Mit Träumen beginnt die Realität - Daniel Goeudevert - E-Book

Mit Träumen beginnt die Realität E-Book

Daniel Goeudevert

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In seiner zum Bestseller gewordenen Autobiographie «Wie ein Vogel im Aquarium» hatte Daniel Goeudevert selbstkritisch über den Autismus in der Welt der Vorstandsetagen berichtet. Hier fällt sein Urteil noch radikaler aus: An der Spitze der Unternehmen sitzen immer mehr Kostenkiller, die ihre Managementaufgabe eher darin sehen, Kosten zu senken, als neue Marktanteile zu erobern. Man muß nur genügend Leute entlassen, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. «Wenn ein Unternehmen nicht in erster Linie für die Menschen da ist – seien es Beschäftigte oder Kunden –, wozu ist es dann da? In unserer Shareholder-value-Gesellschaft kommt immer erst die Rendite, dann die Moral.» Goeudevert kritisiert das Tempo des Turbo-Kapitalismus, die «Vollbeschäftigungslüge» und die Politik, die nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner statt nach dem großen reformerischen Projekt sucht. Er fordert gesellschaftliche Verantwortung auf Seiten der Unternehmer und entwickelt die Umrisse eines humanen, verantwortlichen Kapitalismus im zusammenwachsenden Europa. Er plädiert für eine Kultur geistiger, sozialer und räumlicher Beweglichkeit, um Kreativität und Phantasie und damit Visionen entstehen zu lassen, die wir so dringend brauchen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 216

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



rowohlt repertoire macht Bücher wieder zugänglich, die bislang vergriffen waren.

 

Freuen Sie sich auf besondere Entdeckungen und das Wiedersehen mit Lieblingsbüchern. Rechtschreibung und Redaktionsstand dieses E-Books entsprechen einer früher lieferbaren Ausgabe.

 

Alle rowohlt repertoire Titel finden Sie auf www.rowohlt.de/repertoire

Daniel Goeudevert

Mit Träumen beginnt die Realität

Aus dem Leben eines Europäers

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

In seiner zum Bestseller gewordenen Autobiographie «Wie ein Vogel im Aquarium» hatte Daniel Goeudevert selbstkritisch über den Autismus in der Welt der Vorstandsetagen berichtet. Hier fällt sein Urteil noch radikaler aus: An der Spitze der Unternehmen sitzen immer mehr Kostenkiller, die ihre Managementaufgabe eher darin sehen, Kosten zu senken, als neue Marktanteile zu erobern. Man muß nur genügend Leute entlassen, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. «Wenn ein Unternehmen nicht in erster Linie für die Menschen da ist – seien es Beschäftigte oder Kunden –, wozu ist es dann da? In unserer Shareholder-value-Gesellschaft kommt immer erst die Rendite, dann die Moral.»

Goeudevert kritisiert das Tempo des Turbo-Kapitalismus, die «Vollbeschäftigungslüge» und die Politik, die nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner statt nach dem großen reformerischen Projekt sucht. Er fordert gesellschaftliche Verantwortung auf seiten der Unternehmer und entwickelt die Umrisse eines humanen, verantwortlichen Kapitalismus im zusammenwachsenden Europa. Er plädiert für eine Kultur geistiger, sozialer und räumlicher Beweglichkeit, um Kreativität und Phantasie und damit Visionen entstehen zu lassen, die wir so dringend brauchen.

Über Daniel Goeudevert

Daniel Goeudevert, geboren 1942 in Reims, war Vorstandsvorsitzender der deutschen Ford-Werke und Mitglied des Konzernvorstands von VW. Heute ist er Vizepräsident von FEDRE (Fondation pour l’Économie et le Développement durable des Régions d’Europe) und Berater des Generaldirektors der UNESCO. Seine Autobiographie «Wie ein Vogel im Aquarium» stand 72 Wochen auf der Bestsellerliste.

Inhaltsübersicht

Für GabiVorwortEinleitung: ScheidewegeEine europäische KarriereIn der BeschleunigungsfalleDer Horizont hat FlügelWenn die Arbeit nicht wär …PersonaldiätDie Vollbeschäftigungs-LügeHomo oeconomicus interruptusEine Kultur der BeweglichkeitMargerite und AllradantriebDas bewegliche ManagementDie Schwerkraft des BestehendenDer bewegliche ArbeitsmarktLernweltenDas Geheimnis der roten WangenDoing by Learning: Ein ExkursEine Schule des LebensWie spricht Europa?Auf dem Weg nach EuropaZukunft braucht HerkunftDie Sowohl-als-auch-GesellschaftWer steuert?Am Ende ein AnfangDanke

Für Gabi

Vorwort

Wenn der Abstieg so manchen Tag in den

Schmerz führt, er kann doch auch in der Freude

enden. (Albert Camus)

Ich bin ein glücklicher Sisyphos. Mit diesem Bekenntnis endete meine Autobiographie «Wie ein Vogel im Aquarium», in der ich meine europäische Karriere als Manager in der Automobilindustrie beschrieben habe. Und dieses Grundgefühl hat mich seither nicht verlassen.

