Mittendurch statt drüber weg - Peer Bergholter - E-Book

Mittendurch statt drüber weg E-Book

Peer Bergholter

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Beschreibung

Peer und Jochen sind Mitte dreißig, als sie darüber erschrecken, dass ihr Leben im immer gleichen Trott dahinschleicht. Und weil sie sich nicht mit der frühen Vergreisung abfinden wollen, schließen sie einen Pakt: alles aufgeben und einmal um die Welt. Sie erklären den Weg zum Ziel und entscheiden sich für richtiges Reisen – Mittendurch statt drüber weg: Flugzeuge sind tabu. Sie sind mit Bussen, Zügen und Containerschiffen unterwegs, müssen wochenlang auf ihre Weiterreise warten, überleben knapp Verkehrsunfälle und haben überall schräge Begegnungen mit Einheimischen. 15 Monate, die das Leben der beiden für immer verändern.

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Seitenzahl: 464

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Peer Bergholter / Jochen Müller

Mittendruch statt drüber weg

Zwei Freunde, ein Traum und die Reise ihres Lebens

Karten von Heike Boschmann

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

Kapitel 1: »Ich hau ab!«Kapitel 2: Rein ins GetümmelKapitel 3: Sightseeing bis zum AbwinkenKapitel 4: Russisches AllerleiKapitel 5: Flucht aus MoskauKapitel 6: »Your fate is in the hand of the FMS«Kapitel 7: TranssibirischKapitel 8: Into the wildKapitel 9: Willkommen in ChinaKapitel 10: Nur ein DorfKapitel 11: Aller Abschied fällt schwerKapitel 12: Allein auf weitem FlussKapitel 13: »Dear Mr. Officer«Kapitel 14: Frohes FestKapitel 15: Der letzte BusKapitel 16: »Woah, the Germans!«Kapitel 17: Die andere Seite VietnamsKapitel 18: Probier’s mal mit GemütlichkeitKapitel 19: Pleiten, Pech und PannenKapitel 20: Sie singenKapitel 21: UrlaubsalarmKapitel 22: Prost Neujahr!Kapitel 23: Wieder vereintKapitel 24: MultikultiKapitel 25: Heiße Ware in einer kalten StadtKapitel 26: Der Ironman unter den BusfahrtenKapitel 27: Prioritäten setzenKapitel 28: Der Weg ist das Ziel?Kapitel 29: On the RoadKapitel 30: ReisebluesKapitel 31: Sydney und darüber hinausKapitel 32: Moin, moin!Kapitel 33: Sydney unter TageKapitel 34: Regen ist keine DuscheKapitel 35: Das Ende der EinsamkeitKapitel 36: ZwischenzeitKapitel 37: Ankunft in der Neuen WeltKapitel 38: Tatort BogotáKapitel 39: Vom schnöden MammonKapitel 40: Begegnungen in VenezuelaKapitel 41: Ein gänzlich neues ProblemKapitel 42: »Eirie!«Kapitel 43: Piraten der KaribikKapitel 44: Ahoi!Kapitel 45: Wir lieben die StürmeKapitel 46: Eine Ode an den BetonKapitel 47: Angekommen?Danksagung
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Kapitel 1: »Ich hau ab!«

Peer

Über den Rand meiner Bierdose hinweg betrachte ich die verschneiten österreichischen Alpen. Mit zunehmender Dämmerung kommt die Kälte. Doch was mich zittern lässt, sind weniger die winterlichen Temperaturen hier als vielmehr das, was mich zu Hause erwartet. Bald sitze ich wieder am Schreibtisch einer Werbeagentur, werde das Gleiche tun wie in den vergangenen Jahren und mich dabei nach der Perspektive fragen. Ich werde …

Mein Freund Jochen klopft mir auf die Schulter und reißt mich aus der missmutigen Grübelei. »Na, graut es dir auch so vor Montag wie mir?« – »Mhmm« muss als Antwort reichen. Und ich weiß, er hat noch viel mehr Grund zu klagen als ich. Er ist Biologe. Tag für Tag hockt er in einer dunklen Kammer und starrt durch ein Mikroskop auf Labormäuse, die er zuvor eigenhändig ins Jenseits befördert hat. Muss ein berauschendes Gefühl sein – anders kann ich mir nicht erklären, warum ein halbwegs vernünftiger Mensch einer solchen Arbeit nachgeht. Jochen macht das im Dienste der Menschheit, versteht sich. Dennoch will ich nicht mit ihm tauschen. »Wo ist die Woche geblieben? Wir sind doch gefühlt erst gestern angekommen«, sagt er. Ich zucke mit den Schultern. Seine Zigarette glüht auf, dann seufzt er: »Ich habe keine Lust mehr«, und ich merke, dass er diesmal eine Reaktion erwartet. »Wer schon?!«, sage ich müde dahin. Schweigend nippen wir an unserem Bier und starren auf die uns umgebenden Berge, deren schneebedeckte Gipfel im Dämmerlicht glühen. Eine Woche lang haben sie uns eine Zuflucht vom Alltag geboten. Es ist friedlich hier. Es ist schön hier. Doch wir müssen wieder weg, ob wir wollen oder nicht.

»Ich hau ab«, sagt Jochen plötzlich in die Stille hinein. Es liegt eine Ernsthaftigkeit in seiner Stimme, die eine Plattitüde als Antwort ausschließt. Ich löse meinen Blick von den Bergen und sehe ihn an. Er wiederholt ungerührt: »Ich hau ab!« Es klingt mehr nach einer Feststellung als nach einem Plan. Eher beiläufig kommt mir über die Lippen, was in diesem Moment logisch erscheint: »Ich bin dabei.«

Auf dem Balkon malen wir uns, in dicke Jacken gehüllt, unsere Flucht in die Sonne aus. Worin wir uns schnell einig sind: Wir wollen so viel mehr als ein paar Wochen Urlaub im Jahr. Wir wollen raus aus der Mühle und hinein in die Welt. Und zwar jetzt, solange wir noch einen Rucksack schultern können. Wir haben schon oft darüber gesprochen, aber es blieb immer bei der fixen Idee. Ich spüre, diesmal ist es anders. Wir lassen das Gesagte so stehen und versichern uns die Ernsthaftigkeit unserer Pläne mit dem blechernen Geräusch aneinanderstoßender Bierdosen.

Der einwöchige Skiurlaub liegt zwei Monate zurück, der Urlaubsteint ist längst verblasst und jedes Erholungsgefühl der Monotonie des Alltags gewichen. Doch eines ist geblieben: der feste Entschluss, auszubrechen. Jochen und ich sprechen in der Folge oft darüber, fragen uns fast bei jedem Gespräch: »Es bleibt dabei, wir ziehen das durch, oder?« Doch mehr passiert nicht.

Wir treffen uns in Berlin. Als Jochen mich vom Bahnhof abholt, blicke ich in schwarzgeränderte Augen, die in tiefen Höhlen eines aschfahlen Gesichts liegen. Er nennt es sein Laborgesicht und behauptet, das müsse so aussehen, nur Freizeitbiologen hätten rosige Wangen. Nun schüttelt er den Kopf und sagt zur Begrüßung: »Butter bei die Fische, wir müssen planen. Wenigstens die Orte, die wir sehen wollen, festlegen.« Wenig später sitzen wir an seinem Küchentisch und rollen eine Weltkarte aus. Jochen beginnt Kreuze zu machen, bevor er mir den Stift reicht. Ich lege ihn beiseite und sehe Jochen an. »Die Ziele sind jetzt zweitrangig. Bist du dir darüber im Klaren, was uns erwartet? Wir werden uns ein Jahr lang Tag und Nacht auf der Pelle hängen. Bist du sicher, dass du das willst und kannst?«

Jochen reagiert schon fast genervt. »Glaubst du allen Ernstes, darüber hätte ich mir in den letzten Wochen keine Gedanken gemacht?« Wir kennen uns schon ewig, gingen gemeinsam zur Schule, besuchten dieselbe Universität, sind uns die Brüder, die wir beide nie hatten. Wir reden über alles, doch nun sagt Jochen: »Wir haben genug lamentiert, überdacht und gezögert. Ich hab keinen Bock mehr auf Theorie, Peer. Ich will da raus, ich will endlich Praxis.« Er drückt mir wieder den Stift in die Hand, und ich beginne, Kreuze zu machen.

Wenig später betrachten wir die Karte. Man kann vor lauter Kreuzen fast nichts anderes mehr erkennen. Schließlich beginne ich, die Kreuze durch Striche zu verbinden. Es werden kurze Striche. Während Afrika und Nordamerika herausfallen, entsteht durch den Rest eine Route, einmal um die Welt. Jochen überschlägt: »Mit einem Around-the-World-Ticket haben wir fünf Flüge weltweit. Damit sollten wir eine Weltumrundung schaffen!« Die Idee gefällt mir. »Gen Osten, immer der Sonne entgegen«, höre ich mich sagen.

