Nachtkrater. Kriminalroman - Christine Lehmann - E-Book

Nachtkrater. Kriminalroman E-Book

Christine Lehmann

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Beschreibung

Als Lisa Nerz zu sich kommt, ist sie nicht mehr am Bodensee, wo sie noch kürzlich mit Richard Weber Spargel aß. Sie ist nicht einmal mehr auf der Erde – sondern unterwegs zur Mondstation Artemis! Warum? Was soll sie hier? Ist das die Strafe, weil sie schon wieder einen Mord gewittert hat? Der Tod des Astronauten Torsten Veith schien ihr Ungereimtheiten aufzuweisen. Aber auf dem Mond geht für Lisa Nerz der Ärger erst richtig los ... Mord und Mondstaub: Dieser Krimi entspricht dem Stand der Technik, alle Fakten sind wissenschaftlich fundiert. Doch Hightech spielt nur eine Nebenrolle, denn wo Menschen hinkommen, gibt es Spekulantentum, Hass, Neid, Eifersucht ... Christine Lehmanns innovativster Kriminalroman. Furios! »Lehmann legt ihre Bücher an wie Backsteine, die gefälligst Fensterscheiben zu zerschmettern haben. Nerz ist provokant, reizbar und schredderzüngig, trotz ihrer Schläue agiert sie reflexhaft antiautoritär. Allerdings schreibt Christine Lehmann nie in zittrigen Tönen deprimierter sozialer Schadensvermessung. Die Streitlust von Lisa Nerz drückt sich in der Dynamik, Frechheit, Wendigkeit ihrer Sprache bestens aus.« Stuttgarter Zeitung

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Über das Buch

Als Lisa Nerz zu sich kommt, ist sie nicht mehr am Bodensee, wo sie noch kürzlich mit Richard Weber Spargel aß. Sie ist nicht einmal mehr auf der Erde – sondern unterwegs zur Mondstation Artemis! Warum? Was soll sie hier? Ist das die Strafe, weil sie schon wieder einen Mord gewittert hat? Der Tod des Astronauten Torsten Veith schien ihr Ungereimtheiten aufzuweisen. Aber auf dem Mond geht für Lisa Nerz der Ärger erst richtig los ...

Mord und Mondstaub: Dieser Krimi entspricht dem Stand der Technik, alle Fakten sind wissenschaftlich fundiert. Doch Hightech spielt nur eine Nebenrolle, denn wo Menschen hinkommen, gibt es Spekulantentum, Hass, Neid, Eifersucht ... Christine Lehmanns innovativster Kriminalroman. Furios!

»Lehmann legt ihre Bücher an wie Backsteine, die gefälligst Fensterscheiben zu zerschmettern haben. Nerz ist provokant, reizbar und schredderzüngig, trotz ihrer Schläue agiert sie reflexhaft antiautoritär. Allerdings schreibt Christine Lehmann nie in zittrigen Tönen deprimierter sozialer Schadensvermessung. Die Streitlust von Lisa Nerz drückt sich in der Dynamik, Frechheit, Wendigkeit ihrer Sprache bestens aus.« Stuttgarter Zeitung

»Lehmann kann das, souverän und überzeugend.« kaliber 38

»Sie ist den meisten deutschen Krimischreibern haushoch überlegen. Man kann sich diesen Sound nicht antrainieren. Bei Lehmann beruht er auf Menschenkenntnis, Lebenserfahrung, Selbstironie und Belesenheit.« Perlentaucher

Über die Autorin

Christine Lehmann lebt in Stuttgart und Wangen (Allgäu), ist als Nachrichten- und Aktuellredakteurin beim SWR tätig und schreibt Romane, Kurzkrimis, Kriminalhörspiele (Radio Tatort) und Glossen. Mehr Informationen finden Sie auf ihrer Homepage.

Christine Lehmann

Nachtkrater

Der 7. Lisa-Nerz-Krimi

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2016

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Printausgabe: © Argument Verlag 2008

Lektorat: Iris Konopik

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: 17.05.2016

ISBN 978-3-95988-050-3

»Nehmen Sie an, Sie müssten eine längere Zeit auf dem Mond leben. Was würden Sie am meisten vermissen?« – »Mondschein.«

Arno Schmidt,1959

Die Ereignisse sind, wie es sich für einen Roman gehört, reine Erfindung. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Astronautinnen und Astronauten wären rein zufällig.

Die terrestrische Besatzung

Lisa Nerz, Schwabenreporterin, stolpert über Leichen und vermutet Mord auf dem Mond, obgleich nichts darauf hindeutet.

Dr. Richard Weber, Oberstaatsanwalt für Wirtschaftsstrafsachen beim Landgericht Stuttgart und Fachmann für Weltraumrecht, wäre gern mitgeflogen.

Sally Simpson, Lisas Freundin, hat ihr einst das Leben gerettet und Lisa danach in ihre Menagerie von drei Katzen und einem Hund eingegliedert.

Oma Scheible, der Hausdrache in der Stuttgarter Neckarstraße, wo Lisa Nerz wohnt. Verfügt über einen reichen Vorrat an Geschichten über Siechtum und Tod.

Torsten Veith wollte die Mondgöttin heiraten, hatte diesbezüglich eine Wette mit seinem Schulfreund Gunter Maucher laufen und ist nun tot.

Joachim Rees, auch Jockel genannt, Vorsitzender des Mond-Clubs und Geldbeschaffer für Weltraummissionen. Fiktiver Neffe des realen Trossinger Weltraumpioniers Eberhard Rees, der zusammen mit Wernher von Braun die Apollo-Missionen der USA geplant hat. Nennt das Schloss von Ratzenried sein Eigentum.

Cecilie Rees, Jockels Frau, eine knitze Theologin, die im EU-Ethikrat etwas zu sagen hat, alle Mondmythen kennt und dem Glauben nicht abgeneigt ist, dass extraterrestrische Wesen einst auf der Erde gelandet sind.

Julie, alias Schüssi, ist die Nichte von Jockel und Cecilie Rees, auch wenn es zunächst anders aussieht.

Gunter Maucher ist Spross einer alten oberschwäbischen Tüftlerfamilie und Geschäftsführer der SSF, der Space Systems Friedrichshafen. Möchte den Mond besitzen.

Viola Maucher, Gunters Frau. Hält die Weltraumprojekte für zu teuer, vor allem angesichts der Klimakatastrophe auf der Erde.

Michel Ardan ist ein eitler französischer Journalist und Weltraumkritiker, der hinter allem eine Verschwörung vermutet und fest glaubt, dass es extraterrestrisches Leben gibt.

Die lunare Besatzung

Leslie Butcher, Kommandant der Artemis im Rang des Colonel (Oberst), ein Amerikaner mit Tic und Entscheidungsschwäche.

Zippora Eschkol, Neurologin aus Israel im Rang des Aluf Mischna (Oberst) mit Blick für gruppendynamische Prozesse und verwirrender Schwerhüftigkeit.

Artjom Pilinenko, undurchsichtiger russischer Vizekommandant im Rang des Polkownik (Oberst), trägt eine Waffe.

Wim Wathelet, belgischer Stationsarzt im Rang des Lieutenant-Colonel. Ist der Meister der Blutproben und älter, als er aussieht.

Ho Yanqiu, heimliche Mondgöttin aus Beijing und Spezialistin für Raumanzüge und Computer, hat ihre Cremetöpfchen und Geheimnisse.

Gail Taylor, First Lieutenant ohne Kinn, aber mit Nase und berückender Laszivität im Augenaufschlag, ist Ingenieurin, medizinisch-technische Assistentin und die unumstrittene Herrscherin im Mädchenquartier, bis Lisa Nerz ihr in die Quere kommt.

Rhianna McFinn, Roverfahrerin aus Boston, Verfahrensingenieurin und Methodistin und hält meistens verkniffen die Klappe.

Tamara Jagelowskaja, russische Ingenieurin für menschliche Angelegenheiten, notiert verbesserungswürdige Dinge, geht dem Kommandanten zur Hand und macht die Laborbelegungs- und Außeneinsatzpläne.

Morten Jörgensson, dänischer Mondarchäologe aus Roskilde, sammelt Weltraumschrott und Steine und hofft auf extraterrestrische Technik und Spuren von Leben auf anderen Planeten.

David Hirsch, verschwitzte Stimme von Radio High Moon, US-Bürger und Erster Systemadministrator, hält nicht viel von Datenschutz und fühlt sich unentbehrlich.

Robert Roca, kurz Bob, Roverpilot und Systemtechniker aus Chicago, groß wie ein Schrank, langt schon mal ordentlich zu.

Fred Lamonte, Bobs Arbeitszwilling aus Luxemburg, wenn auch von Statur eher schmächtig, ist ebenfalls Roverfahrer und Bohrsystemspezialist. Neigt zum Hyperventilieren.

Abdul as-Sharif, Pakistani im Rang eines Havilder (Unteroffizier), gehört zum Stamm der Fakire, ist Schlangenbeschwörer und Softwarespezialist mit Gespür für geheime Botschaften in Dateien und das Muster hinter den Erscheinungen.

Tupac Vaizaga, Indianer vom Stamm der Tupiguaraníes aus Bolivien, Biologe mit medizinischer Ausbildung, züchtet Hanf im Biolab und ist Spezialist für verlorene Seelen.

Nguyen Van Sung, Südkoreaner und Leiter des Biolab, wirkt harmloser, als er ist. Als Buddhist hat er nie eine Seele besessen und fürchtet sich deshalb nicht vor dem Tod.

Sergei Kascheschkin, Astrophysiker aus Kasachstan, trauert, weil ihm die Frau weggelaufen ist und der Mond seine Poesie verloren hat.

Georg Giffhorn, alias Gonzo aus Berlin, der zweite Astrophysiker auf der Artemis. Ist auf der Suche nach dem Urknall und glaubt, dass man ihn wirklich braucht.

Krzysztof Skarga, Pole, dankt der Schwarzen Madonna aus Tschenstochau, sucht nach Antimaterie von fernen Galaxien und hantiert mit Plasma, was man auch die Kugelblitz-Experimente nennt.

Giovanni Boccetto, Ingenieur aus Mailand, bastelt Bioroboter in Insektengestalt zur Monderkundung und hält Arbeitsaufträge für Beschäftigungstherapie.

Franco Llacer, Katalane aus Barcelona, Europaabgeordneter, hat in der politischen Tombola eine Mondreise gewonnen.