Wie paßt das zusammen? Kann sich ein Mensch wie Sisyphos, den die Götter dazu verurteilt hatten, unablässig einen Felsblock einen Berg hinaufzuwälzen, von dessen Gipfel der Stein stets wieder hinunterrollt, glücklich nennen? Jemand, dessen unermüdliche Anstrengung, von außen betrachtet, vergeblich, ja unnütz ist? Albert Camus hatte diese Frage in seinem berühmten Buch «Der Mythos von Sisyphos» mit einem klaren «Ja» beantwortet: Die verschwiegene Freude des Sisyphos bestehe darin, daß er sein Schicksal angenommen und den Fels zu seiner Sache gemacht habe.

Und auch meine Antwort auf die Frage, ob man im «Scheitern» glücklich sein kann, lautet: Ja! Ich habe eine märchenhafte Karriere gemacht, bin durch allerlei Umstände den Berg mehr hinaufgeschoben worden, als daß ich ihn erklommen hätte, um dann, fast ganz oben angekommen, den steilen Hang wieder hinunterzurollen. Aber Auf- und Abstieg, das habe ich dabei erfahren, entscheiden nicht über Glück oder Unglück. Es kommt letzten Endes nicht so sehr darauf an, was einer erreicht und wo er steht, sondern was einer tut und warum er es tut.

Ich bin gestolpert – und stolpere auch weiterhin –, und ich bin gescheitert, aber ich habe nicht aufgegeben. Aufzugeben ist schlimm, Scheitern eine notwendige Erfahrung. Jedem, der Verantwortung übernimmt, wünsche ich, ab und zu ein solches Scheitern zu erleben, damit er sich seine Menschlichkeit erhält und gezwungen ist, über sein Tun nachzudenken.

Wie schal und gefährlich Erfolg und Macht sein können, wie sehr man zu verkümmern droht, wenn eine in erster Linie rational und strategisch orientierte «Professionalität» – don’t be emotional – die sinnlich-seelische Hälfte des Selbst praktisch zudeckt, habe auch ich erst erkannt, als ich leicht ramponiert am Fuße des Berges lag und verdutzt zum umwölkten Gipfel emporblickte, auf dem ich eben noch gestanden hatte. Die veränderte Perspektive ließ mich zunächst einmal eigene Beschädigungen erkennen. Darüber vor allem, über Aufstieg und Fall, habe ich in meinem letzten Buch berichtet.

Inzwischen sehe ich viele Dinge mit größerer Klarheit, die wachsende Distanz zu meinem Manageralltag entspricht einem Erkenntnisprozeß. Ich versuche nach wie vor, meine Berufs- und Lebenserfahrungen in ein zeitgemäßes Bildungs- und Ausbildungsprojekt einzubringen, und ich stehe immer noch, sei es als Berater oder als Gesprächspartner, mit vielen Vertretern aus Wirtschaft und Politik in regem Kontakt. Über die neuen Erfahrungen und Erkenntnisse, die ich in meiner weiterhin sehr mobilen Existenz gewonnen habe, möchte ich in diesem Buch berichten.

Ich glaube, dies tun zu müssen, weil sich unsere Gesellschaft in einer äußerst kritischen Übergangsphase befindet. Die Wirtschaft hat sich in einen sinnentleerten Geschwindigkeitsrausch hineingesteigert und ein Tempo erreicht, mit dem die Menschen längst nicht mehr Schritt halten können. Das hat zu einer tiefgreifenden Orientierungskrise geführt, deren Symptome sich täglich vervielfachen. Wir hecheln der Entwicklung nur noch hinterher und verlieren in diesem aussichtslosen Wettlauf unser Zutrauen in die eigene Fähigkeit, den Gang der Dinge zu gestalten. Das daraus resultierende Ohnmachtsgefühl hat schon heute ein Ausmaß an Angst geschürt, daß wir selbst auf die positiven Veränderungen, die sich bereits vollziehen und die noch anstehen, phobisch reagieren.

