Mittelmänner - Jim Gavin - E-Book

Mittelmänner E-Book

Jim Gavin

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Beschreibung

Wann ist man ein Mittelmann? Jim Gavins Figuren schlagen sich eher schlecht als recht durchs Leben und haben mit den Idealvorstellungen von einem Mann denkbar wenig gemein. Brian liefert Essen-auf-Rädern aus und verliebt sich in die zehn Jahre ältere Karen, die ihm nach einer Runde "proletarischem Sex" in seinem Lieferwagen erklärt, warum es nicht funktionieren wird mit ihnen beiden. Sean schreibt das Drehbuch zu einem Spielfilm, aber die Produktionsfirma will mit dem Projekt eigentlich nur ein Duschgel promoten. Und als Matt seinen neuen Job als Vertreter für Sanitäranlagen antritt, erfährt er gleich, was er zu erwarten hat: Jeden Tag bekommt man da draußen eins auf die Fresse, aber das ist der Pfad zur Erleuchtung … Nie klappt etwas so wie geplant, und immer bleiben Jim Gavins unscheinbare Helden auf halber Strecke stehen. Das ist die einzige Konstante in ihrem Leben. Dabei zeigen ihre tragikomischen Abenteuer, dass das Leben eigentlich erst anfängt, wenn man seine Träume überwunden hat. Im wahren Mann steckt nämlich immer auch ein "Mittelmann".

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Seitenzahl: 317

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Jim Gavin

Mittelmänner

Storys

Aus dem Englischenvon Matthias Müller

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem TitelMiddle Men im Verlag Simon & Schuster, New York.

© Jim Gavin 2013

© Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München 2014Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Marc Müller-Bremer, MünchenUmschlagmotiv: Joel Holland, New YorkHerstellung: Sieveking, MünchenTypografie und Satz: Frese Werkstatt, MünchenDruck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

ISBN 978-3-95438-022-0

Barbara Gavin zum Gedächtnis

Jedes Leben ist viele Tage, Tag um Tag.Wir gehen durch uns selbst hindurch,begegnen Räubern, Geistern, Riesen, alten Männern,jungen Männern, Ehefrauen, Witwen, Brüdern in Liebe,begegnen aber immer uns selbst.

JAMES JOYCE, Ulysses

INHALT

Halte dich mannhaft

Bermuda

Elefantentüren

Illuminaten

Verwirrte Entscheidungen in Zeitenmerkantilen Terrors

Mittelmänner

1. Teil: Das Luau

2. Teil: Costello

Halte dich mannhaft

Die Römer hatten ihre liebe Mühe, Polykarp von Smyrna umzubringen. Im Stadion, umringt von blutrünstigen Heiden, hörte er eine Stimme. »Sei stark, Polykarp«, sagte die Stimme, »und halte dich mannhaft.« Der gute Bischof lächelte seine Verfolger seelenruhig an. Sie versuchten, ihn in Brand zu stecken, doch sein Fleisch weigerte sich zu brennen. Sie durchbohrten sein Herz mit einem Schwert, doch eine Taube kam aus seiner Brust hervor. In der Art zog sich der Nachmittag dahin, ein Wunder nach dem andern, bis sie ihm schließlich die Eier abschnitten oder an einen Sarlacc verfütterten, oder was weiß ich. Ich bin kein Theologe, also kenn ich nicht alle Fakten, doch schließlich malten christliche Kunsthandwerker jene göttlichen Worte »Halte dich mannhaft« an die Wand der Sporthalle von St. Polycarp Highschool in Long Beach.

Am ersten Tag der Summer League versammelte Coach Boyd uns im Mittelkreis. Ich kam ins dritte Highschool-Jahr und war gerade von der Trinity Prep übergewechselt, einer größeren und besseren katholischen Schule in Orange County. St. Polycarp hatte nur ein Drittel so viel Schüler und war eine reine Jungenschule. Ich kannte noch niemanden, doch dem von mir ermittelten Rassenproporz zufolge – sieben Weiße, vier Schwarze, ein Asiate – würde ich direkt in die Startaufstellung kommen. Es war 1992. Baggy Pants kamen gerade in Mode und Magic Johnson hatte AIDS.

»Das ist Pat Linehan«, sagte Coach Boyd und legte eine Hand auf meine Schulter. »Wir können froh sein, dass wir ihn bei uns haben.«

Trinity hatte das beste Basketball-Programm in ganz Kalifornien. Ich hatte erwartet, dass jeder von meinem Stammbaum beeindruckt wäre, aber es schien allen egal zu sein. Coach Boyd zeigte auf das verblichene Wandgemälde vom heiligen Polykarp.

»Das ist mehr oder weniger unser Motto«, sagte er zu mir. »Halte dich mannhaft.«

»Meinen Sie damit Manndeckung?« fragte ein hoch aufgeschossener Junge mit buschigen Augenbrauen und schlimmer Akne.

»Du weißt, was ich meine«, sagte Coach Boyd.

»Weil wir Zonenverteidigung spielen.«

»Ich weiß, dass wir Zonenverteidigung spielen, Tully. Nerv mich jetzt nicht.«

Vorher, als ich zum ersten Mal in die Sporthalle gekommen bin, sagte einer der schwarzen Jungs, Greg Overton, dass ich genauso aussehe wie Dustin Tully. Er hatte recht, nur dass ich auch noch eine Spange trug, die schon seit einiger Zeit hätte abgenommen werden sollen, aber mein Dad hatte seinen Job verloren und damit auch unsere Krankenversicherung, und so blieb ich auf dem Ding sitzen.

Coach Boyd war barfuß. Was ich besorgniserregend fand. Autoritätspersonen tragen normalerweise Schuhe. Mit seinen schütteren blonden Haaren und dem Schnurrbart sah er aus wie ein alter Mann, dabei war er wahrscheinlich erst Anfang dreißig. »Alle mal herhören«, sagte Coach Boyd. »In diesem Sommer werden wir uns zusammen auf eine Reise begeben.«

»Meinen Sie das Turnier in Ventura?« fragte Tully.

»Nein«, sagte Coach Boyd.

»Wir fahren also nicht nach Ventura?«

»Doch, aber das ist nicht die Art von Reise, die ich hier meine. Hört doch einfach mal zu.«

»Meinen sie eine spirituelle Reise?« fragte Tully.

