlich und unerwartet gestorben ist.«

Stille.

»An Herzversagen«, ließ Barbara ihre tiefe Stimme in die Stille fallen.

»Jeder stirbt letztlich an Herzversagen.«

»Ach, was du nicht sagst!«

Unsere Blicke verhedderten sich und fuhren wieder auseinander.

»Ich bitte euch!«, rief Frischlin. »Dies ist eine Aussegnung, keine polizeiliche Ermittlung.«

»Außerdem«, ließ Richard sich vernehmen, »können wir uns alle Mutmaßungen sparen. Vor einer Feuerbestattung wird der Leichnam stets noch einmal von einem unabhängigen Arzt untersucht.«

Ein Ruck ging durch die Gesellschaft. Aber ich konnte nicht erkennen, wo er seinen Ausgang nahm. Vielleicht hatten auch nur die Kerzen geflackert.

»Martinus war doch herzkrank!«, fuhr Lotte auf. »Und einen zu hohen Blutdruck hatte er sowieso. Er hat sich ja auch über alles aufgeregt. Wenn ich es nicht tue, tut es keiner, hat er immer gesagt. Und die Sache mit den Bauplänen für den Fürsten, die hat ihm den Rest gegeben. Jahrelang Baulärm und Dreck. Wer soll denn das aushalten?«

»Es ist doch noch gar nichts geschwätzt«, warf Barbara mit Bruststimme ein. »Der Ortschaftsrat hat die Baupläne für den Fürsten lediglich in den Etat fürs kommende Jahr aufgenommen. Zunächst wird es eine Umweltverträglichkeitsprüfung geben. Den Baubeginn hätte Martinus sowieso nicht mehr erlebt. Er hat doch nur aus Prinzip Klage gegen alles geführt, was Stadt, Gemeinde und Ortschaftsrat geplant haben, nur weil er selbst nicht in den Gemeinderat gewählt wurde.«

»Bitte!«, rief Frischlin und hob die Hände. »Ich bitte euch! Das Totenreich ist aufgedeckt vor uns, und der Abgrund hat keine Decke. Gebt einander die Hand und wünschet euch Frieden auf allen Wegen!«

6

Plötzlich scharrten Füße, bewegten sich Hände, schwenkten Haarknoten herum. Aufbruch. Barbara bat die Anwesenden zu einem Imbiss in die gute Stube hinunter. Die Gesellschaft duckte sich zur Tür hinaus. Jacky zog die Alte vom Stuhl hoch und drückte ihr den Stock in die gichtige Hand. »Komm, Oma, es gibt Gürkchen.«

»Und desmal ka mi der Martinus net schoich anblicke, weil i z’viel ess. Fett ischer worre uff seine alde Dag!«

Ein Luftzug löschte die Kerzen.

Jacky warf ihre Mähne nach hinten und pulte mit zwei Fingern ein Feuerzeug aus ihrer Jeanstasche und reichte es der jüngeren Mähnenschönheit. Jetzt meinte ich doch, über der Gürtelschnalle den Kringel eines Schamhaars erkennen zu können.

»Und verbrenne wellet se ihn?«, fuhr die Alte fort. »Den Sarg und die Grabpflege schpare! Die alte Geizkräge!«

»Komm, Oma«, sagte Jacky mit einem ungeduldigen Flackern in der Stimme.

Ich trat hinter ihnen zur Tür hinaus.

Richard stand im Gang, neben ihm die Frau mit den grauen Drahthaaren und dem angespöttelten Blick, der meinen Kreislauf so ankurbelte.

»Lisa«, sagte er. »Darf ich dir Barbara vorstellen, meine Cousine.«

Ihr Händedruck war fest. »Freut mich! Wir sehen uns noch. Aber jetzt muss ich hinunter. Sonst wird das nichts mit dem Imbiss.« Sie eilte mit kurzen, zügigen Schritten davon.

»Was ist das für eine Sache mit dem Fürsten?«, erkundigte ich mich bei Richard.

»Jetzt nicht, Lisa.«

»Hat Frommern etwa noch einen Fürsten?«

Richard deutete ein nachsichtiges Lächeln an. »Der Fürsten ist ein Gelände in der Verlängerung der Fürstenstraße, die aus dem Altort Richtung Zeitental führt. Und das Zeitental, das ist das Tal unterhalb unseres ... äh, dieses Hauses ...«

Ich schmunzelte taktvoll auf den Teppich hinunter.