Die vielzitierte «unsichtbare Hand» eines Adam Smith, die sich angeblich schützend über das Marktgeschehen legt und es zum Wohle aller reguliert – weshalb man sie tunlichst gewähren lassen solle –, ist in Wahrheit deshalb unsichtbar, weil der Markt schlicht und ergreifend blind ist. Er nimmt nichts wahr, was außerhalb seiner begrenzten Logik liegt; für ihn zählt nur, was sich auch zählen läßt. Das «Wovon» und «Für wen», das «Warum» und «Wohin» ist ihm gleichgültig; Werte wie Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit sind ihm fremd. Damit diese Werte am Ende nicht von der «unsichtbaren Hand» kassiert werden, bedarf es klarer Regeln. Dies scheint inzwischen sogar ein Mann wie George Soros begriffen zu haben, der wie kaum ein zweiter vom Kapitalismus profitiert hat, sich aber jüngst medienwirksam vom Saulus zum Paulus wandelte, um uns wachzurütteln: Die ungezügelten Märkte würden unkalkulierbare Risiken bergen und eine ernste Bedrohung des sozialen Friedens darstellen, weshalb wir schleunigst zur Vernunft kommen und Reformen in Angriff nehmen sollten.

Es kann nie schaden, die Augen zu öffnen. Es ist aber immer besser, selber zu denken. Wir alle müssen deshalb darangehen, uns selbst und andere darüber aufzuklären, was auf uns zukommt. Dazu bedarf es keinerlei seherischer Anmaßung, denn die «Zukunft», die auf uns zukommt, kommt auch irgendwoher, sie hat eine Herkunft: im Heute, im Gestern, im Vorgestern. Je besser wir diese Herkunft kennen, desto klarer zeichnet sich der Horizont ab. Aber Wissen allein genügt nicht. Wir müssen zugleich Vorstellungen davon entwickeln, wie wir das, was auf uns zukommt, gestalten wollen. Und das ist die eigentliche Herausforderung. Hannah Arendt hat einmal gesagt: Der einzige Weg, das Unvorhersehbare zu beeinflussen, besteht darin, Versprechungen zu machen und sie einfach einzuhalten. Anders ausgedrückt: Politik und Wirtschaft – wir alle – müssen Visionen entwickeln und sie verwirklichen; wir dürfen nicht mehr nur reagieren, sondern sollten endlich wieder agieren. Mit Träumen beginnt die Realität.

Querdenker und Visionäre, Abweichung und Nonkonformität müssen gefördert werden. Denn der entscheidende Reichtum einer vitalen Gesellschaft sind die utopischen und phantastischen Überschußkapazitäten, die sie freizusetzen imstande ist. Ich halte es daher für einen – leider häufig anzutreffenden – geschichtsblinden Irrtum, zu glauben, Utopien, Visionen, Träume seien folgenlose Hirngespinste. Gerade die Potentiale der Abweichung und der Kritik, des Rückzugs und des Ausbruchs, des Scheiterns und des Irrens verkörpern die Veränderungsfähigkeit einer Gesellschaft. Ohne die Träumereien von Visionären und Utopisten lebten wir heute in einer ganz anderen Realität. Es gäbe keine Opern und keine Schulen, keine Flugzeuge und kein Penicillin, keinen Rechtsstaat und schon gar kein Frauenwahlrecht, wenn Menschen nicht immer und immer wieder etwas gedacht und ausgesprochen und getan hätten, was zuvor noch keiner gedacht oder ausgesprochen oder getan hat.

Auch das neue, sich formierende Europa verdankt sich einstmals utopischen Plänen. Zum Beispiel den Träumereien eines Saint-Simon, der im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg mitgekämpft und dabei die Grundlage für ein «unvergleichlich liberaleres und demokratischeres System», als es damals in Europa üblich war, entdeckt zu haben glaubte. In einer Denkschrift «Über die Reorganisation der europäischen Gesellschaft» schrieb Saint-Simon daraufhin im Jahre 1814: «Europa hätte die bestmögliche Organisation, wenn alle ihm angehörenden Nationen von Parlamenten regiert würden und wenn diese ein übergeordnetes gemeinsames Parlament anerkennen würden, das die Macht hätte, Meinungsverschiedenheiten beizulegen.»

