Mitfühlen - Melanie Mühl - E-Book

Mitfühlen E-Book

Melanie Mühl

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Beschreibung

Melanie Mühl fragt, wo eine der entscheidenden Fähigkeiten der Gegenwart geblieben ist: das Mitgefühl, das mehr ist als Empathie. Denn wer wirklich mitfühlt, lässt auch Taten folgen. Ein inspirierendes und hochaktuelles Buch über die Grundlagen unseres Zusammenlebens, das die wichtige Frage stellt: Können wir Mitgefühl tatsächlich lernen? Der Populismus blüht. Das gesellschaftliche Klima ist rau. In einer Zeit, in der Rassismus wieder hoffähig scheint, reicht es nicht mehr, nur empathisch zu sein. Mühls Buch ist ein überzeugendes Plädoyer für das aktive Mitfühlen – eine Fähigkeit, mit der wir den Riss, der durch unsere Gesellschaft geht, vielleicht wieder kitten können.

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Über das Buch

Eine der entscheidenden Fähigkeiten unserer Zeit verliert dramatisch an Wert: das Mitgefühl, das mehr ist als Empathie. Denn wer wirklich mitfühlt, lässt auch Taten folgen. Ein inspirierendes und hochaktuelles Buch über die Grundlagen unseres Zusammenlebens, das die wichtige Frage stellt: Können wir Mitgefühl tatsächlich lernen? Der Populismus blüht. Das gesellschaftliche Klima ist rau. Und Angst vor sozialem Abstieg mündet in eine Furcht vor dem Fremden, selbst dort, wo es mit ihm kaum Berührung gibt. In einer Zeit, in der Rassismus wieder hoffähig scheint, reicht es nicht mehr, nur empathisch zu sein. Melanie Mühls Buch ist ein überzeugendes Plädoyer für das aktive Mitfühlen. Eine Fähigkeit, mit der wir den Riss, der durch unsere Gesellschaft geht, zumindest ein wenig kitten können.

Melanie Mühl

Mitfühlen

Über eine wichtige Fähigkeit in unruhigen Zeiten

Carl Hanser Verlag

Für Luise

Eine Freundin begegnet jeden Abend auf dem Weg von der Arbeit nach Hause einem Bettler. Ein junger Mann, der im Sommer wie im Winter einen blauen Kapuzenpulli trägt und stets an derselben niedrigen Mauer kauert. Die Beine angezogen, den Blick gesenkt, vor ihm ein Pappbecher. Manchmal wirft sie ein paar Münzen in den Becher, selten spricht sie mit dem Mann. Im Dezember, der erste Schnee war gefallen, brachte sie ihm eine Decke. Oft aber, an zermürbenden Tagen, wenn sie melancholisch ist, möchte sie den Bettler nicht sehen. Dann biegt sie eine Straße früher ab. Manchmal fragt sie sich, ob ihre Empathie jemals echt ist, wenn sie sie nach Lust und Laune dosieren kann. Aber tut das nicht jeder? Auf dem schmalen Grat zu balancieren zwischen dem, was man fühlt, und dem, was man tut?

Im vergangenen Sommer erreichte die politische Demonstration von Unmenschlichkeit einen neuen Höhepunkt: An der Grenze zu Mexiko ließen amerikanische Behörden Familien, die illegal einzureisen versuchten, brutal auseinanderreißen. Kinder wurden von ihren Eltern getrennt. Die Bilder verzweifelt weinender Mädchen und Jungen lösten weltweit Entsetzen aus. Die Botschaft der öffentlich zelebrierten Grausamkeit: Bleibt uns bloß vom Leib, sonst nehmen wir euch eure Kinder weg.