Mit Blick auf die Karte stellen wir fest, dass sich ein Flug kaum lohnt. Auch die Passage über gerade mal zwei Fingerbreit Wasser nach Australien sollten wir schaffen, ebenso den Katzensprung von dort nach Neuseeland. Ich tippe mit dem Finger auf das große Blau auf der Karte. »Das sind die Flüge, die wir machen müssen«, deute ich auf den Pazifik und Atlantik. »Oder auch nicht«, entgegnet Jochen. »Aha, der Herr wird schon wieder übermütig.« Ich weiß, dass Jochen gerne über das Ziel hinausschießt. »Nein, ich meine es ernst. Wo ist dein Sinn fürs Abenteuer geblieben?« Er beugt sich über die Karte, während sein Finger von Deutschland aus durch Russland bis nach Südostasien fährt. »Bis Asien lohnt sich kein Flug. Und wenn wir schon so weit ohne Flieger kommen, können wir uns den Rest auch sparen. Die zwei popeligen Ozeane! Ist doch klasse, dann haben wir auch gleich ein Motto!«

Da ist etwas dran. Je länger ich darüber nachdenke, desto besser gefällt mir der Gedanke: Eine Weltumrundung, ohne ein Flugzeug zu besteigen. Den Weg zum Ziel machen. Ich muss grinsen. Wir stoßen darauf an. Diesmal nicht mit Dosen, sondern mit Gläsern. Aus der Idee ist ein Plan geworden. Da braucht es etwas Angemesseneres.

Wir geben uns ein Jahr. Reisen wir mit schmalem Budget und verdienen unterwegs noch etwas Geld, sollten die Ersparnisse so lange reichen. Der Zeitpunkt der Abreise: am liebsten sofort. Doch das ist nicht so einfach. Wir einigen uns darauf, bis zum Sommer alle Brücken hinter uns abzubrechen und im Herbst abzuhauen.

Sich seiner Arbeit zu entledigen sowie die Eltern zu beruhigen, dass wir aufeinander aufpassen werden, ist schwer genug. Noch schwerer ist es, das bürgerliche Leben hinter sich zu lassen. Wir kündigen jeweils unsere Wohnung, ich verkaufe mein Auto, und alles von Wert wird in Kartons verpackt und in Kellern verstaut. Und dann ist da noch ein ganz anderer Schritt zu tun. Während der Vorbereitungen ist mir eines aufgefallen: Der Alltagstrott hat auch in meine Beziehung Einzug gehalten. Schweren Herzens trenne ich mich von meiner Freundin, doch ist mir klar, dass diese Trennung nur folgerichtig ist. Wir müssen alles hinter uns lassen.

Kassen, Versicherungen, Ämter und Behörden sehen uns in den folgenden Monaten öfter als wir einander. Besonders das Gesundheitsamt. Wir lassen uns gegen alles und jeden impfen. Tollwut, Hepatitis A–Z, Gelbfieber und Tetanus sind obligatorisch. Japanische Enzephalitis? Nie gehört. »Das braucht man eigentlich nur, wenn man sich nackt mit Schweinen in einem Sumpf suhlen möchte«, erklärt die freundliche Dame vom Gesundheitsamt. Also immer her damit!

So stehen wir nun da, rund ein Jahr nach jener Nacht auf einem österreichischen Balkon: arbeitslos, obdachlos, nahezu besitzlos, von einem großen Rucksack einmal abgesehen. Dafür vollgepumpt mit allen Seren, die der Chemiebaukasten hergibt.

Visa beantragen wir zunächst nur für Russland, die Mongolei und China, weiter wollen wir uns nicht festlegen. Warum auch – der Weg ist das Ziel!

Ich gebe zu, dass mich ein mulmiges Gefühl beschleicht, jetzt, wo ich vor meinem Rucksack stehe. Doch daneben empfinde ich auch etwas anderes. Wenn man alles, was man künftig zum Leben haben wird, in einen Rucksack packen kann, überwiegt am Ende nur eines: das Gefühl der Freiheit.

INFOBOX

 

Viele Fluggesellschaften bieten Around-the-World-Tickets an, Konditionen und Preise variieren.

Über notwendige und ratsame Impfungen informieren Tropenmediziner oder das Gesundheitsamt. Plane Zeit ein, denn manche Impfungen benötigen mehrere Injektionen im Abstand einiger Wochen.

Es gibt so viele unterschiedliche Routen und Arten, die Welt zu bereisen. Kosten lassen sich daher schwer kalkulieren. Im Internet finden sich Erfahrungswerte. Wir planten mit 1000 Euro pro Person und Monat.

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Kapitel 2: Rein ins Getümmel

Jochen

Geschafft: Die Rucksäcke sind gepackt. Doch statt Freiheit spüre ich bloß meinen Rücken. Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft ich um-, aus- und neu gepackt habe. Für jedes aussortierte Teil kam ein anderes hinzu. Der Reiserucksack ist voll, der Tagesrucksack auch. Da passt nicht mal mehr eine Postkarte rein.

Doch das kümmert mich nicht mehr, denn wir sind endlich in Bewegung! Der Berlin-Warschau-Express zuckelt durch die Uckermark, die mir ebenso fremdartig vorkommt wie meine Vorstellung von Asien oder Südamerika. Nicht mal das gutturale Meckern des Schaffners kann mich stören, weder die ausgeleierten und unbequemen Sitze im Design der späten Achtziger noch der darin festhängende Moschusduft. Nicht heute. Nur mit Mühe unterdrücke ich den Drang, die Mitreisenden anzusprechen: »Guten Tag, Müller mein Name, ich bin auf Weltreise. Und selbst?« Dazu ein Zwinkern und die Finger zur Pistole geformt. Es ist der erste Tag, schon klar, dass da noch Luft nach oben ist. Doch das Potenzial ist unendlich, vor uns liegt die weite Welt.

Nachdem wir in Warschau angekommen sind, beziehen wir ein Doppelzimmer am Rande der Altstadt. Zwar frisst das beinahe unser gesamtes Tagesbudget, dafür haben wir ein eigenes Bad und einen Südbalkon. Die mittelalterlichen Gassen der Altstadt genießen wir gemeinsam mit vielen anderen Touristen im Sonnenschein. Doch etwas drängt uns. Wir wollen Polen und dem Baltikum keine allzu große Aufmerksamkeit schenken. Wer will schon seine Weltreise in der Nachbarschaft beginnen? Da kann die Gegend noch so schön sein, sie ist nicht unser Traumziel. Wir wollen weg von allem, was an daheim erinnert. Außerdem hoffen wir, dass das Leben außerhalb Europas günstiger wird.

Also weiter. Am Schalter der Station Zachodnia erträgt ein Mann meine Frage nach dem nächsten Bus nach Vilnius genervt. Stumm bearbeitet er seine Tastatur, bevor ein polnischer Wortschwall aus ihm hervorbricht. Ich schalte auf internationale Standardsprache um und kontere: »Hä?« Seine Augen funkeln gereizt, als er mich anbellt: »When?« – »Morgen, äh, tomorrow.« Wieder malträtiert er die Tastatur. Auf seine erneute polnische Ansprache zucke ich nur mit den Achseln. Er schreibt eine Zahl auf einen Zettel, ich gebe ihm die entsprechende Summe und erhalte die Tickets. Klasse. »Und?«, fragt Peer, der in der Zwischenzeit Zigaretten besorgt hat. »Jackpot«, grinse ich. »Der Verkäufer sagt schönen Gruß und wünscht gute Fahrt.« – »Nette Leute, die Polen. Die Zigarettenverkäuferin würde ich vom Fleck weg heiraten.« Aus dem Kiosk winkt uns eine bildhübsche Blondine lächelnd zu. »Das nächste Mal kaufe ich Kippen und du die Tickets.« Jetzt grinsen wir beide.

»Morgenstund hat Gold im Mund«, säusele ich, als wir am frühen Morgen in Vilnius ankommen. Peer brabbelt irgendetwas vor sich hin. Meine Wachheit ist auch nur vorgetäuscht. Das Schlafen in Reisebussen ist eine Fähigkeit, die keiner von uns beiden besitzt. Während er sich eine Kippe ansteckt, stutze ich vor dem Geldautomaten. »Hast du eine Ahnung, wie viel die Landeswährung wert ist?« Peers Antwort kommt prompt: »Ich weiß nicht mal, wie die heißt.« Scheiße.