Pjotr Turenkow, Astrotourist aus Petersburg, Energiemagnat, war Mitglied der U-Boot-Besatzung, die 2007 die russische Flagge in den Meeresgrund unterm Nordpol gerammt hat.

Mohamed bin Salman al-Sibarai’I, Astrotourist aus Saudi-Arabien, einfach nur reich, spielt gern Schach.

Rakesh Chaturvedi aus der Kaste der Brahmanen ist ebenfalls Tourist, indischer Softwaregigant und ein Heiliger, der die Kunst der Meditation so perfektioniert hat, dass er eins wird mit der Mondgöttin.

Eclipse van Wijk, Südafrikaner, ist stolz auf seine etwas dunklere Hautfarbe, besitzt Diamantminen in Südafrika und Namibia und spielt gern Gesellschaftsspiele.

Fachwörter und Abkürzungen werden entweder gleich erklärt oder sind so unwichtig, dass Sie sie sich nicht merken müssen. Oder aber Sie schauen sie im Anhang nach. Dort finden Sie auch Erläuterungen zu den Zitaten an den Kapitelanfängen.

1

»Für die Mondbewohner steht die Erde fest, wie mit dem Nagel an den Himmel geheftet, unbeweglich am selben Ort, und hinter ihr ziehen die Gestirne und auch die Sonne von Ost nach West vorbei.« Somnium, Johannes Kepler, 1630

Mit Magnetbürsten schrubbten wir den unglaublich klebrigen Staub von den Stiefeln. Ich nieste existenziell zwanghaft. Und gleich noch mal. Es roch nach abgebrannten Silvesterknallern.

»Ja«, lachte Gonzo, »das ist der Duft des Mondes.«

»Dabei hat Mondstaub chemisch nichts mit Schießpulver zu tun«, behauptete Franco. »Regolith besteht aus Silikondioxidglas. Das Ergebnis von Abertausenden von Meteoriteneinschlägen in den vergangenen vier Milliarden Jahren.«

Gespeicherte stellare Böller also, olfaktorisch lesbar. Dabei hatten wir den Mond gar nicht direkt betreten. Wir waren aus der Fähre gleich in den Stationsport gewankt. Aber Mondstaub kriecht überall rein, winzig, scharfkantig und aggressiv.

»Und wenn er mit Sauerstoff und Feuchtigkeit in Berührung kommt, dann reagiert er. Das kennt man von der Erde. Wenn es lange trocken war und plötzlich regnet. Dann riechen die Straßen nach Staub und ... Urin.« Franco lachte.

Auch recht. »Hat jemand ein Tempo?«

Nein, woher auch? Himmel, ist das eng alles!

Eine dienstfertige Chinesin schraubte und zog uns aus den Raumanzügen und schickte uns nacheinander in die Magnetdruckwasserdusche. Angetan mit violetten Anzügen aus einem synthetischen Stoff hüpften wir anschließend durch einen Gang. Seine Decke war gepolstert. Sonst hätte sich Franco sicher gleich den Schädel gerammt. Immer wieder lupfte es ihn vom Boden.

Hinter einer weiteren Druckschleuse erwartete uns Tamara. Sie sah auch so aus: vollbusig, schwarzhaarig, mandeläugig.

Franco murmelte auf Spanisch oder Katalanisch anerkennende Schweinereien vor sich hin. Während des Flugs hatte ich mir drei Tage lang seine Referate über die Frauenärsche der Welt anhören müssen. Das Gerede über Titten verstehe er nicht, auf den Hintern komme es an. In Europa hatten die Spanierinnen die schönsten, deutsche Ärsche waren zu flach, französische zu klein. Die wunderbarsten Ärsche auf dem Globus aber hatten die Brasilianerinnen. »Puta madre!«

»Willkommen auf der Internationalen Mondstation Artemis«, sagte Tamara. »Kommandant Colonel Leslie Butcher und seine Crew wünschen euch einen angenehmen und erfolgreichen Aufenthalt.« Sie sprach Amerikanisch mit russischem Akzent. »Ich bin«, sie legte beide Hände übereinander auf die Brust, knapp oberhalb ihrer üppigen Titten, »Tamara Jagelowskaja, eure Ansprechpartnerin in allen Fragen des human factors engineering.« Unübersetzbar! »Hier sind eure Uhren.«

Und eng war das! Gonzo keuchte mir ins Genick. Franco rubbelte in seiner virilen Unruhe mit seinem Ellbogen meine Rippen. Jeder Zentimeter Wand um uns herum war Nutzfläche für Schalter, Schubladen, Kabel, Messgeräte, Werkzeuge, Laptops, Kameras und Automaten zwischen Kabelbündeln, Kabelrollen, Kabelgirlanden und Kabelenden. Seit Tagen schon hatte ich nur noch genormte Schubladenwände mit Schaltern, Knöpfen und Anzeigen wenige Zentimeter vor meinen Augen gehabt, selbst die Sterne hatten sich im Bullauge der Fähre zu einem Nahbild verdichtet. Und beständig bohrte sich das Gebrumm der Belüftung durch den Schädel. Nie leise genug, dass man es ganz vergaß.

»Bitte tragt die Uhren immer direkt auf der Haut«, sagte Tamara. »Sie enthalten im Armband einen RFID-Chip mit Sensor, der Alarm auslöst, wenn die Temperatur unter 36 Grad Celsius sinkt oder über 39 Grad steigt.«

Gonzo nickte verständig. Der Astrophysiker aus Berlin hatte schon während des Flugs den Alleskönner rausgehängt. »Ein Nazi, eh!«, hatte Franco mir ins Ohr gewispert. Mir hatte er französische Leichtigkeit bescheinigt, Laisser-faire.

»Du bist«, sagte Tamara mit Blick auf ihren Handcomputer, »also Dr. Georg Giffhorn aus Berlin. Aufenthalt: drei Monate.«

Gonzo legte sich die Uhr mit geübtem Griff an.

»Dann bist du Franco Llacer?« Tamara lächelte. »Der Europaabgeordnete aus Barcelona. Willkommen! Und du«, sie richtete ihre schwarzen Mandelaugen auf mich, »bist dann wohl Dr. Michel Ardan aus Marseille. Der Ameisenspezialist! Unser Retter!«

Franco hatte mich Miguel genannt. Gonzo hatte Mischel gesagt. Ich hätte sonst gar nicht gewusst, wer ich war.

Tamara lächelte sich an mich heran. Kühle Finger nestelten die Omega Speedmaster Professional an meinem Handgelenk fest. Ich wich zurück, so weit es ging, bevor ihre Tittenspitzen meinen Tittenspitzen ins Gehege kamen.

»Zum weiteren Prozedere ...« Sie lächelte hostessig in die Runde. »Zunächst einmal schauen wir bei Dr. Wathelet zum Gesundheitscheck vorbei.«

Panik durchschoss mich völlig unvorbereitet. Ein erstes Gefühl nach den Tagen innerer Totenstarre unter Schock.

2

»Jetzt aber ragt sie unter den lydischen Frauen hervor wie nach Sonnenuntergang der rosenfingrige Mond, der alle Sterne überstrahlt.« Arignotalied, Sappho, ca. 600 v. Chr.

Der Spargel war schuld, dass ich auf den Mond gekommen war. Bruchsaler Raketen, auf den Punkt gegart, mit Sauce Hollandaise, Schinken und Kartoffeln.

Auf der Fahrt durch die Stuttgarter Tunnel nach Sindelfingen hinaus hatte Richard mich kurz instruiert: »Sie heißt Viola, er Gunter Maucher, Chef der SSF, Space Systems Friedrichshafen.«

»Und was soll ich da?«

»Dich benehmen, Lisa! Und zwar so wie immer!«

»Wieso? Ist da jemand plötzlich und unerwartet verstorben?«

Die Gastgeberin trug grüngoldene Hosen und ein darauf abgestimmtes grüngelbes Designerjäckchen aus einem Schaufenster am Münchner Stachus.

»Ah, Frau Nerz, freut mich! Schon viel von Ihnen gehört«, sagte sie und musterte mich und meinen violetten Smoking mit dem skeptisch-spöttischen Lächeln, mit dem man in diesen Kreisen die unpassende Gespielin des Oberstaatsanwalts für Wirtschaftsstrafsachen beim Landgericht Stuttgart zur Kenntnis nahm.

Gunter Maucher war Ende dreißig, trug ein violettes Polohemd zu braunen Hosen, reißnagelkurzes Haar und ein sportliches Lächeln. Sein Händedruck war dynamisch und kam vom Power Plate her, einem Fitnessbrett, das Vibrationen erzeugte, »dreidimensionale!«, und je nach Turnübung bestimmte Muskelpartien zum Zucken animierte. »Funktioniert über die Reflexe! Eine Errungenschaft der Raumfahrt. Die Russen haben das für die Mir entwickelt, um den Muskelabbau in der Schwerelosigkeit zu bremsen.«

Zu irgendwas war die Raumfahrt also doch gut. Cipión zerrte in Richtung Küche und röchelte im Halsband.

»Die Teflonpfanne hingegen« – die hatte ich gerade erwähnen wollen – »hat mit der Raumfahrt nichts zu tun. Das ist ein weitverbreiteter Irrtum. Aber schaden tut er uns nicht. Nicht wahr, Jockel?«

Jockel war mit einer Schickse gekommen, die zwar nicht zu seinem Alter passte, dafür aber seinem silbernen Porsche Carrera gut stand. Er war ein fleischiger Mann Ende sechzig und so bedeutend, dass er es sich leisten konnte, die Erklärung seiner Existenz anderen zu überlassen. Jockels Schickse hieß, genuschelt, Schüssi.

Bei Tisch hatten wir es vom viel zu warmen Frühling, von Gunters Meniskus und Jockels Tachykardie. Viola Maucher steuerte Rheuma bei. Nuschel-Schüssi bewachte solange ihren Lippenstift und fingierte ein Lächeln. Seit neuestem neigten sich Tischgespräche viel zu schnell allerlei Krankheiten zu. Der andere Part gehörte den Heldentaten in der Welt von Nepp und Schnäppchen.

