Mit Virginia Woolf durch England - Luise Berg-Ehlers - E-Book

Mit Virginia Woolf durch England E-Book

Luise Berg-Ehlers

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Beschreibung

Die Stationen führen quer durch ganz England. Wir erleben das London der Bloomsbury Group und von Mrs. Dalloway, reisen in das Cornwall, wo Virginia mit ihrer Familie die Sommerferien verbrachte. Von dort geht es nach Sussex, auf den Landsitz von Leonard und Virginia Woolf. Wir besuchen in Kent den berühmten Garten Sissinghurst von Vita Sackville-West und das Schloß Knole und dessen Bewohner Orlando. Durch Virginia Woolfs Augen und ihre Romane entdecken wir Orte, Straßen und Landschaften und tauchen ein in ein wunderbares England – der perfekte Begleiter für eine unvergeßliche Reise durch England.

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Auf den Spuren von Virginia Woolf

Die Stationen führen quer durch ganz England. Wir erleben das London der Bloomsbury Group und von Mrs Dalloway, reisen nach Cornwall, wo Virginia mit ihrer Familie die Sommerferien verbrachte. Von dort geht es nach Sussex, auf den Landsitz von Leonard und Virginia Woolf. Wir besuchen in Kent den berühmten Garten Sissinghurst von Vita Sackville-West und das Schloss Knole und dessen Bewohner Orlando.

Durch Virginia Woolfs Augen und ihre Romane entdecken wir Orte, Straßen und Landschaften und tauchen ein in ein wunderbares England – der perfekte Begleiter für eine unvergessliche Reise.

Luise Berg-Ehlers studierte Germanistik, Theologie, Theaterwissenschaft und Publizistik in Hamburg und Bochum. Sie hat als Autorin und Herausgeberin zahlreiche Bücher veröffentlicht.

Mit Virginia Woolf durch England

Von Luise Berg-Ehlers

Umschlagfoto: Jon Arnold Images / Masterfile

eBook Insel Verlag Berlin 2012

© Insel Verlag Berlin 2012

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie,

Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung

des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer

Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Hinweise zu dieser Ausgabe am Schluss des Bandes

Vertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Inhalt

Vorwort

London – die literarische Hauptstadt

Kensington – royal-großbürgerliches Ambiente

Bloomsbury – Boheme und Intellektualität

Westminster, Whitechapel, Hampstead – Kontraste einer Metropole

Surrey – London am nächsten

Richmond – Kleinstadt und Kultur

Kew Gardens – poetische Botanik

Hampton Court – nicht nur Heinrich VIII.

Cambridge & Oxford – akademische Sehnsuchtsorte

Cornwall – Paradies der Kindheit

Kent – ein Schloss, ein Garten und eine Liebe

Sussex – Bloomsbury auf dem Lande

Anmerkungen

Literatur und Quellennachweise

Touristische Hinweise

Vorwort

»London ist bezaubernd. Ich trete auf einen goldbraunen Zauberteppich hinaus, so kommt es mir vor, & schwebe in die Schönheit, ohne einen Finger zu rühren. Die Nächte sind wunderbar, mit all den weißen Portikos & breiten, stillen Boulevards.« (Tagebuch, 5. Mai 1924)

»Wir sind jetzt kurz vor der Abreise nach Cornwall. Morgen […] werden wir den Bahnsteig von Penzance betreten, die Luft schnuppern & dann […] quer durch die Heide nach Zennor fahren – Warum bin ich so unglaublich romantisch was Cornwall betrifft?« (Tagebuch, 22. März 1921)

»Oh, es ist jetzt so herrlich in den Downs – ein Tauteich wie ein silberner Teller in der Mulde; und die ganzen Hügel, nicht scharf umrissen wie im Sommer, sondern riesig, glatt rasiert, heiter […].« (Briefe, 28. Dezember 1932)

Diese drei Zitate bezeichnen die wichtigsten Lebens-, Reise- und Schreiborte von Virginia Woolf, die unterschiedlichen Zentren ihrer Vita. In London wurde sie 1882 geboren, verbrachte dort den größten Teil ihres Lebens und betrachtete die Stadt als den essentiellen Mittelpunkt ihres Daseins, ihrer Arbeit. Cornwall war das Paradies ihrer Kindheit, das sonnige Ferienland mit dem Zentrum St. Ives, das noch weit in die Träume der Erwachsenen, in die Kreativität der Schriftstellerin hineinwirkte. Sussex, vor allem die South Downs und das Dorf Rodmell, nahe Lewes, wurden der Zufluchtsort, wenn die Hektik der Großstadt zu bedrängend und später die Schrecken des Krieges zu beängstigend wurden.

