Mitten in Europa - André Holenstein - E-Book

Mitten in Europa E-Book

André Holenstein

3,6

Beschreibung

Schweizer Geschichte ist transnationale Geschichte. Es ist die Geschichte eines Raums, der sich im Austausch und in steter Auseinandersetzung mit seinen europäischen Nachbarn nach und nach als Staat territorial abgrenzte und sich seiner besonderen Identität sowie seiner engen Grenzen bewusst wurde. Die Existenz der Schweiz gründet in ihrer besonderen Lage in Europa, sie ist die Resultante europäischer Kräfte und Konstellationen.

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Mitten in Europa

Verflechtung und Abgrenzung: Geschichte und Aktualität einer Schweizer Problematik

Europäisierung, Globalisierung und die Verunsicherung der Schweiz

Sackgassen und tote Winkel im nationalen Geschichtsbild

Identitätsbildung und Alteritätserfahrung: die Gründung der Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert

Verflechtungen in der alten Schweiz

Verflechtung durch Migration

Militärische Arbeitsmigration

Zivile Arbeitsmigration

Kommerzielle Verflechtung

Aussenpolitische und diplomatische Verflechtung

Abgrenzungen in der alten Schweiz

Neutralität als Abgrenzung: vom Gebot der Staatsräson zum Fundament nationaler Identität

Identitätsbildung durch Abgrenzung: «frume, edle puren» gegen den bösen Adel

Bedrohtes eidgenössisches Wesen: die Kritik an Solddienst und «fremden Händeln»

Helvetismus: Abgrenzungen gegen das Ausland und die Entdeckung des Schweizer Nationalcharakters

Zwischen Einbindung und Absonderung: Rollen und Rollenbilder des Kleinstaats im 19. und 20. Jahrhundert

Anders ( und besser): die Erfahrung des Sonderfalls

Anders ( und vorbildlich): die Rechtfertigung des Sonderfalls

Die Aussenbeziehungen einer kleinen, neutralen, besonderen Republik

Wachstum durch Verflechtung: der Kleinstaat als Wirtschaftsmacht

Mitten in Europa: Transnationalität als «condition d’être» der Schweiz

Verflechtung als Überlebensstrategie

Abgrenzung als Identitätsstiftung und Legitimationsstrategie

Was leistet die transnationale Betrachtung der Schweizer Geschichte?

Anmerkungen

Literaturangaben zu den einzelnen Kapiteln

Bibliografie

Abbildungsnachweis und Abkürzungen

Verflechtung und Abgrenzung: Geschichte und Aktualität einer Schweizer Problematik

Europäisierung, Globalisierung und die Verunsicherung der Schweiz

Die Schweiz ist fundamental verunsichert. Die Globalisierung der Wirtschaft und der dynamisch fortschreitende Prozess der europäischen Integration wirken sich massiv auf den Kleinstaat aus und erschüttern das fundament des nationalen Selbstverständnisses. Was lange Zeit als verlässlicher Rahmen schweizerischer Selbstverortung in der Welt galt, ist brüchig oder hinfällig geworden. Die Schweiz sieht sich aufgerüttelt und durchgeschüttelt durch Entwicklungen in Europa und in der Welt, deren Antriebskräfte sich der souveränen Kontrolle des Kleinstaats entziehen.

Mit dem Ende des Kalten Kriegs 1989/90 löste sich jene bipolare Mächteordnung auf, die der Schweiz seit dem Zweiten Weltkrieg ihren Platz in der Welt der antagonistischen Supermächte zugewiesen hatte. Bis zum Fall des Eisernen Vorhangs zählte sich auch der neutrale Kleinstaat zum westlichen, antikommunistischen Lager. Unter dem Schild der atomaren Abschreckung fand auch er Sicherheit und profitierte von einer Weltlage, in der die Staaten andere Sorgen hatten, als sich um die ungefährliche Schweiz zu kümmern. Doch seit 25 Jahren ist die politische Weltordnung von einer diffusen Multipolarität bestimmt. Neue Bedrohungslagen (Klimaerwärmung, Umwelt- und Naturkatastrophen, Migrationsbewegungen, Terrorismus) stellten sich ein, vor denen die Neutralität keinen Sinn mehr macht.

In den 1950er-Jahren setzte der europäische Integrationsprozess ein. Der supranationale europäische Staatenverbund, dem mittlerweile 28 Staaten angehören, verdichtete sich institutionell. Er koordiniert die Handels-, Wirtschafts- und Steuerpolitik seiner Mitglieder. Mit dem europäischen Binnenmarkt und dessen vier Grundfreiheiten (freier Warenverkehr, Personenfreizügigkeit, Dienstleistungsfreiheit, freier Kapital- und Zahlungsverkehr) schuf die Europäische Union (EU) 1993 den grössten gemeinsamen Markt der Welt. Dieser ist von existenzieller Bedeutung für die Schweizer Volkswirtschaft. Nach der Ablehnung des Beitritts zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) durch das Volk 1992 setzte der Bundesrat die seit dem Freihandelsabkommen mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) von 1972 verfolgte Strategie des Bilateralismus für die Regelung der Beziehungen zur EU fort. Nachdem diese Politik der sektoriellen Verträge auf bilateraler Basis während 20 Jahren als Königsweg der offiziellen Schweizer Europapolitik in mehreren Volksabstimmungen sanktioniert worden war, stellt die Annahme der sogenannten Masseneinwanderungsinitiative der Schweizerischen Volkspartei (SVP) im Februar 2014 die Schweizer Diplomatie und Politik vor die komplexe, wenn nicht gar unlösbare Aufgabe, die neue Verfassungsbestimmung mit den bestehenden bilateralen Verträgen und der früheren, grundsätzlichen Zustimmung der Schweiz zu den europäischen Grundfreiheiten in Einklang zu bringen. Von der institutionellen Klärung ihres Verhältnisses zur Europäischen Union und damit nicht nur zu ihrem mit Abstand wichtigsten Handelspartner, sondern auch zu ihrem unmittelbaren geopolitischen Umfeld ist die Schweiz im Moment weit entfernt.

Thomas Maissen zu den aktuellen Verstörungen des nationalen Selbstverständnisses (2009)

Seit dem Ende des Kalten Kriegs haben «etliche frühere Selbstbeschreibungen […] an Erklärungskraft verloren. Gegen welche bösen Mächte soll die Freiheit verteidigt werden, wenn keine Bedrohung durch nahegelegene totalitäre Staaten mehr existiert? Wem gegenüber will man neutral bleiben, wenn die europäischen Völker sich zu einer politischen Gemeinschaft zusammenschliessen? Was macht den Wirtschaftsstandort Schweiz aus, wenn altvertraute Unternehmen ihre Namen anglisieren, ihre Produktion ins Ausland verlagern und ihre Gewinne dort erwirtschaften? Was bleibt von einem dreisprachigen Helvetismus, wenn wir kulturell vor allem durch die Massenmedien der jeweils einen benachbarten Sprachnation geprägt werden? Oder wenn das freundeidgenössische Binnengespräch in der neuen Primarschulsprache Englisch erfolgen muss?»1

Als Exportland ist die Schweiz von der Dynamik der Globalisierung und der Liberalisierung des Welthandels besonders betroffen. Schweizer Traditionsmarken gehen in internationalen Konzernen auf. Die Führer der in der Schweiz beheimateten internationalen Konzerne und Banken tragen englische Funktionsbezeichnungen und werden auf einem globalen Arbeitsmarkt für Topmanager rekrutiert. Sie machen Lohn- und Gratifikationsansprüche geltend, deren unschweizerische Unbescheidenheit zu reden gibt. Produktionsstätten werden in Billiglohnländer verlagert, sodass sich im Inland mehr und mehr eine komplexe Dienstleistungswirtschaft entwickelt, die ihren hohen Bedarf an spezialisierten sowie unqualifizierten Arbeitskräften nur noch durch Zuwanderung zu decken vermag.