»Heute früh gestochen!«, erklärte Gunter mit großen Gesten, als Viola den Spargel auftrug. Er war am Morgen extra nach Stuttgart hinuntergefahren, um bei Feinkost Böhm mit eigenen Augen den Spargel auszusuchen. »Man hätte ihn sich auch schälen lassen können, aber als ich die Vierkanthölzchen sah, die dabei rauskamen, da habe ich gedacht, das kann meine Viola besser.«

Schüssi lachte sinnentleert. Sie war intensiv damit beschäftigt, sich im Gravitationsfeld der drei männlichen Mächte am Tisch zu justieren: Gunter Maucher, der Schwätzer, Jockel, ihr Schmuckspender, und meiner, Dr. Richard Weber, Oberstaatsanwalt, geschmeidig und wortkarg: eine unbekannte Größe von starker Anziehungskraft.

»Eigentlich mag ich keinen Spargel«, verkündete sie mit Glosslippen. »Ich kann den Geruch nicht leiden. Ich meine, hinterher.« Sie lachte springbusig und glitzerte Richard an, der seine Gedanken unweigerlich dem zuwandte, was auf dem stillen Örtchen zwischen Schüssis Schamlippen hervorkam.

»Also, ich verstehe die Aufregung in den Medien nicht«, sagte Gunter. »Auf dem Mount Everest sterben jedes Jahr fast zweihundert Menschen. Das ist eine Todesrate von acht Prozent. Vom Gasherbrum II kommt nur jeder Zweite lebend wieder runter! In der Raumfahrt liegt die Todesrate dagegen bei nur zwei Prozent. Doch kaum stirbt da oben einer, stellen die Medien die ganze Raumfahrt in Frage. Torstens Tod ist tragisch, gewiss! Besonders für mich. Mein Gott, der Torti und ich, wir sind doch zusammen in Wangen im Allgäu auf die Schule gegangen. Er hat immer Astronaut werden wollen. Er kannte das Risiko.«

»Und seine Frau und die Kinder, wer hat die gefragt?«, fragte Viola anklagend. »Er hinterlässt drei Kinder!«

»Die Familie ist versorgt«, brummte Jockel fleischig. »Wir haben eine Stiftung für so was.«

»Geld ist nicht alles!«

»Aber nur mit Geld kann man Probleme lösen!«, brummte Jockel.

Schüssi lachte und warf mir einen Komplizinnenblick zu, denn immerhin steckte mir ein Einkaräter im Ohrläppchen, was mich markierte als eines Mannes Kurtisane. Den teuersten Schmuck trug allerdings Viola. Sie gehörte zu den Damen, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatten, basisch zu leben, glutenfrei und linksdrehend zu essen und das Leid anderer in Anklagen zu verwandeln.

»Und niemand will sagen, woran er wirklich gestorben ist.« Viola bündelte für Richard vorwurfsvoll die Spargelstangen. »Die arme Susanne. Wie früher: gefallen auf dem Feld der Ehre. Mehr sagt man ihr nicht. Da geht es schließlich um ein Millionengeschäft.«

Richard schob seinen Teller unter das tropfende Gemüse.

»Milliarden!«, korrigierte Gunter im Reflex eingespielter ehelicher Überlegenheitsscharmützel. »Das verwechselt Viola immer.« Er lachte. »Nicht wahr, Schätzelchen?«

Schätzelchen schossen die Raketen über Richards Teller hinaus. »Oh, Verzeihung!«

»Nix passiert.« Seinen cognacfarbenen Anzug hatte Richard samt seiner Person aus der Schussbahn nehmen können. Gegen allen Anstand klaubte er mit den Fingern eine dampfende Stange vom Platzdeckchen auf seinen Teller. Ein Torpedo hatte den Tisch verlassen und war Cipión vor die bärtige Schnauze gefallen. Der Dackel schnüffelte angewidert.

»Lass liegen, Richard!«, rief die Hausherrin, doch er hatte sich bereits gebückt. Am ausgestreckten Arm trug Viola die Spargelstange auf ihrem Teller in die Küche.

»Die Sauce Hollandaise ist doch selbstgemacht?«, erkundigte ich mich und schnüffelte unerzogen über die Sauciere nach dem, was bei mir zu allergischen Schocks führen mochte. Mein eigenes Leben war mir doch näher als das des Astronauten, der vor vier Wochen tot durch die Nachrichtensendungen getragen worden war: beim Mondspaziergang ums Leben gekommen.

»Susanne wusste, wen sie heiratet«, sagte Gunter. »Sie kannte Torti seit der Schulzeit. Wir hatten da sogar eine Wette am Laufen, der Torti und ich.«

»Was für eine Wette?«, fragte ich und säbelte dem Spargel die Köpfe ab.

»Also ich würde sterben vor Angst, wenn mein Mann auf den Mond fliegen würde«, kicherte Schüssi dazwischen.

»Bald haben wir sowieso kein Geld mehr für so was!«, verkündete Viola. »Die CO2-Bilanz von Raumflügen ist inakzeptabel. Und wir haben doch jetzt schon dermaßen Probleme auf der Erde wegen der Klimakatastrophe, dass eigentlich niemand mehr Raumfahrtprogramme bezahlen kann.«

Gunter verzog das Gesicht und murmelte: »Dann wird der Mond vielleicht unsere einzige Rettung sein. Unser siebter Kontinent.«

»Wir haben sowieso keine andere Wahl!«, bruddelte Jockel. »Wollen wir denn wirklich ewig von russischem Erdgas abhängig sein? Wollen wir unsere Freiflächen mit Windkraftanlagen und Solarzellen pflastern? Unsere einzige Zukunft ist die saubere Kernfusion.«

»Da ist noch gar nichts geschwätzt«, unterbrach Richard kenntnisreich. »Die saubere Heliumfusion hat noch keiner zuwege gebracht, und euer Testreaktor in Frankreich mit dem lateinischen Buchstabenhaufen Iter für Weg, der befindet sich gerade mal auf demselben. Und auf einen Grundstoff setzen, den es auf der Erde so gut wie gar nicht gibt, das scheint mir ...«

»Auf dem Mond gibt’s Unmengen Helium-3«, unterbrach Gunter.

»Aber eben nur auf dem Mond!«

»Aber es rechnet sich!«, warf Gunter ein.

»Und genau deshalb muss der Mond europäisch sein«, bruddelte Jockel dazwischen. »Wir dürfen nicht alles den Amerikanern, Russen und Chinesen überlassen. Eine Tonne Helium-3 vom Mond ist vier Milliarden Euro wert. Wer dort Helium abbaut, wird sich dumm und dämlich verdienen. Glücklicherweise sieht die Kanzlerin das mit der Raumfahrt ein bissle anders als dieser Gazprom-Stoffel vorher. Sie ist immerhin Physikerin. Wenn auch der EU-Etat für die Weltraumforschung nur ein Nasenwasser ist, verglichen mit dem, was die USA oder Japan ausgeben.«

Meine Spargelköpfe waren kalt und schmeckten nach Schwefel.

»Der Mond darf niemandem gehören, finde ich«, sagte Viola. »Finden Sie das nicht auch, Frau Nerz?«

»Äh!«

Gunter stellte die Weinflasche aus Violas Reichweite.

»Gibt es da nicht den Weltraumvertrag?«, stocherte ich in den Untiefen meiner Viertelbildung.

»Ja«, übernahm Richard mühelos. »Der Vertrag über die Grundsätze zur Regelung der Tätigkeiten von Staaten bei der Erforschung und Nutzung des Weltraums einschließlich des Mondes und anderer Himmelskörper aus dem Jahr 1967. Den haben immerhin hundert Staaten unterzeichnet.«

Viola lachte auf. »Aber sicher nicht die USA.«

»Sogar die USA. Der Vertrag sollte damals verhindern, dass Atomwaffen ins All gebracht werden. Er legt fest, dass der Weltraum und seine Gestirne nur zu friedlichen Zwecken genutzt werden dürfen. Das legen die Amerikaner allerdings inzwischen anders aus als die Russen. Die USA verstehen unter friedlich nicht aggressiv, während die damalige Sowjetunion von nicht militärisch ausging.«

Der Spargel stellte sich in meinem Magen quer.

»Mir gehört schon ein Stück vom Mond!«, triumphierte Schüssi. »Jockel hat mir ein Mondgrundstück zum Geburtstag geschenkt. Da gibt es einen Amerikaner, der verkauft Mondgrundstücke. Ich hab zu Jockel schon gesagt: Kauf doch gleich den ganzen Mond.«

Jockel blickte von seinem Teller auf.

»Aber da kann doch nicht einfach einer behaupten«, fuhr Viola hoch, »ihm gehöre der Mond, und dann Grundstücke verkaufen! Oder? Richard, was sagst du dazu, du als Staatsanwalt?«

»Oh, das ist kompliziert«, antwortete der Jurist vergnügt. »Soviel ich weiß, hat dieser Amerikaner sich im Grundbuchamt von San Francisco seine Besitzansprüche auf den Mond eintragen lassen und dann UNO, USA und die damalige UdSSR informiert. Augenscheinlich hat niemand innerhalb der ausgesetzten Frist von acht Jahren Berufung eingelegt.«

»Also müssten NASA oder ESA jetzt mich fragen, wenn sie mein Grundstück nutzen wollten«, sagte Schüssi. »Ich könnte Pacht verlangen und reich werden.«

»Sicherlich nur auf dem Klageweg«, lächelte Richard. »Und es würde ein sehr, sehr langer Klageweg werden, und ein sehr teurer mit äußerst ungewissem Ausgang.«

Jockel senkte seinen Blick wieder ins Gematsche von Sauce Hollandaise, Kartoffeln, Schinken und Spargel.

»Ihr wollt den Mond doch bloß ausbeuten, alle miteinander«, rätzte Viola.

»Frogs und Borgs aller Sonnensysteme, vereinigt euch!«, rief ich mit geballter Faust im violetten Smoking.

»Ja«, sinnierte Richard, »es lässt uns nicht kalt, wenn es um den Mond geht, das Auge der Nacht, den Weichzeichner der Liebe, den Folterknecht unserer schlaflosen Nächte.«

Schüssi schmachtete.

»Dabei ist er nur ein totes Absprengsel der Erde«, lächelte Richard verträumt. »Der Leichnam der Welt: lebensfeindlich, unbewohnt und unbewohnbar. Dennoch werfen wir unsere Phantasien hinauf, sehen einen Mann, ein Gesicht, ein Kaninchen, Meere und Ozeane.«

»Krass!«, lispelte Schüssi.