Ein Blick auf die Landkarte könnte nahelegen, das (geographische) England von Virginia Woolf pseudomathematisch wie ein Dreieck zu beschreiben, dessen Spitzen sich aus den Orten London, St. Ives und Rodmell ergäben – mit einem Abstecher nach Cambridge zu Studentinnen und nach Kent zu der Freundin Vita Sackville-West. Doch diese Vereinfachung verkennt, dass die Fiktionalisierung realer Topographie in der Perspektive der jeweiligen Romanfiguren erfolgt und insofern sehr viel stärker als bei anderen Autoren zu einer inneren Welt verdichtet wird. Auch würde die Reduktion auf nur Landschaftliches der Bedeutung nicht gerecht, die der gesamte Lebensraum England für Virginia Woolf hatte.

Die Autorin war eine leidenschaftliche Beobachterin ihrer Umwelt und ihrer Mitmenschen, und so finden sich in allen Texten – seien es Romane, Briefe oder Tagebuchaufzeichnungen – genaue Verweise auf ihre Lebensorte, auf ihre Sicht Englands, auf ihre eigene Welt. Interessanterweise aber schreibt sie in ihren Erzählungen weniger von jenen Plätzen, die zu ihrem Alltag gehören, wo sie ständig lebt, sondern mehr von denen, die für sie assoziativ mit Wünschen, Emotionen, Erinnerungen verbunden sind; nicht alle Orte ihres Lebens werden also zum Thema, sie sind aber im Subtext ihres Schreibens fast immer enthalten.

In diesem Schreiben erstehen die Orte, die Landschaften, wie sie Virginia Woolf im England der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebte, doch reichen manche Erinnerungen noch weiter zurück. Der Reisende von heute wird aber noch vieles so wiederfinden, wie er es in den Texten der Autorin gelesen hat. Zwar erlitt London im Zweiten Weltkrieg schwere Zerstörungen, und der Wiederaufbau einzelner Stadtteile – wie beispielsweise Bloomsbury – veränderte diese in unterschiedlichem Ausmaß, und St. Ives ist inzwischen nicht mehr der Ort der Fischer, die auf Sardinenschwärme warten, sondern ein Küstenstädtchen, das von Touristenschwärmen heimgesucht wird. Doch eine Wanderung in Sussex über die South Downs oder eine Rast in Rodmell können sehr schnell die Vergangenheit in der Gegenwart erstehen lassen. Wer also bei seiner Reise durch England Virginia Woolf als Begleiterin, vielleicht sogar als Reiseführerin wählt, wird manches andere sehen, als es Travel Guides gemeinhin zu präsentieren pflegen. Dies sollte ihn aber nicht daran hindern, seine Sichtweise mit der literarischen zu vergleichen, um dann vielleicht die eine zu ändern – die andere bleibt, wie sie Virginia Woolf beschrieben hat.

London – die literarische Hauptstadt

Kensington – royal-großbürgerliches Ambiente

Um 1900 war London die größte Stadt der Welt, die Residenz der Monarchie eines Weltreiches, die Metropole einer Wirtschaftsmacht, die Hauptstadt mit einem mannigfaltigen Kulturleben. Schon damals fiel es schwer, einen Überblick über die Vielgestaltigkeit Londons zu gewinnen, und so schrieb der Baedeker in seiner deutschen Ausgabe 1906 fast resignierend: »London ist ein unbestimmter Begriff und deckt sich in keiner seiner amtlichen Anwendungen mit der ungeheuren zusammenhängenden Straßen- und Häusermasse, die heutzutage die große Metropole bildet und noch täglich nach allen Richtungen hin zunimmt.«