»Ja, aber so wie du das sagst, klingt das blöd.«

»Da wir Zonenverteidigung spielen«, meinte Tully, »sollte unser Motto nicht besser heißen: Halt die Zone?«

»Willst du laufen?« sagte Coach Boyd. »Wir können auch den ganzen Tag lang laufen.«

»Polykarp war schizophren«, sagte Tully. »Das waren alle Heiligen.«

»Grundlinie«, sagte Coach Boyd, und wir verbrachten die nächste Stunde mit Liniensprints.

Um sich was dazuzuverdienen, hatte mein Dad früher in der Summer League Spiele gepfiffen. Mit dem Ergebnis, dass ich das große Glück hatte, in sämtlichen Sporthallen von Südkalifornien aufzuwachsen. In der Halbzeitpause rannte ich immer mit dem Ball am Feld entlang, gab mit meinem Handling und meiner Reichweite an. Schon damals war ich ein aufgeblasener kleiner Scheißer. Ich stellte mir vor, dass die Tribüne voll mit Talentscouts von irgendwelchen Colleges wäre, dabei blieb sie für gewöhnlich leer. Die Summer League war eine zähe Angelegenheit. Die Spieler gähnten beim Warmmachen vor sich hin, während ihre Trainer Big Gulps tranken. 1983, als ich sieben war, pfiff mein Dad bei einem Turnier an der California State University in Dominguez Hills. Beim ersten Spiel des Nachmittags spielte Crenshaw High, das Kraftwerk der L. A. Stadtliga. Sie hatten John Williams, den John Williams, erst siebzehn und schon eine Legende. Er kam in die Turnhalle hereinspaziert, und anstatt sich aufzuwärmen, hielt er auf der Tribüne ein Nickerchen. Ich konnte ihn schnarchen hören. Mein Dad pfiff das Spiel an, und einer seiner Teamkameraden weckte ihn. Auf dem Weg zum Spielfeld rieb er sich noch den Schlaf aus den Augen. Schon nach wenigen Sekunden kam er auf dem rechten Flügel in Ballbesitz, schlenderte gemächlich zur Grundlinie, wirbelte dann herum, zog hart in die Zone, setzte sich gegen zwei Verteidiger durch, und obwohl er einen Dunking hätte machen können, zog er es mit untadeligem Geschmack vor, unter dem Korb durchzutauchen und per Korbleger abzuschließen. Was für ein Bild der Glückseligkeit – man erhascht einen kurzen Blick und verbringt dann sein ganzes Leben damit, ihm nachzujagen. Bei meinem nächsten YMCA-Spiel versuchte ich, das Warmmachen zu überspringen und ein Schläfchen zu halten, doch mein Dad zerrte mich hoch und warf mich zurück unter die Sterblichen.

Als ich älter wurde, fuhr er mich in Long Beach herum, auf der Suche nach Plätzen, wo ein Spiel im Gange war, bei dem ich mitmachen konnte. Wenn er an einem Park vorbeifuhr und dort nicht genügend schwarze Jungs sah, die mir einheizen konnten, fuhr er einfach weiter. Seine Strategie machte sich fast bezahlt, denn in der achten Klasse, nachdem ich in einem AAU-Turnier gut gespielt hatte, wurde ich von einem geheimnisvollen Talentscout von Trinity angesprochen – »ein Freund der Schule«, so nannte er sich –, der meinte, ich wäre eine gute Ergänzung des Basketball-Programms. Meine Eltern, die meine Zukunft sichern wollten, erklärten sich bereit, mehr Schulgeld zu zahlen und einen längeren Schulweg auf sich zu nehmen. Als ich nach Trinity kam, meinten die Trainer, ich sei »impulsiv« und »täuschend schnell«, was bedeutete, dass ich »weiß« war. Offenbar benutzte ich meinen überlegenen westeuropäischen Intellekt, um irgendwelche Schwachköpfe zu überspringen und zum Korb zu kommen. Irgendwie übertrug sich das nicht auf den Unterricht. In der neunten Klasse fiel ich in Algebra durch. Mein Vertrauenslehrer meinte, ich würde vielleicht an einer tragischen Krankheit leiden, die »Mathe-Angst« hieß.

Mein Gehirn war durchschnittlich, und mein Körper auch. Die Trainer, denen meine Spielweise gefiel, fragten mich ständig, wann ich endlich »Fleisch auf die Knochen« bekäme. Ich war zwei Meter groß und spindeldürr, mit einem seltsam eingefallenen Brustkorb, der eine Quelle von großer Scham war. Nachdem ich in meinem ersten Jahr in der zweiten Mannschaft gespielt und bei etwa der Hälfte unserer Spiele in der Startaufstellung gestanden hatte, rechnete ich damit, dass ich in die erste Mannschaft käme, aber es wurden einige neue Spieler aus so exotischen Städten wie Westchester und Fontana angeworben, und die hatten alle gehörig Fleisch auf den Knochen. Ein Junge wurde in einem Artikel der Sports Illustrated zum besten fünfzehnjährigen Spieler des Landes ausgerufen. Irgendwann bestellte mich Ted Washburn, der Cheftrainer der Schulauswahl, zu sich ins Büro. Er war ein riesiger Mann mit Hängebacken, und in seinem Nike-Trainingsanzug hatte er etwas von der Behäbigkeit eines Renaissance-Monarchen. Er kam gleich zur Sache und riet mir, die Schule zu wechseln, um mehr Spielerfahrung sammeln zu können. Ich versprach, um meinen Platz kämpfen zu wollen. »Ich mag dich, Pat«, sagte er. »Aber für dich gibt es hier keinen Platz.«

Endlich sagte Coach Boyd uns, wir sollten was trinken gehen. Während wir am Trinkbrunnen unseren Durst löschten und die bleiernen Gaben aufsaugten, besprach er sich mit Tully und rief uns dann zurück in den Mittelkreis. »Ich will kein Arschloch sein«, sagte er. »Ich hatte selbst einen Haufen Arschlöcher als Trainer, und so einer will ich nicht sein. Das Einzige, was ich von euch verlange, ist Respekt.«

Das war der Moment, als ich begann, meinen Respekt für Coach Boyd zu verlieren. Ich dachte, wir würden Übungen machen, aber stattdessen teilten wir uns auf für ein Trainingsspiel fünf gegen fünf. Chris Pham, der Aufbauspieler, trug eine Sportbrille. Links war seine schwache Seite, und jedes Mal wenn er versuchte, die Richtung zu ändern, nahm ich ihm den Ball ab. Ich beugte mich vor und bellte ihm ins Gesicht, so wie man es mir beigebracht hatte. Meine tollwütige Verteidigungspose amüsierte meine neuen Teamkameraden; alle standen untätig herum und warteten darauf, dass etwas geschah. Tully war der Längste im Team, aber er trieb sich gerne an der Dreierlinie herum. Overton und ein anderer schwarzer Junge, Devaugn Weaver, blockten ein paar meiner Würfe, aber ansonsten durchpflügte ich ihre Zone, entweder kam ich zum Abschluss oder passte an einen Mitspieler mit schlechten Händen und wenig Fantasie.