Richard richtete seinen Blick aus seinen asymmetrischen milchkaffeebraunen Augen auf die Schöne. »Und wisst ihr, wer den ersten echten Science-Fiction-Roman geschrieben hat, der ausschließlich von einer Reise zum Mond handelt?«

Er durfte damit rechnen, dass Schüssi den Kopf schüttelte. Auf diese Weise ersparte er es den anwesenden Männern, ihre Unwissenheit zu offenbaren. Mit Jules Verne hätten sie und ich danebengelegen.

»1595, Johannes Kepler«, sagte er. »Somnium heißt seine Schrift, auf Latein geschrieben. Kepler hatte als Student in Tübingen seinen Herren Professoren in einer Disputation vor Augen führen wollen, dass man auch auf dem Mond glauben würde, man befinde sich im Mittelpunkt der Planetenbewegungen, so wie man das auf der Erde glaubte. Aber den Tübinger Professoren war das viel zu nah am kopernikanischen Weltbild.«

Schüssi sah nicht aus, als sei ihr das ein Begriff. Ich sah vielleicht so aus, aber mir war es auch kein Begriff.

»Kopernikus hatte neunzig Jahre vorher die Sonne ins Zentrum der Planetenbewegungen gerückt«, erklärte Richard. »Aber der Kirche fiel es saumäßig schwer, vom Glauben Abschied zu nehmen, dass der Schöpfer die Welt ins Zentrum gestellt haben müsse. Keplers Traum wurde zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht. Weil der Schwager über dem Druck verstarb, hatte dessen Sohn eine Heidenangst, dass es auch ihn dahinraffen würde. Erfolgreich war das Büchlein auch nie. Es beginnt wie ein Märchen. Der Erzähler schläft ein und träumt von Duracotus, einem Jungen, der mit seiner Mutter, der Kräuterhexe Fiolxhilde, in Island lebt. Sie verkauft Kräuter an Fischer und Seefahrer. Eines Tages öffnet Duracotus einen Kräuterbeutel, der an einen Kapitän verkauft werden sollte, und verschüttet den Inhalt. Die Mutter ist so sauer, dass sie den Jungen anstelle der Kräuter an den Kapitän verkauft. So gelangt Duracotus nach Dänemark in die Lehre des Astronomen Tycho Brahe. Fünf Jahre später kehrt er heim. Fiolxhilde meint, es sei ja gut und schön, was der Bub alles von Tycho über den Mond gelernt habe, aber sie kenne einen Dämonen, der könne ihn sogar zum Mond bringen.«

»Cool!«, rief Schüssi.

»Fast hundert Jahre bevor Newton sich fragte, warum der Apfel nach unten fällt, und die Gravitationsgesetze entwickelte, war Kepler klar, dass man die irdische Gravitation überwinden muss, und zwar mit einem Schuss wie aus einer Kanone, und dass das Fluggerät dann ohne Antrieb durch die Schwerelosigkeit fliegt. Er wusste, dass beim Start starke Kräfte auf den menschlichen Körper wirken. Keinen von sitzender Lebensart, keinen Beleibten, keinen Genussmenschen könne man das zumuten, und der Reisende müsse vorher durch Opiate betäubt und seine Glieder sorgfältig verwahrt werden, damit sie ihm nicht vom Leibe gerissen würden.«

Jockel gab einen anerkennenden Laut von sich.

»Kepler wusste, dass der Monddurchmesser einem Viertel des Erddurchmessers entspricht, und selbstverständlich hatte er beobachtet, dass er uns immer dieselbe Seite zukehrt. Auch auf dem Mond geht demzufolge die Sonne auf und unter, aber ein Tag entspricht etwa einem irdischen Monat, auch das wusste Kepler. Er schloss daraus, dass auf der Mondoberfläche extreme Temperaturunterschiede herrschen müssen, unerträgliche Hitze, wohl fünfzehnmal so glühend wie die in unserem Afrika, und eisige Kälte. Eigentlich muss Kepler auch gewusst haben, dass der Mond keine Atmosphäre hat. Denn das konnte man schon in der Antike erkennen, wenn man beobachtete, wie ein Stern hinter dem Mond verschwand. Man sieht nämlich, dass er plötzlich verschwindet, ohne vorher in einer Luftschicht zu verschwimmen. In seinem Traum sieht Kepler dennoch Eis und Schnee auf den kalten Teilen des Mondes und riesige Gewässer. Und er kam auch nicht umhin, sich Leben auf dem Mond zu denken. Er beschreibt Fabelwesen, die sich der Lebensfeindlichkeit der Mondnatur angepasst haben. Ein Gedanke, der erst vierhundert Jahre später von Charles Darwin aufgegriffen wurde.« Richard lächelte versonnen. »Es zeigt sich doch immer wieder, dass alle Ideen in der Menschheit längst vorhanden sind, bevor irgendein Wissenschaftler sie aufgreift und damit berühmt wird.«

Fast hätte ich mich verschluckt.

Auch Jockel gab einen unwilligen Ton von sich. »Und was ist mit den Irrtümern?«, gurgelte er aus der Tiefe seiner massigen Brust heraus. »Mit Aberglauben kann nur die Wissenschaft aufräumen!«

»Aber erst, wenn man bereit ist, ihr zu glauben, Jockel! Wer hat denn Tobias Mayer geglaubt, als er Mitte des achtzehnten Jahrhunderts schrieb, dass der Mond keinen Luftkreis habe und folglich unbewohnt sein müsse? Übrigens ein Landeskind, in Marbach am Neckar geboren und in Esslingen aufgewachsen.«

Viola stand auf und trug die Teller hinaus.

3

»Sie wollen die Fahrt zum Monde ... die Fahrt auf den brüllenden Flammen ... zu meinem goldenen Monde wagen?« Frau im Mond, Thea von Harbou, 1928

»Da hast du aber eine Eroberung gemacht«, stichelte ich, während wir in Richards diplomatendunklem Benz unterm Dreiviertelmond um den Schattenring schleuderten und Cipión, von der Zentrifugalkraft gegen mein Bein getrieben, seine Schnauze in die Fußmatte stauchte und nieste. »Schüssi war ja ganz hin und weg!«

»Wer?«

»Die Schickse, die nach dem Genuss von Spargel so ungern strullen geht, Richard. Die Mondfleckenbesitzerin, mit der du dich den ganzen Abend unterhalten hast.«

»Ach, du meinst Julie!«

»Und was hat sie so gewusst?«

»Nichts.«

»Ah ja!«

»Mein Gott, sie arbeitet im Shop des Zeppelinmuseums in Friedrichshafen. Das hat sie mir erzählt.«

»Das muss ja ein faszinierender Job sein.«

»Lisa! Du haderst doch wieder nur ...«

»Und was will dieser fleischige Jockel mit dem Mond machen, wenn er ihn gekauft hat?«, unterbrach ich Richard, ehe er Wahrheiten benannte.

»Dieser Jockel ist Joachim Rees, Lisa!«

»Ach, Gott!«, rief ich. »Das war Joachim Rees! Der?« Wenn ich es genau bedachte, hatte ich keine Ahnung. »Und was macht der noch mal genau?«

Richard schmunzelte. »Er ist der Neffe von Eberhard Rees, dem Raketenspezialisten aus Trossingen im Schwarzwald, der im Stuttgarter Zeppelin-Gymnasium« – das lag gleich neben der Staatsanwaltschaft in der Neckarstraße – »zwischen den Kriegen Abitur gemacht, an der Stuttgarter TH studiert hat und dann der erste Mann hinter Wernher von Braun war, erst in Peenemünde beim V2-Raketenprogramm der Nazis, dann in Amerika beim Apollo-Programm. Sein Neffe Jockel war ebenfalls für die NASA tätig und ist jetzt der Vorsitzende des Mond-Clubs mit Sitz in oberschwäbischen Ratzenried.«

Ich musste lachen.

»Lach nicht. Der Mond-Club vereinigt Mitglieder aus allerhöchsten Ebenen der Luft- und Raumfahrtindustrie und ist einer der größten Umschlagplätze für Gelder, die in konkrete Projekte auf dem Mond fließen.«

»Da geht es um Milliarden«, gluckste ich.

»Ganz recht. Jockel hat dafür gesorgt, dass in den Projekten von ESA, NASA, JAXA – das sind die Japaner – Roskosmos und ISRO – Indien – immer mehr Technik und Know-how aus Baden-Württemberg steckt.«

»Haben wir denn so viel No-Hau?«

Richard hob stolz das Schwabenkinn. »Wir laufen Bayern bald den Rang ab in Sachen Weltraumtechnik. Wir haben Tesat-Spacom in Backnang für Satellitenmodule, Hoerner & Sulke in Schwetzingen – übrigens von einer Frau geleitet! – für Detektoren, Stereokameras und Massenspektrometer für ISS und Artemis. Wir haben das Forum 1 auf dem Flugfeld in Sindelfingen, das sich dem Raumfahrtgewerbe widmet. An der Uni Stuttgart werden Antriebs- und Transportsysteme entwickelt. Die EADS-Astrium Friedrichshafen ist Spezialist für magnetisch reine Systeme für Satelliten. Wir haben die DASA als größtes Luft- und Raumfahrtunternehmen in Deutschland, das seine Wurzeln in der MTU Friedrichshafen hat, die ...«

»Und jetzt will der Club den Mond kaufen?«, unterbrach ich Richards Wissenserguss.

»Unsinn! Der Mond wird denselben Status haben wie der Nord- und Südpol.«

Wir rollten über die Nesenbachtalbrücke in den Viereichenhautunnel, der nach einer kurzen Ampellichtung in den Heslacher Tunnel überging.

»Wenn man Gunter und Jockel reden hört«, bemerkte ich, »dann scheint mir das eher unwahrscheinlich. Ich sage nur Helium-3.«

»Man muss das Zeug erst einmal haben, Lisa. Helium-3-Atome werden vom Sonnenwind auf den Mond geblasen und von Meteoriteneinschlägen unter den Mondstaub gerührt. Helium ist ein Edelgas. Es lagert als Gasbläschen im Mondstaub. Aber keiner weiß so genau, wie tief, wie viel.«

»Und was ist da faul am Tod von Torsten Veith?«, fragte ich.

»Er ist bei einem Mondspaziergang verunfallt. Sein Anzug war beschädigt. So was kann passieren.« Richard bremste an der Ampel im Tunnelausgang zum Marienplatz.