Die Globalisierung dynamisiert nicht nur die Warenströme; sie setzt auch Menschen in Bewegung. Ende des 19. Jahrhunderts wanderten Menschen aus Italien erstmals in grösserer Zahl in die Schweiz ein, weil das Land dringend Arbeitskräfte brauchte. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgten Spanier und Portugiesen, später Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien. Seit den 1970er-Jahren trafen zunehmend auch Angehörige aussereuropäischer Kulturen und Länder in der Schweiz ein, insbesondere Flüchtlinge und Asylsuchende aus Vietnam, Sri Lanka, dem arabischen Raum und Schwarzafrika. Seit mehr als einem Jahrhundert bildet die gesellschaftliche Integration der zuwandernden Menschen ein zentrales Thema der Schweizer Innenpolitik. Ausdruck tief sitzender Ängste vor den Folgen der Einwanderung waren die Verfassungsinitiativen gegen die sogenannte Überfremdung, gegen den Bau von Minaretten, gegen liberalere Einbürgerungsbestimmungen oder für die Ausschaffung krimineller Ausländer. Nicht von ungefähr klagten diese Initiativen den Vorrang der nationalen Souveränität gegenüber dem Völkerrecht ein. Das internationalisierte Rechtssystem, in das auch die Schweiz aus freiem Entschluss eingebunden ist, nehmen diese politischen Vorstösse als Bedrohung der nationalen Souveränität wahr, die es mit der Ablehnung «fremder Richter» zu retten gelte.

Schliesslich trug auch die Finanz- und Staatsschuldenkrise der letzten Jahre zur Verunsicherung und Verstörung der Schweiz bei. Nachdem die Nachbarn und alten Freunde schon lange argwöhnisch den Abfluss unversteuerter Vermögensbestände ihrer Steuerzahlenden in die Schweiz beobachtet hatten, verständigten sie sich unter dem Druck ihrer enormen Schulden, die wegen der Programme zur Belebung der Konjunktur und zur Rettung grosser Banken noch massiv gestiegen waren, darauf, sich in der «Steueroase» die dringend benötigten, undeklarierten Steuergelder ihrer Bürgerinnen und Bürger zu holen. Lange geduldete Praktiken der Grossbanken im Geschäft mit ausländischen Kundinnen und Kunden wurden nun nicht mehr hingenommen. Dem konzertierten Vorgehen supranationaler Institutionen wie der EU, der OECD oder der G-8-Gruppe sowie dem Druck der USA hatte die politisch isolierte Schweiz wenig entgegenzusetzen, zumal die Bahamas oder die Cayman Islands in dieser Situation nicht wirklich potente Verbündete darstellten. Was die Schweizer Sozialdemokratie in jahrzehntelanger politischer Kärrnerarbeit vergeblich angestrebt hatte – die Aufhebung des Bankgeheimnisses –, bewerkstelligte massiver internationaler Druck in kürzester Zeit, zumal weder die Politik noch die Banken in der Schweiz auf diese Offensive vorbereitet waren.

Viele Schweizerinnen und Schweizer fühlen sich durch diese Veränderungen in ihrem Nationalstolz empfindlich getroffen, waren sie es doch lange Zeit gewohnt, vom Ausland für den Erfolg ihres Landes bewundert und beneidet zu werden. Hinzu kamen Ereignisse wie der Untergang der Swissair 2001/02 und das Debakel der Grossbank UBS 2008/09, die ihnen umso schlimmer vorkamen, als sie nicht nur den Ruf des Landes weiter beschädigten, sondern im Ausland auch Stoff für hämische Kommentare über die Unbilden des einzelgängerischen Sonderfalls und Musterschülers lieferten.

Der Kleinstaat Schweiz erfährt die Auswirkungen dynamischer ökonomischer und politischer Prozesse besonders drastisch. Dies hat mehrere Gründe: Sein hohes Wohlstandsniveau basiert auf seiner Integration in die europäische und globale Wirtschaft. Aussenpolitisch ist das Land aber zunehmend isoliert. Es besitzt keine starke diplomatisch-aussenpolitische Tradition. Es legt die Neutralität enger aus als andere Neutrale wie Schweden oder Österreich. Es nimmt nicht an den massgeblichen politischen Entscheidungsprozessen in der Europäischen Union teil, sondern betreibt den sogenannten autonomen Nachvollzug des europäischen Rechts – eine Formulierung, die schönfärberisch und entlarvend zugleich nichts anderes als die einseitige, schleichende Erosion nationaler Souveränität ohne entsprechende Mitwirkung umschreibt. Schliesslich gestaltet sich die politische Steuerung des dynamischen Wandels in Europa und in der Welt in der Schweiz besonders schwierig, weil die halbdirekte Demokratie mit Referendum und Initiative dem Volk entscheidende Mitbestimmungsrechte einräumt. Nirgendwo sind Innen- und Aussenpolitik so stark miteinander verzahnt wie in der Schweiz. Das Schweizer Volk beziehungsweise jene Kreise, die sich erfolgreich zu seinem Sprecher machen, schaffen es – anders als das Volk in parlamentarisch-demokratisch verfassten Staaten – verhältnismässig leicht, die Auswirkungen der zunehmenden Verflechtung auf die politische Agenda zu setzen. Die Volksrechte werden seit einiger Zeit besonders von jenen politischen Kreisen genutzt, die mit einer Strategie der Abgrenzung den Herausforderungen des dynamischen Wandels auf supranationaler Ebene begegnen wollen. Integrations- und aussenpolitische Themen sind in den vergangenen Jahren zum Gegenstand eines permanenten Wahlkampfs geworden, der sich potenziell in vier Abstimmungen pro Jahr vollzieht. Die Schweizerische Volkspartei (SVP) verdankt ihren Aufstieg in den Kreis der wählerstärksten Parteien seit den 1990er-Jahren einer politischen Strategie, die die Ängste der Schweizer Bevölkerung vor einer kulturellen Entfremdung im eigenen Land aufgreift. Dies gelingt ihr, indem sie eine weitergehende Integration der Schweiz in die Europäische Union und eine liberalere Einbürgerung von Ausländern strikt ablehnt; ausserdem fordert sie eine strengere Strafrechtsgesetzgebung und Religionspolitik gegenüber Ausländern und insbesondere Muslimen (Ausschaffungs- und Minarettinitiative), eine Verschärfung der Asylgesetzgebung und kritisiert die Einwanderung ausländischer Arbeitskräfte («Masseneinwanderung»). Sie versteift sich dabei auf vermeintlich sichere Positionen wie die Behauptung der Neutralität und nationalstaatlichen Souveränität, die sie zu zeitlos gültigen staatspolitischen Maximen mythisiert, deren Preisgabe das Ende der Schweiz bedeuten würde.

Diese aktuellen Irritationen nationaler Befindlichkeiten sind zwar der Anlass, aber nicht die tiefere Motivation zu diesem Buch. Diese liegt in wissenschaftlicher Hinsicht vielmehr in der Beobachtung, wie ambivalent, widersprüchlich, mitunter geradezu schizophren das Verhalten des Kleinstaats Schweiz anmutet, der seit je existenziell mit Europa und der Welt verflochten ist und sich gleichzeitig geistig und mental dagegen abgrenzt.

Verflechtung und Abgrenzung sind die beiden Seiten der Medaille «Schweiz». Dieses Spannungsverhältnis in der Beziehung zu Europa und zur Welt bestimmte den Gang der Schweiz durch die Jahrhunderte. Aus der Verflechtung und Abgrenzung zum weiteren Umfeld versicherte sich die Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert erstmals ihrer Identität und Eigenständigkeit. Seitdem prägten Partizipation und Abschottung, Einbindung und Einigelung, Integration und Abkapselung in wechselnder Akzentuierung ihre Lebens- und Überlebensstrategien. Diese Wechselbeziehung erklärt letztlich, weshalb die Schweiz die Wendepunkte der Vergangenheit überdauerte und es sie im frühen 21. Jahrhundert überhaupt noch gibt.