Nach dem Training fragte Tully, warum ich die Schule gewechselt hatte. Da ich diese Frage erwartet hatte, war ich darauf vorbereitet. »Ich hab mich mit einem der Trainer geprügelt«, sagte ich.

»Hat er versucht, dich zu vergewaltigen oder so was?«

»Nein.«

»Dann war der Sex einvernehmlich?«

»Ignorier ihn einfach«, sagte Overton lachend und stieß Tully beiseite.

Weaver erkundigte sich nach ein paar Spielern von Trinity, bekannte Burschen, die von Colleges rekrutiert wurden, die allesamt in der obersten Spielklasse waren. Wieder log ich und sagte, bevor ich weggegangen bin, hatte man mich auch anwerben wollen.

»Im Ernst?« fragte Weaver.

»Nichts Besonderes«, sagte ich mit selbstgefälliger Bescheidenheit. »Fresno State. UC Santa Barbara. So was in der Art.«

»Ich gehe aufs Cypress Junior College«, sagte Tully. »Meine Stiefmutter ist da auch hingegangen, ich bin ihr Vermächtnis.«

Ich zog mir schnell das Hemd über, in der Hoffnung, niemand würde meine komische Brust bemerken.

»Was ist mit deiner Brust los?« sagte Tully.

»Nichts«, sagte ich. »Die ist einfach so.«

Alle starrten hin. Pham setzte seine reguläre Brille auf.

»Mein Neffe hat genau die gleiche«, sagte Weaver. »Das ist alles eingedrückt.«

»Sieht aus, als hätte jemand eine Bowlingkugel auf deine Brust fallen lassen«, meinte Tully.

Mehr noch als gedemütigt war ich wie benommen durch diese treffende Beschreibung. Genau so sah meine Brust aus.

Meine Mom wartete auf dem Parkplatz vor der Sporthalle. Sie arbeitete in der Parfümerieabteilung eines Kaufhauses und hatte noch ihre guten Sachen an. Meine drei kleinen Brüder saßen hinten im Minivan. Sie verbrachten ihr Leben damit, zu all meinen Trainingseinheiten und Spielen geschleppt zu werden. Meine Mom stellte das Radio auf KOST-FM, und dann saßen wir alle schweigend da und hörten uns Barry Manilow an. Kurz vor der Hauptstraße hörte ich wummernde Bässe und sah Tully, der in einem burgunderroten Chevette neben uns herfuhr. Overton fläzte sich auf dem Beifahrersitz, das Bein aus dem Fenster, den Fuß auf den Seitenspiegel gelegt. Beide tranken Bier. An der Ampel hielten sie neben uns und nahmen die Flaschen vom Mund. Meine Mom schaute zur Seite und bemerkte sie.

»Die Jungs da sind in deinem Team«, sagte sie.

»Ich weiß.«

»Na, dann sag doch Hallo!«

Ich starrte geradeaus.

»Was ist denn los mit dir?« Und dann fing sie an zu rufen und zu winken, als würde ihr Leben von diesem unwesentlichen gesellschaftlichen Anlass abhängen. »Hi! Ich bin Pats Mom!«

»Hallo, Mrs. Higginbottom«, sagte Tully.

»Linehan!« sagte sie. »Wir heißen Linehan!«

»Wir sehen uns bei der Regatta, Mrs. Higginbottom!«

Meine Mom sah mich an. »Wovon zum Teufel redet der da?«

Die Ampel sprang auf Grün, und Tully raste an uns vorbei. Bevor wir nach Hause fuhren, gingen wir noch tanken. Meine Mom glaubte, dass Benzin irgendwie billiger war, wenn man nur für fünf Dollar tankte, was bedeutete, dass wir ständig irgendwo an einer Tankstelle hielten. Ich tankte, während sie neben mir stand und eine Winston Gold rauchte und abwesend in den Nachmittagsdunst schaute. Sie war immer noch verwirrt von der Higginbottom-Geschichte.

»Hat sich dieser kleine Scheißer etwa über mich lustig gemacht?«

Wir wohnten in einem Viertel mit viel Grün in der Nähe des Long Beach Airport. Als wir nach Hause kamen, stand mein Dad auf einer Leiter in der Einfahrt und montierte ein neues Netz an den Korb. Er war früher Elektriker gewesen, aber seit zehn Jahren unterrichtete er an einer Berufsschule. Anfangs war es für ihn ein Zubrot, aber nach einer Reihe von Knie- und Rückenblessuren – die meisten davon gingen auf seine regelmäßige Teilnahme an Basketballspielen zurück – war er gerne bereit gewesen, Vollzeit zu unterrichten. Er arbeitete mit Auszubildenden, half ihnen, sich auf die Gesellenprüfung vorzubereiten. Seit die Schule im Januar dichtmachte, hatte er sein Glück als Leiharbeiter versucht, aber auf dem Bausektor war die Auftragslage ziemlich schlecht, und er hatte Mühe, »wieder reinzukommen«. Meine Mom fand, dass er nicht ernsthaft genug suchte. Sie hatten häufig Streit darüber. Als wir die Einfahrt hochkamen, kletterte er mit seinen kaputten Knien die Leiter hinunter und machte ein schmerzverzerrtes Gesicht, damit meine Mom ein schlechtes Gewissen bekam, weil sie so eine Tyrannin war. Sie ging wortlos an ihm vorbei.

»Gutes Training gehabt?« fragte er.