Wir haben uns vor der Reise auf eine gemeinsame Kasse geeinigt, weil wir ohnehin alles zusammen machen, und so müssen wir nicht regelmäßig abrechnen. Und da ich mit meiner Kreditkarte weltweit gebührenfrei abheben kann, ist die Devisenbeschaffung meine Aufgabe. Ich nehme mir vor, künftig den Wechselkurs der jeweils nächsten Landeswährung genau zu studieren. »Es geht doch nichts über gute Vorbereitung«, sage ich zu mir selbst, während ich per Zufallsprinzip eine der angebotenen Summen abhebe.

Die tristen Häuser vor dem Busbahnhof passen zum grauen Himmel. Nieselregen schlägt uns ins Gesicht, und ein frischer Wind raubt unseren übermüdeten Leibern die letzte Wärme.

Auf dem Weg zur Innenstadt lobe ich unsere Weitsicht, schon im Vorfeld eine Bleibe gebucht zu haben. Doch als wir die Adresse finden und klingeln, kommt keine Reaktion. Wir warten vier geschlagene Stunden, bis wir endlich eingelassen werden. Der Anblick unseres feudal eingerichteten Zimmers vertreibt schnell alle düsteren Gedanken. Wir lassen uns in das weiche Doppelbett des »roten Salons« fallen und schlafen sofort ein. Das Bild auf der Internetseite der Pension hat nicht zu viel versprochen, die Mottozimmer sind ein Blickfang. Überzeugender war jedoch etwas anderes: Hier wird das Frühstück ans Bett gebracht! »So lass ich mir das Backpacker-Leben gefallen«, meint Peer am folgenden Tag, als wir bei Kaffee und frischen Brötchen im Satellitenfernsehen die Nachrichten anschauen. »Du hörst keinen Widerspruch.«

Nach dem letzten Frühstück im Bett genießen wir die Busfahrt Richtung Lettland. Tagsüber zu fahren hat Vorteile. Die Rechnung, dass Nachtbusfahrten uns eine Übernachtung sparen, geht nicht auf, wenn wir im Bus nicht schlafen können und nach der Ankunft den halben Tag verpennen. Außerdem bekommen wir so einen Eindruck von der Umgebung.

In Riga raten wir erneut, wie viel die Landeswährung wert sein könnte, verschätzen uns prompt und heben viel zu viel ab. Wir lösen das Problem, indem wir zwei Tage länger bleiben. Das Hostel »Cinnamon Sally« war der Tipp eines jungen Mannes, den wir bei einer kostenlosen Stadtführung kennengelernt haben. Hier ist es wie in einer großen Wohngemeinschaft. Die Sofas und Sitzkissen im zentralen Aufenthaltsraum der riesigen Altbauwohnung sind von jungen Leuten bevölkert, und in der offenen Kochnische brutzelt immer irgendjemand irgendwas. Sally, die Besitzerin, begrüßt uns, als habe sie nur auf uns gewartet. Wie unser spanischer Zimmergenosse, der eine ähnliche Reiseroute hat wie wir. Doch als wir ihn fragen, ob wir gemeinsam essen gehen, lehnt er ab. »Ich reise mit extrem schmalem Budget. Restaurants in Europa sind einfach nicht drin. Wie wäre es, wenn wir zusammen kochen?« Das sitzt. Uns wird bewusst, dass wir das Geld mit vollen Händen ausgeben und langsam gut daran täten, den Gürtel enger zu schnallen.

Wenig später sitzen wir gesättigt zusammen und erzählen von den bisherigen Reiseerlebnissen. Wir bleiben nicht lang allein. Eine Amerikanerin setzt sich zu uns und empfiehlt uns eine außergewöhnliche Unterkunft in ihrer Wahlheimat St. Petersburg. Es ist das erste Mal, dass wir mit anderen Reisenden in Kontakt kommen, und alles, was ich fühle, ist Ungeduld.

Als wir am nächsten Tag im Bus nach Tallinn sitzen, platzt es aus mir heraus: »Ein super Abend, davon will ich mehr! Davon abgesehen, dass er der günstigste bisher war. Wir müssen umdenken, Peer. So Geschichten wie bisher können wir nicht mehr bringen!« Peer guckt mich verständnislos an. »Vorgestern saßen wir geschlagene fünf Stunden in der überteuerten Panoramabar dieses Nobelhotels, nur weil der Reiseführer meint, man müsse früh kommen, um sich gute Plätze für den Sonnenuntergang über der Altstadt zu sichern«, erkläre ich. »Das nächste Mal geht’s kurz hoch, ein Foto geschossen und tschüss.« Peer erwidert: »Ach komm, es hat geregnet, und wir waren beide froh über ein trockenes Plätzchen mit Aussicht.« – »Nee, das meine ich nicht. Wir haben ein Tagesbudget in der Bar gelassen, nur weil wir bequem waren. Hätten wir das gewollt, hätten wir uns auch ein Jahr lang eine Finca auf Malle mieten können.« Jetzt sieht Peer mich kritisch an. »Also was? Soll ich den Reiseführer wegschmeißen?« – »Man muss es ja nicht gleich übertreiben«, entgegne ich. »Aber wir sollten anfangen, auch zwischen den Zeilen zu lesen, oder uns andere Tipps einholen. Schließlich wollen wir ja nicht überall das klassische Touri-Programm abspulen.« – »Da widerspreche ich dir auch nicht, aber der gestrige Abend war ein netter Zufall, wie willst du das steuern?« Genau darüber habe ich nachgedacht. »Von wegen Zufall. Wir waren zum ersten Mal nicht in einem Doppelzimmer, sondern in einem Schlafsaal. Wir haben unser Geld nicht im Restaurant verplempert, sondern mit anderen gekocht. Und schon haben wir einen Spitzenabend, neue Bekanntschaften und Tipps für die nächsten Stationen. Scheiß auf Frühstück im Bett und Doppelzimmer mit Südbalkon, ich will mehr Backpacker-Feeling!« Mit einem »Na dann …« beendet Peer die Diskussion.

Kaum haben wir die Tür zu unserem Schlafsaal in Tallinn geöffnet, kommt Peer auf das Thema zurück: »Meintest du das hier mit Backpacker-Feeling?« Wir stehen in einem leeren Zimmer aus Holzimitat und Linoleumersatz, das einzige Fenster gibt den Blick auf eine Wand aus unverputzten Steinen frei. Die zwei Zentimeter Zwischenraum zwischen Wand und Fenster sind zur Hälfte mit Sand aufgefüllt. »Hmm«, entfährt es mir. »Heimelig. Genau das meinte ich. Fehlen nur noch die Backpacker.«

Abends landen wir im »Olde Hansa«, einem 700 Jahre alten, urigen Restaurant, das sein Geld wert ist. Der Spruch »Ab morgen wird gespart« wird langsam, aber sicher zum Running Gag. Der Abschied von Estland und der EU geht im sintflutartigen Regen unter. Es ist dunkel, als wir in einem kleinen Ort anhalten. Ein Uniformierter besteigt den Bus, sammelt die Pässe aller Insassen ein und verschwindet wortlos. Vor uns liegt Russland. »Jetzt wird’s ernst«, höre ich mich sagen.

Alles, was wir bisher erlebt haben, war die Einleitung, der Prolog. Ich habe keinerlei konkrete Vorstellung darüber, was uns erwartet, und genau deshalb bin ich so fasziniert, dass mein Herz anfängt zu hüpfen. Es ist nicht die erste Grenze mit Passkontrolle, die ich in meinem Leben passiere. Aber das hier ist Russland. Ehemaliger Erzfeind, nun lupenrein demokratischer Gaslieferant, größtes Land der Erde und für mich so unerforscht wie die Marsoberfläche.

Als wir den Bus verlassen müssen, erlebe ich aber statt Abenteuer nur Enttäuschung. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber das hier sieht aus wie eine gewöhnliche Grenze. Eine, die schon bessere Zeiten gesehen hat. In der Baracke stehen wir Schlange, unsere Pässe werden überprüft, die Visa gestempelt, und das war’s. Nicht mal die Gepäckstücke werden geröntgt, und kein martialischer russischer Militär mit Furcht einflößender Kiefermuskulatur stellt mir Fragen zu meiner vermeintlichen Geheimdienstvergangenheit.