»... durch das die Eyach fließt. Barbara hat ihren Hof dort unten. Und sie hat meinem Vater vor einigen Jahren fürn Muggesäckele einen Acker auf dem Fürsten abgekauft, angeblich für ihre Rinder.«

»Angeblich?«

»Sie baut dort Luzerne an. Aber der Acker liegt zufällig genau dort, wo man eine Brücke über die Eyach schlagen müsste, um den Fürsten für den Autoverkehr zu erschließen. Und zufällig sitzt Barbaras Mann, Jürgen, im Ortschaftsrat, der solche Sachen beschließt.«

»Ach, und dein Vater hat gegen das Projekt Front gemacht, damit dein Bäsle Barbara nicht den Reibach macht, der ihm entgangen ist.«

»Ums Geld ging es ihm nicht!«

»Jaja, es ging ihm ums Prinzip.«

»Mein Vater hat sich, auf Deutsch gesagt, verarscht gefühlt, hintergangen, getäuscht, bestohlen. Nenn es, wie du willst.«

»Du verteidigst ihn auch noch?«

»Man kann schon die Frage stellen, ob Ortschaftsratsmitglieder Entscheidungen treffen dürfen, die ihnen selbst oder ihren Angehörigen einen geldwerten Vorteil bringen. Selbst wenn Jürgen sich bei den entscheidenden Abstimmungen der Stimme enthält, bleibt es problematisch. Barbara könnte von ihm von den Plänen erfahren haben, bevor sie veröffentlicht wurden, und ihren Wissensvorsprung ausgenutzt haben.«

»Richard, du denkst zu städtisch! Wenn dein Vater nicht gewusst hat, dass in diesem Fünftausendeinwohnerkaff über eine Baumaßnahme nachgedacht wird, die auch sein Grundstück betrifft, dann war er gesellschaftlich isoliert.«

»Das war er nicht. Meine Mutter hat immer geklagt, wie viele Verpflichtungen sie hatten.«

»Und wann hat deine Mutter dir das immer so geklagt?«

»Wir telefonieren einmal die Woche. Meistens, wenn mein Vater seine Spaziergänge macht ... gemacht hat.«

»Ich wusste gar nicht, dass du so ein Muttersöhnchen bist.«

»Musst du alles wissen?«, knarzte Richard humorlos und wandte sich ab.

Das Wohnzimmer entzog sich meinem Fassungsvermögen. Eichenschrankwände wären mir vertraut gewesen, Ledersofas und der gekachelte Eichentisch. Aber wie schon im Schlafzimmer spiegelte der Lack auf den Möbeln, als hätte man sie mit Wasser übergossen. Die Türen der Anrichte und des Bücherschranks waren geschwungen wie aufgeschlagene Buchseiten. Der Couchtisch sah aus wie eine erstarrte Wippe. Seine polierte Platte ruhte auf einer offenen Halfpipe aus Holz. Auch Sessel standen herum. Sie waren wie aufgeschnittene Tulpenkelche geformt, mit aprikosenfarbenem Leder bezogen, an den Schnittkanten mit Holz verbrämt und saßen auf einem kreisförmigen Holzsockel. Die Couch war nach demselben Prinzip geschnitten, nur dass sie in die Breite gezogen war wie eine halbe Tulpe im Zerrspiegel auf dem Jahrmarkt. Das alles strahlte eine verzweifelte Moderne aus, alt und doch nicht veraltet.

Das Klavier, das gegenüber der offenen Terrassentür mit seinen sachte wehenden Gardinen stand, war rabenschwarz. Sein Aufbau war mehrfach getreppt und mit silbrigen Metallintarsien versehen. Der Tastenblock saß auf zwei verchromten Röhren, die besser unter einen Tisch gepasst hätten. Jugendstil?, fragte ich mich, Art déco? In solcher Konsequenz hatte ich so etwas noch nie gesehen. Ein Haushalt, der in den dreißiger Jahren seine Erneuerung gestoppt hatte.

Während die Trauergäste sich auf den Stühlen und Sesseln verteilten, klappte Richard den schwarzen Klavierdeckel hoch und ließ die Fingerspitzen über die Elfenbeintasten gleiten, ohne sie anzuschlagen. Im Kopf klimperte er zweifellos die Etüden ab, die er als Kind gespielt hatte. Die Musik als Übungsqual und Flucht aus der Enge des Vaterhauses.