»So was darf aber nicht passieren, oder?«

»Ein Astronaut darf auch niemals alleine einen Außeneinsatz unternehmen.«

»Und warum ist er alleine raus?«

»Das weiß niemand.«

»Und was hast du damit zu tun?«

»Nichts.«

»Und warum waren wir dann heute bei Gunter Maucher zum Essen eingeladen?«

»Die Mauchers sind eine alte oberschwäbische Tüftlerfamilie.« Richard rettete sich ins Regionale. »Gunters Großvater hat vor dem Krieg in Wangen im Allgäu Wohnwagen gebaut und dann bei Waldner in Wangen Labortechnik für Schulen. Gunters Großonkel war in Friedrichshafen am Zeppelinbau beteiligt. Aus seiner Fabrik ist die SSF hervorgegangen, der bedeutsamste Produzent für Druck- und Vakuumtechnologien und Supraleiter, die man für Fusionsreaktoren braucht. Vor zehn Jahren hat Gunter die Geschäftsführung der SSF übernommen. Den Raumfahrtbahnhof Friedrichshafen verdanken wir seiner Initiative.«

»Verstehe. Er ist ein potenzieller Steuerbetrüger.«

Der Staatsanwalt warf mir einen schnellen Blick zu. »Die SSF gehört seit einigen Jahren zum französischen Konzern TSE, Technique Spatiale de l’Europe, Großroboter für den Abbau von Bodenschätzen, Tiefenbohrer, Kräne. Torsten Veith war bei der SSF/TSE Ingenieur für Verfahrenstechniken.«

»Dann war es Mord!«

»Das ist entschieden eine Nummer zu groß für dich, Lisa!«

Wir rollten unter dem Österreichischen Platz hindurch. Gleich dahinter stoppte uns auf der Stadtautobahn die Fußgängerampel zwischen Leonhardskirche und Schwabenzentrum. Fußgänger gab es allerdings keine mehr. Die hatten längst bei Rot ihr Leben auf den sechs Spuren riskiert.

»Wer wäre denn zuständig bei Mord auf dem Mond?«, erkundigte ich mich.

»Oh, das ist kompliziert«, sprach der Jurist wiederum vergnügt. »Das hängt von vielerlei ab.«

»Wovon zum Beispiel?«

»Zunächst davon, wo der Mord geschehen ist. Die Artemis besteht aus Modulen von Russland, den USA, Japan und Europa. Entsprechend wären die USA, Europa, Japan oder Russland zuständig für die Ermittlungen.«

»Und wenn er außerhalb der Artemis geschehen ist?«

»Dann stellt sich die Frage, zu welcher Nation der Tote gehörte.«

»Tosten Veith war Deutscher.«

»In diesem Fall wäre Europa zuständig. Aber auch das ist nicht so einfach. Man stelle sich vor, als Täter würde ein US-Bürger ermittelt. Wer arretiert ihn dann? Und wer ordnet das an? Der Kommandant oder das Bodenkontrollzentrum. Und wie und unter welchen Haftbedingungen wird er festgesetzt? Und nehmen wir an, der Verdächtige bestreitet die Tat. Welches nationale Strafrecht gilt dann für die Beweisaufnahme? An welches Gericht muss er überstellt werden? An ein europäisches oder amerikanisches. In den USA gilt die Todesstrafe, Europa lehnt sie ab.«

Richard schaltete zufrieden.

»Die Entscheidung darüber, welcher Gerichtsbarkeit der Beschuldigte unterworfen wird, hängt außerdem davon ab, wer er ist. Für einen Wissenschaftler würde Heimatrecht gelten, wäre der Verdächtige ein Astrotourist, gilt das Recht der Nation, die ihn transportiert hat. Bei der Betriebsbesatzung verhält es sich wieder anders. Ein amerikanischer Offizier unterstünde dem Militärrecht, ein europäischer Pilot dagegen kann auch Zivilist sein. Derzeit haben wir nicht mehr als das IGA, das Intergouvernmental Agreement. Das beschäftigt sich allerdings mehr mit Nutzungsrechten und dem Schutz geistigen Eigentums. Der Entwurf eines extraterrestrischen Zivil- und Strafrechts liegt derzeit bei der UNO im Rechtsausschuss des ständigen Ausschusses für die friedliche Nutzung des Weltraums, COPUOS. Der tagt einmal im Jahr. Für Völkerrechtsverstöße im Rahmen kriegerischer Aggressionen wäre er wiederum nicht zuständig. Und sollte die UNO eines Tages ein umfassendes Gesetzeswerk beschließen, wird es noch jahrelang durch die nationalen Parlamente kreisen. Die USA werden es womöglich niemals ratifizieren, und Polen bestand die letzten Jahre darauf, dass polnische Staatsbürger nur von polnischen Richtern abgeurteilt werden.«

»Mit anderen Worten, es ist überhaupt zu groß für die Menschheit.«

Richard lächelte grimmig.

»Aber Mord ist trotzdem verboten«, bemerkte ich.

»Nur müsste man halt auch nachweisen, dass es sich bei Torsten Veiths Tod um ein Gewaltverbrechen handelt!«

»Tja, zur Not muss ich halt auf den Mond!«

»Aber sicher doch, Lisa, kein Problem!«

Am Neckartor bog Richard in die Neckarstraße ab. Wir rollten durchs Spalier von Schwabengarage, Sparbäck und Sparda Bank zum Stöckach.

Ähnlich wie die Mondstation Artemis wurde die Neckarstraße ständig erweitert und umgebaut. Zwischen dem Bunker der Staatsanwaltschaft und alten Wohnhäusern aus gelben Ziegeln stieg die Stadtbahn aus dem Tunnel und Hochbahnsteige sprengten die Fahrbahnen auseinander. Seit Jahren wurde, weil nichts wirklich passte, Asphalt umgeschmolzen. Ein Fahrradweg wurde nach kurzem wieder ausradiert. Fußgängerüberwege wurden gelegt, die Straße verengt. Auf der Seite der Staatsanwaltschaft waren Glasbauten entstanden. Die Gebäude auf der anderen Seite wurden dagegen allmählich aufgegeben. Das soziale Prekariat zog auf engem Fußweg an den Schaufenstern von Handyhändlern, türkischem Im- und Export, Schlüssel- und Schilderdienst, Biomarkt, Selbstbedienungsbäcker und Schnellfriseur entlang, rannte auf Straßenbahnen, aß Döner.

»Na? Kommst du noch mit rauf?«

Drei Stockwerke waren ohne Berechnungen von Treibstoff und Gravitation durchaus zu bewältigen. Wie hätte ich ahnen können, dass es Richards letztes Mal sein würde?

Er legte seinen Autoschlüssel auf meinen zerratzten Kneipentisch und zog sich den Schlips mit dieser unnachahmlichen Bewegung aggressiver Erleichterung aus dem Kragen, die ich gar nicht erst zu üben brauchte, denn ich würde sie nie hinkriegen. Er ging durch in die Küche, um die Kaffeemaschine zu füllen und, während sie sich rülpsend in Gang setzte, ans Fenster zu treten und über die Neckarstraße und die Leuchtinsel der Haltestelle Stöckach hinweg zum Bunker der Staatsanwaltschaft zu blicken, die unter den Strahlern ihrer Antiterrorkampfbeleuchtung vom Tagwerk ausruhte. Halbhohe orangefarbene Rollos an manchen Fenstern erinnerten an einen Tag von südlicher Hitze und gaben dem Gebäude einen schlampigen Anstrich.

Mit dem Kaffeebecher in der einen Hand, die Lippen gespitzt, knibbelte der Staatsanwalt mit der anderen die Hemdknöpfe auf und zupfte das Hemd aus dem Hosenbund. Es war einer der seltenen Momente, in denen Richard sich der Unordnung anvertraute. Das war eigentlich seine Sache nicht. Doch seit dem Tod seines Vaters litt er stumm unter der Notwendigkeit, alles zu widerrufen, woran er fünfzig Jahre lang geglaubt hatte. [Siehe Lehmann: »Allmachtsdackel«] Das machte ihn zögerlich und mich ungeduldig. Keinesfalls durfte ich ihm jetzt schon an den Arsch fassen.

»Ist noch was?«

»Sei vorsichtig, Lisa. Wenn du aus Torsten Veiths Tod einen Mord machst, dann schreckst du nicht nur ein paar Privatpersonen auf« – es klang bitter, denn er sprach aus schmerzlicher Erfahrung –, »sondern ein Dutzend Rüstungskonzerne.«

»Ist das ein Auftrag?« Ich staunte. »Ermittelst du etwa in ...«

Richard zog mit gespielter Irritation die Brauen hoch. »Ich bin Wirtschaftsstaatsanwalt, Lisa! Ungeklärte Todesfälle sind nicht mein Beritt. Aufträge vergebe ich sowieso keine. Ich meine nur, du solltest wissen, dass Gunter Maucher einer hochkarätigen Wirtschaftsdelegation unseres Ministerpräsidenten angehören wird, die in einer Woche nach China aufbricht. Er möchte Hochdrucktechniken für Fusionskraftwerke verkaufen. Die Leittechnik, also die Systemsteuerung, soll von TSE aus Marseille kommen, die auch für die Artemis die Leittechnik geliefert hat. Es wäre schlecht, wenn die jetzt in Verruf geriete. Torstens Unfall ist nämlich deshalb zu spät bemerkt worden – abgesehen davon, dass er alle Sicherheitsrichtlinien umgangen hat –, weil die Leittechnik von TSE versagt haben könnte. Gunter und Jockel sind deshalb derzeit etwas nervös.«

»Mit anderen Worten, wir nehmen künftige Atomunfälle in China in Kauf, damit TSE und SSF jetzt ein gutes Geschäft machen?«

»Darum geht es nicht, Lisa! Die Techniken, um die heute verhandelt wird, sind in ein paar Jahren eh ganz andere. Bei der Reise geht es darum, Europa den expandierenden und ziemlich risikofreudigen chinesischen Energiemarkt zu sichern.«

»Aber zunächst für schmutzige Fusionsreaktoren, solche, die heftige Strahlung absondern, oder?«

»Aber mit der Fiktion, dass Europa sich zum Weltmarktführer beim Abbau von Helium-3 auf dem Mond entwickelt, um später saubere Fusionsreaktoren bauen zu können.« Richard schlürfte mit spitzen Lippen den heißen Kaffee.

»Und das gefällt dir nicht?« Ich versuchte zu verstehen, worum es ihm eigentlich ging.