Heute, mehr als 185 Jahre später, befinden wir uns auf bestem Wege, aus Saint-Simons Traum Realität werden zu lassen. Doch je näher das Ziel rückt, desto weniger scheinen wir es uns zu eigen zu machen. Kaum jemand weiß oder will wissen, was da ganz konkret auf uns zukommt, welche Veränderungen hinter dieser einen Veränderung anstehen. An vielen französischen Bahnübergängen steht auf einem Hinweisschild, was man in diesem Zusammenhang fast schon als philosophische Mahnung deuten könnte: «un train peut en cacher un autre», ein Zug kann einen anderen verbergen. Das heißt, man sollte immer mit mindestens zwei Gefahren rechnen, oder positiv formuliert: Eine Veränderung kommt nie allein; die Oberfläche formaler Neuerungen – etwa eine einheitliche Währung oder eine einheitliche Gesetzgebung – darf nicht davon ablenken, die dadurch im «Hintergrund» erforderlichen Umstellungen und Anpassungen wahrzunehmen.

Da ich, mehr zufällig und ohne daß ich mir dessen wirklich bewußt war, einen Lebensweg genommen habe und weiterhin nehme, wie ihn viele Menschen im künftigen Europa beschreiten werden, möchte ich die anstehenden Veränderungsprozesse hier etwas genauer ausmalen. Ich werde zunächst einmal von meinen eigenen Erfahrungen erzählen und später daran anknüpfende Überlegungen anschließen.

Die mir weniger geneigten Leserinnen und Leser mögen nun aufstöhnen: Ausgerechnet der Goeudevert, dieser Exmanager! Will uns erzählen, was er aus seinem Chefsessel heraus erkannt zu haben glaubt! Der führt doch ein ganz anderes Leben als wir! Leute wie ihn werden doch die einschneidendsten Veränderungen gerade nicht betreffen! – Ich muß und will mich, was solche Vorbehalte angeht, an den Beobachtungen und Vorschlägen messen lassen, wie ich sie hier zu Papier gebracht habe. Darin besteht ja nicht zuletzt der Sinn einer Ver-Öffentlichung. Zumindest der letztgenannte mögliche Vorbehalt aber, Besserverdienende und Führungskräfte blieben von Zumutungen verschont, ist in meinen Augen ein Irrtum. In mancherlei Hinsicht dürfte sogar das Gegenteil der Fall sein.

Mir ist natürlich bewußt, daß meine Karriere kein Muster abgeben kann. Aber die geistige, soziale und räumliche Mobilität, die sie mir und meiner Familie abforderte, ist sozusagen zukunftsweisend. Daß das nicht nur Chancen und Möglichkeiten eröffnet, sondern auch Risiken birgt, liegt auf der Hand. Gerade deshalb ist es so wichtig, Augen und Ohren zu öffnen und sich rechtzeitig mit den künftigen Lebens- und Arbeitsformen auseinanderzusetzen. Nicht nur, um sich darauf vorzubereiten, sondern vor allem, um gestaltend Einfluß zu nehmen. Denn wenn wir keine Rahmenbedingungen entwerfen, die den Übergang regulieren und die unvermeidlichen Risiken kalkulierbar machen, würden wir uns dem zerstörerischen Selbstlauf einer enthemmten Wirtschaft ergeben, den aufzuhalten und in kontrollierte Bahnen zu lenken vielleicht die wichtigste Aufgabe der Gegenwart ist.

Wissenschaftler haben kürzlich herausgefunden, daß sich die Erde heute schneller dreht als noch vor hundert Jahren. Schuld daran seien, wer sonst, wir Menschen, weil wir so viel Wasser an die Erdoberfläche holen und damit die Zentrifugalkraft der Erdkugel erhöhen. Doch keine Sorge. Physikalisch und ökologisch sei das, so die Wissenschaftler, kein Problem, schließlich handele es sich hierbei nur um ein paar Sekundenbruchteile. Aber es ist eine schöne, wenn auch beunruhigende Metapher: Die Welt dreht sich zu schnell – und sie beschleunigt weiter. Nicht daß sie sich dreht, ist bekanntlich das Problem, im Gegenteil. Ebensowenig sind der Kapitalismus und seine Veränderungen das Problem. Es ist vielmehr die Geschwindigkeit des Wandels, der wir immer weniger gewachsen sind und die eine Eigendynamik entfaltet, die uns zu Zauberlehrlingen zu machen droht.

Wollen wir uns aber unseren eigenen Erfindungen, den Geistern, die wir riefen, nicht ausliefern, müssen wir versuchen, das Ganze zu verstehen und lernen, mit der Komplexität umzugehen. Nicht Experten sind gefragt, die einzelne Symptome kurieren können, sondern Menschen mit Weit- und Überblick, die bei allem, was sie tun oder vorschlagen, in Rechnung stellen, daß Gesellschaft, Politik, Kultur und Wirtschaft untrennbar miteinander verbunden sind, also tunlichst in Gleichklang gebracht werden müssen.