Ich nickte. Wir hatten ein richtiges Vater-Sohn-Ding am Laufen. Vor dem Abendessen arbeitete ich an meinem Ball-Handling. Hinten im Garten hatte ich einen Ganzkörperspiegel aufgestellt, vor dem ich dann eine Stunde lang versuchte, mein Spiegelbild abzuschütteln. Dann rief meine Mom mich rein, und wir aßen Tiefkühllasagne, eine bodenlose Glibber-Grube, und das nun schon den dritten Tag hintereinander. Nach dem Abendessen kam mein Dad mit einem Bier heraus und sah zu, wie ich mein abendliches Pflichtprogramm von zweihundert Sprungwürfen absolvierte. Vor zwanzig Jahren hatte er es als Spieler der Mayfair Highschool bis auf die Ersatzbank der Ligaauswahl geschafft. Jetzt trank er sein Bier aus, warf die Dose auf den Rasen und verlangte nach dem Ball. Nachdem er seinen Wurf danebengesetzt hatte, hob er die leere Dose auf und ging wieder hinein. Meine kleinen Brüder mussten für mich die Bälle einsammeln – das gehörte zu ihren Haushaltspflichten. Bei den Linehans drehte sich alles um die Entwicklung meines Mitteldistanzspiels. Selbst nachdem ich von Trinity ins Exil geschickt worden war, gingen alle davon aus, dass ich früher oder später Fleisch auf die Knochen bekäme und irgendwo ein Stipendium ergattern würde. Meine Mom versicherte mir ständig, ich sei ein »Spätentwickler«. Als ich meine Übungen beendet hatte, überließ ich den Ball meinen Brüdern und ging hinein, um mir Bänder anzusehen. 1986 hatte ich das Endspiel zwischen St. John’s und Syracuse im Big East Tournament aufgenommen und mir seitdem ungefähr sieben Millionen Mal angesehen, um Pearl Washingtons großartiges Crossover zu studieren.

Nachdem alle zu Bett gegangen waren, legte ich ein anderes Band ein, einen Cinemax-Film, den ich gerade noch hatte aufnehmen können, bevor die Kabelgesellschaft uns vom Netz nahm. Die Geschichte handelte von den Kümmernissen einer schwerreichen Erbin. Die meisten ihrer persönlichen Konflikte wurden in schwach beleuchteten Wohnzimmern gelöst, unter stark behaarten Europäern. Diese nicht-penetrative Herumtollerei diente nicht als Masturbationsmaterial, weil ich nicht masturbierte. Nie. Ich saß einfach nur da, aufrecht und fromm, ein disziplinierter Connaisseur von Brustwarzen und Schambehaarung. Nach apostolischen Maßstäben waren meine Verdrängungskünste irrwitzig, aber ich erinnere mich auch daran, dass ich diese langen Passagen voll träumerischer Anbetung genoss. Seitdem habe ich über die gnostischen Häretiker in Kleinasien gelesen, die aus Ekel vor dem eigenen Körper eine höhere Form des Vergnügens durch das Praktizieren des coitus reservatus suchten. Vielleicht war es das, was bei mir da gerade lief. Wie auch immer, es bedeutete, dass ich fünfzehn war und immer noch feuchte Träume hatte. Nachts schlich ich mich in den Hof und vergrub meine beschmutzten Boxershorts im Mülleimer.

Coach Boyd verteilte unseren Spielplan. Zuerst mussten wir in unserer lausigen katholischen Liga ran, dann kam das große Turnier in Ventura. Fast entschuldigend wies er mich darauf hin, dass St. Polycarp in derselben Gruppe war wie Trinity.

»Das wird ein bisschen komisch sein, oder?«

»Nein«, sagte ich und spürte, wie mir das Herz in die Hose rutschte.

»Ihr Verlust ist unser Gewinn«, sagte Coach Boyd. »So sehe ich das.«

Bevor er im Frühjahr die Leitung übernommen hatte, war Coach Boyd Aushilfslehrer in St. Polycarp gewesen und freiwilliger Assistenztrainer. Während der ersten Woche kam er regelmäßig zu spät zum Training. Er gab seinem Volkswagen die Schuld, der eine knifflige Zündung hatte. »Man muss es genau richtig hinkriegen«, sagte er uns und fummelte mit einem imaginären Zündschlüssel herum.

Ich erwartete, dass er irgendeine Art von Angriffstaktik mit uns trainieren würde, doch er rollte jeden Tag einfach nur den Ball raus. »Diesen Sommer«, sagte er, »will ich, dass ihr frei spielt.« Ich wollte keine Freiheit. Ich wollte, dass wir unsere Systeme liefen. Ich wollte nach einem Block immer zwei oder drei Optionen haben. Wir hatten mehrere »Big Wallys« im Team – so nannte mein Dad die großen, trampeligen weißen Jungs. Tully war zwar kein Big Wally, aber er war der faulste Typ, mit dem ich jemals gespielt habe. Das hat mich ziemlich runtergezogen, weil er eigentlich richtig gut war. Ab und zu machte er einen Sternschritt und dunkte über den Gegenspieler hinweg, aber ansonsten kam er nur selten unter die Körbe, weder auf der einen noch auf der anderen Seite. Coach Boyd brüllte ihn ein paar Mal an und ließ uns alle für seine Sünden laufen, aber es nützte nichts. Einmal, als ich nach einem Ball hechtete, fing Tully an zu klatschen.

»Du bist der Traum eines jeden Trainers, Higginbottom!«

Overton war genauso nutzlos. Ihm haftete der Fluch des beidfüßigen Absprungs an: Er war brillant beim Warmmachen, hatte im Spiel dann aber nicht genug Platz, um zu dunken. Sein Dad, der als Mechaniker bei der Air Force arbeitete, lebte in Victorville, im High Desert. Overton fand es grässlich dort – er bezeichnete es als »Tatooine« –, und einmal brachte er einen Steppenläufer mit zum Training, um anzudeuten, wie trostlos seine Wochenenden waren. Sein Dad wollte, dass er in die Air Force eintrat, doch nach seinem Abschluss wollte sich Overton lieber einen Job in Hollywood besorgen, als einer jener »Burschen, die sich um die Beleuchtung und solche Sachen kümmern«. Er und Tully waren im Training für gewöhnlich high. Ich nahm keine Drogen, weil ich nicht denselben Fehler wie Len Bias machen und meine leuchtende Zukunft für eine durchgefeierte Nacht wegwerfen wollte.