Draußen wartet bereits Peer mit einer Kippe im Mundwinkel. »Das war alles?« Er zuckt mit den Achseln und grinst. »Herzlich willkommen in Russland, Towarischtsch!« Vier Stunden später spuckt uns der Bus im Morgengrauen an einer Hauptverkehrsstraße am Stadtrand von St. Petersburg aus. Ich kann nicht an mich halten und schreie laut »Juhuu« in den russischen Himmel. Wir beide sind euphorisch, trotz Müdigkeit und steifem Rücken. Gefühlt bin ich unterwegs öfter aufgewacht als eingeschlafen, doch das schert mich nicht. »Ab jetzt wird alles anders«, sage ich. »Ab jetzt geht die Reise richtig los!«, entgegnet Peer. »Ab jetzt wird gespart«, bringe ich den Dauerbrenner. Mehr oder minder problemlos finden wir unseren Weg zum Ligovsky-Prospekt, wo in einer alten Fabrikhalle das Etagi Kunstatelier-Showroom-Hostel-Szenecafé-weiß-der-Teufel-was residiert, und werden von einer Frau empfangen, die uns beide total umhaut. »Junge, Junge«, zwinkert mir Peer zu, als wir auf sie zugehen. »Ich weiß genau, was du meinst«, antworte ich. »Wenn alle Russinnen so aussehen, bleib ich hier.« Ich weiß nicht, ob es diese Worte sind, die das Übel heraufbeschwören. Aber es soll nicht allzu lange dauern, bis wir uns an diesen Spruch erinnern und uns wünschen werden, wir hätten die Klappe gehalten.

INFOBOX

 

Polen und die baltischen Länder sind gut durch Fernbusse vernetzt.

In Riga haben wir die erste von vielen »Free City Tours« gemacht. In vielen Städten gibt es diese von Privatleuten organisierten Städteführungen, die wir vorbehaltlos empfehlen können. Sie zeigen keine Hauptattraktionen, sondern das, was für Einheimische ihre Stadt ausmacht. Termine und Startorte findest du im Internet oder in Hostels. Am Ende der kostenlosen Führung solltest du Trinkgeld geben.

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Kapitel 3: Sightseeing bis zum Abwinken

Peer

Ich muss blinzeln, als ich das Auge vom Kamerasucher löse und in die St. Petersburger Nacht schaue. Vor etwa fünf Stunden begann unsere Fotosafari durch die nächtliche Metropole. Es ist anstrengend, die nördlichste Millionenstadt der Welt zu Fuß zu erkunden. In unserer Naivität sagten wir uns beim Blick auf den Stadtplan: »Die zwei Fingerbreit auf der Landkarte sind doch schnell gelaufen« – sprachen’s und wunderten uns dann über schmerzende Füße und brennende Waden am Abend. In Russland sind die Dimensionen andere als im beschaulichen Baltikum.

Müde fokussiere ich Jochen. Ihn scheint die nächtliche Fototour nicht zu ermatten. Wie ein junger Hund ohne Leine jagt er begeistert hierhin und dorthin, stets die Kamera im Anschlag. Mal liegend, mal kniend, mal auf eine Bank kletternd, das Objektiv auf nahezu jede Fassade und jede Freske richtend. Während ich mich erschöpft auf eine Bank sinken lasse, erreicht mich Jochen. »Alter, Alter, Alter«, sprudelt es aus ihm heraus, »hier muss man sparsam mit den Sinneseindrücken sein, sonst kommt der Neokortex mit dem Filtern nicht mehr nach.« – »Danke, Herr Doktor! Ich hab’s wohl etwas übertrieben mit dem sensorischen Input. Ich könnte mal eine Pause vertragen. Besser noch, wir machen Feierabend«, schlage ich vor. Wir hecheln bereits seit drei Tagen durch St. Petersburg. Meistens zu Fuß. »Papperlapapp«, entgegnet Jochen. »Wir müssen noch die Newa-Brücken ablichten.«

Da war es wieder! »Wir müssen.« Immer öfter höre ich: Wir müssen hierhin und dorthin, müssen dieses oder jenes sehen, machen, fotografieren. Müssen wir wirklich? Wir sind seit zwei Wochen unterwegs, und ich fühle mich wie ein Vorzeigetourist: die wichtigen Sehenswürdigkeiten aufsuchen, fotografieren, und weiter geht’s. Mir kommt die Idee, Jochen am nächsten Tag in die Eremitage zu schleifen. Dort wird ihm die Lust am Sightseeing schon vergehen.

Als wir tags darauf nach zwei Stunden des Wartens vor dem Winterpalast, der die Eremitage beherbergt, immer noch in der Schlange stehen, wird Jochen immer unruhiger. Dann können wir von unserem Platz in der Warteschlange aus die Tafel mit den Eintrittspreisen erspähen, und die Quengelei gewinnt noch einmal an Dynamik: »Biste sicher, dass sich das lohnt? 600 Rubel für bunte Bilder?« – »Es ist nicht irgendein Museum, und 600 Rubel sind gerade einmal 15 Euro«, kontere ich.

Es ist bereits früher Nachmittag, als wir endlich durch einen der prunkvollen Treppenaufgänge in den Palast hinaufsteigen. Nach kurzer Zeit bereits überfordert uns die »Petersburger Hängung«. Porträts ehemaliger Herrscher, ihrer Gattinnen und Lieblingshunde hängen vom Boden bis zur Decke so dicht, dass man die Wand nicht mehr sieht. Wir beschränken uns fortan darauf, den Palast zu durchschreiten, mit einem eher beiläufigen Blick auf die Weltkunst, die uns umgibt. Unseren rudimentären Kunstsachverstand bringen wir gelegentlich zum Ausdruck: »Oh, Picasso! Versteh ich nicht …« Und weiter. Ohne die Zeit, auf die einzelnen Kunstwerke einzugehen, ist für uns der Palast selbst das eigentliche Kunstwerk.

An diesem Abend beschließen wir feierlich, dass es das mit dem Kulturprogramm in St. Petersburg gewesen sein soll. Nachdem wir auch schon die zaristischen Lustschlösser Peterhof und Katharinenpalast inklusive Bernsteinzimmer und allem Drum und Dran besucht haben, fasse ich meine wieder aufgefrischten Eindrücke zusammen: »Ich kann kein Gold mehr sehen.« – »Ich weiß, was du meinst. Genug ist genug. Ein Wald wäre mal wieder schön«, bestärkt mich Jochen, und wir planen, es in der verbleibenden Zeit etwas ruhiger angehen zu lassen. Außerdem bekommen wir Kultur hier quasi direkt ans Bett geliefert.

Das »Location Hostel« im »Etagi Loft Projekt« ist mehr als ein Hostel. Es ist eine relativ günstige Schlafgelegenheit inmitten einer Kunstgalerie, beheimatet in einem alten Fabrikgebäude in recht zentraler Lage. Komischerweise steht zwar die Kunstgalerie als Tipp in unserem Reiseführer, nicht aber das Hostel, das uns in Riga von einer Amerikanerin empfohlen wurde. Unser Glück, scheint es sich doch um einen Geheimtipp zu handeln. Die großzügigen, lichtdurchfluteten Lofts dienen als Ausstellungsräume für moderne Kunst oder als Schlafsäle. Man kann nicht ins Bett gehen, ohne zuvor an einer Ausstellungswand vorbeizukommen. Die Rezeption befindet sich im offenen Aufenthaltsraum mit Küche, und die zahlreichen Sitzgelegenheiten erscheinen wie Exponate in einer Ausstellung. Wir brauchen ein paar Tage, bis wir uns selbst nicht mehr als Kunstobjekte fühlen, wenn wir, nur mit Shorts bekleidet und einem Handtuch über der Schulter, durch die Besuchertrauben zum Waschraum schlurfen. Auffällig ist auch, dass außer uns nur wenige ausländische Gäste dort absteigen. Zumeist handelt es sich bei den Bewohnern um junge Russen – Künstler, Fotografen oder Models –, die hier wohnen und hoffen, irgendwann in der St. Petersburger Künstlerszene Fuß zu fassen. Das Hostel hat seinen ganz eigenen Charme, auch wenn man sich daran gewöhnen muss, dass man morgens von den Techno-Beats einer Videoinstallation auf dem Gang vor dem Zimmer geweckt wird. Oder daran, dass man aus dem Bett fällt, nur um in eine Gruppe Kunstinteressierter zu stolpern, die zwischen einem fauligen Morgenodem und der ersehnten Zahnbürste stehen. Auf der anderen Seite fällt es leicht, hier mit jungen Russen in Kontakt zu kommen. Wir bekommen die eine oder andere Lebensgeschichte zu hören und lassen uns Träume von einer großen Künstlerkarriere in den schillerndsten Farben ausmalen.