Wer aber das London von Virginia Woolf nach der Lektüre ihrer Tagebücher, Briefe und Erinnerungen erkunden möchte, für den scheint die Metropole im Wesentlichen aus zwei Stadtvierteln und zwei Adressen zu bestehen: Kensington und Bloomsbury bzw. Hyde Park Gate und Gordon Square. Zwischen beiden liegen etwa 7 km – großzügig gerechnet – und (heute) zwanzig Minuten Fahrzeit mit einem Taxi – knapp gerechnet. Eine sehr viel größere Distanz jedoch ergibt sich aus den sozialen Unterschieden der beiden Wohngegenden. In Kensington lebten – zumindest nach dem Verständnis der damaligen Zeit – herkömmlicherweise der Adel und die gehobene Bürgerlichkeit, in Bloomsbury die Boheme und die gehobene Unbürgerlichkeit; allerdings beschreibt Virginia Woolf den Gordon Square und seine Bewohner als »wohlhabende Mittelklasse und ausgesprochen mittelviktorianisch«. Sie wohnte während des ersten Drittels ihres Lebens in Kensington, danach in Bloomsbury; doch es gibt noch etliche andere Orte in London, die für sie von Bedeutung waren und die man besuchen kann. Die scheinbare Eingrenzung der Stadt auf wenige Quadratkilometer hatte aber für Virginia Woolf auch eine Art Schutzfunktion. Denn das »Monster« London konnte Gefühle des Fremdseins, der Unübersichtlichkeit und Beklemmung auslösen, denen sie bei ihren Spaziergängen durch die Stadt zu entfliehen und in ihrem Schreiben zu begegnen versuchte. Sie selbst notiert in einem kurzen Text: »Da war wieder London; diese riesige unachtsame unpersönliche Welt; Autobusse; geschäftliches Treiben; Lampen vor den Kaschemmen; und gähnende Polizisten.« 1

Derartige Gefühle der Unsicherheit gab es allerdings auch in der vertrauten Umwelt, und die war für Virginia – sei es als kleines Kind, als Mädchen oder als junge Frau – der vornehme Stadtteil Kensington mit dem großen Park (Kensington Gardens) und dem Schloss (Kensington Palace), das dem Viertel eine besondere Bedeutung verlieh. Im frühen 17. Jahrhundert ursprünglich als ein Landhaus erbaut, ließ es William III. von Christopher Wren zu einem Palast umgestalten. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts war hier die Residenz der englischen Könige, die den aufwendig angelegten Park und die frische, von den widerlichen Gerüchen der City freie Luft schätzten. Erst George III., seit 1760 König, zog wieder in die Nähe von Westminster, in die Nähe der parlamentarischen Macht, obwohl die Luft nicht unbedingt besser geworden war. 2 Doch viele Royals, von Victoria, der späteren Queen, bis zu Diana, der späteren »Prinzessin der Herzen«, haben hier weiterhin gewohnt. An Victoria erinnert das massive, weiße Monument vor der Schlossumzäunung, an Diana erinnern die Blumengebinde, die immer noch – wenn auch in geringerer Menge als kurz nach ihrem Tod – vor dem Tor niedergelegt werden.

Aber es waren natürlich nicht nur die Royals selbst, die ihr Domizil in Kensington hatten; die zahlreichen Höflinge, die Ladies und Lords des Hofstaates brauchten ein Zuhause, sofern sie nicht im Schloss selbst wohnten, und so entstanden viele kleinere, jedoch durchaus prächtige Herrenhäuser zwischen Kensington Gardens und Holland Park. Mit dem Wegzug des Hofes veränderte sich allmählich die gesellschaftliche Zugehörigkeit der Einwohner. Ein Londoner Guide Book vom Beginn des 20. Jahrhunderts beschreibt dieses Viertel mit seinen herrlichen Häusern als bevorzugte Wohngegend von erfolgreichen Anwälten, Schriftstellern und Künstlern. Und zu diesen gehörten die Familien von Virginia Woolfs Eltern. Wenn man es genau nimmt, war Kensington der Stadtteil der Stephens und der Pattles, samt ihren Verwandten und Freunden, da diese in enger Nachbarschaft zueinander lebten und sich ständig besuchten.

Virginia Woolf beschreibt ihre Herkunft in einer biographischen Skizze folgendermaßen: »Wer war ich also? Adeline Virginia Stephen, die zweite Tochter von Leslie und Julia Prinsep Stephen, geboren am 25. Januar 1882, entstammt einer langen Reihe von Vorfahren, einige berühmt, andere unbekannt; hineingeboren in eine große Familie, nicht von reichen, aber wohlhabenden Eltern; hineingeboren in eine sehr redselige, literarische, Briefe schreibende, Besuche machende, typische Gesellschaft des späten neunzehnten Jahrhunderts […].« 3 Mit dieser Darstellung charakterisiert sie zugleich ihre eigene Existenz, denn die Nachfahrin von Männern des Wortes wusste schon früh, dass auch sie schreiben wollte – ganz nach dem Vorbild ihres Vaters.