Weaver war der Einzige, mit dem ich gerne zusammen spielte. Er wusste, wann er blocken musste, und er konnte an Jungs vorbeigehen, aber er war etwas empfindlich, und wenn ihm ein Korbleger misslang oder er irgendeinen Fehler machte, schlug er sich gegen den Kopf und brüllte sich selbst an und brach manchmal sogar in Tränen aus. Ich fragte Overton, was mit Weaver los sei. »Er ist ein Zeuge Jehovas«, sagte er, als wäre damit alles erklärt. Coach Boyd verbrachte viel Zeit damit, seinen Arm um Weaver zu legen und ihm zu sagen, er solle nicht so hart gegen sich selbst sein.

Pham trat großzügig seine Position als Aufbauspieler ab. »Ich würde ja aufhören«, verriet er mir, »aber auf einer College-Bewerbung macht sich Basketball ganz gut.«

Mir graute vor der Summer League, davor, gegen Mannschaften zu spielen, die tatsächlich Systeme liefen. Das Spiel gegen Trinity war in drei Wochen, aber ich hatte jetzt schon Probleme mit Essen und Schlafen. Ich blieb spät auf und malte mir Wunder aus. Ich würde das Spiel meines Lebens spielen, und Coach Washburn würde mich anflehen, nach Trinity zurückzukehren. Doch dann wichen diese Visionen dem Albtraum, vernichtet zu werden, wieder und immer wieder, von Jungs, die tatsächlich von den Topteams rekrutiert wurden.

Einmal brachte ich nach dem Training meinen Frust über unser Angriffsspiel zum Ausdruck. Coach Boyd hatte kein Büro, also setzten wir uns auf die Tribüne.

»Im Frühjahr hab ich versucht, Offensivsysteme zu trainieren«, sagte er, »aber das war alles zu verwirrend, und ich hab angefangen, die Jungs anzuschreien. Ich kann mich nicht ausstehen, wenn ich so bin. Dann passierte das mit den Unruhen, und Training war in dem Augenblick sowieso nicht möglich. Ich weiß ja nicht, wie das bei dir war, aber ich hab zwei Tage vor dem Fernseher verbracht und mir die Brände und alles angeschaut … Ich glaub wirklich nicht, dass es blinde Zerstörungswut war. Es war einfach nur Schmerz. Weißt du, was ich meine?«

»In Trinity haben wir Motion-Systeme trainiert«, sagte ich. »Viel mit Blocks gearbeitet und Pick and Roll gespielt.«

»Ich hab’s nicht so mit Systemen«, sagte Coach Boyd. »Deswegen bin ich auch von den Jesuiten weg.«

Ich hatte vorgehabt, den Bus nach Hause zu nehmen, doch Coach Boyd bot an, mich mitzunehmen. Zehn Minuten lang saß ich auf dem Beifahrersitz, während er mit der Zündung kämpfte.

»Komm schon, Baby, komm schon …« Er sagte es wie ein Gebet auf, mit geschlossenen Augen. Schließlich drehte sich der Schlüssel, und der Motor sprang hustend an. »Wunderbar!« Er legte eine Kassette ein. »Hast du schon mal die Minutemen gehört?«

»Nein«, sagte ich, als etwas Knarzendes, Vorwärtstreibendes die Lautsprecher erbeben ließ. Der Sänger sang nicht, sondern redete nur.

»Was für Musik hörst du denn?« fragte Coach Boyd.

»Weiß nicht.«

»Ich hab diese Jungs früher live gesehen«, sagte er. »Den Drummer hab ich flüchtig gekannt.«

Die ganze Fahrt über redete er von den Minutemen. Anscheinend war der Sänger bei einem Autounfall ums Leben gekommen. »Ich hab geheult, als ich davon hörte«, sagte Coach Boyd, dem Musik irgendwie wichtiger zu sein schien als Basketball.

Später in der Woche, an meinem sechzehnten Geburtstag, setzte mich meine Mutter für ein Bewerbungsgespräch bei K-Mart ab.

»Sag ihnen, du kannst heute schon anfangen«, schärfte sie mir ein.

Der Typ, der sich um Neueinstellungen kümmerte, war in unserer Kirche. Meine Mom sagte, ich hätte Glück, solche Beziehungen zu haben. Das Gespräch lief gut, und dann bekam ich gleich einen roten Kittel verpasst und wurde nach vorn zu den Kassen geschickt. Die Frau, der ich über die Schulter sah, warf mir ständig komische Blicke zu. Ich dachte, das kam daher, weil ich Mühe hatte, das Wechselgeld zu zählen, aber dann sagte sie: »Bist du Dustin Tullys kleiner Bruder?«

»Nein.«

»Du siehst einem Jungen ähnlich, der hier arbeitet.«

Kurz darauf schlenderte Tully an den Kassen vorbei, eine leere Sackkarre vor sich herschiebend. Er blinzelte nicht mal, als er mich sah.

»Du hast was auf deinen Zähnen, Higginbottom.«

»Hör auf, mich so zu nennen.«

»Lass dich nicht bei den Pausen bescheißen«, sagte er und beugte sich vor. Ich konnte seine Bierfahne riechen. »Nimm deine zweite Pause gleich nach der Mittagspause, auf diese Weise kommst du auf fünfundvierzig Minuten. Die werden dir sagen, dass das nicht geht, aber du hast das Recht dazu.«

Als ich ein paar Stunden später auf dem Weg zum Pausenraum war, sah ich ihn in der Elektronikabteilung. Er stand auf seine Sackkarre gelehnt und schaute fern. »Und, wie gefällt’s dir bis jetzt?« fragte er und ging mir hinterher. »Bist du schon bereit, dich umzubringen?«

Wir gingen am Layaway-Schalter vorbei. Das Mädchen, das dort arbeitete, hieß Jessica Ortiz und war auf dieselbe Gemeindeschule gegangen wie ich. Sie unterhielt sich auf Spanisch mit einem Typ, der ein Kinderfahrrad kaufen wollte. Sie reichte ihm seinen Beleg und nahm das Fahrrad, das dort hinter dem Schalter bleiben würde, bis er seine Raten abbezahlt hatte. Es war eine idiotische Art, Geschäfte zu machen. Auf der Junior High hatte Jessica ihre Stirnfransen immer zu einem steinharten Diadem aufgesprüht, doch jetzt hatte sie ihre Haare zu einem glatten Pferdeschwanz zurückgebunden. Sie hatte wunderschöne braune Augen, und ich hatte früher viel Zeit damit verbracht, nicht mit ihrem Bild vor Augen zu masturbieren.