Dieses Buch versteht sich – auch – als historischer Kommentar zu den europapolitischen Debatten der Politikerinnen und Politiker, Meinungsmacher und Medien, denen es vielfach an historischer Tiefenschärfe mangelt. Als historische Reflexion dieser Thematik wirft das Buch einen Blick auf die lange Dauer des komplexen Verhältnisses der Schweiz zu ihrem europäischen und globalen Umfeld. Es will die Erfahrungen von früher nicht als Anweisungen für die Gegenwart und Zukunft vergegenwärtigen. Allerdings plädiert es – wie jede historische Darstellung – für eine Betrachtungsweise, die alles Seiende als Gewordenes und damit auch als Vergängliches auffasst. Der historische Blick stiftet Sinn für die Veränderbarkeit der Verhältnisse, er fördert mental und kulturell die Bereitschaft, sich den Herausforderungen des Wandels zu stellen.

Historisches Wissen bedient Orientierungsbedürfnisse. Der Historiker führt dabei das bessere Argument gegen all jene ins Feld, die sich den «Reim auf die Vergangenheit machen, der ihnen passt».2 Er verflüssigt versteinerte Auffassungen, die staatspolitische Maximen wie die der Souveränität oder Neutralität zu unveränderlichen Grössen stilisieren und dabei ausser Acht lassen, dass auch sie erst unter bestimmten historischen Umständen zu Leitvorstellungen wurden und mithin wandelbar sind. Gegen das Verhaftetsein in statischen Geschichtsbildern, die Traditionen nicht als Ergebnis historischer Entwicklungen, sondern als Ausdruck ewiger Wahrheiten auffassen, schärft historisches Wissen den Sinn für die Kräfte der Verflechtung und Abgrenzung, denen der Kleinstaat Schweiz immer ausgesetzt war und die ihn letztlich überhaupt erst möglich gemacht haben. Der Blick auf die «longue durée» macht auf Handlungsmuster und -strategien aufmerksam, die langfristig die «conditions d’être» des Kleinstaats Schweiz in umfassenderen Machtkonstellationen und geopolitischen Zusammenhängen bestimmt haben.

Herbert Lüthy zur Ambivalenz von Geschichtsbewusstsein und Geschichtswahrheit (1964)

«Es ist gefährlich, wenn Geschichtsbewusstsein und Geschichtswahrheit, und damit auch Staatsbewusstsein und Staatswirklichkeit, so weit auseinanderrücken, dass wir von uns selbst nur noch in Mythen sprechen können. Wir haben uns eine Denkschablone des Eidgenössischen geschaffen, die weniger dazu dient, unsere Gegenwart zu gestalten, als uns vor ihr in Illusionen über uns selbst zu flüchten.»3

Urs Altermatt zur Notwendigkeit einer neuen Geschichtserzählung (2011)

«Was wir nach den Jahrzehnten der Einigelung brauchen, ist eine neue Lektüre unserer Geschichte, eine – und ich gebrauche bewusst dieses altmodische Wort – patriotische Erzählung, die für alle, die in der Schweiz wohnen, für Alteingesessene und für Zugewanderte, die ‹Idee Schweiz› neu reflektiert und uns diese jenseits von Denkmalpflege und von parteipolitischen Streitereien verständlich macht, eine Geschichtserzählung, die uns nicht von Europa absondert, sondern uns in diesem neuen Europa die Identität eines Mitakteurs gibt, denn es ist auf die Dauer keine Lösung, sich einfach vom europäischen Strom im automatischen Nachvollzug mitreissen zu lassen. Das Schlimmste wäre ein selbstauferlegtes Denkverbot in Bezug auf die Mission der Schweiz in Europa. Über die Schweiz nachdenken, heisst auch Europa mitgestalten.»4

Die in diesem Buch referierten Tatsachen sind bekannt. Neu mag allerdings der Versuch sein, die Geschichte der Schweiz konsequent unter dem Gesichtspunkt ihrer Verflechtung und Abgrenzung zu schreiben und diese gegensätzlichen Einstellungen in ihrem jeweiligen Wechselspiel zu betrachten, ohne sie gegeneinander auszuspielen. Dazu müssen die Sackgassen und toten Winkel eines nationalen Geschichtsverständnisses gemieden werden, das die Schweiz als ein Land versteht, das sich selbst genügt und seit je tapfer den Zumutungen der bedrohlichen Aussenwelt trotzt. Das Buch setzt deswegen mit einer Kritik des national verengten Geschichtsbildes ein. Diese schliesst auch eine Kritik der beiden populären Gründungserzählungen um das Rütli und um den Bundesbrief von 1291 ein, die beide von der Tatsache ablenken, dass die verbündeten Orte erst im 15. Jahrhundert begannen, sich als Teile eines grösseren Ganzen mit einer unverwechselbaren Identität zu begreifen. Wenn denn von einer eidgenössischen Gründerzeit die Rede sein soll, so trifft dies am ehesten auf das 15. Jahrhundert zu. Im Anschluss an diese Klärung der Ausgangslage macht sich die Darstellung auf den Weg durch die lange Geschichte schweizerischer Verflechtung und Abgrenzung. In zwei eigenständigen Abschnitten, die die alte Eidgenossenschaft sowie die moderne Schweiz des 19. bis frühen 21. Jahrhunderts gesondert betrachten, werden die langfristigen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Aussenbeziehungen des Landes geschildert. Diese werden den geistigen Abgrenzungsbewegungen gegenübergestellt, die ebenso alt sind wie die Verflechtungszusammenhänge und von den komplexen Bemühungen eines Landes zeugen, in Auseinandersetzung mit dem grösseren geopolitischen Umfeld den eigenen Platz in Europa zu finden, zu behaupten und sich auf diese Weise seiner Identität zu vergewissern. Der Schluss fasst wesentliche Beobachtungen zusammen und verdichtet diese zu einem Plädoyer für eine transnationale Sicht auf die Schweizer Geschichte und damit auf die «condition d’être» eines Kleinstaats mitten in Europa.

Sackgassen und tote Winkel im nationalen Geschichtsbild

Gewöhnlich ist das Verständnis der Schweizer Geschichte in einer nationalen Perspektive gefangen. In einem eigentlichen Tunnelblick sucht dieses Verständnis in der Vergangenheit nach dem langen Weg von der alten Eidgenossenschaft zum Bundesstaat von 1848, der mit seinen drei staatspolitischen Grundpfeilern des Föderalismus, der Souveränität und der Neutralität als Vollendung eidgenössischer Staatsbildung vorgestellt wird. Historische Tatsachen, die sich nicht in dieses Bild der föderalistischen, souveränen und neutralen Schweiz fügen, gehen nicht in die nationale Erinnerungstradition ein.

Föderalismus: Ein hervorragender Erinnerungsort des nationalen Geschichtsbildes ist das Parlamentsgebäude in Bern. In den Arkadenzwickeln des Ständeratssaals finden sich Jahreszahlen, die nach dem Willen des Bauherrn die wichtigsten «politischen, für die staatsrechtliche Ausgestaltung der mittelalterlichen und modernen Schweiz massgebenden Abmachungen» vorstellen sollen.

Neun Jahreszahlen im Ständeratssaal von 1903 symbolisieren die föderalistische Bundesideologie5

Die gerade Linie von den Verträgen des Mittelalters zu den Verfassungen des 19. Jahrhunderts suggeriert, der Wille der Kantone zur Integration neuer Mitgliedstaaten und zum immer engeren staatlichen Zusammenschluss sei die treibende Kraft der Nationalgeschichte gewesen. Sie blendet aus, dass die Erweiterung der 13-örtigen Eidgenossenschaft zur 19-örtigen Eidgenossenschaft (Aufnahme der Kantone St. Gallen, Graubünden, Aargau, Thurgau, Tessin, Waadt 1803) allein der Vermittlung Bonapartes (1769–1821) zu verdanken war und die Aufnahme der Kantone Wallis, Neuenburg und Genf 1814/15 und damit die Bildung der 22-örtigen Eidgenossenschaft erst nach massiven Interventionen der europäischen Grossmächte glückte.

