Mitgefühl - Heinrich Bedford-Strohm - E-Book

Mitgefühl E-Book

Heinrich Bedford-Strohm

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Beschreibung

Das Thema Flucht und Migration bestimmt die öffentliche Debatte in Deutschland. Sie wird leidenschaftlich, zum Teil auch verbittert geführt. Umso wichtiger: ein klarer Blick auf die Komplexität des Problems und eine ethische Richtschnur für die Mammutaufgabe der Integration. Heinrich Bedford-Strohm bezieht Position: christlich und empathisch, doch ohne den Blick für die Realität zu verlieren, liefert er überzeugende Argumente gegen Angst und Fremdenhass. Eine ermutigende Lektüre!

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Seitenzahl: 67

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Copyright © Claudius Verlag, München 2016

www.claudius.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Umschlaggestaltung: Mario Moths, Marl

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

ISBN: 978-3-532-60010-8

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Was wir erfahren haben

Woran wir uns orientieren können

Was jetzt zu tun ist

Aus dem Geist der Zuversicht leben

Buchempfehlung

„Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen“. Dieser Satz aus der Bibel steht für eine öffentliche Kontroverse, die unser Land und ganz Europa im vergangenen Jahr mehr beschäftigt hat als jede andere Frage. Sie hat Europa an den Rand der Spaltung gebracht. Sie hat das Parteienspektrum in Deutschland verändert und für heftige und zuweilen erbitterte Diskussionen zwischen zwei Parteien geführt, die sich eigentlich als „Schwesterparteien“ verstehen. Sie hat für Streit in Freundeskreisen und Familien gesorgt, in dem starke Emotionen hervorbrechen. Und sie hat die Kirchen intensiv beschäftigt und in einem bislang kaum gekannten Maße zur öffentlichen Einmischung gebracht.

Die einen empfinden das Zitieren dieses Satzes aus dem berühmten Gleichnis vom Weltgericht im 25. Kapitel des Matthäusevangeliums als Moralkeule, mit der alles, was an Fragen und Ängsten angesichts der großen Zahl der hier angekommenen Flüchtlinge aufgekommen ist, einfach beiseite gewischt werden soll. Die anderen beharren darauf, dass sich an diesem Satz eine grundlegende Überzeugung festmacht, die für das Christentum verbindlich ist: der Schutz der Schwachen und ganz besonders der Fremden.

Ich selbst habe diesen Satz zitiert, als ich am 13. September 2015 an der ungarisch-serbischen Grenze stand und in einer Live-Schaltung des heute journals meine Einschätzung der Lage zu erläutern hatte. Es war der Tag, bevor Ungarn das letzte noch offene Stück des Stacheldrahtzauns an der Grenze zu Serbien schloss. Der Schutz der Kultur des christlichen Abendlandes, die von den in ihrer Mehrzahl muslimischen Flüchtlingen bedroht sei, wurde vom ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán wieder und wieder als Begründung für diesen Schritt ins Feld geführt. Der Schutz des „christlichen Abendlandes“ vor Menschen, in denen Christus selbst uns begegnet? Dass diese Spannung Stoff für Diskussionen bietet, liegt auf der Hand. Und dass die Kirchen nicht schweigen können, wenn das Wort „christlich“ in dieser Weise in die öffentliche Diskussion eingeführt wird, wird auch niemanden überraschen.

Wir haben uns eingemischt. Und das in einzigartiger ökumenischer Gemeinsamkeit. In den Interviews, die der Vorsitzende der Deutschen Katholischen Bischofskonferenz Reinhard Kardinal Marx zu dem Thema gegeben hat, konnte ich jeden Satz unterschreiben. Immer wieder haben wir uns gemeinsam geäußert. Und der gemeinsame Besuch von Papst Franziskus und dem Oberhaupt der weltweiten orthodoxen Kirchen Patriarch BartholomäusI. auf Lesbos hat gezeigt, wie sehr auch die orthodoxen Kirchen mit im Boot sind.

Ich will auf der Basis der dichten Erfahrungen des vergangenen Jahres und der Reflexion dieser Erfahrungen im Lichte der christlichen Überlieferung eine Zwischenbilanz ziehen und Wege für die Zukunft in den Blick nehmen.

Das Wochenende des 4.-6. Septembers 2015 wird in die Geschichte eingehen. An diesem Wochenende kamen 20000 Menschen am Münchner Hauptbahnhof an, die in ihrer übergroßen Zahl vor dem Krieg in Syrien und dem Nordirak geflohen waren und nach einem von Hoffnung und Enttäuschung geprägten Irrweg durch Europa nun endlich einen Zufluchtsort fanden. Es sollten im Jahr 2015 am Ende fast eine Million Menschen werden, die unser Land über Monate in Atem halten, aber dabei zugleich eine einzigartige Welle der Hilfsbereitschaft in Gang setzen würden.