Sir Leslie Stephen wurde 1832 in 39 Kensington Gore geboren, nach der Umbenennung der Straße in Hyde Park Gate änderte sich die Hausnummer in 42; das Haus musste später einem großen Wohnblock weichen. Insofern spielte sich Stephens Leben – abgesehen von der Zeit, die er in Eton als Schüler und in Cambridge als Student und später als Lehrender verbrachte – vornehmlich im Umkreis von Kensington Gardens ab. Seine Familie – kinderreich wie die meisten Familien im 19. Jahrhundert – gehörte zur Clapham-Sekte, einer evangelikalen Gruppierung der anglikanischen Kirche, die sich u.a. für die Abschaffung der Sklaverei und des Sklavenhandels einsetzte und einen hohen moralischen, teilweise zur Askese neigenden Anspruch vertrat. Von Leslies Vater ist die Anekdote überliefert, dass er, als er eine Zigarre rauchte, merkte, wie gut sie schmeckte, und sich daraufhin dieses Vergnügen nie wieder gönnte. Die meisten Männer der Familie waren Juristen, die als Anwälte und Richter arbeiteten, sich aber auch politisch engagierten. Der Bruder von Leslie, ein kräftiger, stattlicher Mann, wurde ebenfalls Jurist; vor allem aber war er in der gemeinsamen Schulzeit in Eton und später während des Studiums in Cambridge der Hüter seines Bruders. Denn Leslie war in jungen Jahren ein empfindsamer, häufig kränkelnder Junge, für den man die Ballade »Erlkönig« nicht mit dem Tod des Knaben enden lassen durfte, da ihn das sofort zum Weinen gebracht hätte. Als Student aber und als Lehrender arbeitete er intensiv daran, seine Schwächlichkeit zu überwinden, und wenn er auch nicht im Rugbyspiel brillierte, so doch als Rudertrainer und vor allem im Bergsteigen und im Wandern. Er war ein herausragender Alpinist – seine Hochzeitsreise führte später nach Grindelwald – und nicht nur in den Ferien unternahm er tagelange Wanderungen; sieht man heute das bekannteste Bild von Stephen mit Zauselbart und Leidensmiene, würde man in ihm kaum einen derart sportlichen Mann vermuten. Seine Tochter Virginia unternahm später fast täglich ebenfalls kilometerweite Spaziergänge – wichtig für ihr Schreiben und damit für ihr Wohlbefinden.

Leslie beendete schon bald die Universitätskarriere als Fellow, da er den religiösen Anforderungen nicht mehr nachkommen konnte und wollte, zu denen er als ordinierter Geistlicher – Voraussetzung für eine akademische Laufbahn – verpflichtet war. Er kehrte nach London zur Familie zurück und arbeitete mit immensem Einsatz als Journalist und Herausgeber des DictionaryofNational Biography und wurde damit zu einem der angesehensten Autoren seiner Zeit. Der berufliche Erfolg hatte Stephens Selbstsicherheit nur wenig wachsen lassen, dennoch wurde es nun für ihn als ein Mann Ende zwanzig Zeit, an Heirat zu denken. Bei einer Einladung seiner Mutter lernte er die Töchter von William Makepeace Thackeray kennen – damals einer der berühmtesten englischen Romanciers, der kurz zuvor gestorben war. Die jüngere heiratete er, die ältere, eine Autorin von Romanen, zog 1873 mit in den Haushalt in South Kensington ein. Das Haus 8 Southwell Gardens, mit weißen, hohen Säulen am Eingang und vielen Stockwerken, war gerade einigermaßen bezugsfertig geworden. In der neu erschlossenen Gegend hatten sich Abgeordnete, Gelehrte und andere Angehörige des gehobenen Mittelstandes angesiedelt, die allerdings die Gebäude mit den Bauleuten, die noch an der Fertigstellung arbeiteten, teilen mussten. Hier wurde die Tochter geboren, hier starb die Ehefrau 1875 während der zweiten Schwangerschaft.