Souveränität: Die Schweizer Historiker des 19. Jahrhunderts richteten ihre Erzählung von der Entstehung der nationalen Souveränität an den Jahreszahlen 1499 und 1648 aus. Sie machten aus dem sogenannten Schwabenkrieg 1499 einen Freiheitskrieg der Eidgenossen, die mit ihrem Sieg faktisch vom Reich unabhängig geworden seien. Quer zu dieser Deutung steht allerdings die Tatsache, dass sich die Kantone auch nach 1499 noch von jedem neuen Kaiser ihre Reichsprivilegien bestätigen liessen, ein letztes Mal von Kaiser Ferdinand I. (1503–1564) im Jahr 1559. Noch wesentlich länger, bis ins 17., teilweise gar 18. Jahrhundert, brachten die eidgenössischen Obrigkeiten den doppelköpfigen Reichsadler an öffentlichen Gebäuden an.

Die Erzählung vom zweistufigen Prozess zur Unabhängigkeit vom Reich sieht im Westfälischen Frieden von 1648 den Durchbruch zur formellen Souveränität der Eidgenossenschaft. Auch sie blendet Tatsachen aus, die nicht recht zum unbedingten Souveränitätswillen der Orte passen: Der eidgenössische Gesandte Johann Rudolf Wettstein (1594-1666) verhandelte in Westfalen zuerst gar nicht um die Loslösung vom Reich, sondern um die Zusage des Kaisers, keine Basler Kaufleute mehr vor Reichsgerichte zu zitieren. Erst der französische Gesandte auf dem Friedenskongress flüsterte Wettstein die Idee ein, er solle um die Souveränität verhandeln. Der Basler Bürgermeister betrieb von nun an die formelle Klärung und völkerrechtliche Absicherung einer faktischen Unabhängigkeit, und dies zunächst gegen den Willen der katholischen Orte, die den uneindeutigen, gewohnheitsrechtlichen Zustand lieber so belassen hätten, als ihn durch unsichere diplomatische Verhandlungen zu gefährden. Frankreichs diplomatische Unterstützung war allerdings nicht uneigennützig. Es band fortan die aus dem Reich ausgeschiedenen Kantone umso enger an sich. König Ludwig XIV. von Frankreich (1638–1715, König ab 1643) mischte sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts als eigentlicher Protektor über die Eidgenossenschaft wesentlich stärker in die Angelegenheiten der Orte ein, als dies Kaiser und Reich jemals getan hatten.

Neutralität: Die Nationalgeschichte schildert auch die Entstehung dieser zentralen Maxime schweizerischer Aussenpolitik gerne als ein Stück in zwei Akten und hat hierfür die Jahreszahlen 1515 und 1815 ins kollektive Gedächtnis eingeprägt. Sie deutet die Niederlage bei Marignano 1515 als heilsame Lektion, die den Eidgenossen die Grenzen ihrer Macht aufgezeigt habe. Aus der Einsicht in ihre aussenpolitische Handlungsunfähigkeit hätten diese sich damals aus der europäischen Grossmachtpolitik zurückgezogen. Marignano habe sie zur Vernunft, sprich zur Neutralität gebracht. Doch blendet auch diese Sicht entscheidende Aspekte aus: Gleichzeitig mit ihrem Verzicht auf die Rolle als europäische Grossmacht knüpften die Orte über Soldallianzen engste Beziehungen zu den Grossmächten Europas. 1521 schlossen sie mit Frankreich jenes Bündnis, das bis zur Entlassung der Schweizer Regimenter in französischen Diensten 1792 das Rückgrat der eidgenössischen Aussenbeziehungen bildete. 1815 – 300 Jahre nach Marignano – hätten die Grossmächte auf dem Wiener Kongress, so will es die Meistererzählung zur Neutralität weiter, die ewige, bewaffnete Neutralität der Schweiz auch völkerrechtlich anerkannt. Was gemeinhin als späte Sanktionierung einer alten eidgenössischen Praxis durch den Kongress dargestellt wird, war nüchtern besehen eine massive Einschränkung der aussenpolitischen Souveränität der Schweiz und zugleich die Voraussetzung dafür, dass die Grossmächte die weitere Existenz der Eidgenossenschaft befürworteten.

Den drei nationalgeschichtlichen Erzählungen ist eines gemeinsam: Sie stellen die Geschichte des Föderalismus, der Souveränität und Neutralität der Schweiz als besondere Leistung und alleiniges Verdienst der Eidgenossen dar. Kriegerische Tapferkeit, höhere Einsicht, freiwillige Selbstbeschränkung, der Wille zur nationalen Einigkeit, die Fähigkeit zum Ausgleich und derlei politische Tugenden mehr hätten letztlich zum Erfolg schweizerischer Staatsbildung geführt.

Gegen diese einseitige, allzu selbstgefällige und vielfach schlicht falsche Sicht der Dinge nimmt diese Darstellung eine transnationale Perspektive ein. Sie fokussiert konsequent auf die Verflechtung des Landes mit dessen räumlichem Umfeld und bettet die eidgenössischen Kleinstaaten in grenzüberschreitende Kräftekonstellationen ein. Französische Historiker bezeichnen diesen transnationalen Ansatz als «histoire croisée», die anglo-amerikanischen Kollegen sprechen von «entangled history». Letztlich setzen diese Konzepte eine Binsenwahrheit der Handlungs- und Kommunikationstheorie um, wonach Individuen, Gruppen und grössere Gemeinschaften ihre Identität nicht autonom aus ihrer Selbstrepräsentation heraus entwickeln, sondern dies immer im Austausch mit sowie in Abgrenzung zu Anderen beziehungsweise Anderem tun. Dies gilt auch für Nationen und Staaten, die nicht als isolierte Einheiten existieren, sondern immer in Verflechtungszusammenhängen, die nicht statisch, sondern als dynamische Prozesse in Raum und Zeit zu denken sind.

Die Geschichte der Schweiz als die Geschichte ihrer Beziehungen zu Europa zu betrachten heisst, die isolierte Nabelschau aufzugeben. Die Verflechtungen des Landes und seiner Bewohner mit Europa und der Welt sind nicht als Beziehungen zu einem Äusseren und Fremden zu begreifen, sondern als entscheidender Faktor für die Gestaltung der Verhältnisse im Lande selber, die ohne deren Berücksichtigung unverständlich blieben.

Identitätsbildung und Alteritätserfahrung: die Gründung der Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert

Seit wann kann sinnvollerweise von einer Eidgenossenschaft mit Beziehungen zu einem weiteren Umfeld die Rede sein? Die Frage setzt die Existenz eines Gebildes voraus, das sich selber als etwas Eigenständiges betrachtete und auch von aussen als solches wahrgenommen wurde.

Die historische Forschung hat schon lange die Vorstellung von der Gründung der Eidgenossenschaft am 1. August 1291 oder auf dem Rütli am Jahreswechsel 1307/08 verabschiedet. 1291 schlossen drei Gemeinden in der Innerschweiz ein Landfriedensbündnis ab, ohne damit einen Staat machen zu wollen. Um 1470 wurde erstmals die heroische Gründungserzählung vom Rütlischwur und dem tapferen Freiheitskampf der Waldstätte gegen adelige Vögte aufgezeichnet, und knapp 100 Jahre später datierte der Glarner Gelehrte Aegidius Tschudi diese Geschehnisse erstmals auf den Jahreswechsel 1307/08. Nachdem der Schweizerische Bundesrat in den 1890er-Jahren den 1. August offiziell zum Nationalfeiertag erklärt hatte, verschmolzen die beiden ursprünglich eigenständigen Erzählungen im Geschichtsbild der breiten Bevölkerung zur irrigen Vorstellung, am Nationalfeiertag vom 1. August gedenke man jeweils des Rütlischwurs aus dem Jahr 1291.