Für mich begann die unmittelbare Konfrontation mit der Massivität der Flüchtlingssituation schon ein Jahr früher. Im September 2014 reiste ich in den Nordirak. Nur wenige Wochen vorher hatte der sogenannte „Islamische Staat“ dort die Stadt Mossul eingenommen. Seine Milizen hatten die Dörfer der Ninive-Ebene überfallen, Frauen und junge Mädchen entführt und versklavt, eine regelrechte Jagd auf die religiösen Minderheiten veranstaltet. Viele waren einfach in die Wüste oder in die Berge geflohen, hatten Zuflucht gesucht an Orten, die ihnen sicher erschienen. Ich habe mit vielen Flüchtlingen gesprochen, die ihre Hoffnung auf die Hilfe der internationalen Gemeinschaft setzten. Mir wurde unsere Verpflichtung deutlich, für eine von der Weltgemeinschaft garantierte Schutzzone sorgen zu müssen. Denn sonst, so sagten mir die Flüchtlinge, würden sie dorthin fliehen, wo Ruhe und Sicherheit herrschen und sie die Aussicht auf ein normales Leben hätten. Ich habe mich nach meiner Rückkehr für eine militärische Schutzzone der Vereinten Nationen eingesetzt, die den bedrohten Menschen in Nordirak Sicherheit gegeben hätte. Leider vergeblich!

Die Gefahr an Leib und Leben durch den IS wurde nicht überwunden. Viele machten sich tatsächlich auf den Weg in ein Land, in dem sie sicher sein und eine Perspektive für die Zukunft haben würden. Ganz ähnlich ging es den Menschen in Syrien. Sie gaben alles, um ihr Leben zu retten. Diejenigen, die wegen des Bürgerkrieges in Syrien nach Jordanien oder in den Libanon geflohen waren, fanden Bedingungen vor, die irgendwann für viele unerträglich wurden. Dem Lebensmittelprogramm der Vereinten Nationen ging das Geld aus. Die Kinder konnten nicht zur Schule gehen. Schon aus Verantwortung für ihre Kinder machten sich viele auf den Weg nach Europa.

Während bis dahin die meisten an den Rändern Europas landeten, vor allem in Griechenland und Italien, war im Sommer 2015 alles anders. Die Menschen, die nach Europa kamen, wollten sich von Grenzen nicht mehr abhalten lassen – unbeirrt zogen sie dorthin, wo sie eine Zukunft vermuten.

Dass Bundeskanzlerin Angela Merkel die Flüchtlinge aus Ungarn nach Deutschland einreisen ließ, war richtig und ein Akt der Humanität in einer Notsituation. Die Gesamtbewertung der Situation hatte dazu geführt, die Regeln außer Acht zu lassen und einfach für die Menschen da zu sein.

An dem Samstag, an dem die ersten Züge mit Tausenden Flüchtlingen in München ankamen, habe ich mich mit Reinhard Kardinal Marx zum Münchner Hauptbahnhof aufgemacht. Dort arbeiteten Polizei, Behörden und viele, viele Ehrenamtliche Hand in Hand: Die Ankommenden wurden in Empfang genommen, mit Essen und Trinken versorgt und dorthin gebracht, wo sie zumindest die Nacht bleiben konnten, um dann zu einer Erstaufnahmeeinrichtung gebracht zu werden. Die Anstrengung war gewaltig, die Stimmung aber sehr gut. Unter den Flüchtlingen herrschte große Dankbarkeit und unter den Helfern große Hilfsbereitschaft.

Es hat nicht lange gedauert, bis genau das unter Rechtfertigungsdruck geriet, was diese Bilder so erstaunlich machte. Ich bin davon überzeugt, dass es auch über ein Jahr später, nachdem die Euphorie wich und eine gewisse Nüchternheit eintrat, wichtig ist, sich daran zu erinnern und die Bilder vom September 2015 als besonders ausdrucksstarkes Zeugnis von etwas wahrzunehmen, das nach wie vor im Engagement von vielen Millionen Deutschen andauert. Es war eine gegenüber all den Leid- und Todbildern, die uns gegenwärtig so oft begleiten, wunderbar verkehrte Welt, die da sichtbar wurde und deren Zeuge ich bei einem Besuch am Münchner Hauptbahnhof zusammen mit Reinhard Kardinal Marx geworden bin.

Menschen, deren Leben eben noch durch Wellen auf dem Meer an Leib und Leben bedroht gewesen war, wurden jetzt mit einer Welle der Hilfsbereitschaft empfangen. In den Gesichtern der Menschen, die in ihren Heimatländern so Fürchterliches erlebt hatten und nun nach einer zum Teil lebensgefährlichen Reise in einem fremden Land ankamen, stand eine Mischung aus ungläubigem Staunen, Erleichterung und auch bloßer Freude.

Die Helferinnen und Helfer, mit denen ich gesprochen habe, haben trotz teilweise vieler Stunden bereits abgeleisteten Dienstes keine Minute an dem tiefen Sinn ihres Tuns gezweifelt. Und schließlich die Einsatzkräfte: Für mich ist ein Foto dieses Tages zu einem der Bilder des Jahres geworden. Es zeigt einen Polizisten am Münchner Hauptbahnhof, der einem gerade angekommenen kleinen Jungen seine Polizeimütze aufsetzt. Beide strahlen um die Wette. Eine Polizeiuniform, nicht Ausdruck einer staatlichen Gewalt, die Terror verbreitet, wie der Junge es in seinem Herkunftsland kennen gelernt haben mag, sondern sichtbarer Ausdruck von Humanität. Als ich dieses Bild gesehen habe, habe ich gedacht: Wie dankbar bin ich, dass ich in einem Land leben darf, in dem staatliche Beamte so mit Menschen in Not umgehen.

Wo immer ich konnte, habe ich meinen tief empfundenen Dank ausgedrückt gegenüber