Die wahre Tragödie Griechenlands verstand ich vor einigen Jahren beim Fernsehen. Es war nicht der erste Beitrag über die verheerenden Folgen der Finanzkrise, den ich sah, aber dieses Mal war etwas anders. Interviewt wurde ein alter Mann mit hellen Augen. Auf seinem Gesicht, das sich kaum regte, lag eine Traurigkeit, die mir die Kehle zuschnürte. Er hatte alles verloren, was einem Menschen Würde verleiht: Sein Bankkonto war gesperrt worden, seine Rente eingefroren, für die tägliche Ration Bargeld musste er sich stundenlang anstellen. Ich beschloss, nach Griechenland zu fliegen und über die Krise des Landes und das Elend der Menschen als Journalistin zu berichten. Warum ausgerechnet nach diesem Beitrag? Weil mich der Mann an meinen verstorbenen Großvater erinnerte? Weil er so einsam aussah? Ging es um ihn oder um mich? Kann man das überhaupt trennen?

Am 19. Dezember 2016 erschütterte ein islamistischer Terroranschlag das Land. Das Attentat auf den Berliner Breitscheidplatz kostete zwölf Menschen das Leben, mehr als siebzig wurden verletzt, viele von ihnen schwer. In der Zeit nach dem Terrorattentat war sehr viel über den Täter zu lesen und so gut wie nichts über die Opfer. Während in Italien der Staatspräsident einem getöteten Landsmann die letzte Ehre erwies und der polnische Staatspräsident vor dem Sarg des erschossenen Lkw-Fahrers niederkniete, schickte Angela Merkel nicht einmal ein Kondolenzschreiben. Es dauerte fast zwölf Monate, bis die Kanzlerin die Hinterbliebenen traf. Kurz vor der Begegnung sagte sie: »Ich weiß, dass einige sich ein solches Treffen früher gewünscht hätten.« Warum es nicht früher stattfand, sagte sie nicht. Mit dem Jahrestag kam zudem das ganze Ausmaß des Behördenversagens ans Licht. Die menschliche Kälte, die hierzulande Hinterbliebene ertragen mussten, ist skandalös. Wie anders soll man es nennen, dass Hinterbliebene am Tag nach dem Anschlag nicht am Gedenkgottesdienst teilnehmen konnten, weil sie noch keine Todesnachricht erhalten hatten und in Krankenhäusern verzweifelt nach Eltern, Kindern, Geschwistern suchten? Dass eine Tochter die Zahnbürste ihrer Mutter, die zu einem DNA-Abgleich benötigt worden war, zurückgeschickt bekam, ohne auch nur ein Wort der Anteilnahme: »Mit dem Ende der polizeilichen Ermittlungen möchten wir die Gegenstände Ihrer Angehörigen zurücksenden und bedanken uns höflichst für Ihre Mitarbeit.« Oder dass die Charité Rechnungen für die Leichenschau verschickt: 51 Euro, zahlbar innerhalb von dreißig Tagen.

Wie ist das möglich? Wie sehr muss jemand die bürokratischen Abläufe verinnerlicht haben, dass selbst der letzte Funke Mitgefühl stirbt? Oder ist der Dienst nach Vorschrift in so einem Fall schlicht die hilflose Antwort auf unsere unübersichtliche Gesellschaftsstruktur, weil Empathie immer ein Gesicht braucht, in das man blickt?

Es gibt ein Gedicht des englischen Lyrikers John Donne, in dem ein Satz steht, der viel mit Mitgefühl zu tun hat: »Niemand ist eine Insel«. Das ist ein inzwischen zwar redensartig gewordener Gedanke, der aber trotzdem schön ist, weil er uns über die Absurdität des Daseins hinwegtröstet, indem er auf die Verbundenheit des Einzelnen mit dem Schicksal aller Menschen verweist. Einerseits. Andererseits kann man Donnes Du-bist-nicht-allein-Botschaft auch als Ermahnung verstehen: Wer sich als »ein Teil eines Ganzen« begreift und daraus ein Gefühl des Aufgehobenseins zieht, geht gleichzeitig eine Art moralische Verpflichtung ein: Die anderen dürfen ihm nicht egal sein. Aber was genau bedeutet das? Und ist das am Ende nicht zu viel verlangt?