Die nicht abreißende Kette weltweiter Krisen, seien es ökologische (Wassermangel, Klimaschäden), politische (wie im Nahen Osten oder im ehemaligen Jugoslawien), soziale (Armut) oder wirtschaftliche (von der Arbeitslosigkeit bis zur Asienkrise), hat inzwischen immerhin das Wissen um diese übergreifenden Zusammenhänge vermehrt und unser Bewußtsein geschärft. Offenbar werden wir immer erst aus Schaden klug.

Sollte es mir hier gelingen, dieses Bewußtsein nur ein wenig zu verfestigen, bliebe ich auch weiterhin ein glücklicher Sisyphos.

Einleitung: Scheidewege

Eine europäische Karriere

Es ist gut, Dinge zu sammeln, aber es ist besser, spazierenzugehen.

(Anatole France)

Wie oft ich in meinem Leben umgezogen bin, weiß ich schon nicht mehr. Mehrmals habe ich den Arbeitsplatz gewechselt, mußte ich mich mit neuen Aufgaben, einer anderen Stadt, einem anderen Land vertraut machen. Meine Karriere hat als kleiner Citroën-Verkäufer in Paris begonnen und führte mich zuletzt bis in den Vorstand von Volkswagen in Wolfsburg. Dazwischen lagen andere Stationen, andere Orte, andere Firmen.

Und mehrmals mußte nicht nur ich, sondern meine ganze Familie die mit einem Ortswechsel verbundenen Veränderungen mitmachen – den Goeudevert-Wanderzirkus nannten wir uns. Die Zelte, der Schutz, waren wir selbst und unsere Zuneigung füreinander. Aber das unstete Leben und die mit jedem Wechsel steigenden beruflichen Anforderungen hatten selbstverständlich ihren Preis.

Für eine Ehe, zu der bekanntlich – wie Kurt Tucholsky einmal so schön gesagt hat – mehr als nur vier nackte Beine im Bett gehören, ist ein solches Zirkusleben eine kaum zu bestehende Prüfung. Man ist selbst so angespannt und eingespannt in der Bewältigung des neuen Jobs, daß für den Alltag, für das Familienleben kaum noch Raum bleibt. Wenn man abends nach Hause kommt, den ganzen Tag zugehört, aufgenommen und verarbeitet hat, möchte man häufig nichts anderes als Ruhe. Ein seelisches und emotionales Engagement, wie es für eine normale Ehe selbstverständlich sein sollte, kommt dabei zu kurz. Das heißt, man ist akut in Gefahr, nicht mit-, sondern nur mehr nebeneinander zu leben. Und noch bevor man es merkt, ist es möglicherweise schon zu spät.

In einer kürzlich durchgeführten Befragung von Topmanagern erklärten 70 Prozent unter ihnen, daß sie mit ihrer Ehe zufrieden seien. Die Trennungsquote in derselben Gruppe allerdings spricht eine deutlich andere Sprache: Mehr als 50 Prozent der Ehen werden geschieden. Das deutet darauf hin, daß sich die meisten Manager in Wahrheit gar keine Gedanken über die Beziehung machen. Ihr im Beruf so wichtiges Sensorium scheint zu Hause zu versagen. Es schlägt häufig erst Alarm, wenn der Graben zwischen den Partnern bereits nicht mehr zu überbrücken ist.

Ein guter Zuhörer zu sein, Verstimmungen und Verhärtungen aufzulösen, andere ernst zu nehmen und auf sie einzugehen: das sind in meinen Augen zwar unverzichtbare Fähigkeiten eines guten Managers, sie erschöpfen sich aber allzuoft im Berufsalltag. Und obwohl die Ehepartnerin und die Kinder einen mindestens ebenso großen Anspruch auf Aufmerksamkeit haben wie die Mitarbeiter in der Firma, werden sie ein ums andere Mal auf die Ferien vertröstet. Das ist ein ernstes Problem, das auch ich lange nicht erkannt habe, und das auch ich, nachdem ich es erkannt hatte, nicht befriedigend lösen konnte. Um so mehr bin ich meiner Familie dankbar, daß sie es so lange mit mir ausgehalten hat.