Die entscheidenden Schritte zur Ausbildung einer unverwechselbaren eidgenössischen Identität erfolgten im 15. Jahrhundert. Im Begriff «Eidgenossenschaft» verdichten sich fundamentale Strukturmerkmale der politischen Organisation und Kultur der Schweiz, deren Wurzeln ins Spätmittelalter zurückreichen. Als politischer Akt impliziert der geschworene Zusammenschluss mehrerer zu einer Genossenschaft zweierlei: Der Eid stiftet zwischen eigenständigen Parteien einen neuartigen politischen Zusammenhang. Eine Föderation setzt voraus, dass sich die Parteien als politisch handlungsfähige Partner anerkennen, die ihre politischen Beziehungen autonom gestalten können. Bündnisse stiften Beziehungen zwischen Parteien, die für die Wahrung gemeinsamer Interessen näher zusammenrücken, dabei aber grundsätzlich ihre Eigenständigkeit bewahren wollen.

Nun gab es im Spätmittelalter in Europa nicht nur die eine (später Schweizerische) Eidgenossenschaft, vielmehr wimmelte es geradezu von Bündnissen. In einer Zeit starker machtpolitischer Konkurrenz, als die Machtinteressen unzähliger Herrschaftsträger zusammenstiessen, schien es Königen, Fürsten, Adeligen, Klöstern und Gemeinden ratsam, sich auf viele Seiten hin abzusichern. Bündnisse schufen politische und militärische Sicherheit. Zugleich setzten sie im Machtbereich der Bündnispartner den Landfrieden durch, das heisst sie stellten auf dem Weg vertraglicher Vereinbarung Rechtssicherheit und Gewaltfreiheit her in einer Zeit, die noch keinen Staat als Träger des legitimen Gewaltmonopols kannte.

Im nachmals schweizerischen Raum besass die bündische Bewegung ein starkes kommunales Fundament. Die sogenannten Länder – grössere ländliche Gerichtsgemeinden wie Uri oder Schwyz – waren im Spätmittelalter ebenso wie die Städte des Mittellandes im Wettlauf um Allianzpartner sehr aktiv. Mit ihren Bündnissen wollten die Städte und Länder im 13. und 14. Jahrhundert allerdings keinen Staat gründen. Erst die nationalpatriotische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts hat aus der Vielzahl der Bündnisse der Städte und Länder im Spätmittelalter einige wenige ausgewählte zu eigentlichen schweizerischen Staatsgründungsakten stilisiert und die entsprechenden Urkunden zu sogenannten «Bundesbriefen» erhoben. Sie verkannte dabei die prinzipielle Offenheit der damaligen Macht- und Herrschaftslage und verkürzte in nationalgeschichtlicher Perspektive die komplexen Bündnisverhältnisse des Spätmittelalters zu einer Gründungsgeschichte, für die die sogenannten Eintritte der Kantone in den Bund die verfassunsgsgeschichtlichen Meilensteine auf dem langen Weg zum Bundesstaat des 19. Jahrhunderts bildeten.

Von welchem Zeitpunkt an verdichteten sich im schweizerischen Raum die offenen Herrschaftsverhältnisse, und warum entwickelte sich aus den Landfriedensbündnissen einiger Gemeinden die eine Eidgenossenschaft, die sich sowohl nach ihrem Selbstverständnis als auch in der Wahrnehmung von aussen als eigenständiger politischer Verband profilierte?

Die eigentliche Gründungszeit der Eidgenossenschaft ist das 15. Jahrhundert. Damals behaupteten sich die Kommunen – allen voran die Städte Bern, Zürich und Luzern – in der territorialpolitischen Konkurrenz gegen den Adel und insbesondere gegen Österreich-Habsburg als ihren schärfsten Rivalen. Nach dem Sieg der Waldstätte über ein österreichisches Heer bei Sempach 1386 führte die Eroberung des Aargaus – der alten habsburgischen Stammlande mit der namensgebenden Habsburg und den Klöstern Muri und Königsfelden als den beiden Hausklöstern und Grablegen der Habsburger – 1415 eine entscheidende Verdichtung eidgenössischer Herrschaft herbei. Die Eidgenossen teilten ihre gemeinsamen Eroberungen im Aargau – so wie später auch jene im Thurgau und im Tessin – nicht unter sich auf, sondern behielten sie als Untertanengebiete in kollektiver Verwaltung. Als «Gemeine Herrschaften» wurden sie fortan bis zum Ende des Ancien Régime reihum von Landvögten aus den beteiligten Kantonen verwaltet. Die hohe Bedeutung der Gemeinen Herrschaften für den Zusammenhalt der Eidgenossenschaft lässt sich daran ablesen, dass die gemeinsame Verwaltung auch nach der Glaubensspaltung fortgeführt wurde. Wie sehr die Verhältnisse unter den verbündeten Orten im 15. Jahrhundert ihre frühere Offenheit verloren und die Handlungsfreiheit der Gemeinden weniger wurde, musste die Stadt Zürich im sogenannten Alten Zürichkrieg (1436–1450) erfahren: Die übrigen Orte zwangen die Limmatstadt in einem blutigen Krieg dazu, ihr Bündnis mit Habsburg-Österreich aufzulösen und den Beziehungen zu den Eidgenossen den unbedingten Vorrang vor anderen Bündnissen einzuräumen.

Bald nach dieser Festigung des eidgenössischen Bündnisgeflechts wurde um 1470 erstmals die eidgenössische Gründungserzählung aufgezeichnet. Mit der heroischen Erzählung vom Widerstand der drei tapferen Länder am Vierwaldstättersee gegen die Willkür des Adels reagierten die Eidgenossen auf Vorwürfe Habsburg-Österreichs und der habsburgischen Kaiser, die die Eidgenossen als Zerstörer des Adels, als Rebellen gegen deren natürliche Herren und als meineidige, gottlose Feinde der ständisch-christlichen Gesellschaftsordnung brandmarkten. In ihrer Replik auf diese antieidgenössische Propaganda stellten sich die Eidgenossen als tugendhafte, gottesfürchtige, bescheidene Bauern dar («frume, edle puren»), deren sich Gott als Werkzeug bediente, um den tyrannischen, pflichtvergessenen Adel zu bestrafen. In ihren Schlachtensiegen über Habsburg und das Reich erblickten die Eidgenossen Urteile Gottes zugunsten eines auserwählten Volkes. Dieses moralisch höchst anspruchsvolle Eigenbild schrieb sich tief in das nationale Geschichtsbild ein. Die historische Forschung gab es erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts zaghaft auf, während es im Geschichtsbild der breiten Bevölkerung bis heute fortlebt. Die erstmals im sogenannten Weissen Buch von Sarnen (um 1470) fassbare eidgenössische Gründungserzählung zeugt von der sich festigenden Identitätsrepräsentation der Eidgenossenschaft. Die Zurückweisung der antieidgenössischen Propaganda ging Hand in Hand mit der Formulierung einer Identitätskonstruktion, die nichts weniger als die politische Eigenständigkeit rechtfertigte.

In jener Zeit, 1479, verfasste der Einsiedler Mönch Albrecht von Bonstetten (um 1442/43–1504/05) eine dem venezianischen Dogen, dem Papst und dem König von Frankreich gewidmete landeskundliche Beschreibung der Eidgenossenschaft. Diese früheste Beschreibung der Grenzen der Eidgenossenschaft situierte das Land topografisch im Herzen Europas und erklärte es zum «punctus divisionis Europe», zum Trenn- und Mittelpunkt des Kontinents.6

Schliesslich klärte die Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert unter dem Einfluss der europäischen Mächtepolitik ihren Standort im Kreis der grossen Herren. Im Vorfeld der Burgunderkriege bereinigte sie mit der sogenannten Ewigen Richtung 1474 ihr Verhältnis zu Österreich-Habsburg. Die Habsburger verzichteten auf ihren früheren Herrschaftsbesitz im nunmehr eidgenössisch gewordenen Raum und sicherten sich dafür die militärische Unterstützung der Eidgenossen gegen Herzog Karl den Kühnen von Burgund (1433–1477, Herzog 1465–1477), ihren gemeinsamen Gegner. Die Schlachtensiege der antiburgundischen Allianz katapultierten die Eidgenossen auf die Bühne der Grossmachtpolitik und steigerten – angesichts der damals enorm wachsenden Nachfrage der Mächte nach Söldnern – schlagartig deren Attraktivität als Krieger und Bündnispartner.