Um all diese Fragen soll es in diesem Buch gehen. Denn ganz offensichtlich steht es um die Empathie, die seit der Entdeckung der Spiegelneuronen oft irrtümlich als eine Art Selbstläufer gilt, um den man sich nicht groß kümmern muss, im alltäglichen Miteinander nicht sonderlich gut. Von Mitgefühl und echter Anteilnahme ganz zu schweigen. Das gesellschaftliche Klima wird kälter, der Ton aggressiver. Der Populismus blüht. Antisemitismus und Islamfeindlichkeit erstarken. Die Hemmschwelle sinkt. Im Netz tobt ein Shitstorm nach dem nächsten, und der schiere Hass vieler Kommentare verschlägt einem die Sprache. Man wundert sich, wie irrsinnig schnell manche Leute wegen Lächerlichkeiten auf hundertachtzig sind, besonders im Straßenverkehr. Neulich rastete ein Fahrradfahrer völlig aus, nur weil ein Auto den Radweg gestreift hatte. An der nächsten Ampel, wo Autofahrer und Radfahrer erneut aufeinandertrafen, schlug der Radfahrer mit der Faust auf die Motorhaube des Autos, als habe er seine ganze Frustration in diesen einen Hieb gesteckt.

Und erst die Angst vor Überfremdung. Sie grassiert gerade dort, wo es mit dem Fremden kaum Berührung gibt. Ängste vor Ausländern, Migranten, Geflüchteten vermischen sich mit Ängsten vor der Globalisierung, dem Abgehängtwerden und dem sozialen Abstieg durch eine sich immer weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich. Dieses Gefühl des Kontrollverlusts, die Furcht, das eigene Leben könnte einem entgleiten, erstickt jedes Mitgefühl im Keim. Und schafft einen idealen Nährboden für Ressentiments.

Würden diese Ängste nur irgendwelche Spinner umtreiben, alles wäre halb so dramatisch. Aber es sind längst Menschen vom Angstvirus und dem Gefühl der Machtlosigkeit infiziert, die man für tolerant, weltoffen und vernünftig gehalten hatte. Für die man die Hand ins Feuer gelegt hätte und die plötzlich erschreckend radikale Ansichten vertreten.

Vielen mag das Land lange Zeit wie im Halbschlaf erschienen sein, das nur kurz erwachte und sofort wieder einnickte, doch dieses Gefühl war ein Trugschluss.

Die Zeiten sind friedlich, aber die Ängste sind groß.

Der Niedergang des Mitgefühls, die soziale Verrohung, der unversöhnliche, polemische Ton, der uns in der Öffentlichkeit entgegenschlägt, betrifft uns alle, und es hilft zu versuchen, diese Entwicklung ein bisschen besser zu verstehen. Denn das, was gerade geschieht, sagt uns viel über das Wesen unserer kollektiven Mentalität, darüber, was es heute heißt, ein Mensch zu sein.

Mit dem Mitgefühl verhält es sich ja ähnlich wie mit dem Anstand, über den Axel Hacke in seinem Bestseller Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen schreibt: »Über das Anständigsein habe ich, ehrlich gesagt, nie besonders nachgedacht, es war mir immer etwas selbstverständlich Gutes.« Jetzt aber stünden grundsätzliche Regeln menschlichen Anstands zur Disposition. Die des Mitgefühls tun es auch. Genau genommen kann es ohne Mitgefühl gar keinen Anstand geben.

Anders formuliert: Mitgefühl ist die Grundlage einer gelingenden sozialen Kultur. Sie ist das Bindemittel. Ohne Mitgefühl kein Miteinander. Die Globalisierung, sagt die Neurowissenschaftlerin Tania Singer, habe vorgelegt, jetzt müsse unser Bewusstsein folgen. Wir müssten den Blick weg vom »Ich« und hin aufs »Wir« richten. Das ist kein sonntagsrednerischer, pathetischer Appell: Die am Max-Planck-Institut Leipzig forschende Tania Singer ist überzeugt, dass das möglich ist. Mitgefühl, das hat sie in einem weltweit einzigartigen Projekt bewiesen, lässt sich wie einen Muskel trainieren, doch dazu später mehr. »So bin ich eben« gilt demnach nicht. Zur Kaltherzigkeit, dazu, seinen Mitmenschen gegenüber ein Wolf zu sein, ist niemand verdammt — auch wenn diese sozialdarwinistische Theorie jahrhundertelang Anhänger gefunden hat.