»Gefällt dir das denn?«, fragte er pietistisch streng. »Vor knapp zwanzig Jahren hat Europa ein Waffenembargo gegen China beschlossen. Ausfuhren bedürfen einer Genehmigung des Bundesamts für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle. Dennoch liefert die TSE/SSF ungeniert Teile für Human-Zentrifugensysteme zur Astronautenausbildung und automatische Orientierungs- und Steuerungselemente, die nicht nur im Weltraum nützlich sind, sondern vor allem in Schützenpanzern, U-Booten und Raketen, die beispielsweise gegen Taiwan zum Einsatz kommen könnten.«

»Und nun fragst du dich, ob du deinen Freund Gunter vor der Reise verhaften lassen musst oder ob es danach auch noch reicht?«

Richard blickte schmaläugig zu mir herüber. »Ich könnte durchaus ein Verfahren wegen Korruption einleiten. Bei Außenhandelsgeschäften findet man immer was. Aber was würde das ändern? Weltraumtechnik und Kriegstechnik sind untrennbar miteinander verbunden.«

4

»Der Amerikaner Hutchings Goddard hat erklärt, dass es möglich sei, mit mehrstufigen Pulverraketen den luftleeren Raum zu erreichen und vielleicht sogar eine Blitzlichtentladung auf der Mondoberfläche zu zünden.« Rakete zu den Planetenräumen, Hermann Oberth, 1923

Warum hatte man ausgerechnet mich am Leben gelassen und nicht Richard? Warum hatte man mich auf den Mond geschossen und nicht im Bodenseehinterland verbuddelt? Das wäre auch viel billiger gewesen. Hundert Millionen Euro kostete es, einen Menschen auf den Mond zu schießen und zurückzuholen. Vielleicht würde man in meinem Fall wenigstens die Rückholkosten sparen.

Aber warum das Ganze? Damit ich mich noch eine Weile in Schmerzen krümmte, ehe ich starb, damit ich Buße tat für meinen Mangel an Respekt vor den Weltmächten, damit ich bereute und mich schämte, weil ich niemals auf Richards Gefühle Rücksicht genommen hatte, eigentlich auf niemandes Gefühle. Damit ich endlich meine gerechte Strafe bekam: Da siehst du mal, wo das hinführt! Aber warum?

Drei Tage Flug hatte ich gerade so überlebt in der Mühle von Fragen, die mir keiner beantwortete. Wo bin ich eigentlich? Warum hat Richard sterben müssen? Warum weiß ich nicht, wie ich in die Raumfähre gekommen bin?

Meine innere Schockstarre hatte wenig dazu beigetragen, die Torturen der Schwerelosigkeit auszuhalten. Mit eingezogenem Kopf und Kotztüte in der Hand hatte ich mich in meinem Schalensitz verankert. Raumkrankheit nannte man das. Zu viel Blut im Oberkörper, zu wenig in den Beinen. Mir sausten die Ohren! Und ich hatte ununterbrochen das Gefühl, auf dem Kopf zu stehen. Auch wenn ich mich umdrehte. In der Schwerelosigkeit gab es halt kein Oben und Unten. Ich stand immer nur auf dem Kopf. Da wird man verrückt.

Zusätzlich hatte Franco mich zugetextet. Er war Lehrer – Professor, wie das im Spanischen hieß – für Geologie, hatte als Junge von der Raumfahrt und der Unabhängigkeit Kataloniens geträumt und sich für die katalanische CiU ins Europaparlament wählen lassen. Als die Frage aufkam, welcher Volksvertreter für eine Reise zur Artemis geeignet wäre, hatte er wild den Finger gestreckt und sich im Weltraumtechnikinstitut in Torrejón de Ardoz bei Madrid trainieren lassen. Er war wenigstens auf irgendetwas vorbereitet: mit Parabelflügen auf die Schwerelosigkeit, im Wasserbecken auf die Bewegung in schweren Raumanzügen.

Ich dagegen taumelte sinn- und orientierungslos durch die Artemis. Mein Gleichgewichtsempfinden oszillierte zwischen Schwerelosigkeit und Mondschwere, die mir vorkam wie Erdenschwere. Meine Nase rotzte, meine Augen juckten, obgleich der Duft des Mondes nach abgebrannten Silvesterknallern längst verflogen war. Tamara führte uns in die Wirbelsäule des Habitats, die innere Röhre, das spinale Treppenhaus.

»Ah!«, rief Gonzo, den Blick geweitet, wenngleich die Decke kaum zwei Meter über uns lastete. Eine steile Treppe schmiegte sich auf einer Kreisbahn empor und verdrückte sich durch ein Loch in der Decke. Eine vage Erinnerung an den Polizeigewahrsam im Stuttgarter Präsidium kroch mir ins limbische System: der Geruch nach menschlichen Fäkalien. Doch Gonzo lachte nasentaub und glücklich. Sein Traum erfüllte sich.

Dabei war alles noch viel kleiner und enger, als ich es mir bei Durchsicht der Bilder von der Artemis im Internet vorgestellt hatte. Immer stieß man mit dem Ellbogen oder Kopf irgendwo an, immer in Gefahr, den falschen Schalter zu treffen und irgendwas Wichtiges lahmzulegen oder abzubrechen und sich in Kabelgirlanden zu erhängen.

Sie alle kennen vermutlich das Foto, das jeden Zeitungs- oder Internetartikel über die Mondstation illustriert: der aufgeschüttete Pylon aus Mondstaub, aus dem die obersten Enden der sechs senkrecht stehenden runden Module herausragen wie die Zipfel praller weißer Würste, die man ringförmig zusammengebunden hat. Jede Wurst hat ein Bullauge und obenauf sitzt die Cupola mit ihren sechs Panoramafenstern und dem sechseckigen Deckelfenster aus getöntem Spezialglas. Wie eine futuristische Berghütte auf einem Erdkegel wirkt die Artemis. Nur die Röhren, die unten aus dem Bergkegel herausfahren, verraten, dass der Hauptteil des Habitats im Verborgenen liegt, zum Schutz vor Strahlung und kleinen Meteoriteneinschlägen. Der Mond hat ja keine Atmosphäre, in der Sternschnuppen verglühen.

Vermutlich wissen Sie auch, dass die Module aus einer dreißig Zentimeter dicken Haut aus Druck- und Isolierschichten bestehen und nur durch den Innendruck prall gehalten werden, und Sie haben sich sicher auch schon beklommen gefragt, was passiert, wenn ein Meteorit unglücklich einschlägt, ein Kran umfällt oder der Lu-Bus seinen Landeplatz verfehlt. Schnurpelt dann alles in sich zusammen wie ein Luftballon?

In echt und von innen betrachtet, wirkte die Artemis wie eine Mischung aus Intensivstation, Heizungskeller, Labor, Werkzeugkasten und Pfadfinderzelt. Zuleitungen für Belüftung, Heizung und Wasser liefen wie vergessene Feuerwehrschläuche an den Fußkanten entlang und rüsselten durch Löcher in obere und untere Decks. Bloß nicht drauftreten! Gebündelte Kabel verfolgten ihre Wege. Kästen, Relaisstationen und Messeinheiten blinkten, schnaubten und piepsten in allen Ecken und Zwickeln. Roboterarme warteten auf Aufgaben. Überall war nachträglich noch was hingebastelt, Kästchen, Gitter, Gepäcknetze, Verzweigungen. »Bricolage«, fiel mir ein, das französische Wort für Pfusch, das sich von Heimwerken herleitete. Mit beängstigender Ergebenheit hatte mein Hirn angefangen, sich ins Französische einzugrooven. Was für eine Wahl hatte ich auch gehabt in der Enge der Fähre? Gonzo, der Deutsche, hätte es gehört, wenn ich beim Kotzen deutsche Schimpfwörter gemurmelt hätte.

»Don’t jump!«, warnte uns Tamara, als es Franco wieder mal vom Boden lupfte.

Ein Rechenexempel aus meiner Schulzeit folterte meine Denkmaschine. Auf der Erde überspringt ein Hochspringer zwei Meter. Wie hoch springt er auf dem Mond, wenn man annimmt, dass die Gravitation dort nur ein Sechstel der irdischen beträgt? Alles Mumpitz! Drei Tage Schwerelosigkeit hatten die Kraft meiner Muskeln auf den Status von drei Tagen grippaler Bettlägerigkeit reduziert.

Die Krankenstation zog sich über drei der kreisrunden Module. Im Artemis-Jargon hieß sie HHR, human health and recreation, gesprochen Eitsch-Eitsch-Ar, und war OP, Labor, Reha und Fitnessraum in einem, aber auf kleinstem Raum. Tamara lieferte uns in einem Segment mit Fahrradergometern und Schüttelbrettern ab, die mit Monitoren und Messstationen in den Wänden verkabelt waren. Über allem lag ein Hauch klinischer Tödlichkeit.

»Ah, die Greenhorns!«, empfing uns Dr. Wathelet. Sein schütteres Haar verriet Alter, sein Gesicht war glatt und jung. Gonzo und Franco hatten auf dem Flug ebenfalls puffy faces bekommen. Ich vermutlich auch. Das Blut sank einfach nicht in die Beine. Und auf dem Mond war der Effekt offensichtlich auch noch vorhanden.

»Leider habe ich nur zwei Fahrräder«, sagte der Arzt mit leicht französischem Einschlag und Spritze in der Hand. »Auf dem hier kann ich den Mont Ventoux einstellen, original Tour-de-France-Kurs. Wer will zuerst?«

Gonzo trat vor, der Streber, und schob den Ärmel hoch. Der Arzt zog dickes dunkles Blut aus Gonzos Vene, verkabelte ihn und schickte ihn aufs Rad. Gonzo begann zu strampeln, den Blick auf den Monitor gerichtet, auf dem sich die Straße den kahlen Berg hinauf in Bewegung setzte.

»Der Nächste, bitte«, sagte der Arzt.

Franco rollte den Ärmel des violetten Artemis-Sweaters hoch. Er radelte im südländischen Energiesparmodus und ohne Tour-de-France-Simulation.

Dr. Wathelet nahm die nächste Spritze. »Michel Ardan, notre sauveteur«, sprach er mich auf Französisch an, wenn auch mit den verlängerten Vokalen der belgischen Abart. »Unser Retter.«

»Da muss ein Irrtum vorliegen.«

Die Plastikverpackung der Spritze entglitt Wathelets Fingern und versuchte zu fallen, doch reichte ihr die Gravitation nicht, um gegen die dicke Luft im Habitat anzukommen. So geriet sie in den Wirbel der Ergometer und entsegelte unseren Blicken. Gab es hier eigentlich eine Putzkolonne, fragte ich mich und schob den Ärmel hoch.