Erst spät, viel zu spät, ist mir darüber hinaus klargeworden, daß meine Frau und meine Kinder nicht nur zuwenig Zuwendung von mir erhalten haben. Es ist mir außerdem nicht gelungen, zu vermeiden – ich bin allerdings gar nicht sicher, ob das tatsächlich vermeidbar ist –, daß der Berufsalltag und ein professioneller Umgangston mein privates, familiäres Verhalten durch und durch imprägnierten. Ich habe das überhaupt erst realisiert, als mir meine älteste – und zu jenem Zeitpunkt bereits erwachsene – Tochter Isabell eines Tages den Kopf wusch.

Kurz nach meinem Abschied von VW war ich mit meiner Tochter zum Ausspannen und Abnehmen – ich habe das hin und wieder nötig – an den Bodensee gefahren. Wir hatten uns vorher einige Zeit nicht gesehen und also viel zu erzählen. Eines Tages, während eines Spaziergangs, geraten wir in Streit, es wird laut, Isabell läßt mich stehen und verschwindet auf ihr Zimmer. Ich, noch ganz Vorstand, empfinde ihr Verhalten als respektlos und unverschämt. Glücklicherweise überwinde ich meinen Chefetagenstolz, gehe zu ihr und frage sie, ob wir unsere Unterhaltung nicht in Ruhe fortsetzen können. Möglicherweise habe sie mich falsch verstanden oder ich mich falsch ausgedrückt. Das darauf folgende Gespräch hat mir dann schmerzhaft die Augen geöffnet. Isabell brachte es auf den Punkt: Papa, ich bin deine Tochter, wenn du mich verstehen und mir helfen willst, darfst du mich nicht wie einen Untergebenen behandeln. Du machst Zielvorgaben und erteilst Aufträge, und erwartest dann von mir Berichterstattung und Erfolgsmeldung. So geht das nicht. Du bist nicht mein Boß, du bist mein Vater.

Ich muß zugeben, daß sie verdammt recht hatte. Und ich mußte mir eingestehen, daß dies alles andere als ein einmaliger Ausrutscher war. Es ist vermutlich für jeden «Arbeitgeber» nicht immer einfach, der Gefahr zu widerstehen, seine Kinder wie Kollegen, Kunden, Untergebene zu behandeln. Für mich kann ich heute sicher sagen, daß ich die eigene Welt meiner Kinder, ihre Bedürfnisse und Sorgen zu sehr aus dem Blick verloren hatte. Und zwar schon früh. Denn auch für sie war ein Umzug ja alles andere als leicht. Und wir sind, wie gesagt, oft umgezogen. Wenn sie die Schule wechselten, mußten sie jedesmal Abschiede bewältigen, sich vom Bekannten trennen, von Schulwegen, an denen sie jeden Baum und jede Hauseinfahrt kannten, von Freunden, mit denen sie gespielt, Geheimnisse geteilt und Geburtstag gefeiert hatten. Sie kamen in ein neues Haus, bekamen ein neues Kinderzimmer, mußten sich auf neue Lehrer einstellen und sogar eine neue Sprache lernen.

Ich erinnere mich, daß sie ihre Verunsicherung einmal auf anrührende Weise demonstrierten. An ihrem ersten Schultag in einer neuen Schule nahmen sie den ihnen zugewiesenen Platz in der Klasse ein, weigerten sich aber, ihre Mäntel auszuziehen. Sie fühlten sich fremd und trauten dem neuen Ort und den neuen Gesichtern nicht. Wie Flüchtlingskinder waren sie auf einen erneuten Aufbruch gefaßt, als rechneten sie damit, gleich wieder an einen anderen Ort verschoben zu werden.

Als ich von dem Zwischenfall erfuhr, machte ich mir natürlich auch damals schon Sorgen um die emotionale Stabilität meiner Kinder. Und Vorwürfe. Im Laufe der Zeit bemerkte ich aber, wieviel sicherer sie wurden und wie es ihnen immer leichter fiel, sich wechselnden Gegebenheiten anzupassen und offen auf andere zuzugehen. Wir zogen wieder um, und es gab sogar eine Art Vorfreude, eine gespannte Erwartung: Wo werden wir wohnen, wie werden die Nachbarn sein, wie die neuen Klassenkameraden? Ähnliche Fragen, wie auch ich sie mir stellte: Wie werden die neuen Kollegen sein, wem wird man vertrauen, mit wem wird man essen gehen und über Sport, Ökonomie oder Literatur sprechen können?