Der Ruf nach mehr Empathie wäre selbstredend naiv. Aber es ist an der Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, was Empathie, was Mitgefühl eigentlich ist und was wir selbst tun können, um den tiefen Riss, der durch die Gesellschaft geht, zumindest ein bisschen zu kitten. Im Alltag vor allem, in der Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, wie wir in Sekundenschnelle Urteile fällen und uns von unbewussten Vorurteilen leiten lassen. Wann packt die Empathie unser Herz? Wann fühlen wir mit? Wann helfen wir, und wann verschließen wir uns? Wie gelingt es, den anderen im Anderssein besser anzuerkennen und in ihm zuallererst den Menschen zu sehen?

Zunächst einmal handelt es sich bei Empathie und Mitgefühl ja um diffuse Begriffe, die oft in einem Atemzug genannt werden, die aber nicht miteinander identisch sind. Jedenfalls dann nicht, wenn man unter Empathie mehr als das bloße Einfühlungsvermögen in andere Menschen versteht. Mehr als eine kurze, blauäugige Betroffenheit beim Blick auf Fotos von Flüchtlingskindern. Gibt man sich der Empathie nämlich nur passiv hin, läuft man stets Gefahr, im Moment der Rührung zu verharren, oder, angesichts des geballten Unglücks dieser Welt, in empathischen Stress zu geraten, sich Augen und Ohren zuzuhalten, bis zur Erschöpfung auszubrennen. Damit ist niemandem geholfen. Der Mitfühlende aber reagiert anders. Er will handeln. Paul Bloom, kanadischer Wissenschaftler und Autor, formuliert es so: »Empathie heißt, ich fühle das, was ein anderer Mensch fühlt. Mitgefühl bedeutet: Ich kümmere mich um den anderen, ich sorge für ihn.« Beim Mitgefühl trifft Herz auf Verstand. Dieses Zusammenspiel ist entscheidend.

Wer sich mit dem Empathie-Begriff auseinandersetzt, stellt fest, dass er eine Übersetzung des englischen Wortes empathy ist, das wiederum selbst auf eine Übersetzung zurückgeht: den Begriff der »Einfühlung«, der um 1900 in Philosophie, Ästhetik und Psychologie ziemlich populär war. Unauflöslich verbunden ist die Empathiegeschichte mit dem deutschen Philosophen und Psychologen Theodor Lipps (1851 bis 1914). Lipps, der Empathie als Instinkt bezeichnete, habe, so der Verhaltensforscher Frans de Waal, als Erster erkannt, dass wir einen sehr speziellen Draht zu anderen Menschen haben. »Wir können nicht fühlen, was außerhalb von uns vorgeht, doch durch die unbewusste Verschmelzung von Selbst und anderem klingen die Erfahrungen des anderen in uns nach.« Lipps glaubte nicht, dass sich eine solche Identifikation auf irgendwelche anderen Fähigkeiten wie Lernen, Assoziation oder Denken zurückführen ließ. Dass Einfühlung beziehungsweise Mitgefühl allerdings auch für den längst in Vergessenheit geratenen Lipps nicht ganz ohne kognitive Leistung vonstattengeht, zeigt der Titel seines 1907 verfassten Aufsatzes »Das Wissen von fremden Ichen«.

Gerade heute, in Zeiten der emotionalen Ignoranz, kognitiven Kühle und des Optimierungswahns, der die eigenen Befindlichkeiten und Wünsche in den absoluten Mittelpunkt stellt, ist Lipps Theorie vom »Nachklingen« fremder Erfahrungen im eigenen Bewusstsein hoch aufregend.