In diese Zeit fiel auch die Klärung des Verhältnisses der Orte zum Reich. Kaiser und Reich waren im Spätmittelalter die entscheidende Legitimationsquelle für die wachsende Autonomie der Städte und Länder. Die Kaiser aus den Dynastien der Wittelsbacher und Luxemburger – beide Rivalen der Habsburger um die Kaiserwürde – bedachten die eidgenössischen Städte und Länder mit grosszügigen Privilegien. Sie stärkten damit deren Macht und politischen Gestaltungsspielraum. Das Reich war im 14. und 15. Jahrhundert aber nicht nur die entscheidende Quelle für die Legitimierung der Herrschaftsgewalt der Orte. Als Reichsoberhaupt lieferte König Sigismund (1368–1437, römisch-deutscher König seit 1411) den Eidgenossen 1415 mit der Verhängung der Reichsacht über Herzog Friedrich IV. von Österreich (1382–1439) auch die willkommene Rechtfertigung für die Eroberung des habsburgischen Aargaus und damit für die Möglichkeit, sich auf Kosten der Habsburger als Vormacht im Mittelland festzusetzen.

Die Eidgenossen waren dem Reich so sehr verbunden, dass sie am Ende des 15. Jahrhunderts sogar Krieg gegen dieses führten. Diese Feststellung ist weder unsinnig noch ironisch gemeint. An der Spitze des Reichs kam es am Ende des 15. Jahrhunderts zu Reformen und zur Schaffung neuer, zentraler Reichsinstitutionen. Als Reichsangehörige hätten auch die Eidgenossen die neuen Gremien anerkennen und mitfinanzieren müssen. Sie verweigerten jedoch ihre Beteiligung an der Weiterentwicklung der Reichsinstitutionen und hielten an ihrem traditionellen Reichsverständnis fest. Mit ihrem militärischen Sieg über König Maximilian I. (1459– 1519, römisch-deutscher König seit 1486) im Jahr 1499 klammerten sich die Eidgenossen zwar von der Reichsreform aus, ohne damit aber vom Reich unabhängig werden zu wollen. Vielmehr hielten sie bis ins 17. Jahrhundert, einige gar noch länger, an ihrem Bekenntnis zum Reich fest.

Im Hinblick auf eine Schweizer Geschichte in den Kategorien von Verflechtung und Abgrenzung bleibt festzuhalten, dass sich die eidgenössische Identitätsvorstellung im 15. Jahrhundert aus zwei Abgrenzungen speiste: zum einen aus der militärischen Behauptung gegen die herrschaftspolitische Konkurrenz von Habsburg und Burgund, zum anderen aus der propagandistisch-diskursiven Behauptung gegen die Stigmatisierung als gottlose Rebellen. Identitätsbildung und Alteritätserfahrung waren eng miteinander verschränkt.

Verflechtungen in der alten Schweiz

Die Betrachtung der vielfältigen Verflechtungszusammenhänge der alten Schweiz mit dem europäischen Umfeld setzt bei den Wanderungsbewegungen ein. Migration ist ein historisches Langzeitphänomen der Schweizer Geschichte. Menschen aus dem nachmals schweizerischen Raum waren auf Wanderschaft, lange bevor von einer Eidgenossenschaft die Rede sein konnte, geschweige denn bevor eidgenössische Diplomaten und Politiker formelle politische Beziehungen zu anderen Mächten knüpften. Ein nächstes Kapitel widmet sich den Warenströmen. Als rohstoffarmes Land war die Schweiz seit je existenziell auf die Versorgung mit lebenswichtigen Gütern angewiesen. Ihre Ökonomie spezialisierte sich zudem frühzeitig auf die Veredelung von Rohstoffen, die von weit her eingeführt wurden, sowie auf die Herstellung von Exportwaren für internationale Märkte. Schon in der frühen Neuzeit vermarktete sie mit dem Käse, den Textilien, Uhren sowie Finanz- und Handelsdienstleistungen Güter und Dienstleistungen, die im Ausland das stereotype Bild der kommerziellen Schweiz prägen sollten. Schliesslich wird der Verflechtungsaspekt auch für den Bereich der Aussenpolitik, Diplomatie und der inneren Staatsbildung angesprochen werden. Spätestens mit den Burgunderkriegen in den 1470er-Jahren wurde die Eidgenossenschaft als geopolitisch exponierter Raum mitten im Spannungsfeld zwischen den rivalisierenden europäischen Grossmächten wahrgenommen. Als Übergangs- und Durchgangszone zwischen den Schauplätzen der grossen europäischen Kriege nördlich und südlich der Alpen wurde sie zum Tummelfeld der europäischen Diplomatie. Ihre Lage machte sie zu einem attraktiven Partner für Allianzen, aber auch zu einem sicherheitspolitischen Risiko für die grossen Nachbarn. Die Kantone mussten lernen, mit den Ansprüchen der konkurrierenden Mächte und den sich überkreuzenden Interessenlagen der grossen Nachbarn umzugehen. Wie für kein anderes Land in Europa gilt, dass nicht nur die innere Staatsbildung in den Kantonen in der frühen Neuzeit, sondern auch die schiere Existenz einer souveränen Nation Schweiz bis auf den heutigen Tag nur mit Rücksicht auf deren Verflechtung mit der europäischen Staatenwelt verständlich gemacht werden kann – die Eigenständigkeit der Schweiz gründet letztlich im Interesse Europas.

Verflechtung durch Migration

Migrationsbewegungen sind elementare Phänomene sozioökonomischer Verflechtung. Migranten verlassen die vertrauten sozialen und familialen Netzwerke ihrer Heimat für eine gewisse Zeit oder auf Dauer. Sie müssen sich in den Zielgebieten ihrer Wanderung orientieren, in einer neuen, sozial und kulturell fremden Umgebung bestehen und ein Auskommen finden.

Unter den wandernden Berufsgruppen der alten Schweiz stehen zahlenmässig die Soldaten und Offiziere an erster Stelle, die im Sold auswärtiger Kriegsherren militärische Dienste leisteten. Die Wanderungen der Reisläufer beziehungsweise Söldner hatten beträchtliche wirtschaftliche, soziale, politische und kulturelle Auswirkungen auf die Verhältnisse im Land. Weniger bekannt als die militärische Arbeitsmigration sind die vielfältigen Formen der zivilen Arbeits- und Siedlungsmigration. Zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert verliessen Handwerker, Gewerbetreibende, Händler, Künstler, Gelehrte und Pädagogen in grosser Zahl die Schweiz. Der Charakter und die Beweggründe dieser Wanderungen waren sehr verschieden. Die Migranten suchten im Ausland ein Auskommen, das sie zu Hause nicht finden konnten oder das ihnen half, ihre Subsistenzgrundlage zu diversifizieren und das Leben ihrer Familien in der Heimat abzusichern. Manchen winkte in der Ferne eine Karriere, die ihnen ihre Herkunftsregion nicht bieten konnte. Die zivile Arbeitsmigration der frühen Neuzeit betraf in der Regel einzelne Spezialisten und war noch keine Massenerscheinung. Meistens war sie zeitlich oder saisonal befristet. Andere beschränkten ihren Aufenthalt in der Fremde auf eine bestimmte Lebensphase, bevor sie in die Heimat zurückwanderten.