Ohne daß es mir oder uns damals bewußt war, haben wir die ganze Zeit mit unserem Wanderzirkus, mit unserer mobilen Lebensform als kleine Gruppe etwas verkörpert, was in naher Zukunft für viele Menschen in ganz Europa gelten wird: das Prinzip Beweglichkeit. Das neue Europa, das Euro-Europa, in dem die meisten Menschen wieder Arbeit und damit ein erfülltes Leben finden sollen, ist anders nicht denkbar. Viele Menschen werden sich bewegen müssen. Viele Familien, Paare und Alleinlebende werden flexibel reagieren müssen auf die Arbeitsmärkte der Zukunft. Beweglichkeit, das Wechseln von Sprachräumen, Wohnorten, Arbeitsplätzen, Berufen, wird Teil der neuen Kultur des Kapitalismus in Europa werden. Umzüge, neue Schulen, neue Nachbarn, das Lösen und Neuknüpfen von Freundschaften und Bindungen, das Erlernen neuer Fähigkeiten, ein lebenslanger Bildungsprozeß – all das wird für uns selbstverständlich werden müssen. Man ist nicht dort daheim, wo man seinen Wohnsitz hat, sondern wo man verstanden wird.

Mir ist dabei völlig bewußt, für nicht wenige von uns ist eine solche Lebensform geradezu eine Horrorvision. Sie widerspricht so vielem, was uns lieb und teuer ist: Verwurzelung, feste Bindungen, Sicherheit, Vertrautheit, Beständigkeit. Aber all das, ich kann aus eigener Erfahrung sprechen, geht mit zunehmender Mobilität nicht notwendig verloren. Jeder, der schon einmal, zum Beispiel aus beruflichen Gründen, einen Ortswechsel vollzogen hat, weiß, daß den damit verbundenen Verlusten und Nachteilen Vorteile und Gewinne entgegenstehen. Wie die individuelle Bilanz am Ende ausfällt, hängt entscheidend von den Begleitumständen ab.

Und diese Rahmenbedingungen sind, ganz allgemein gesagt, noch alles andere als günstig. Es mangelt ja schon am wesentlichen: an Toleranz und gegenseitiger Akzeptanz, an Neugier. Das Ausmaß und die Beständigkeit von Vorurteilen, Stereotypen und Klischees hingegen sind unfaßbar. Ein Beispiel: Eine meiner Nichten lebt mit ihrer deutschen Mutter in Belfort in Lothringen. Es ist klar, daß sie in der Schule im Fach Deutsch gegenüber ihren französischsprachigen Mitschülern einen unaufholbaren Vorsprung hat. Ob aus diesem Grund oder warum auch immer, jedenfalls wird dieses elfjährige Mädchen von den anderen Kindern regelmäßig als «toi, la boche» beschimpft – das war die abfällige, haßerfüllte Bezeichnung für die deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg. Es ist unglaublich. Wir schreiben das Jahr 1999, die Eltern der anderen Kinder dürften irgendwann in den sechziger Jahren geboren sein, als die deutsch-französische Freundschaft schon lange besiegelt und die entscheidenden Etappen auf dem Weg in die europäische Integration bereits genommen waren. Man sollte meinen, daß die alten Feindbilder ihr Haltbarkeitsdatum doch längst überschritten haben. Sie rumoren aber immer noch in den Köpfen und pflanzen sich, so scheint es, von Generation zu Generation fort. Freundschaftliche Gesten wie etwa das spektakuläre Hand-in-Hand von Kohl und Mitterrand in Verdun sind zwar wichtige Zeichen für ein gewachsenes Verständnis und Zusammengehörigkeitsgefühl, bleiben aber offensichtlich ohne Folgen auf die Einstellungen und Attitüden im Alltag beider Länder.

Als eine große deutsche Zeitschrift vor einigen Monaten ausländische Jugendliche nach ihrem Deutschlandbild befragte, kamen fast ausschließlich die allbekannten, die schlichtesten Klischees zum Vorschein: «Die Deutschen trinken viel Bier, tragen Lederhosen, sind meistens blond und blauäugig.» – «Wenn ich an Deutschland denke, denke ich an Adolf Hitler, den Schwarzwald, Schloß Neu-Schwanstein, BMW, Fußball und an die alten Germanen – und natürlich an Mozartkugeln, aber die sollen recht teuer sein.»