»Oh!« Der Alte schärfte den Blick in mein Gesicht. Sein Lächeln erfuhr eine Testosteronaufhellung. »Da haben die im Astronautenbüro anscheinend das ›le‹ vergessen, Mademoiselle Michelle?«

Ich musste lachen. Es hallte befremdlich wider in der Grabkammer meiner Gefühle. Auf die Idee hätte ich auch kommen können. Es hätte mir den Krampf mit dem Urinrohr erspart und diverse Geschamigkeiten in der Enge der Fähre.

»Erstaunlich, dass die Raumfahrt überhaupt funktioniert, bei so vielen Schlampereien da unten.« Dr. Wathelet klopfte vergnügt auf meine kaum sichtbare Vene.

»Bei Torsten Veiths Tod hat hier oben doch auch alles versagt«, bemerkte ich.

»Vor allem Torstens Selbstschutzinstinkt, würde ich sagen.« Er stach zu.

»Äh ...« Ich zuckte demonstrativ zusammen, obgleich der Einstich nicht spürbar war. »Wozu ...?«

»Mich interessiert euer Salzhaushalt. Mir ist jedes Kaninchen recht, das ich kriege. Bevor wir irgendwelche Astronauten zum Mars schicken, müssen wir was gegen die galoppierende Osteoporose in der Schwerelosigkeit tun können. Zum Glück lässt sich das Phänomen auch auf dem Mond beobachten. Der Blutdruck sinkt, der Körper scheidet weniger Salz aus, das lagert sich in den Knochen ein, Kalzium wird abgebaut. Da kannst du noch so viel aufs Schüttelbrett steigen, irgendwann hast du Glasknochen.«

Schöne Aussichten!

5

»Weißt du, was das Einzige ist, was wir auf dem Monde finden werden? – Den Tod.« Frau im Mond, Ufa-Film, Fritz Lang, 1929

Knochenschwund, Apollo 13 und »Houston, wir haben ein Problem«, Verschwörungstheorien und Humbug gab es im weltweiten Netz reichlich, mit harten Fakten zu aktuellen Weltraummissionen war es dagegen sparsam. Niemand schwärmte derzeit vom Aufbruch ins All. Das Auge der Nacht faszinierte nur Ängstliche und Fantasten.

Früher hatte man geglaubt, es gebe schönes Wetter, wenn der Mond sein erstes Viertel aufscheinen ließ, und Stürme, wenn die linke Hälfte strahlte. Deshalb hatte man den dunklen Mondflecken auf der rechten Seite Namen wie »Meer der Fruchtbarkeit«, der »Ruhe« und des »Nektars« gegeben und den Meeren auf der linken Seite »Regen«, »Nebel« und »Sturm«. Heute glaubte man, dass Haare bei zunehmendem Mond schneller wuchsen. Und Bäume musste man bei abnehmendem Mond fällen.

Auf der Seite des Deutschen Luft- und Raumfahrtzentrums fand ich immerhin die derzeitige Besatzung der Artemis: zwanzig Leutchen unter amerikanischem Kommando, eine lustige Mischung aller möglichen Nationalitäten, darunter ein Bolivianer, ein Südkoreaner, eine Chinesin, ein Kasache, ein Pole. Der Zweite von links war Torsten Veith. Dahinter ein Kreuz. Ein jugendliches Durchschnittsgesicht blickte mich an, mittelblond, graue Augen. Auch Wikipedia hatte den Todesfall auf der Artemis längst eingepflegt: ein Unfall während eines Außeneinsatzes, der auf Fachchinesisch EVA, extravehicular activity, hieß, obgleich es sich bei der Artemis ja nun nicht mehr um ein Fahrzeug handelte. Torsten Veith war in Wangen im Allgäu geboren und 36 Jahre alt geworden. Er war vier Monate oben gewesen und hätte in zwei Monaten zur Erde zurückkehren sollen. Mehr gab Google nicht her.

Ich entsann mich meiner früheren Rechercheverfahren und entschloss mich zu einem Ausflug zum Pressehaus gleich neben Daimler in Möhringen. Brontë, die greise Dame aus der Familie der Porsche, hochzeitsweiß mit nuttenroten Ledersitzen, schnurrte die Weinsteige hinauf wie ein Pferd auf dem Weg zum Stall. Seit meinem Rauswurf beim Stuttgarter Anzeiger war ich nicht mehr dort oben gewesen. Der Pförtner war neu und kannte mich nicht. So konnte ich behaupten, zum Wochenblättle zu müssen.

Karen Becker, Archivarin und Verwalterin der Dokumente zum Anfassen, freute sich, mich wieder einmal in ihr feuerfestes und bombensicheres Archiv eintreten zu sehen.

Meine Anfragen waren stets umfassend: »Alles über den Mond.«

Ihr Ordner war antiquarisch dick.

Am 21. Juli 1969 hatte im roten Kästchen der Bild gestanden: »Heute MOND Zeitung«. Es war ein Montag gewesen. »Der Mond ist jetzt ein Ami. Die letzten 150 Meter vor der Landung, das war die größte Strapaze der Reise zum Mond. Die Welt des Menschen hört seit heute Morgen nicht mehr am Himalaja oder am Nordpol auf. Sie reicht 380 000 Kilometer weiter: zum Mond.«

»Der WDR war damals live dabei.« Karen Becker strich sich die Jungfernsträhne hinters Ohr. »Meine Eltern haben mich nachts geweckt, als Armstrong ausstieg. Das weiß ich noch.«

Da war ich gerade mal zwei Jahre auf der Welt gewesen.

Zwei weitere Presseantiquitäten stammten vom 4. Oktober und 4. November 1957. Im Oktober hatten die Russen einen winzigen, gut achtzig Kilogramm schweren Mond in die Umlaufbahn geschossen, den Sputnik, der sinnlos vor sich hin piepste und nach ein paar Wochen verglühte. Und im November, wieder an einem Montag, titelte Bild: »Ein Hund rast durch den WELTENRAUM«.

»Welt-en-raum«, wisperte Becker.

»Sensation aus Moskau: Die Russen schossen noch einen Mond in den Himmel.«

»Satelliten wie heute gab es damals ja noch nicht«, lächelte Becker.

Das Schwarzweißfoto zeigte den schmalen Kopf eines weißen Mischlingsköters mit Kippohren und Leidensblick in einer gläsernen Taucherglocke, die Klimakammer hieß. Ein Pfeil durchquerte den Text. Auf dem stand: »Das ist Linda.«

»Eigentlich hieß der Hund Laika«, sagte Becker.

Im April 1961 flog dann Juri Alexejewitsch Gagarin als erster Kosmonaut einmal um die Erde, während den Amerikanern nichts gelang. 1967 verbrannten drei amerikanische Astronauten bei einem Test am Boden in der ersten Apollo-Kapsel, weil sich der reine Sauerstoff entzündet hatte. 1968 umrundeten die Amerikaner endlich den Mond, und am 20. Juli 1969 meldete sich Neil Armstrong beim Raumfahrtzentrum Houston mit den Worten: »Tranquilitatis Base here. The eagle has landed.« Der Adler war also im Meer der Ruhe gelandet. Wenige Stunden später setzte Armstrong seinen Fuß in den Mondstaub. Fünf weitere Landungen hatte es danach noch gegeben, bevor der Mond für dreißig Jahre in Vergessenheit geriet. Die Mir wurde gebaut und verglühte. Die ISS entstand. Und plötzlich begann der Wettlauf erneut. »Der Mensch besiedelt den Mond.« Die Schlagzeilen zum Aufbau der Artemis ähnelten einander, die Fragen staunender Journalistinnen und Journalisten erzeugten immer wieder dieselben Antworten: »In zwanzig Jahren wird es ganze Dörfer auf dem Mond geben, hundert Jahre nach der ersten Mondlandung wird der Erdtrabant vielleicht seine Unabhängigkeit erklären.«

Vorerst herrschte Forschungsakribie statt Abenteuerlust. Die Zeitungen notierten die Sensationen klein unter Vermischtes: »Neodym auf dem Mond«. Dabei handelte es sich um einen Grundstoff für superkleine Magnete. »Bärtierchen reisen zum Mond.« Das wiederum waren milbenkleine Viecher, die überall auf der Erde vorkamen und bei großer Kälte oder Hitze ihren Stoffwechsel auf null stellten und in einem totenähnlichen Zustand, Kryptobiose genannt, überdauerten, bis die Bedingungen wieder besser wurden.

»Südafrikanischer Astrotourist will Mondhotel bauen.« So lautete die Überschrift eines Artikels über die vier Gäste, die derzeit in der Artemis saßen, darunter ein saudischer Scheich und ein indischer Softwareunternehmer. Sie waren vor vier Wochen in einem russischen Modul hinaufgebracht worden und würden in knapp zwei Wochen wegen eines Defekts an dem russischen Modul mit dem europäischen space transportation system, dem STS-213, auf die Erde zurückkehren. Und zwar – da schau her – nach Friedrichshafen. Ein paar Tage vorher würde dort das STS-214 mit einem deutschen Astronomen, einem französischen Journalisten und einem spanischen Europaabgeordneten an Bord Richtung Mond starten.

»Was das alles wieder kostet!«

»Gar nicht so viel«, widersprach Karen Becker. »Schauen Sie: Für den deutschen Bürger beläuft sich der jährliche Steuerbeitrag für die Raumfahrt gerade mal auf den Gegenwert einer Kinokarte.«

»So wenig?!«

Viel zu wenig! Fünf Milliarden Euro bekam die Europäische Weltraumagentur von den europäischen Staaten. Genauso viel gab sie an die Nationen zurück in Form von Aufträgen für die Wirtschaft. Die Japaner gaben zwischen zwei und drei Milliarden Dollar jährlich für Raumfahrtprojekte aus, die USA bereits knapp zwanzig Milliarden.

»Schauen Sie mal.« Becker zettelte mir den Ausschnitt aus einem Wissenschaftsblatt hin. Das Londoner Acronym Institute for Disarmament Diplomacy, also ein Institut für Abrüstungsdiplomatie – was es nicht alles gab –, sah im Weltraum einmalige Ressourcen für Europas Sicherheit und warnte zugleich vor Aufrüstung. Erdsatelliten hatten offenbar gute Chancen, den Orbit in ein Schlachtfeld zu verwandeln. China hatte erst kürzlich eine Anti-Satelliten-Rakete getestet und damit einen eigenen Satelliten aus der Umlaufbahn geschossen. Ein Warnschuss!