»Jessica!« sagte Tully.

»Verpiss dich«, sagte sie und sah mich an. »Hallo, Pat.«

»Kennst du diesen Typ?« sagte Tully.

»Dein erster Tag heute?« fragte sie.

»Ja, ich bin bei den Kassen.«

»Habt ihr beide mal was miteinander gehabt oder so?« fragte Tully, als ich dastand und wie Sir Galahad errötete.

»Nein«, sagte sie.

»Habt ihr beide etwa eure Unschuld miteinander verloren?«

»Leck doch den Schwanz deiner Mutter, du dreckiger Homo.«

»Jessica, ich glaube, wir müssen ein ernsthaftes Gespräch über die Unversehrtheit deines Jungfernhäutchens führen.«

»Hast du Gras dabei?« fragte sie.

»Wir treffen uns in zehn Minuten auf der Laderampe.«

Ich ging in den Pausenraum, wo ein Fernseher die einzige Lichtquelle war. Zwei Frauen mittleren Alters saßen an einem Tisch. Sie teilten einen Aschenbecher und sahen sich die Abendnachrichten an. Das Schloss an der Toilette funktionierte nicht, also musste man ein Schild an den Türknauf hängen, auf dem »Besetzt/Ocupado« stand. Als ich etwas später wieder an der Kasse war und auf einen Beleg wartete, blitzte ein Stroboskop auf und es fing an zu klingeln. Zuerst dachte ich, es handelte sich um irgendeine epische Preisaktion, aber dann stellte sich heraus, dass es der Feueralarm war. Der ganze Laden wurde evakuiert. Als die Löschzüge anrückten, schaute ich über den Parkplatz und erblickte Tully, der Jessica auf seiner Sackkarre herumrollte.

Coach Boyd beendete das Training gewöhnlich mit einem inspirierenden Zitat. Er mochte Buddha, Laotse, den heiligen Franziskus, den ganzen Barfußmystizismus von anno dazumal. Am Tag vor unserem ersten Spiel machte er ein bisschen mehr Dampf und verteilte an jeden von uns ein altes Taschenbuchexemplar von »Der Ruf der Wildnis«. Wir sollten es bis zum Ende des Sommers lesen und einen Aufsatz darüber schreiben, was es für uns bedeutete.

»Das hab ich schon in der vierten Klasse gelesen«, sagte Overton. »Es handelt davon, wie man mit Widrigkeiten fertig werden kann.«

»Okay. Vielleicht seid ihr reif für etwas mehr …« Coach Boyd verschränkte die Arme und holte tief Luft. »Ich glaube, die Schulleitung dürfte darüber nicht allzu glücklich sein, aber hat irgendeiner von euch schon mal von einem Buch namens ›Unterwegs‹ gehört?«

»Hab ich gelesen«, meinte Tully.

»Hast du nicht«, sagte Coach Boyd.

»Doch, im Ernst. Ein tolles Buch. Seine Schönheit hat mich nachhaltig beeindruckt.«

»Du hast tatsächlich Jack Kerouac gelesen?«

»Wen?«

Coach Boyd wandte sich an uns. »Ihr habt die Wahl. Entweder ihr lest ›Der Ruf der Wildnis‹ oder ›Unterwegs‹, das ihr wahrscheinlich in der Bibliothek bekommt. Im Grunde könnt ihr jedes Buch lesen, das euch interessant vorkommt. Und das mit dem Aufsatz ist nicht so wichtig. Lest einfach irgendwas, okay? Das ist eure Hausaufgabe.«

St. Polycarp hatte einen Bus, der gut neun Personen fassen konnte, und am nächsten Tag benutzte Coach Boyd ihn, um alle dreizehn von uns zur Bishop Osorio Highschool in Watts zu fahren. Wir wagten uns auf die 110 und fuhren so lange wie möglich um das Viertel herum, aber dann mussten wir natürlich irgendwann runter, um zur Central Avenue zu kommen. Es gab nirgendwo Schatten. Ein phosphoreszierender Dunst hing über den Straßen, wodurch mir der Himmel wie eine Wand vorkam. Wir kamen an einem verlassenen Einkaufszentrum vorbei. Alle Fenster waren zugenagelt, und in der Mitte des Parkplatzes stand ein ausgebrannter Fotomat. Wir hielten an einer Ampel, und an der Ecke standen ein paar schwarze Jungs in unserem Alter vor einem Getränkeladen. Sie bemerkten uns erst, als Overton ein Fenster runterkurbelte und »Nigger!« brüllte.

Das musste im Voraus geplant gewesen sein, weil Overton und die anderen schwarzen Jungs in unserem Team sich sofort runterduckten, sodass die schwarzen Typen an der Ecke nur einen Bus voll mit weißen Suprematisten anstarrten. Wir duckten uns alle bis auf Tully.

»Ich erinnere mich an den Jungen da«, sagte er. »Er hat letztes Jahr für Osorio gespielt.«

»Nicht auf sie zeigen!« zischte Coach Boyd, der sich über das Lenkrad beugte. Overton lachte sich halb tot.

»He, Mann!« rief Tully und winkte. »Erinnerst du dich an mich?«

Von der Ecke kam ein Schwall von Obszönitäten zu uns herüber. Eine Cola-Dose flog gegen unsere Scheibe.

»Komm schon, Baby, komm schon …« Coach Boyd versuchte, mit reiner Willenskraft die Ampel dazu zu bringen, auf Grün zu springen. Ich hielt den Kopf gesenkt, bis wir weitergefahren waren.