Was bedeutet es, eine Gesellschaft zu sein, zusammenzugehören, sich respektvoll auseinanderzusetzen und auch Meinungen auszuhalten, die einem nicht passen, ohne das Gesagte sofort zu skandalisieren und den anderen moralisch zu verurteilen? Die neue, durch ein eigenes Ministerium befeuerte Sehnsucht nach dem alten Begriff »Heimat«, der unproblematischer, unbelasteter anmutet als »Volk« oder »Nation«, zeugt von einer in die Krise geratenen sozialen Identität. Das zwingt uns zu der Frage: Wer sind wir, wer gehört zu uns, mit wem wollen wir solidarisch sein — und wie kann zwischenmenschliche Nähe bewahrt werden?

Die bisweilen naive Empathie-Obsession unserer Zeit kann man nicht verstehen, ohne einen Blick in die Neunzigerjahre zu werfen. Für die Empathie-Forschung eine bahnbrechende Zeit, in der die Spiegelneuronen entdeckt wurden. Beteiligt war daran eine Gruppe Wissenschaftler unter der Leitung des italienischen Neurophysiologen Giacomo Rizzolatti an der Universität Parma. Die Sensation beruhte auf einem Zufall. Eigentlich wollten die Wissenschaftler erforschen, was im Gehirn von Makaken passiert, wenn sie nach Futter greifen. Einer der Forscher bekam während der Versuchsanordnung allerdings selber Hunger, weshalb er, beobachtet von einem Makaken, zu einer Erdnuss griff. Genau in diesem Augenblick knatterte der Messapparat. Die Wissenschaftler waren perplex, handelte es sich doch exakt um jenes an ein Maschinengewehr erinnernde Geräusch, das bislang ertönt war, wenn der Affe nach den Nüssen gegriffen hatte. Jetzt feuerten einige Nervenzellen in seinem prämotorischen Kortex allein deshalb, weil er die zielgerichtete Bewegung des Mannes beobachtete. Der Affe spiegelte das Verhalten des Menschen. »Die Besonderheit dieser Neuronen besteht darin, dass sie nicht zwischen ›Affe sieht‹ und ›Affe tut‹ unterscheiden«, schreibt Frans de Waal in seinem Buch Das Prinzip Empathie. »Sie heben die Grenze zwischen selbst und anderem auf und liefern erste Hinweise darauf, wie das Gehirn einem Organismus hilft, die Emotionen und Verhaltensweisen um ihn her widerzuspiegeln.« Ein bisschen wie in dem alten Pink-Floyd-Song, in dem es um den Augenkontakt zwischen Menschen geht: »I am you and what I see is me«.

Mit der Geburt der Spiegelneuronen schien das Rätsel der Empathie entschlüsselt. Felsenfest überzeugt, endlich die biologische Voraussetzung für Mitgefühl zu kennen, die es erst ermöglicht, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, schaukelten Wissenschaftler und Medien einander in einem rhetorischen Überbietungswettkampf hoch. Nichts, wofür die Spiegelneuronen nicht herhalten mussten. Moral. Aggressivität. Ekel. Schmerz. Genuss, ja sogar Sprache. Spiegelneuronen würden »für die Psychologie leisten, was die DNA für die Biologie getan hat«, behauptete der Hirnforscher V. S. Ramachandran, einer der euphorischsten Verfechter des Konzepts. Und: Es handele sich um »Dalai-Lama-Neuronen, welche die Grenze zwischen dir und deinem Gegenüber auflösen«. Bücher, die den vermeintlich magischen Zellen huldigten, trugen vielversprechende Titel wie Warum ich fühle, was du fühlst oder Die empathische Zivilisation.