»Und über die Todesumstände von Torsten Veith gibt es nichts?«, fragte ich.

»Einige Artikel über den Aufbau von Raumanzügen und jede Menge großer Fragen nach dem Sinn der bemannten Raumfahrt. Ich hätte hier ein Interview mit unserem Ex-Astronauten, Professor Ernst Messerschmid, von der Stuttgarter Uni dazu. Und das hier.« Becker überraschte mich mit einer Ausgabe des Schwäbischen Tagblatts von vor zwei Wochen. »Leiche des toten Astronauten in die Tübinger Gerichtsmedizin überführt.« Ein russisches ATV – sprich: automatisches Transfervehikel – hatte die sterblichen Überreste des Astronauten in tiefgefrorenem Zustand zur Erde zurückgebracht. Das nächste Ziel der deutschen Gebeine war die Tübinger Gerichtsmedizin gewesen. Zum Greifen nah!

Ich verabschiedete mich hastig von Karen Becker, raste im Fahrstuhl an die Erdoberfläche und lief auf den weitläufigen Parkplatz hinaus. Auf meinem Handy klickte ich meine Kontakte durch. Gut, so ein externes Gedächtnis! Staatsanwältin Meisner vom Dezernat für Tötungsdelikte? Aber warum hätte sie mit der Leiche zu tun gehabt haben sollen? Ich kam zu Z wie Zittel. Der pensionierte Gerichtsmediziner mit Wohnsitz in Balingen, der nie was sagen wollte und wie ein Buch redete.

»Schwabenreporterin Lisa Nerz hier, erinnern Sie sich?«

Dr. Zittel seufzte. »Frau März, wie könnte ich Sie vergessen. Sie haben mir die peinlichsten Momente meines Lebens beschert. Aber nicht nur mir! Gell?« Er lachte schadenfroh.

»Herr Professor, in der Gerichtsmedizin Tübingen hat eine Leiche gelegen. Ein gewisser Torsten Veith, Astronaut.«

Der Verstärker meines Handys sendete kosmisches Rauschen.

»Sind Sie noch da?«

Zittel hustete. »Frau Herz, das ist alles furchtbar geheim. Außerdem habe ich die Leiche persönlich nicht zu Gesicht bekommen. Warum fragen Sie?«

»Veith hinterlässt drei Kinder und eine Frau. Es sei ein Unfall gewesen, heißt es offiziell, aber zeigen Sie mir die Witwe, die so was glaubt.«

»Und da dachten Sie, fragen Sie den Spezialisten für nicht erkannte Mordfälle. Dem wird so was nicht noch mal passieren, was? Na gut, Frau Herz, aber, wie gesagt, ich habe die Leiche nicht gesehen. Natürlich spricht man unter Kollegen. Wann hat man schon mal einen toten Astronauten auf dem Tisch, gell? Allerdings hatten wir ihn nur einen Tag. Dann haben ihn die schwarzen Männer abgeholt.«

»Bitte?«

Zittel lachte seifig. »Sie wissen schon, die Lederjacken und Trenchcoats. Fragen Sie mich nicht! NASA, ESA, BND, BKA, was weiß ich. Aus wissenschaftlicher Sicht ist so ein Toter von unschätzbarem Wert. Die haben da oben anscheinend ein Problem. Aber bitte, zitieren Sie mich nicht. Überhaupt, das bleibt unter uns. Wie heißt das bei euch Schreiberlingen? Unter drei? Nicht zum Zitieren frei! Ich verlasse mich auf Sie, Frau Nerz.«

Wenn er meinen Namen richtig sagte, musste es ihm sehr ernst sein.

»Wahrscheinlich hätte der nie in Tübingen landen sollen. Aber die Russen dachten halt, der gehört nach Baden-Württemberg. Erstaunlich, wie national die bei der Raumfahrt denken! Alles Klein-Klein. Da herrscht Krieg, verstehen Sie.«

»Nein.«

»Ich auch nicht. Immerhin hatten wir die Leiche einen Tag lang, wenn auch tiefgefroren. Aber der Kollege hatte die Idee, ihn in den CT zu schieben. Über den armen Kerl ist der Tod förmlich hinweggerollt. Da sind zum Ersten Knochenbrüche an den Gelenken. Außerdem hatte er Embolien, explodierte Zähne, was als Folgen einer schnellen Dekompression gewertet werden muss. Dem ist das Blut in Sekunden aus den Adern gekocht. Seltsam allerdings, dass sich in seinen roten Blutkörperchen keinerlei Kohlendioxid mehr gebunden fand. Das deutet auf eine Alkalose, würde ich sagen.«

»Was bitte?«

Das freute Zittel. »Haben Sie schon mal gesehen, wie ein junges Mädel hyperventiliert? Das mit der Tüte vor dem Mund? Das macht man, damit sie ihr eigenes Kohlendioxid zurückatmet. Das Gefährliche beim Hyperventilieren ist nicht zu viel Sauerstoff, sondern dass man zu viel Kohlendioxid ausatmet. Dann wird das Blut alkalisch. Das nennt man Alkalose. Unbedingt tödlich, wenn keine Gegenmaßnahmen eingeleitet werden.«

»Hochinteressant. Und für welchen Tod entscheiden wir uns?«

»Tja! Wir hatten ihn nicht lange genug, um das festzustellen. Die Ursache für die Prurigoknoten hat der Kollege nicht mehr klären können.«

»Was für Knoten?«

»Kennen Sie auch. Aus manchen Insektenstichen entwickeln sich hässliche schwärzliche Hubbel. Vielleicht haben die da oben kleine grüne Mondflöhe.« Er lachte. »Oder waren die grünen die vom Mars?«

»In der Zeitung stand, er sei bei einem Außeneinsatz gestorben, und zwar infolge einer Beschädigung des Anzugs.«

»Nach einem Zusammenprall mit einem Mondfahrzeug, würde ich hinzusetzen, wenn Sie mich fragen. Shit happens, gell.« Zittel lachte. »Das ist das Schicksal von Pionieren. Was glauben Sie, wie die Seefahrer von Kolumbus gestorben sind! Und die hat man einfach ins Meer geworfen. Ein Astronaut kennt das Risiko. Das sind keine Touristen, die sich wundern, wenn sie im Jemen entführt oder in Colombo in die Luft gesprengt werden.«

Deshalb reiste ich nicht! Nur selten war ich über die Schwäbische Alb hinausgekommen. Mein Wohlfühlweltkreis beschränkte sich auf mein Habitat im dritten Stock in der Neckarstraße gegenüber der Staatsanwaltschaft, auf der – zumindest jetzt zur Spargelzeit – in der Dämmerung eine Amsel sang, und auf meine Andockstationen an der Partymeile von Stuttgart und im Tauben Spitz im Bohnenviertel, in dem Sally kellnerte.

»Was ist das eigentlich für ein Problem, das die da oben auf dem Mond haben?«, erkundigte ich mich.

Zittel hustete. »Ich weiß es nicht, jedenfalls nicht aus erster Hand. Sie haben einen Saboteur, heißt es, aber wie gesagt ...«

Ich bedankte mich.

»Gern geschehen«, erwiderte er und holte Luft. »Man hat ja sonst nicht oft ...«

»Danke, danke! Vielen Dank auch.« Ich tippte ihn weg und ging Brontë auf dem Presseparkplatz suchen. So viel stand fest: Ich musste nach Friedrichshafen, die Astrotouristen abpassen und befragen, bevor man sie in ihre Heimaten schaffte. Es war meine Chance, aus den Spätzlestöpfen und Rottweiler Narrensprüngen für die Sonntagszeitungen in die Welt der Politmagazine und überregionalen Zeitungen zu springen. Mord auf dem Mond!

6

»Die beiden Hunde, die man zur Einbürgerung dieser Vierfüßlerrasse auf den festländischen Gebieten des Mondes ausersehen hatte, waren schon im Geschoss eingesperrt.« Von der Erde zum Mond, Jules Verne, 1865

»Laika ist doch eine Hunderasse«, bemerkte Sally und suckelte am Strohhalm, der in einem Mojito steckte. Ein angefressener Mond spickte über die Dächer in den Schacht der Urbanstraße. Sallys altersschwache Schäferhündin Senta schnarchte vor der Balkontür. Cipión war drinnen die Katzen ärgern gegangen.

»Und eigentlich heißt Laika Kläffer auf Russisch«, klugscheißerte ich mein frisch erworbenes Wissen in die Nacht auf Sallys schmalem Balkon. »Man hat sie in den Straßen von Moskau aufgegriffen und mit dem Sputnik 2 an einem Sonntag ins All geschossen, ziemlich genau vor fünfzig Jahren.«

»Uh! Das war lange vor dem ersten Kusstag unserer Eltern.«

»Ich bezweifle, dass meine Eltern sich je geküsst haben.«

»Und was ist aus Laika geworden?«

»Sie ist wenige Stunden nach dem Start gestorben. Wohl an Stress und Überhitzung.«

»Der arme Hund!«, protestierte Sally beschwipst.

»Die Russen haben sie übrigens Kudrjawka genannt, Löckchen. Die Amerikaner nannten sie Muttnik. Nach mutt für Mischling. Und die Bild-Zeitung meinte damals: ›Unzählige werden, wenn sie an den wehrlosen Hund denken, fragen: Wohin! Wozu!‹ Mit Ausrufungszeichen. Aber ohne Hund reist kein Mensch ins Weltall. Schon bei Jules Vernes Von der Erde zum Mond« – ich hatte tief in der Kiste meiner Jugenderinnerungen graben müssen, um das Buch zu finden – »1865 sind zwei Hunde mit dabei, als der Gun Club die Kapsel zum Mond schießt. Siehst du die dunklen Flecken?«

»Welche Flecken?«

»Dazu müsstest du dich umdrehen, Sally.«

Ich streckte meinen Arm über ihre Schulter hinweg zu den Dächern. Sie verrenkte den Hals, kämpfte ihre blonden Locken aus dem lauen Abendwind und kniff die Augen zusammen. In Wahrheit war sie kurzsichtig. Vermutlich konnte sie den Dreiviertelmond nicht von den Straßenlaternen unterscheiden.