Mit der Schwägerin als Beinahe-Schwiegermutter in einem Haushalt zu leben, dürfte auch für eine weniger empfindliche Natur als Leslie Stephen es war, eine Anfechtung dargestellt haben – vor allem, da Anny Thackeray zwar ein netter, aber auch ein unglaublich chaotischer Mensch gewesen sein muss, der mit Entsetzen und Gelassenheit zugleich Unordnung und überzogene Konten ertrug. Stephen ertrug nichts davon, und der ständige Optimismus seiner Schwägerin war für den seine Melancholie pflegenden Melancholiker ebenfalls problematisch. Dennoch fand er sie nach eigenem Bekunden sehr sympathisch, und er war dankbar für die ihm und seiner Tochter gewährte Freundlichkeit, Anteilnahme und Fürsorge. Umso heftiger musste es den an intensive Betreuung gewöhnten Witwer getroffen haben, als Anny nach dem Umzug in das gemeinsam geerbte Haus 20 Hyde Park Gate heiratete und auszog. Doch Rettung war nahe, sehr nahe sogar, denn in 22 Hyde Park Gate, zwei Häuser weiter, wohnte mit ihren drei Kindern eine Freundin von Anny, die früh verwitwete Julia Duckworth, von Leslie Stephen schon lange umworben; 1878 heirateten sie. Julia Duckworth, geborene Prinsep Jackson, stammte aus der mit vielen schönen Töchtern gesegneten Familie Pattle und galt als ein Ausbund an Schönheit und Wohltätigkeit, was sie in der Männerwelt von Ferne anbetungswürdig machte, während ihre Kinder hingegen sich mehr Nähe gewünscht hätten. Sie mussten zu ihrem Bedauern nicht selten hinter den Armen und Kranken in London oder St. Ives zurückstehen – vielleicht war deshalb Virginia Woolf nicht ungern krank, sicherte ihr doch Krankheit die Zuwendung der Mutter (und später all derer, die ihr nahestanden).

Während die Familie von Leslie Stephen vor allem im Verwaltungsbereich tätig war, gründete die Pattle-Familie ihre finanziellen Ressourcen auf Aktivitäten in Indien, auch wenn der Stammherr James Pattle ein ziemlicher Trinker gewesen sein muss, der angeblich – so eine der Familienanekdoten – nach seinem Tod, konserviert in einem Rumfass, nach England überführt werden sollte. Beim Transport explodierte das Fass, die Leiche wurde hinausgeschleudert, und die mitreisende Witwe, die ihren toten Ehemann wohl verwahrt glaubte, soll fast den Verstand verloren haben. Dennoch erreichte sie mit ihren Töchtern London, verheiratete die meisten in wohlsituierte Verhältnisse und schuf eine Art Familienclan.

Unter den jungen Frauen waren durchaus einige mit künstlerischen Ambitionen. Am bekanntesten wurde Julia Margaret Cameron, die als bedeutende Porträtfotografin nicht nur ihre Verwandtschaft, sondern viele angesehene Künstler aus der Zeit Königin Victorias ablichtete; sie starb kurz vor der Geburt von Virginia Woolf. Ihre Schwester Sarah Prinsep ließ sich nach ihrer Rückkehr aus Indien mit der Familie westlich der Kensington Gardens im Bereich Holland Park nieder. Der Park und das große Holland House, 1607 errichtet, haben eine sehr bewegte Geschichte; königliche Familienmitglieder und Oliver Cromwell gehörten gleichermaßen zu den Gästen. In friedlicheren Zeiten wurde das Great House ein Treffpunkt für Literaten und Politiker; Charles Dickens, Benjamin Disraeli, Walter Scott und viele andere besuchten den Salon von Lord und Lady Holland. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Haus bis auf einen Seitenflügel durch Bomben zerstört; heute ist in dem noch verbliebenen Hausteil eine Jugendherberge untergebracht. Im Oberhaus, dem House of Lords, ist Holland Park immer noch durch eine Literatin vertreten: die Autorin von Kriminalromanen, P.D. James, wurde als Baroness James of Holland Park von der Königin zum Life Peer gemacht.