Jeder in Bishop Osorio war schwarz, bis auf einen Samoaner. Es machte mir Mut, die Sporthalle gemeinsam mit unseren schwarzen Jungs zu betreten, die ihrerseits verlegen wirkten, in einem Team zu sein, in dem die Mehrheit weiß war. Beim Warmmachen redeten Overton und Weaver nur untereinander. Die Big Wallys schwiegen demütig. In der Sporthalle waren es über dreißig Grad. Unsere Trikots waren klatschnass, und wir verbrachten die meiste Zeit damit, den Staub von unseren Schuhsohlen zu wischen. Vor dem Tip-Off rief Coach Boyd uns zusammen, und wir legten unsere Hände übereinander.

»Halte dich mannhaft!«

In der Anfangsphase spielte ich den gegnerischen Aufbauspieler aus, woraufhin all seine Teamkameraden ihn auslachten. Das passierte nicht noch einmal, und für den Rest des Spiels war es teuflisch schwer, den Ball auch nur das Feld hinaufzukriegen. So sollte es den ganzen Sommer lang gehen: Aufblitzendes Talent wurde überschattet von langen Strecken voller Mittelmaß. In diesem Spiel spielte Tully sogar richtig hart, oder härter als sonst. Jedes Mal wenn er einen Rebound bekam, fuhr er die Ellbogen aus und brüllte: »Weg von mir, verdammte Scheiße!« Wann immer es ging, brachte ich den Ball zu Weaver, der das ganze Spiel über den Floater von der Baseline traf. Wir verloren mit zehn Punkten Abstand, spielten aber besser, als ich erwartet hatte. Ich blieb das gesamte Spiel über auf dem Feld.

»Bin sehr stolz auf euch«, sagte Coach Boyd.

Als wir nach Long Beach zurückkamen, hielt er an einem Fast-Food und verkündete, er würde uns eine Runde Milkshakes spendieren. Im Drive-in merkte er dann, dass er nicht genug Geld dabeihatte. »Machen Sie die schon mal fertig«, sagte er zu dem Typ am Fenster, »ich bin gleich wieder da.« Wir fuhren über die Straße zu einer Bank. Eine Weile lang sahen wir zu, wie Coach Boyd sich über den Geldautomaten beugte und auf verschiedene Knöpfe tippte. Dann versuchte er hineinzugehen, doch die Bank war geschlossen. Er drückte sein Gesicht gegen die Glastür, versuchte zu sehen, ob noch jemand da drin war. Nach einer Weile kam er wieder heraus und stieg in den Bus, doch anstatt wieder zum Drive-in zurückzufahren, machten wir uns schweigend auf den Weg nach St. Polycarp.

K-Mart bezahlte in bar. Freitags ging ich zum Kassenschalter, zeigte meinen Ausweis vor und bekam einen Umschlag mit drei Zwanzigern, einem Zehner, einem Fünfer, zwei Vierteldollar-Münzen, einer Zehncents-Münze und drei Pennys überreicht. Meine Mom zog ihren Anteil für Einkäufe und Schulgeld ab, und ich legte den Rest beiseite, um meine Spange loszuwerden. Ich wurde von purer Eitelkeit beherrscht. Unsere Nachbarn von gegenüber hatten einen Pool, und vor der Arbeit schlich ich mich in ihren Garten, legte mich auf den Bauch und tauchte mein Gesicht ins Wasser. Ich hatte herausgefunden, dass das Chlor meine Akne austrocknete, sodass alles weniger rosig und geschwollen aussah. In meinen Pausen ging ich am Layaway-Schalter vorbei, in der Hoffnung, Jessica anzutreffen, allein, aber Tully war immer schon da und lehnte sich auf seine Sackkarre. Eines Nachmittags gingen sie am Pausenraum vorbei und sahen mich »Der Ruf der Wildnis« lesen.

»Verbring deine Pausen nicht hier drin«, sagte Tully. »Das ist doch der reinste Friedhof.«

»Einer der Begrüßer hat sich in der Toilette die Pulsadern aufgeschnitten«, erzählte Jessica. »Der Wachdienst musste das Schloss aufbrechen, um ihn da rauszuholen.«

»Wo soll ich denn sonst hin?«

Ich folgte ihnen hinaus auf die Laderampe. Hinter einem Stapel Paletten standen ein paar Plastikstühle. »Du kannst dein tolles Buch da lesen«, sagte Tully und tätschelte meinen Kopf, und dann gingen sie weg.

Nachdem wir gegen St. Callistus of Gardena mit dreißig Punkten Abstand verloren hatten, passte mein Dad Coach Boyd auf dem Parkplatz ab und heizte ihm ordentlich ein.

»Sie haben ja keinen blassen Schimmer, wie Sie das angehen müssen«, schrie er.

Meine Mom packte ihn, entschuldigte sich bei Coach Boyd und geleitete meinen Dad zurück zum Minivan. Sie fuhr nach Hause. Mein Dad saß hinten und wippte meinen jüngsten Bruder auf seinen Knien. »Sie spielen eine Pressverteidigung«, sagte er, »und Pat verhungert da draußen.«

»Wenn es dir wirklich um Pat ginge«, sagte sie, »würdest du ihn nicht vor allen Leuten blamieren.«

»Wer hat diesen Clown angeheuert, verdammte Scheiße?«

»Sprich nicht so vor den Kindern«, zischte meine Mom.

Am nächsten Tag beim Training fragte Coach Boyd, ob mein Dad »okay« sei.

»Er findet nur, wir sollten nicht nur Presse spielen, sondern auch ab und zu eine Pause einlegen«, sagte ich. »Weiter nichts.«

»Bist du sicher?«

»Trinity presst«, sagte ich. » Wir brauchen Leute, die sich anbieten, und wir müssen jemand hinterm Ball halten. Ich weiß, wie man das aufbaut …«

»Wenn du jemand zum Reden brauchst, egal worüber«, sagte Coach Boyd und legte seine Hand auf meine Schulter, »ich bin immer für dich da.«

Ich schätze, mein bester Freund im Team war Weaver, aber wir hingen bloß zusammen in der Sporthalle rum und schlugen die Zeit zwischen unserem Nachmittagstraining und den Abendspielen tot. Wir warfen zwei geschlagene Stunden Bälle, ohne auch nur ein Wort zu wechseln. Die meisten aßen bei Overton zu Mittag, der in der Nähe der Schule wohnte. Weaver und ich gingen nur einmal hin. Overtons Großmutter machte uns gegrillte Käse-Sandwiches, und wir sahen uns die Rückkehr der Jedi-Ritter an. Die Kassette war vom vielen Abspielen schon ganz ausgeleiert.