Jacky brachte noch Stühle. Die Oma sank in einem der Tulpensessel in sich zusammen. Auf dem Strecktulpensofa reihten sich Damen. Hermine, die mit den blauen Augen, sagte zu Lotte: »Wer hätt au denkt, dass es so schnell goht. Erst am Mittwoch hemmer uns zur Schtund gsähe. Da ischs au um Hiob gange. Sind wir nicht alle wie Hiob, wenn wir auf unser Leben zurückblicken? Vermögen weg, Kinder weg.«

Aus den Augenwinkeln schickte sie einen Blick zu Richard hinüber, der sich auf die Pianobank gesetzt hatte und den Gespenstern den Rücken zukehrte.

»Hiob verliert Hof, Gesinde, die Söhne, die Frau, die Töchter, weil Gott dem Satan freie Hand lässt. Aber wer denkt eigentlich an die Opfer, die Frau und die drei Töchter, habe ich zu Martinus gesagt. Die sind tot und kein Hahn kräht danach. Für die Herren der Schöpfung sind wir halt doch nur eine Strafe Gottes, gell, Herr Pfarrer?« Sie lachte.

Pfarrer Frischlin strich sich den Bart. Der Cousin mit den Lochschuhen raunte unnachgiebig auf ihn ein. »... den Männern wieder Zugang zu ihrer Spiritualität schaffen«, wehte sein Geflüster in Böen zu mir herüber. »... kirchliche Männerarbeit ...«

»Ja, Herr Pfarrer«, rief Hermine hellhörig, »Ihre Männergottesdienste scheinen ein echter Erfolg zu sein.«

Richard schlug einen Akkord an.

Schweigen fuhr unter die Gesellschaft wie eine Sturmbö und wehte die Gesichter in seine Richtung. Richard ließ die Finger nach Tönen suchen, fand, was er suchte, konzentrierte sich plötzlich, vergaß die Welt, in der er lebte, und spielte sich virtuos in eine Melodie hinein, die mir wie ein Requiem vorkam, weil es nahe lag und Richard sich üblicherweise an die Etikette hielt.

Da ich zu Männergottesdiensten und Requiems nichts zu sagen hatte, ging ich, wie es sich für den Chauffeur gehörte, die Küche suchen. Sie war von bequemer Größe, aber wie geschleckt. Die Spüle blitzte, die Gewürze im Regal standen alle mit den Schildchen nach vorn. Nur Schalen mit belegten Broten störten die ungastliche Leere. Richards Cousine Barbara verteilte saure Gürkchen. Jacky nahm eine Platte nach der anderen und schichtete sie sich wie eine Kellnerin auf den linken Unterarm. »Platz da!«, schrillte sie mich an und eilte hinaus.

Barbara warf mir einen prüfenden Blick zu. »Ist das Rocky, ich meine, Richard, der da spielt? Er kann’s also noch.«

Ich nickte. »Rocky?«

»So habe ich früher zu ihm gesagt. Wir hatten einen amerikanischen Comic. Keine Ahnung, wie wir an den gekommen sind. Er war das fliegende Eichhörnchen Rocky, und ich war Bullwinkle der Elch. Wir mussten die Welt vor den pottsylvanischen Schurken retten. Und du bist also die berühmte Lisa Nerz.«

»Wieso berühmt?«

»Na, Richards Ripp, die ausgeflippte Freundin. Was hast du denn gedacht, warum du berühmt bist?«

»Hätte ja sein können, dass Sie Zeitung lesen.« Ich fragte mich, warum es mir misslungen war, sie ebenfalls zu duzen.

»Ich bin Analphabetin. Trittst du auf, oder was hätte ich über dich in der Zeitung lesen sollen?«

»Als was sollte ich auftreten?«

Bullwinkle musterte mich von oben bis unten. »Als ... wie heißt das? Transvestit?«

»Das sind die andersherum«, erklärte ich. »Männer in Frauenwäsche. Wer sagt überhaupt so was?«

Sie zuckte mit den Schultern und holte ein Glas Mixed Pickles aus der Speisekammer.

»Nur Lotte scheint noch nichts von mir gehört zu haben.«