Und dann sehen wir ihn doch zwischen all den hoffnungsvollen Nachwuchskünstlern: einen Rucksackreisenden aus Westeuropa. Jochen muss mich darauf hinweisen, da ich den unscheinbaren Burschen hinter seinem aufgeklappten Laptop im angegliederten Restaurant nicht gleich bemerke: »Guck dir den an! Der ist in der schönsten Stadt der Welt und hat nix Besseres zu tun, als sich hinter seinem Laptop zu verschanzen und Filme zu glotzen.« Als der Filmegucker seine Kopfhörer abzieht und merkt, dass er beobachtet wird, kommen wir ins Gespräch. Tom aus England erzählt uns von seinen Reiseerlebnissen. Auf den Filmabend im Hostel angesprochen, verrät er uns: »Ich bin schon ein paar Monate unterwegs und habe tatsächlich schon Traveller mit einem Reise-Burnout getroffen.« – »Reise-was?«, zeigt sich Jochen schockiert. »Das ist doch ein Widerspruch in sich.« – »Nicht im Geringsten. Wenn du zu viel Programm in zu kurzer Zeit abspulst, dann kann eine Reise schon in echte Arbeit ausarten«, versucht Tom uns zu erklären. Oder uns zu veräppeln? Jochen und ich schauen einander an, schütteln die Köpfe und denken dasselbe: So was kann uns nie passieren.

INFOBOX

 

Das Etagi Loft Projekt ist ein Geheimtipp. Diese Mischung aus Kunstgalerie und Hostel ist erschwinglich und definitiv ein Erlebnis.

Jedes Auto in Russland ist ein potenzielles Taxi. Man hält es an der Straße an, und wenn der Fahrer in die gewünschte Richtung fährt, verhandelt man den Preis und steigt zu. Das ist in jedem Fall günstiger als ein reguläres Taxi. Sprach- und Ortskenntnisse sind von Vorteil.

Russland ist nicht unbedingt für seine Küche berühmt. Soljanka oder Borschtsch sind die Klassiker aus dem Suppentopf, Pelmeni – gefüllte Nudeltaschen – sind eine willkommene Abwechslung. Als Snack bieten sich gefüllte Teigtaschen an, die man an jeder Ecke bekommt.

Das Preisniveau in den Metropolen im europäischen Teil Russlands ist extrem hoch.

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Kapitel 4: Russisches Allerlei

Jochen

Der Nachtzug spuckt uns am Moskauer Nordbahnhof aus. Die russische Hauptstadt zeigt uns die kalte Schulter, mit Temperaturen um den Gefrierpunkt und Schneeregen. Stadt und Himmel präsentieren sich ebenso aschgrau wie das Gesicht, das mich vorhin im Spiegel erschreckte. Peer fragt sorgenvoll: »Wird’s gehen? Soll ich dir mit dem Gepäck helfen?« Ich schüttele nur den grippevernebelten Kopf, was mit Schmerzen quittiert wird.

Mit vollem Marschgepäck schleppen wir uns in Richtung der nächsten Metrostation. Auch an Peer ist die Nacht nicht spurlos vorübergegangen. Zwar zeigt er Gesundheit und Frische eines Rehkitzes, allerdings auch dessen wackelige Beine. Meine letzte Erinnerung aus dem Nachtzug von St. Petersburg nach Moskau ist Neid beim Anblick meines Gegenübers. Der Rentner lag wie von kundigen Yoga-Meistern in den Sitz gefaltet und schlief seelenruhig. Ich hingegen wachte immer dann wieder auf, wenn mein Kopf wegsackte. »Sparen gut und schön, bei der nächsten Nachtfahrt gönnen wir uns aber wenigstens einen Liegewagen. Ist in der Holzklasse auch nicht viel teurer als diese Foltersitze.« Peer atmet tief ein, erspart mir aber die Reaktion auf mein Gejammer.

Die Metrostationen im Moskauer Innenstadtbereich erinnern an feudale Ballsäle. Marmor und Kronleuchter, so weit das Auge reicht. Irgendwann gehen die architektonischen Ausschweifungen der Metrostationen in ein funktionelles, mausgraues Einheitsgekachel über. Wir sind in den Randbezirken angekommen. Den Weg hierher haben wir unserem schmalen Budget zu verdanken. Es ist völlig illusorisch, eine Bleibe im Zentrum zu finden, wenn man, so wie wir, auf das Geld achten muss.

Nachdem wir in unseren Schlafsaal dürfen, gibt es kein Halten mehr. Dem Ausschlafen folgt eine mehrtägige Erkundungstour durch Moskau, die bei uns beiden sehr unterschiedliche Spuren hinterlässt. Ich kann nicht verstehen, wie Peer es schafft, sich für diese Stadt zu begeistern. Selbst wenn ich die lähmende Wirkung der Viren mit einberechne, zieht mich diese Stadt nicht in ihren Bann. Die Größe Moskaus ist sicherlich beeindruckend. Und wenn ich jemals wiederkehre, dann ist mir hoffentlich das Glück hold und ich erlebe die Stadt ohne Triefnase und Brummschädel, dafür aber mit einem Himmel, dessen Farbe mich nicht an die Kiemen verwesender Fische erinnert. Peer mahnt an, ich müsse die Stadt im Kontext sehen, aber selten hat mich der Kontext weniger interessiert. Ich sehe riesige Männer, die Arme dicker als meine Oberschenkel, mit automatischen Waffen Nobelkarossen bewachen, derweil wenige Meter weiter ein altes Mütterchen in den kalten Regen getrieben wird, weil der Leibwächter ihren Unterstand, einen überdachten Hauseingang, freihalten will. Ich sehe in den Palästen der Metro bewusstlose Menschen auf dem nackten Boden liegen, über die Heerscharen von Moskauern einfach hinwegsteigen. Kontext? Ich sehe Menschen, die mit hochgezogenen Schultern eilig durch die Stadt gehen. Ich dachte schon, in Berlin hat es jeder eilig. Aber auch wenn das sicherlich sehr subjektiv ist, scheinen die Leute in Berlin irgendwo hinzuwollen. Die Moskauer scheinen mir eher von irgendwo wegzuwollen. Dass dies Moskau selber ist, ist meine böse Vermutung, derweil Peer nur sagt, ich solle mich auskurieren, sonst zöge ich ihn runter.

Apropos runterziehen. Unser Hostelzimmer beherbergt insgesamt zehn Betten, allesamt belegt von Männern, die sich vor allem durch akustische Verteidigung der Reviergrenzen auszeichnen. Mit einer Verve, die ich bis dahin nur von internationalen Sportveranstaltungen kannte. Neun Hochleistungsschnarcher und ein Fieberopfer, das ist, gelinde gesagt, keine gute Mischung. Zumindest nicht für das Fieberopfer. Es nötigt mir eine gewisse Bewunderung ab, wie diese Männer sich untereinander koordinieren. Sie orchestrieren ihre Atemrhythmen derart passend, dass sich eine geschlossene Tonfolge ergibt, die sich systematisch einmal um mich herum durch alle Betten zieht. Und mich in der Mitte liegend in eine Resonanz versetzt, die jeden Schlaf unmöglich macht. Aus dem Spind fische ich die Ohropax, um wenigstens etwas Schlaf zu bekommen. Ehre und mein lebenslanger Dank dem Erfinder dieses großartigen Produkts. Es avanciert zum wichtigsten Utensil der Reise und hat meine Freundschaft zu Peer gerettet.

Tags darauf stehen wir vor dem Roten Platz, der Schneeregen trübt die Sicht. Der Kreml ist in Stahlgerüste gehüllt, das GUM-Kaufhaus ebenso, das Lenin-Mausoleum geschlossen, der gesamte Rote Platz abgesperrt und eingezäunt. Ein Passant erklärt uns, dass es dort bald eine Großveranstaltung mit Lichtshow gebe. »Da feiert sich der Kreml mal wieder selbst«, nennt er uns als Begründung für die Unzugänglichkeit des berühmten Platzes. Wir brechen den letzten Sightseeing-Tag ab und fahren zurück in unser Hostel, um unsere Rucksäcke für die Weiterfahrt nach Osten zu packen und uns auszuruhen. Was man eben so denkt, wenn man keine Ahnung hat, was einen erwartet …

Zurück in der Unterkunft, treibt es mich auf die Toilette. Besetzt. Wie kurze Zeit später auch. Und darauf immer noch. Im Aufenthaltsraum lungern einige unserer Zimmergenossen herum und scheinen nichts mit sich anfangen zu können. Wir sind die einzigen Reisenden in unserem Zimmer, ansonsten nur russische Tagelöhner, die sich nicht mehr als ein Stockbett in den Randbezirken leisten können. Eine Volkszählung ergibt, dass nur einer unserer Mitbewohner fehlt. Ich hämmere an die Toilettentür. Keine Reaktion. Dann stelle ich fest, dass die Tür nicht verschlossen, sondern von innen blockiert ist. Da stimmt was nicht.