London, 22 Hyde Park Gate; Geburts- und Wohnhaus von Virginia Woolf

Die Prinseps mieteten den »Witwensitz« der Adelsfamilie, Little Holland House genannt, wo sie die »Salontradition« fortsetzten und ebenfalls einen großen Kreis von Politikern, Malern und Literaten um sich versammelten. Ihr Refugium wurde 1875 niedergerissen, und über das Land legte man die Melbury Road, wo erneut für die Familie und ihren Künstlerfreund George Frederick Watts gebaut wurde; auch dieses Haus – Nr. 6 – steht nicht mehr. Ein Gang durch die Straße, vor allem ein Blick auf das Haus Nr. 8, ebenfalls mit Ateliers, vermag einen flüchtigen Eindruck der damaligen Wohn- und Lebenssituation zu vermitteln. Genauer und poetischer jedoch ist die Darstellung von Haus und Garten, wie sie Virginia Woolf in einer Erinnerung an ihre Mutter Julia beschreibt: »Little Holland House war damals ihre Welt. Aber wie sah diese Welt aus? In meiner Vorstellung ist Little Holland House ein altes weißes Landhaus, inmitten eines großen Gartens. Hohe Glastüren öffnen sich zum Rasen. Durch sie strömen Damen in Krinolinen und kleinen Strohhütchen, von Herrn mit Backenbärten und in Keilhosen begleitet. Die Zeit ist ungefähr um 1860. Es ist ein heißer Sommertag. Auf Teetischen, die überall auf dem Rasen aufgestellt sind, stehen große Schüsseln mit Erdbeeren und Sahne.« 4 Dies ist zwar ein Traum, doch er beruht – so Virginia Woolf – auf einer wahren Begebenheit. »Als wir noch Kinder waren, nahm meine Mutter uns einmal mit in die Melbury Road; und als wir in die Straße kamen, die auf dem ehemaligen Garten angelegt worden war, machte sie einen kleinen Schritt vorwärts, klatschte in die Hände und rief: ›Hier hat es gestanden!‹ – als wäre ein Märchenland verschwunden.« Zwischen 22 Hyde Park Gate und dem verschwundenen Märchenland liegen ungefähr 30 Minuten bzw. 2 km Fußweg, wenn man von Hyde Park Gate links auf die Kensington Road einbiegt, dort immer weiter über die Kensington High Street geht, bis rechts die Melbury Road auftaucht.

In diesem »Märchenland« war Julia Prinsep Jackson, in Kalkutta als Tochter eines Arztes geboren, doch schon als Kind nach England gekommen, Angebetete und Maler-Modell der Präraffaeliten sowie Fotomodell ihrer Tante Cameron. Auch erhielt sie unvermeidlich zahlreiche Heiratsanträge, aber erst 1867 nahm sie den des Juristen Herbert Duckworth an. Mit ihm hatte sie drei Kinder; das dritte wurde kurz nach dem frühen Tod des Vaters geboren. Wie Leslie Stephen versank auch Julia Duckworth in nicht enden wollender Trauer, von der sie nur die Fürsorge für ihre Mitmenschen ein wenig ablenkte. Und da ihr Nachbar in Hyde Park Gate dieser besonders bedurfte, wurde aus Mitleid Liebe und aus Julia Duckworth Julia Stephen.

Zwei große, weitverzweigte Familien bestimmten in einem nicht geringen Umfang das gesellschaftliche Leben des Stadtteils Kensington. Und durch die räumliche Gemeinschaft derart vieler Familienangehöriger auf derart wenigen Quadratkilometern bekam London für Virginia Woolf geradezu kleinstädtischen, wenn nicht gar dörflichen Charakter. Diesen beschreibt bereits Anny Thackeray Ritchie, die Schwägerin Leslie Stephens aus erster Ehe. In ihrem Roman Old Kensington, den sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielen lässt, ersteht vor dem Leser eine Idylle in ländlicher Umgebung. Die Kinder spielen noch auf der Straße, die von blühenden Weißdornhecken eingefasst ist, auf Kensington Gore grasen Schafe, im Frühling überziehen Blüten die Ziegelmauern, Erdbeeren werden auf großen Beeten gezogen und vom Gärtner an die Kinder verschenkt, und der Dunst der Großstadt ist nur von ferne wahrzunehmen. Ähnlich beschreibt auch Virginia Woolf diesen Bereich der Stadt – wenn auch fünfzig Jahre später. »Bei weitem der schönste Teil Londons […] ist Kensington. Man war in zehn Minuten in den Gardens – es war wie mitten auf dem Land.« 5Kensington war im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in der Tat noch ein Dorf, aber ein hochherrschaftliches, denn die Nähe des Palastes und des königlichen Parks bestimmte auch das Bewusstsein der Bewohner – und die Immobilienpreise. Letztere sind im Laufe der Jahre noch weiter gestiegen, und selbst in dem nicht gerade für preiswertes Wohnen bekannten London gehört Kensington heute zu den teuersten Wohngegenden. Zu Zeiten der Stephens allerdings konnte sich der Mittelstand ein Haus südlich des Hyde Parks noch leisten, und obendrein natürlich auch die notwendige Anzahl an Dienstboten, denn die waren damals für eine Familie mit acht Kindern, vielen Gästen und häufigen Verwandtenbesuchen unerlässlich.