»Stellt euch vor, Prinzessin Leia packt Jabba an seinem Schwanz«, sagte Tully. »Ich meine, stellt euch das nur mal vor. Im Ernst. Benutzt eure Fantasie.«

»Ist sie die einzige menschliche Frau in dem ganzen Film?« fragte Pham.

»Nein, da gibt’s noch eine Engländerin«, sagte Overton, dessen schläfrige Augen am Bildschirm klebten. »Sie erzählt den Rebellen, was sie tun sollen.«

»Wie war Trinity denn so, Higginbottom? Du hast wahrscheinlich alle möglichen Weiber flachgelegt.«

Ich zuckte verwegen die Achseln. Sowie sich Overtons Großmutter für ihren Mittagsschlaf zurückgezogen hatte, zog Tully einen Joint hervor, und Weaver und ich, die Spießer im Team, gingen wieder zurück zur Sporthalle. Während einer Partie Twenty-one riss ich mir an seinem Trikot einen Fingernagel auf, der sofort zu bluten begann.

»Du hast ganz schön schlimme Nägel«, sagte Weaver. »Warum lässt du sie dir nicht machen?«

»Was?«

Er zeigte mir seine makellosen Nagelhäute. »Hab gehört, Michael Jordan geht zur Maniküre. Also hat mich meine Mom mitgenommen.«

»Ist das teuer?«

Ein paar Tage später fuhren wir mit seiner Mom zu einem Salon am Pacific Coast Highway. Unterwegs fragte sie mich ständig, wo meine Familie in die Kirche gehe und ob es uns dort gefalle.

»Schätze schon.«

»Nun«, sagte sie und sah mich im Rückspiegel an, »vielleicht können wir uns ja mal darüber unterhalten …«

»Nicht«, sagte Weaver.

»Komm mir nicht mit deinem Nicht«, sagte seine Mom, als wir zum Einkaufszentrum abbogen. Sie drehte sich um und lächelte. »Wir unterhalten uns doch nur … wie heißt du noch mal?«

»Pat«, sagte ich.

Sie setzte uns ab und fuhr weiter, um ihre Einkäufe zu erledigen. Weaver sagte, ich sei zuerst dran. Er nahm im Wartebereich Platz und blätterte in einer Modezeitschrift. Meine Maniküristin war eine kleine blonde Frau namens Michelle. Sie trug enge Jeans, und ihre Absätze klackten auf dem Linoleumboden. Sowie sie meine Hand berührte, bekam ich eine Erektion. Sie erkundigte sich, ob ich auch ein Fan von Michael Jordan sei, so wie Weaver.

»Nein«, sagte ich.

»Was soll das heißen?« fragte Weaver durch den Raum.

»Ich mag John Williams«, sagte ich zu Michelle, aber sie hatte sich schon aus der Unterhaltung ausgeklinkt.

»John Williams?« fragte Weaver.

»Er hat bei Crenshaw gespielt«, sagte ich. »Er hat LSU in die Final Four gebracht.«

»Moment, John Williams«, sagte Weaver und legte seine Zeitschrift beiseite. »Du meinst den fetten Kerl von den Clippers?«

»Ja«, sagte ich und Weaver prustete los. Williams war als Profi ein völliger Versager gewesen. Nachdem er ungefähr eine Tonne zugenommen hatte, wurde er in der Liga nur noch John ›Kochplatte‹ Williams gerufen. Ich dachte an meine anderen beiden Lieblingsspieler – Len Bias, der an einer Überdosis Kokain gestorben war, und Pearl Washington, der nach zwei Saisons aus der NBA geflogen war. Wieso waren mir diese Typen wichtiger als Michael Jordan? Meine Erektion war weg.

Während Weaver seine Maniküre bekam, blätterte ich die Zeitschriften durch. Die Models sahen alle reich und wütend aus. Ich hatte zehn Dollar mitgebracht – zweieinhalb Stunden bei K-Mart –, aber als Weavers Mom zurückkam, meinte sie, sie würde das regeln, und lud mich zum Abendessen ein. Zwar machte ich mir Sorgen, dass sie sich vielleicht über ihren Glauben »unterhalten« wollte, aber Lasagne hatte ich gründlich über. Sie wohnten in einem Zweifamilienhaus am unteren Rand von Signal Hill. Weavers Mom grillte Würstchen, Zange in der einen Hand, Zigarette in der anderen. Irgendwann kam Weavers kleiner Neffe vorbei und wollte Madden spielen. Lance war etwa zehn oder elf. »Zeig Pat mal deine Brust«, sagte Weaver und stupste seinen Neffen an. Ohne zu zögern streifte Lance sein T-Shirt ab und zeigte mir seinen eingefallenen Brustkorb. Er wollte nicht glauben, dass ich dasselbe hatte, also musste ich ihm meinen zeigen. Lance sah verwirrt und besorgt aus. »Meine Mom hat gesagt, das geht wieder weg.«

»Wird es auch«, sagte ich, und bis zu jenem Moment hatte ich auch gedacht, dass es tatsächlich weggehen würde, aber sowie ich es aussprach, wurde mir klar, dass genau das nicht passieren würde. Lance war das ganze Abendessen über sehr still. Mrs. Weaver hatte Spätschicht bei Kaiser, aber bevor sie ging, rief sie Weaver zu sich in die Küche. Ich hörte sie mit gesenkten Stimmen streiten, und dann kam Weaver heraus, mit Tränen in den Augen, und schloss sich in seinem Zimmer ein. Ich spielte Madden mit Lance, der ständig gewann. Ich glaube, er kannte irgendeinen Geheimcode, weil seine Spieler immer doppelt so schnell waren wie meine. Später rief ich meine Mom an, und sie holte mich ab. Bevor ich zur Haustür hinausging, kam Weaver aus seinem Zimmer und gab mir eine Broschüre über ihre Kirche.

»Du kannst mit uns zum Gottesdienst kommen, wenn du magst«, sagte er ohne Begeisterung. »Musst aber nicht.«

Als ich in den Minivan stieg, sah meine Mom die Broschüre und drehte durch.

»Diese Leute tun immer so freundlich«, sagte sie, »aber die wollen dich doch nur an den Haken kriegen. Die sind schlimmer als diese gottverdammten Mormonen.«