Mit Kraft gelingt es mir, die Tür ein wenig zu öffnen und das dahinter befindliche Hemmnis aus dem Weg zu schieben. Als der Spalt breit genug ist, um durchzuschauen, staune ich Bauklötze: Dort liegt unserer fehlender Mitbewohner auf dem Boden. Die Hose auf halbmast, scheint ihn der sprichwörtliche Blitz beim Scheißen getroffen zu haben. Beweis: ein deutlicher, ringförmiger Abdruck auf den Schenkelunterseiten und dem Gesäß, das er mir entgegenstreckt. Der Geruch verrät schnell, dass der Blitz einer Wodkaflasche entfahren sein muss. Jeder Versuch, den Besinnungslosen zu wecken, schlägt fehl. Doch der Puls ist fühlbar. Immerhin.

Besorgt wende ich mich an die Rezeptionistin, die sich missmutig Richtung Toilette aufmacht und einen desinteressierten Blick auf unseren Zimmerkameraden wirft. Mein naiver Vorschlag, wegen dieser Alkoholvergiftung eine Ambulanz zu rufen, scheint sie zu überraschen. »An ambulance? Seriously?« Damit trottet sie gemächlich zurück zur Rezeption. Peers Reaktion auf meinen Fund ist da schon konstruktiver: Er bricht in schallendes Gelächter aus. Nachdem er sich gefangen hat, überzeugt er mich, es doch noch mal mit grobem Schütteln zu versuchen. Und tatsächlich öffnet der schon fast Totgeglaubte die Augen! Ein Auge, um genau zu sein, und das auch nur halb. Er hebt den Kopf, blickt sich kurz um und lallt: »What am I doing on the bathroom floor?« – »That is exactly the question, my friend«, ist alles, was ich darauf entgegnen kann. Dann fällt mir der Krankenwagen wieder ein, und ich gehe zur Rezeption, um ihn abzubestellen. Selten habe ich einen Blick gesehen, der so deutlich »Hab ich doch gesagt« ausdrückt.

Auf dem Weg zu unserem Zimmer kommt mir ein kichernder Peer entgegen. Auf meine Frage, was abgeht, deutet er lediglich wortlos in den Schlafsaal. Da finde ich unseren neuen Freund selig schlummernd im Bett, inklusive Schuhen und Hose. Freilich ohne Letztere hochgezogen zu haben. Der abdruckumrundete, zartrosa Vollmond, der steil in unseren Schlafsaal ragt, tut dies unverändert den ganzen restlichen Abend und entlockt jedem Zimmergenossen beim ersten Anblick große Augen.

Als mich am nächsten Morgen das Schnarchgewitter aus der Koje und die Müdigkeit zur Kaffeemaschine treiben, bleibe ich auf der Türschwelle zur Gemeinschaftsküche wie angewurzelt stehen. Dort sitzt unser russischer Komapatient, vor sich einen Teller mit Pflaumen und eine Wodkaflasche, aus der er sich gerade ein Wasserglas voll einschenkt. Irgendwie scheint er mich zu erkennen und hält mir die Flasche hin. »You want Wodka?« Ohne näher auf die Frage einzugehen, platzt es aus mir heraus: »So, you’re alive. Don’t you have a hangover?« Verwirrter Blick, ein leichtes Zucken im rechten Augenlid. Unverständnis. »A headache?«, präzisiere ich. Seine Augen gehen auf, jetzt versteht er mich. »Headache, yes, yes! Wodka helps, good medicine!«, strahlt er, die Wodkaflasche immer noch einladend schwenkend. Ich kann es nicht fassen. Da steht auf einmal ein schlaftrunkenes Monchhichi hinter mir und reibt sich die Augen, irgendwas von »Wasnhierlos« brabbelnd. Peer. Ich zeige wortlos auf unseren Kollegen und zucke nur die Schultern. Wir lehnen die Einladung zum Frühstück dankend ab, und Peer sagt das Einzige, was ihm dazu einfällt: »Ich mag keine Pflaumen.«

INFOBOX

 

Wer sparen muss, dem seien die gefüllten Teigtaschen oder Kebab an Straßenständen angeraten, die in und vor vielen Metrostationen verkauft werden. Nahrhaft und die günstigste Alternative zu den Preisschlagern Instantsuppe und Dosenfisch.

Merke: Nicht in allen Restaurants gilt Bier als alkoholisches Getränk. Sieh in der Karte unter »Soft Drinks« nach, vielleicht findest du es dort.

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Kapitel 5: Flucht aus Moskau

Peer

Der Schweiß rinnt mir in Strömen über das Gesicht, vor mir sehe ich wie durch einen Schleier Jochens Rucksack auf und ab tanzen. Im Gleichtakt schwingt auch mein Rucksack, der mit jedem Schritt schwerer zu werden scheint. Mit der Provianttüte in der Hand fahre ich mir über die nasse Stirn. Ich sehe das Ende des Zuges, sehe den in der Wagentür stehenden Schaffner, der uns ungerührt beobachtet. Noch fünfzig Meter bis zum letzten Waggon des Zuges, den wir unbedingt erreichen müssen. Der Schaffner in der Tür winkt, jedoch nicht uns. Noch zwanzig Meter. Wir erreichen die Tür. Jochen wedelt mit dem Ticket und will aufspringen, der Schaffner würdigt den Fahrschein eines flüchtigen Blickes und schüttelt den Kopf. »Weiter!«, gibt er uns zu verstehen. Wir dürfen nicht einsteigen, müssen zu unserem Waggon. Jochen stürmt weiter, und ich sehe, wie er sich mit einem beherzten Sprung in den Zug rettet. Noch zehn Meter. Ich gebe alles und bekomme die Türstange des anrollenden Zuges zu fassen. Mit letzter Kraft schwinge ich mich hinein.

Geschafft! Keine Sekunde zu früh, denn hinter mir fällt die Tür ins Schloss, und der Zug setzt sich in Bewegung. Pünktlichkeit ist der russischen Eisenbahn heilig. Der Schaffner klopft uns auf die Schultern: Die Fahrscheine bitte! Sie werden nach skeptischer Musterung akzeptiert, und wir können uns mit Sack und Pack zu unseren Plätzen quälen. Dort angekommen, befreie ich mich aus dem Würgegriff meines Rucksacks und sinke mit einem offenbar sehr lauten Stöhnen auf meinen Sitz. Jochen, normalerweise nicht so schnell kleinzukriegen, reißt sich die Winterkleidung vom Leibe und schaut mich kopfschüttelnd an. Sein Blick verheißt gleichermaßen Erschöpfung wie Empörung. »Mein lieber Scholli, das war knapp«, keucht er. »Was für ein Chaos, die blicken hier ja selber nicht durch, wie sollen wir dann …«, setzt er an, allerdings bin ich noch nicht in der Lage, seiner Tirade zu folgen. Natürlich weiß ich, worauf er anspielt.

Eine Stunde vorher. Wir hielten uns für besonders zeitgemäß, unsere Zugtickets nach Vladimir am Goldenen Ring online zu bestellen. In St. Petersburg erklärte uns die Hostelangestellte das Prinzip, es erschien ein wenig umständlich, aber es funktionierte: im Netz buchen und zahlen, die Bestätigung ausdrucken und am Bahnhof gegen einen Fahrschein eintauschen. Bei unserer ersten Zugfahrt von St. Petersburg nach Moskau hat das auch genau so geklappt. Nicht so dieses Mal.

Rechtzeitig am Kazaner Bahnhof in Moskau eingetroffen, durchschritten wir mit unseren E-Tickets in der Hand die gewaltige Wandelhalle. Servicefenster, so weit das Auge reichte, doch lediglich zwei waren geöffnet. Am ersten Schalter zeigten wir unsere Ausdrucke in freudiger Erwartung, diese in Tickets umtauschen zu können. Das unwirsche »Njet!« des Uniformierten hinter dem Glas wurde begleitet von einer unbestimmten Geste in Richtung der Abfahrtshalle. Nun gut, versuchen wir es dort. Wir fanden unseren Bahnsteig und unseren Zug, jedoch keine weiteren Schalter. Also zurück. Dort rauschte mit einem abweisenden Zischen das Rollo direkt vor unserer Nase herunter. Schalter geschlossen. Na prima. Auf zum nächsten. Dort das bekannte Spiel: Kopfschütteln und ein Wink in eine unbestimmte Richtung, diesmal weg von den Gleisen.