Hyde Park Gate ist eine relativ schmale Sackgasse, doch nicht ganz so schmal, wie man nach der Aussage von Virginia Woolf befürchten müsste, die sich zu erinnern glaubt, dass das Haus dunkel gewesen sei, weil die Straße so eng war, dass man die Bewohnerin gegenüber dabei beobachten konnte, wie sie ihren Hals wusch. Im Prinzip ist die Straße Hyde Park Gate auch heute noch recht beschaulich, sofern nicht Touristen die Ruhe stören, denn fortwährend schlendern »Literatur-Pilger« zur Stätte ihres Interesses. Fast am Ende dieses Abschnittes von Hyde Park Gate nämlich, auf der linken Seite, steht das sechsstöckige, weiße Haus mit der Nummer 22 auf der schwarzen Eingangstür und drei blauen Gedenktafeln an der seitlichen Mauer – so viele wie kaum an einem anderen Privathaus in London. Während die oberste mit der Inschrift »Sir Leslie Stephen (1832-1904), scholar and writer, lived here« schon vor langer Zeit angebracht wurde und bereits ein wenig verwittert ist, sind die anderen beiden erst kürzlich enthüllt worden. Sie erinnern an seine Töchter: an Vanessa Bell (Artist) und an Virginia Woolf (Novelist and Critic), und die zweite Tafel ist es, die Touristen wie literarisch Interessierte in diese Straße kommen lässt. Der Eine oder die Andere mag vielleicht noch einen Blick werfen auf Nr. 28, das dunkelrot verklinkerte Haus schräg gegenüber, in dem Churchill wohnte und starb, oder auf Nr. 9 am Beginn der Straße, in dem Baden-Powell, der Gründer der Pfadfinder-Bewegung, lebte.

Auch Hyde Park Gate gehört zu den vornehmen Wohnstraßen Londons – verkehrsgünstig und dennoch ruhig gelegen, und schon bald nach der Erschließung des Viertels in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine gesuchte Lage. Vornehmlich Grundbesitzer, Beamte, Bankiers, Schriftsteller und Anwälte hatten nach einer Volkszählung von 1851 dort Quartier bezogen, und im Laufe der Jahre zogen immer mehr Menschen von sozialer Bedeutung dorthin. Adelige, Künstler und Parlamentsabgeordnete mieteten oder kauften hier Häuser; was allerdings – wie ein historischer Rückblick mit Bedauern festgestellt hat – insofern verderblichen Einfluss auf die architektonische Qualität der einzelnen Häuser und damit zugleich auf die gesamte Straßenfront hatte, als die vermögenden Besitzer teilweise völlig inadäquate, ja stümperhafte Veränderungen an den Gebäuden vornahmen, die eine erhebliche Beeinträchtigung der ästhetischen Wirkung des Bauwerkes bedeuteten. Als besonders gravierendes Beispiel wird der Amateurarchitekt Leslie Stephen und dessen unsensible Gestaltung seiner Immobilie angeführt. Da er für seine große Familie das Haus ausbauen musste, erweiterte er es um zwei zusätzliche Stockwerke und ließ den Giebel – geformt nach holländischem Vorbild – mit Ziegelsteinen verblenden, obwohl die Fassade wie die der anderen Häuser in Stuck ausgeführt war. Angeblich hatte Virginias Mutter die erste skizzenhafte Zeichnung für den Bau gemacht, um Architektenkosten zu sparen. Übrigens wurden vor nicht allzu langer Zeit genau diese Stockwerke – unter Hinweis auf die literarischen Vorbesitzer – für £ 1 500 000 zum Kauf angeboten. In dem Zeitungsartikel, der über den Verkauf berichtet 6, wird ironisch angemerkt, dass die Makler die Wohnung kaum mit den Worten offerieren würden, die Virginia Woolf einmal für ihr früheres Heim gefunden hatte. In ihren Memoiren schreibt sie nämlich, dieser Ort sei mit so vielen Toden, so vielen Erschütterungen und Gefühlsäußerungen angefüllt gewesen, dass die Wände geradezu durchtränkt wären mit Schicksalhaftem.