Wie aber kommen junge Menschen am Ende des 20. Jahrhunderts zu solchen, scheinbar festgefügten Bildern? Geht man dieser Frage nach, stellt man überrascht fest, daß die Kinder solche Images nicht nur von unbelehrbaren Eltern oder Großeltern erben, daß ihre Meinung nicht nur von überzogenen Werbebotschaften und noch weniger von politischen Nationalismen geprägt wird, sondern daß ihr «klares Werturteil» häufig sogar eine «offizielle» Förderung erfährt. Sie können sich beispielsweise auf ein Langenscheidt-Lehrbuch berufen, das im Sprachunterricht an französischen Schulen gebräuchlich ist und die «Haupteigenschaften» der Deutschen mundgerecht auflistet: «schwerfällig, fleißig, anmaßend, tapfer, intolerant, phantasielos, unberechenbar, kleinlich, humorlos, streitsüchtig, kultiviert und undemokratisch». Der Deutsche schimpft nicht, er ärgert sich, der Deutsche weint nicht, er schämt sich, die Deutschen essen nicht, sie ernähren sich, die Deutschen genießen nicht, sie plagen sich.

So steht es in einem Buch, und zwar nicht in irgendeinem, sondern in einem mit Autorität ausgestatteten Lehrbuch. Ich will an dieser Stelle allerdings nicht unerwähnt lassen, daß es im Bereich der didaktischen Literatur durchaus neue Entwicklungen gibt, die mich hoffnungsfroh stimmen. So werden beispielsweise die Leser der jüngsten Ausgabe eines «Lehrwerks für Deutsch als Fremdsprache», übrigens ebenfalls aus dem Langenscheidt-Verlag, unter anderem anhand eines Goeudevert-Textes an die deutsche Sprache herangeführt. Auf sechs Seiten wird darin der Text eines Interviews dekliniert und analysiert, das ich einmal einem Schweizer Radiosender gegeben habe. Ich finde das mehr als nur amüsant. Es ist ein Schritt in Richtung Europa, wenn einem Nichtdeutschen die deutsche Sprache nicht nur am Beispiel von Goethe und Schiller, sondern auch am Beispiel eines nichtdeutschen Zeitgenossen nahegebracht wird.

Aber das sind erst zarte Anfänge. Die europäische Realität wird bislang eindeutig durch das andere geprägt. Insofern darf man sich über befremdliche Äußerungen und Verhaltensweisen zwar sorgen, aber nicht wundern – jedenfalls solange wir diese Realität nicht verändert haben. Wie schwer das ist, weiß ich aus leider vielfältiger Erfahrung. Ich erteile deshalb hin und wieder bescheidene Lektionen in deutsch-französischer Versöhnung, die mir großen Spaß machen: Als ich einmal mit meiner Frau und Exvorstandswagen mit deutschem Kennzeichen in meiner Vaterstadt Reims unterwegs war, hatte ich meine europäische Sternstunde.

Beim Einparken fuhr ich offenbar so dicht auf den Vorderwagen auf, daß dessen Besitzer das Ausparken schwerfallen würde. Denn noch während wir im Auto saßen, kam der Fahrer zurück und begann sofort zu schimpfen. Er warf einen kurzen Blick auf unser Nummernschild und nannte mich darauf nicht etwa «Blöder Kerl», sondern «un chleuh» – ein uraltes, aber unübersetzbares Schimpfwort für die einst verhaßten Deutschen. Ich könne nicht einparken, weil ich ein Deutscher sei. Das war der Augenblick für meinen Auftritt europäischer Prägung. Ich verließ den Wagen und entfaltete meinen Körper – immerhin ein Meter und 92 Zentimeter. Jedermann hält mich für einen Deutschen, gegebenenfalls für einen holländischen Metzger, nur nicht für einen Franzosen. Der Überraschungseffekt war auf meiner Seite und bestand zunächst darin, daß dieser «Deutsche» in gestrengem Französisch zurückschimpfte. In gespieltem Zorn fragte ich den jungen Mann, ob er eigentlich wisse, in welches Jahrhundert das Wort gehöre, das er eben in den Mund genommen habe. Dieser Attacke war er nicht gewachsen. Er bekam einen roten Kopf, dem ich fünf Minuten lang eine zeitgeschichtliche Lektion erteilte, und ich zum Dank von meiner Frau einen dicken Kuß.

Sicher, das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Aber hier fängt es an, im ganz Kleinen. Wir sind noch so weit vom Ziel entfernt, und es ist noch so viel zu tun, daß jeder noch so winzige Schritt notwendig ist. Es mag altmodisch klingen, aber unsere erste Aufgabe besteht in meinen Augen nach wie vor darin, Dumm-, Holz- und andere Köpfe von ihren Vorurteilen gegenüber Fremden zu befreien. Wenn jeder nur hofft, daß die anderen aufpassen, bleibt alles beim alten. Und das führt dann beispielsweise dazu, daß Kinder in einer fremden Umgebung vorsichtshalber die Mäntel anbehalten. Man kann ja nie wissen.