Der bloße Verweis auf deren zwischenmenschliche Kraft mag bei vielen nach wie vor ein Raunen auslösen, doch die besten Tage der Nervenzellen sind vorbei. In den vergangenen Jahren verschafften sich immer mehr kritische Stimmen lautstark Gehör. Wissenschaftliche Studien, die sich dem Gegenstand erneut näherten, bewiesen: Das Konzept steht auf zerbrechlichen Füßen. Der Neurolinguist Gregory Hickok brachte in seinem 2014 erschienenen Buch The Myth of Mirror Neurons: The Real Neuroscience of Communication and Cognition die »größte Spekulationsblase der Psychologiegeschichte« zum Platzen. Er dekonstruierte den Mythos der Spiegelneuronen. Einfühlung, so Hickok, sei auch ohne Nachahmung möglich. »Der Mensch ist nicht sozial, weil er dank Spiegelneuronen imitieren kann. Er imitiert, weil er sozial ist.« Anders formuliert: Die Funktion der Spiegelneuronen beschränkt sich offenbar im Wesentlichen auf die Auswahl und Vorbereitung situationsadäquater Handlungen. Ihre Rolle für das Verstehen von sozialem Verhalten ist lediglich nebensächlich. Spiegelneuronen sind keine Wunderzellen, sondern nicht mehr als ein Rädchen in einem sehr großen Getriebe aus neuronalen Netzwerken mit Spiegel- oder Resonanzeigenschaften. Dazu gehört auch das Theory-of-Mind-Netzwerk, das anspringt, wenn wir die Perspektive wechseln und die Gedankengänge anderer nachvollziehen. Kinder zeigen diese Fähigkeit im Alter von etwa drei Jahren. Ein bekannter Versuch ist der Keksdosentest. Ein Kind sitzt am Tisch und beobachtet vorfreudig, wie ein Erwachsener eine Keksdose öffnet — doch statt Kekse sind in der Dose Buntstifte. Daraufhin wird der kleine Proband gefragt: »Was erwartet das draußen wartende Kind, wenn es gleich hereinkommt, wohl in der Dose?« Lautet seine Antwort »Kekse!«, hat es den Test bestanden.

Was dabei genau an welchem Ort im Gehirn passiert, ist selbst für versierteste Neurowissenschaftler unklar. Der Leitsatz, dass die Erklärung des Universums ein Leichtes sei gegenüber der Beschreibung der Geheimnisse des Gehirns, trifft die Sachlage ganz gut.

Nur mal ein Beispiel: Wir sind im Kino, und auf der Leinwand zertrümmert ein finsterer Kerl seinem Opfer mit einem Baseballschläger den Schädel — instinktiv gucken wir weg, halten uns entsetzt die Hände vor die Augen oder krümmen uns. Das ist der normale Impuls. In unserem Gehirn passiert dabei Folgendes: Obwohl wir unversehrt im Kinosessel sitzen, feuern Teile unserer Schmerzmatrix — freilich andere als beim Opfer, das den Schmerz ja real spürt (wäre es ein echtes Opfer).

Eine Ausnahme bilden Psychopathen. Legt man sie in einen Kernspintomografen und zeigt ihnen grausame Folterbilder, lässt sie das völlig kalt. In ihrem Gehirn regt sich nichts. Psychopathen, erklärte der Hirnforscher Gerhard Roth einmal, betrachteten diese Brutalität mit der Haltung: ›Das ist aber interessant‹.

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Regelmäßig hört und liest man in den Nachrichten allerdings von Gaffern, die nicht weggucken, sondern hemmungslos schlimmste Unfälle filmen, anstatt zu helfen. Es kommt sogar vor, dass jemand auf sein Autodach klettert, um eine optimale Sicht auf die Unglücksstelle zu haben. Andere behindern die Rettungskräfte bei ihrer Arbeit. Seit es technisch möglich ist, alles, was um einen herum geschieht, zu fotografieren oder filmisch festzuhalten und später aufmerksamkeitsheischend ins Netz zu stellen, scheint das Gaffen allein nicht mehr zu reichen. Bei einem Lkw-Unfall auf der A3, über den viele Medien berichteten, waren drei Menschen ums Leben gekommen. Nicht nur der Unfallort, selbst der Abtransport der Toten in Leichenwagen wurde eifrig gefilmt. Das Gaffer-Problem war so groß, dass die Rettungskräfte der Feuerwehr vorbeifahrende Autos mit Wasser bespritzen mussten.