Sollte es hier mehrere Schalterhallen geben? Verzweifelt realisierten wir, dass die Zeit langsam knapp wurde. Mehr durch Zufall fanden wir tatsächlich eine zweite Schalterhalle. Endlose Reihen geschlossener Fenster, nur eines mit hochgezogenem Rollladen. Dieser Schalter war zwar geöffnet, aber nicht besetzt. Auf unser hektisches Klopfen an der Scheibe näherte sich gemächlich eine Dame mit einer Stulle in der Hand. Jochen presste das Papier an die Scheibe und verlieh Ratlosigkeit und Zeitdruck mit entsprechender Gestik Ausdruck. Die kauende Matrone zeigte sich unbeeindruckt, warf einen kurzen Blick auf die vermeintliche Buchungsbestätigung, sprach ein »Njet« und wendete sich ab. Während Jochen allmählich seine Stimme hob, zog ich ihn weg und sagte: »Vergiss es. Wir steigen jetzt mit den Zetteln in den Zug. Mehr als uns wieder rauswerfen können sie nicht.« Auch wenn ich selbst nicht ganz davon überzeugt war, da ich nicht wusste, wie man in Russland mit Schwarzfahrern verfährt. Uns lief die Zeit davon, in zwei Minuten sollte unser Zug fahren. Wir sprinteten zu unserem Gleis …

Ein Stoß in die Seite holt mich in die Gegenwart zurück. Der Ellbogen gehört zu einem jungen Mann, der mir jetzt den erhobenen Daumen zeigt. Diese Geste ist ebenso international wie das »Eieiei«, das eine ältere Dame vom Nachbarsitz ausstößt und das so viel bedeutet wie »Das war knapp«. Allerdings.

Langsam kommen wir wieder zu Atem. Mit freundlichem Nicken reicht uns die Dame eine Tüte selbstgebackener Kekse und schenkt uns ungefragt Tee ein. Der jüngere Russe verschwindet zum Ende des Waggons, von wo er kurz darauf mit drei Flaschen Bier zurückkehrt. Er hält sie uns hin und strahlt: »Welcome to Russia!«

Mehr aus Höflichkeit nehmen wir das dargereichte Bier entgegen und prosten unseren Mitreisenden zu. Wir befinden uns in der dritten Klasse, Platzkartny genannt, die für jeden Reisenden eine Schlafpritsche in einem Großraumabteil bereithält. In offenen Viererabteilen und entlang des Ganges befinden sich doppelstöckige Liegen, das Gepäck wird darunter verstaut. In der russischen Holzklasse geht es weniger gemütlich, dafür umso geselliger zu. Kaum haben wir uns ein wenig erholt, bemerken wir, auch ohne ein Wort zu verstehen, dass wir Mittelpunkt des Waggongespräches sind. Fröhliches Geschnatter, einiges Deuten in unsere Richtung und Gelächter. Der Bier holende Russe beeindruckt mit einigen Brocken Englisch. Er übernimmt die Rolle des Dolmetschers, auch wenn die Übersetzungen fragmentarisch sind. Wo kommen wir her, wo wollen wir hin? Was machen wir überhaupt in Russland, und wieso fahren wir als einzige Touristen in der dritten Klasse? Und warum sind wir so außer Atem? Neugierige Gesichter schauen uns aus den anderen Kojen an. Mehr mit Gesten als mit Worten geben wir Auskunft. Als wir von den Problemen mit unseren Fahrkarten berichten, herrscht Unglauben. Ein E-Ticket hat hier noch niemand gesehen. Staunend wird das Papier herumgereicht. Niemand kann uns sagen, warum wir dieses Mal mit dem Ausdruck reisen dürfen anstatt mit dem dafür eingetauschten Ticket. Schulterzucken und weitere »Eieiei« verstehen wir als: Mal so, mal so.

Scheinbar gut gelaunt beobachtet ein Mann mittleren Alters von seiner Liege aus unsere Kommunikationsversuche. Plötzlich richtet er sich auf und spricht uns an. Auf Deutsch! Er habe als Luftwaffeningenieur gearbeitet und sei einige Jahre in Magdeburg stationiert gewesen, erzählt er. Aber das sei natürlich vor der Wende gewesen, in den guten alten Zeiten. So plaudern wir holprig, doch munter mit unseren Mitreisenden. Die älteren Damen in unserem Abteil, erfahren wir, sind auf dem Weg, ihre Kinder zu besuchen. Bis sie dort eintreffen, bemuttern sie uns. Wir werden mit Tee, Gebäck und Obst versorgt. Kaum dass wir die Außenbezirke Moskaus hinter uns gelassen haben, ist der gesamte Stress verflogen.

Die Fahrt von Moskau nach Vladimir dauert nur gut vier Stunden, doch die vergehen wie im Flug. Die Herzlichkeit der Russen umfängt uns von der ersten Minute im Zug an, und ich beobachte Jochen, der neben mir aufgeregt gestikuliert. Dann wendet er sich mir zu. »Wenn ich richtig verstehe, haben uns die Damen gerade zu ihren Familien eingeladen«, sagt er ungläubig. Ich lächle. »Langsam begreife ich, warum du so ein Faible für Russland hast«, sagt er. »Eher für die Russen. Und auch nur, solange sie keine Uniform tragen«, stelle ich richtig.

Als wir in Vladimir aussteigen, haben wir das Gefühl, Freunde gefunden zu haben. In der Stadt selbst gibt es für uns allerdings wenig zu sehen. Wir folgen einem Hinweis und wollen im nahe gelegenen Suzdal das »wahre Russland« erleben, wie es die Rezeptionistin in Moskau ausdrückte. Gäbe es in Suzdal eine erschwingliche Bleibe, wir hätten Vladimir wohl ausgelassen. So ist die defekte Heizung des einzigen Hostels der Stadt im russischen Spätherbst das prägendste Erlebnis dieser Tage. Doch auch für Suzdal reicht uns ein Tagestrip: menschenleere, ungeteerte Straßen, gesäumt von ebenso reichverzierten wie windschiefen Holzhütten, Schneeregen und ein ausgeglichenes Verhältnis von Kirchen zu Einwohnern. In allen Größen schießen die Sakralbauten wie Pilze aus dem Boden. Manchmal frisch getüncht, manchmal dem Verfall preisgegeben – nach einem Spaziergang durch den Ort glauben wir, dass diese Stadt, die zu den ältesten russischen Siedlungen zählt, einst ein religiöses Zentrum und eine beliebte Pilgerstätte war.

Da diese klerikale Geisterstadt aber sonst nicht viel mehr zu bieten hat und uns auch der ausgekühlte Schlafsaal in Vladimir nicht wirklich zum Verweilen einlädt, packen wir unsere Sachen, voller Sehnsucht nach einer Nachtfahrt in einem beheizten russischen Zug. Ostwärts nach Nizhny-Novgorod. Platzkartny natürlich. Diesmal stressfrei.

In russischen Zügen ist das Rauchen gestattet. Zumindest zwischen den Waggons vor den Toiletten. Was kräftig genutzt wird. Es dauert keine Zigarettenlänge, und wir sind von einem halben Dutzend Russen umringt, die aufgeregt auf uns einreden. Dass wir nicht verstehen, macht nichts. Einer der Raucher kramt eine Wodkaflasche hervor und hält sie uns hin. »Wodka: connecting people!«, strahlt uns der Teenager an. Das verstehen wir.