Die südalpinen Täler des Tessins und Graubündens teilten mit vielen anderen Gebieten am Südabhang des Alpenbogens eine jahrhundertelange Tradition temporärer Wanderung. Die Migration bestimmte den Rhythmus der Heiraten und Geburten in den Familien, die dörfliche Sozialordnung und die lokale Wirtschaft. Lange Zeit erklärte man diese Migrationsbewegungen mit der lokalen Armut und Übervölkerung und übersah dabei, dass die Migranten aus den Bergen vielmehr auf die starke Nachfrage nach Arbeitskräften in den Metropolen der Ebene reagierten. Ihre Wanderung wurde nicht aus der Not geboren, sie war nicht die minderwertige Alternative zur sesshaften Lebensweise der Bauern, sondern ergänzte diese strategisch. Agrarische Sesshaftigkeit und gewerblich-kommerzielle Mobilität bildeten gemeinsam das Fundament der Gesellschaft und Wirtschaft der südalpinen Täler. Erst im 18. Jahrhundert wurde die Siedlungswanderung mit dem Ziel einer dauerhaften Niederlassung in einem anderen Land wichtiger. Den Durchbruch erlebte sie im 19. Jahrhundert, als neue Verkehrs- und Kommunikationsmittel sowie die organisatorische Unterstützung von Auswanderungsagenturen den Schritt zur Auswanderung wesentlich erleichterten.

Militärische Arbeitsmigration

Bis zur Französischen Revolution stellten die Reisläufer und Söldner quantitativ und qualitativ die bedeutendste Gruppe unter den Schweizer Arbeitsmigranten dar. Ihre Zahl lässt sich nur schätzen, doch sind sich die Bevölkerungshistoriker einig, dass die militärische Wanderung vom 16. Jahrhundert bis zum Ende des Ancien Régime ein Massenphänomen war und insgesamt mehrere Hunderttausend Mann in fremde Dienste zogen.7 Seit dem späten 17. Jahrhundert vermitteln die Kompanielisten für die administrative Kontrolle der Truppenbestände eine genauere Vorstellung vom Umfang der Truppen in fremden Diensten.

Die Bestände der eidgenössischen Truppen in fremden Diensten im 18. Jahrhundert (1701, 1789)8

Die Geschichte der fremden Dienste erstreckt sich über viele Jahrhunderte und lässt sich in vier Phasen gliedern. Sie wurde im Wesentlichen durch den Wandel in der Kriegsführung, in der Kriegstechnik und in der Heeresverfassung der europäischen Mächte sowie durch Veränderungen in der heimischen Wirtschaft bestimmt.

Phase 1 (13. Jahrhundert bis 1520/50): Schon im 13. Jahrhundert boten Krieger aus dem nachmals eidgenössischen Raum Kriegsherren ihre Dienste gegen Bezahlung an. Erst die militärischen Erfolge der Eidgenossen in den Burgunderkriegen (1474–1477) machten jedoch deren Kriegstüchtigkeit weitherum bekannt und trieben die Nachfrage nach eidgenössischen Kriegern in die Höhe. Die grossen Mächte buhlten fortan um diese scheinbar unschlagbaren Kämpfer, die mit ihrer Gefechtstaktik und Bewaffnung den Ritterheeren überlegen waren. Eine hohe Gewaltbereitschaft und Brutalität kennzeichneten diese Fusssoldaten; Schweizer Militärhistoriker erblickten darin bisweilen die «urwüchsige, auf elementarer Aggressivität beruhende Kraft der ungestümen Bauern und Hirten».9 Diese stammten aus Gegenden, die nahe bei den Schauplätzen der Kriege der Grossmächte lagen, was die Attraktivität dieses Söldnermarkts noch erhöhte.

Ein starkes Interesse an diesen Kriegern bekundete frühzeitig der französische König. Im Krieg der antiburgundischen Allianz gegen Karl den Kühnen von Burgund, dessen Reich an der Ost- und Nordgrenze Frankreichs dem französischen König viel zu mächtig geworden war, übernahmen die Orte mit französischer Unterstützung eine führende militärische Rolle. Kurz nach den Burgunderkriegen griff der König von Frankreich in den Kampf um die Vorherrschaft über das Herzogtum Mailand und über Italien ein. Dort stiessen Frankreich und Habsburg-Österreich, die beiden grossen Kontrahenten der neuzeitlichen Mächtepolitik, aufeinander. Während der Mailänderkriege an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert schnellte die Zahl der Schweizer Söldner in die Höhe; zeitweise standen 10 000 bis 20 000 Eidgenossen allein im Dienst Frankreichs.10

In der ersten Phase des Solddienstes, der Zeit der «wilden Reisläuferei», wurden die Krieger jeweils für Einsätze von einigen Wochen oder wenigen Monaten angeworben. Sie zogen mit eigenen Waffen (Spiess, Hellebarde, Dolch) und ohne jede Uniform all jenen Kriegsherren oder Werbern zu, die lukrative Angebote machten. Die Überlebenden kehrten bald einmal mit Beute und Sold zurück, die häufig mehr wert waren als die Löhne der Gesellen und Arbeiter zu Hause. Mit Truppenwerbungen erlangten Militärunternehmer wie der spätere Zürcher Bürgermeister Hans Waldmann (um 1435–1489) die Gunst ausländischer Kriegsherren und finanzierten mit deren Entschädigungen (Pensionen) ihren sozialen Aufstieg.

Die erste Phase bezahlten eidgenössischen Kriegertums warf enorme innere Ordnungsprobleme auf. Die eidgenössischen Obrigkeiten hatten keine Kontrolle über die davonlaufenden Krieger, sodass sich ihre Bürger und Untertanen mitunter bei verfeindeten Kriegsherren engagierten und sich im Feld gegenüberstanden. So liefen nach der Schlacht von Nancy und dem Tod Karls des Kühnen 1477 die arbeitslos gewordenen Krieger aus den Orten sowohl dem König von Frankreich als auch Maria von Burgund (1457–1482) und deren Gemahl Maximilian von Habsburg zu, die um den Besitz der Freigrafschaft Burgund kämpften. Kaum erinnert wird auch die Tatsache, dass Krieger aus eidgenössischen Orten in der Schlacht bei Murten 1476 auch im Heer Karls des Kühnen anzutreffen waren. Die Versuche der Obrigkeiten, mit Reislauf- und Pensionenordnungen das Geschäft mit dem bezahlten Kriegen zu regulieren und die militärische Gewalt in der Hand der Obrigkeit zu monopolisieren, scheiterten in dieser Phase an den ökonomischen Interessen des gemeinen Mannes wie auch der Elite. Gleichzeitig sorgten die sozialen und wirtschaftlichen Folgekosten des Reislaufs für Unmut in der Bevölkerung: Bauern und Handwerker beklagten den Mangel an Arbeitskräften; die Hinterbliebenen der Gefallenen und die Angehörigen der physisch und psychisch angeschlagenen Rückkehrer litten unter zerrütteten Familienverhältnissen. Die gesellschaftliche Integration gewalterfahrener Männer bereitete Schwierigkeiten. Weil die Gewinne und Kosten des Geschäfts mit dem bezahlten Kriegen sozial sehr ungleich verteilt waren, brachen 1513–1516 in mehreren eidgenössischen Kantonen massive Protestbewegungen der Untertanen gegen die städtischen Räte aus, die nur dank weitgehenden Konzessionen der Obrigkeiten an die Aufständischen und gegenseitiger militärischer und politischer Hilfe der verbündeten Orte beigelegt werden konnten.

Phase 2 (um 1520/50 bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts): Um die problematischen Folgen des ungeordneten Reislaufs in den Griff zu bekommen und die politische Kontrolle über dieses Geschäft durchzusetzen, ergriffen die eidgenössischen Obrigkeiten Massnahmen. Effizienter als die Verbote des unerlaubten Wegziehens in fremde Kriege waren diesbezüglich die Sold- und Allianzverträge mit den ausländischen Kriegsherren. Die Orte erkannten, dass sie den heimischen Söldnermarkt nur über Verträge mit den ausländischen Kriegsherren unter ihre Kontrolle bringen konnten. Wollten sie Kapital aus dem Soldgeschäft schlagen, mussten sie verhindern, dass die Kriegsherren auch ohne ihre Zustimmung zu Kriegern kamen. Langfristige Verträge zwischen Abnehmern und Anbietern regelten die politischen und finanziellen Rahmenbedingungen des Soldgeschäfts. Solche Allianzen und Kapitulationen bildeten seit der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts und bis zum Ende der fremden Dienste die Grundlage für das Soldgeschäft der eidgenössischen Orte. Die wichtigste und dauerhafteste Allianz war jene mit Frankreich, die 1521 erstmals geschlossen und 1777 ein letztes Mal vor der Entlassung der Schweizer Regimenter in Frankreich 1792 erneuert wurde.