Wenn man die Erinnerungen von Virginia Woolf an das Haus in Hyde Park Gate liest, sind es vor allem Begriffe wie Enge, Dunkelheit, Bedrückung, die das Wohn- und Lebensgefühl der Stephen-Kinder beschreiben. Zwar wirkt das Haus – von außen betrachtet – recht groß, doch es lebten zuweilen zwanzig Menschen darin. Die Eltern, acht Kinder und eine Großmutter, die von mindestens sieben dienstbaren Geistern betreut wurden – nicht gerechnet die regelmäßig beschäftigten Hilfskräfte. Die Zimmer waren klein, am größten noch der Salon im Erdgeschoss, Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens, und das unter dem Dach eingerichtete Arbeitszimmer von Leslie Stephen, Mittelpunkt des intellektuellen Daseins. Das existentielle Zentrum des Hauses war das Elternschlafzimmer im ersten Stock, der Schauplatz vom Werden und Vergehen familiären Lebens. Hier wurden die Kinder gezeugt und geboren, hier starben die Eltern – die Mutter sehr plötzlich an rheumatischem Fieber, der Vater, sich sehr lange quälend, an Krebs.

Eine beklemmende Einengung im wörtlichen wie übertragenen Sinn muss die Wohnsituation für die Stephen-Kinder bedeutet haben. So viele Menschen vom Kleinkind bis zur Greisin auf engem Raum, das bedeutete damals auch dumpfe Luft und strenge Gerüche, denn kaum jemals wurde richtig gelüftet. Und für alle gab es nur ein Badezimmer und drei WCs, was auch bei den Bedingungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts für »bessere Kreise« etwas wenig war. In Virginia Woolfs Roman Die Jahre möchte die älteste Tochter der Familie Pargiter das elterliche Haus verkaufen, doch der Makler moniert den geringen hygienischen Komfort, der nicht den Ansprüchen seiner Klientel entspräche. Es ist nicht überliefert, ob die Stephen-Kinder beim Verkauf von 22 Hyde Park Gate ähnliche Probleme hatten.

Zum Entstehen einer erstickenden Atmosphäre trug nicht unwesentlich die Tatsache bei, dass Julia Stephen, in Erinnerung an den Geschmack der »Künstlerkolonie« Little Holland House, die Räume in Hyde Park Gate mit schwarzen Möbeln, dunklen Morris-Tapeten und schweren, roten Samtvorhängen ausgestattet hatte, die das Eindringen von Licht und Luft behinderten. Und so verwundert es nicht, dass die Stephen-Kinder froh waren, mindestens zweimal täglich hinauszukommen, um Sonne, Sauerstoff und Natur in Kensington Gardens zu erleben und sich mit Spaziergängen Bewegung zu verschaffen. Das war eine der Pflichten, die Virginia Woolf als langweilig im Gedächtnis behalten hat und während derer die Kinder sich Geschichten erzählten, um die Fadheit dieser Promenaden zu kompensieren.

Erheblich attraktiver war es für die Geschwister, im Winter auf dem Round Pond Schlittschuh zu laufen oder im Sommer ein Segelboot schwimmen zu lassen und dabei einen Blick auf den Palast zu werfen und auf die davor marmorn und majestätisch thronende Queen Victoria. Die Nachhaltigkeit dieses Eindrucks wird in einer Passage des Romans Die Jahre vermittelt, in der Martin Pargiter die Szenerie im Park betrachtet: »Da war die weiße Figur Königin Victorias vor einer grünen Böschung; dahinter war der Backstein des alten Palasts; die Phantomkirche reckte ihren Turm und der Round Pond bildete einen blauen Tümpel. Ein Bootsrennen fand statt.« 7