Die Allianzen bestimmten die gemeinsamen sicherheitspolitischen Interessen, regelten die wechselseitigen Leistungen der Partner und definierten den Bündnisfall, der die Verbündeten zu militärischer Hilfe verpflichtete. Kapitulationen legten die Ernennung der Offiziere, die Termine der Musterungen und Soldzahlungen, die Höhe des Solds, die Dauer des Dienstes, die Gerichtsbarkeit über die Truppenangehörigen, deren Religionsausübung im Ausland und anderes mehr fest.

Mit der Kontrolle über das Soldgeschäft mit dem Ausland festigten die politischen Eliten in den Orten ihre Vorherrschaft im Innern. Die Ratsgremien in den Orten schlugen die Kandidaten für die Offiziersstellen vor und verteilten diese Posten zunehmend exklusiv an Angehörige von Ratsgeschlechtern. Der Offiziersdienst in einer Kompanie in fremden Diensten diente männlichen Angehörigen aus Ratsfamilien als Warteposition und Lehrzeit bis zur Wahl in den Rat und damit in ein einträgliches Amt zu Hause. Für die führenden Familien wurde das Militärunternehmertum – die operative Verantwortung für die Aufstellung, Ausbildung und Führung grösserer Verbände (Regiment, Kompanie) im Ausland – zu einer interessanten Tätigkeit, die neben der Aussicht auf Gewinn auch wertvolle soziale Kontakte verschaffte.

Die aufkommende Artillerie und die zunehmende Bedeutung langer Belagerungen von befestigten Plätzen veränderten den Charakter des Solddienstes. Die neue Kriegsführung erforderte die zunehmende Disziplinierung der Krieger im Rahmen einheitlicher, uniformierter Truppenverbände. Die Dienstzeiten waren nach wie vor befristet, dauerten nun aber deutlich länger als früher. Im Dreissigjährigen Krieg betrugen sie schon mehrere Jahre.

Die Schweizer Reformatoren verliehen der Kritik an der Reisläuferei eine Wendung ins grundsätzlich Religiös-Moralische. Die Interessengegensätze zwischen den traditionell stärker im Soldgeschäft engagierten Inneren Orten und den Städteorten waren eine Ursache für die Glaubensspaltung und führten zum Zweiten Kappeler Krieg 1531 zwischen den altgläubigen Orten der Innerschweiz und den reformierten Städten Zürich und Bern. Die reformierte Geistlichkeit blieb fortan der schärfste Kritiker der fremden Dienste, was mit ein Grund war, dass Bern und Zürich erst 1582 beziehungsweise 1614 der Allianz mit Frankreich beitraten.

Phase 3 (Mitte des 17. bis Mitte des 18. Jahrhunderts): Das 17. Jahrhundert und die beiden ersten Drittel des 18. Jahrhunderts sind in der Geschichte Europas eine Zeit fast ununterbrochener Kriege. Die Grossmächte begannen seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit dem Aufbau stehender Heere. Mit dem Wandel der Kriegstechnik wurden die Soldaten mit Gewehren mit aufpflanzbaren Bajonetten für den Nahkampf ausgerüstet. Die Taktik des Schlachthaufens mit Kurzwaffen und Langspiessen war definitiv überholt. Für die Schlacht wurden die Fusstruppen in kleinere Einheiten eingeteilt und auf lange Kampflinien ausgedünnt, damit diese dem Feuer der Artillerie möglichst wenig Angriffsfläche boten. Diese linienförmigen, lang gezogenen Verbände mussten im Gefecht auf Kommando mechanisch genaue Bewegungen ausführen, die in Friedenszeiten in der Garnison mit unablässigem Exerzieren und Drill eingeübt wurden. Die militärischen Einheiten wurden grösser, die Dienstdauer länger und genau festgelegt. Strengere Dienstreglemente betonten Rangordnung und Disziplin. Hatte die Beute lange einen Teil der Entlöhnung des Söldners abgegeben, so setzte sich das Verbot der Plünderung immer mehr durch.

Die Allianzen im Allgemeinen und das Soldgeschäft im Besonderen waren seit dem 17. Jahrhundert zunehmend mit strukturellen Problemen konfrontiert. Die exorbitanten Kosten für den Unterhalt der stehenden Heere und für die zahlreichen Kriege belasteten die Grossmächte. Immer häufiger blieben die jährlichen Pensionen an die Orte und deren politische Elite aus, oft erhielten Offiziere und Soldaten in den Schweizer Regimentern ihren Sold nicht oder nur verspätet. Bisweilen nahmen die ausländischen Kriegsherren selbst bei den Orten und bei Privatpersonen in der Eidgenossenschaft Kredite auf, um dringlichsten Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. In die Lücke sprangen in solchen Situationen seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auch Bankiers und Financiers, die in der Lage waren, kurzfristig grosse Summen Bargeld an die Truppen im Feld zu liefern und damit zu verhindern, dass die Verbände meuterten und kampfunfähig wurden. In der Kriegsfinanzierung betätigten sich auch Financiers aus Schweizer Handelsstädten, so etwa die St. Galler Familie Högger in Frankreich unter Ludwig XIV.

Die Kriegsherren intensivierten wegen der enorm steigenden Militärausgaben die bürokratische Kontrolle über ihre ausländischen Truppenverbände und schränkten die unternehmerische Freiheit der Soldunternehmer ein. Mit ausgabenseitiger Rationalisierung, das heisst durch die verschärfte Ausbeutung ihrer Soldaten, reagierten die Regiments- und Kompanieinhaber auf die sinkenden Gewinnmargen und auf steigende Werbekosten. Der Solddienst wurde auch für die Soldaten finanziell unattraktiver, weil die Handwerker- und Arbeiterlöhne in der Heimat nun vielfach höher lagen als der Sold. Die Militärunternehmer bekundeten zunehmend Mühe, die vertraglich vereinbarten Truppenbestände für die Kriegsherren zu rekrutieren, zumal die Zahl der Deserteure sehr hoch war. Zahlreiche Söldner nahmen Reissaus, sobald sie ihren ersten Sold, das sogenannte Handgeld, erhalten hatten, oder sie machten sich auf den Feldzügen davon. Es mehrten sich Zwangsrekrutierungen: Bettler und Landstreicher wurden verhaftet und in die fremden Dienste abgeschoben, junge Männer gerieten bei Trink- und Tanzgelagen in die Fänge professioneller Werbeagenten. Längst nicht mehr alle Soldaten in Schweizer Regimentern stammten im 18. Jahrhundert denn auch tatsächlich noch aus der Schweiz. In den bernischen Soldeinheiten stammte jeder Vierte nicht mehr aus dem Corpus helveticum. Der Anteil der Ausländer stieg jeweils dramatisch an, wenn es in den Krieg ging: Während des Siebenjährigen Kriegs stieg ihr Anteil im bernischen Regiment in Frankreich von 37 Prozent (1757) auf 56 Prozent (1763) an.11 Der hohe Ausländeranteil bereitete den Militärunternehmern Kopfzerbrechen, tolerierten doch die Kriegsherren in den Schweizer Einheiten höchstens ein Drittel Nichtschweizer. Die französische und die niederländische Militärverwaltung weigerten sich, Nichtschweizern den höheren Sold für Schweizer Soldaten zu zahlen. Gewiefte Militärunternehmer führten deswegen mitunter auch Lombarden als Tessiner Untertanen oder Schwaben als Thurgauer Untertanen in ihren Kompanielisten, weil diese Ausländer sich nur schwer von Eidgenossen unterscheiden liessen.