Der ersten Zigarette folgt die zweite, der ersten Wodkaflasche die nächste. Diese auszuschlagen ist schlicht unmöglich. Offenbar hat jeder Zugreisende hier eine Wegration Branntwein im Gepäck, die er mit uns teilen möchte. Inzwischen drängen wir uns zu zehnt, sich umzudrehen ist nicht möglich, und die Rauchschwaden begrenzen die Sicht auf eine Armlänge. Doch das reicht. Auch eine Englisch sprechende Studentin gesellt sich dazu und versteht sich als unsere persönliche Dolmetscherin. Das erleichtert die Kommunikation ungemein. Lebensgeschichten werden ausgetauscht, Familienfotos gezeigt und Einladungen ausgesprochen. Schon bald liegen sich alle lallend in den Armen. Mein Versuch, mich dezent aus der Affäre zu ziehen und mich auf meine Pritsche zu verkrümeln, scheitert im Ansatz. Wo ich denn hinwolle, wir seien noch längst nicht da und hätten noch einige Stunden, lautet der allgemeine Tenor. Es sei nun an der Zeit, mich zu revanchieren, lenke ich ein und verwerfe den Gedanken an eine Mütze Schlaf. Ich suche die Zugbegleiterin auf, die für alle durstigen Reisenden die letzte Hoffnung darstellt. Doch ich komme zu spät. Wodka sei ausverkauft, gibt mir die Dame bestimmt, aber freundlich zu verstehen. Was nun? Wir haben uns den ganzen Abend aushalten lassen. Die gute Kinderstube gebietet ein Nehmen und Geben. Das Einzige, was die Zugbegleiterin noch im Ausschank hat, ist eine Flasche Scotch für einen unverschämten Preis. Mit den Touris kann man es ja machen, denke ich bei mir, während ich ein Bündel Scheine aus der Tasche nestle. Dass landestypische Getränke nicht mehr verfügbar sind, stört die illustre Gesellschaft in unserer Raucherecke nicht weiter. Dass ich überhaupt auf die Idee komme, selbst eine Runde zu schmeißen, sehr wohl. Ich wittere verletzten Stolz, wir scheinen den Russen ihre Rolle als großzügige Gastgeber streitig zu machen. Mit Hilfe meiner Dolmetscherin und etwas diplomatischem Geschick gelingt es mir, die Wogen zu glätten und auf die gute deutsche Tradition hinzuweisen, dass man Großzügigkeit mit ebenderselben vergelte. Es klappt, und so wird weiter geraucht, gezecht und gelacht. Unscharfe Erinnerungsfotos werden geschossen, und allmählich verliert sich der Abend in einem Nebel, der dem Rauch in unserer Ecke in nichts nachsteht.

Als der Zug abbremst, falle ich von meiner Pritsche, von der ich nicht mit Sicherheit sagen kann, wie ich sie erreichte. Wir fahren in den Bahnhof von Nizhny-Novgorod ein. Über mir schläft Jochen den lautstarken Schlaf des Gerechten. Ich zerre ihn von der Liege und mahne zur Eile. Die Handgriffe sitzen, auch wenn die Knie weich sind. Wie ferngesteuert schnappt sich Jochen seine Siebensachen und stürzt hinter mir aus dem Zug. Unter dem Gewicht seines Rucksacks oder vielleicht auch unter dem seines Schädels sinkt er auf dem Bahnsteig auf alle viere und erbricht sich geräuschvoll. Müde schaue ich zu ihm hinab und schmunzle: »Welcome to Russia!«

INFOBOX

 

Vorurteil oder nicht, aber wenn du zu Wodka eingeladen wirst, ist es tatsächlich schwer, nein zu sagen. Probier es ruhig mal aus, die Erlebnisse und Bekanntschaften sind den Kater manchmal wert. Dazu noch ein Tipp: Viel Wasser trinken, das hilft.

Wir haben bis zum Schluss nicht herausgefunden, woran man erkennen kann, ob man einen E-Ticket-Ausdruck direkt nutzen kann oder im Bahnhof gegen ein richtiges Ticket umtauschen muss. Komm lieber rechtzeitig an den Bahnhof und probier es aus.

Fahr Platzkartny! Es ist nicht unsicherer als die abschließbaren Kabinen der zweiten und ersten Klasse. Im Gegenteil, im Großraumabteil passt jeder auf das Gepäck des anderen auf. Aber reise nie ohne Proviant, den du teilen kannst.

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Kapitel 6: »Your fate is in the hand of the FMS«

Jochen

Die Empfangsdame winkt uns in Richtung Tresen, kaum, dass wir unser Zimmer verlassen haben. Ihr Englisch ist rudimentär, doch das, was ich ihm entnehme, kann nicht stimmen. Unsere Visa sollen abgelaufen sein? Auch Peer blickt ungläubig. »Kann nicht sein!« Ich zucke mit den Schultern. »Sie besteht darauf.« Als die Dame uns unsere aufgeschlagenen Pässe unter die Nase hält und uns auf die dort deutlich lesbaren Daten hinweist, die unter »Ausreise spätestens bis …« stehen und den heutigen Tag zeigen, wird uns mulmig. Sie habe das gestern Abend nicht so recht gesehen, räumt sie ein und erklärt uns das Problem. Sie könne dafür ins Gefängnis kommen, uns ohne gültige Aufenthaltserlaubnis ein Zimmer gegeben zu haben. Sie habe unsere Namen aus dem Gästebuch genommen, wir seien nie da gewesen und sie habe uns nie gesehen. Aber nun müssten wir bitte möglichst sofort verschwinden. Wer als EU-Bürger nach Russland will, benötigt die Einladung einer Person oder Institution. Hat man die nicht, so helfen eigens darauf spezialisierte Visumsagenturen. So auch uns. Die Mitarbeiterin der Agentur versicherte, es gebe, wie in den meisten anderen Ländern auch, ein 30-tägiges Zeitfenster für unseren Besuch, beginnend mit dem Einreisedatum. Das erweist sich nun als Unsinn. Doch hätten auch wir einmal auf die Aufkleber in unseren Pässen schauen können. Dort stand es explizit. Wer nach Russland reist, muss Ein- und Ausreisedatum auf den Tag genau angeben. Unsere Reise hat sich aus verschiedenen Gründen um zwei Wochen verschoben. Zwei Wochen, die uns nun fehlen, um in kleinen Etappen bis in die Mongolei zu gelangen. Und nun sollen wir die über 4000 Kilometer bis Mitternacht hinter uns bringen? Utopisch, ohne zu fliegen. Diese Erkenntnis lässt Übelkeit aufsteigen. Wir gestehen unser Unrecht, packen in Windeseile die Rucksäcke und treten hinaus in das russischste aller Wetter: eiskalter Nieselregen aus einem wolkenverhangenen Himmel.

Nach stummem Suchen finden wir alsbald die Innenstadt, die uns unter anderen Vorzeichen sicher begeistert hätte. Altbauten rahmen die Fußgängerzone ein, die zum Flanieren einlädt. Oder dies bei Sonnenschein getan hätte. Nun dirigiert uns das Wetter in das erstbeste Obdach mit Internetzugang, das sich als einheimischer Hühnergrill entpuppt. Die nächsten Stunden sammeln wir Informationen. Zuerst: Es ist Sonntag, und das ist immer schlecht, wenn man auf Behörden angewiesen ist. Im Konsulat in Jekaterinburg ist niemand zu erreichen, am Notfalltelefon der deutschen Botschaft in Moskau ein Angestellter, der uns nicht substanziell weiterhelfen kann. Das Glück will es, dass wir am Tag unserer Ankunft in Nizhny-Novgorod bereits das Ticket für die Weiterfahrt nach Kazan kauften, was mit abgelaufenem Visum nicht möglich gewesen wäre. »Außerdem seid ihr dann näher an Jekaterinburg und damit im Zuständigkeitsbereich des dortigen Konsulats. Die können euch sicher weiterhelfen«, versprach uns der Moskauer Botschaftsangestellte.

In Kazan kommen wir am folgenden Morgen an. Sobald das Konsulat in Jekaterinburg geöffnet hat, rufen wir dort an. Nicht zuständig. Die Botschaft in Moskau? Nicht zuständig. Verwirrte Blicke zwischen Peer und mir. Nach weiteren Versuchen bringt ein anderer Botschaftsangestellter Licht ins Dunkel. Nicht die deutschen Vertretungen können uns helfen, sondern die Institution, die uns eingeladen hat, in unserem Fall eine Reiseagentur mit Sitz in Moskau. Unser Ansprechpartner in der Botschaft findet die Telefonnummer heraus, denn die auf unserem Einladungsschreiben ist falsch. Auch der Name der Agentur sei falsch, doch sei es gelungen, die richtige Agentur ausfindig zu machen. Diese habe ein Partnerbüro in Kazan. Nur fünf Minuten zu Fuß von uns entfernt. Wir würden dort erwartet, sagt unser Schutzengel, der uns sicherheitshalber noch seine Handynummer gibt. Das soll Gold wert sein.

In der Agentur werden wir freundlich empfangen und mit den überschaubaren Möglichkeiten konfrontiert: schnell ausreisen oder langwierig versuchen, was nach russischem Recht unmöglich ist: die Verlängerung eines nicht verlängerbaren Touristenvisums. Klingt spannend, so machen wir es. Auf unser Bitten hin fährt der Chef mit all unseren Papieren und Dokumenten, unseren Registrierungen und Bahntickets zum Büro des Föderalen Migrations-Service, FMS, der über unser Schicksal zu entscheiden hat.

Als der Chef wiederkommt, schwant uns Übles. Das ging zu schnell. Und in der Tat hat er nichts ausrichten können. Der FMS habe eine Besprechung, wir müssten warten. Wir verkneifen uns die Frage, wie eine ganze Behörde eine Besprechung haben kann. Kazan ist klein, und wir wollen nicht für Aufruhr sorgen.

Ein paar Stunden später erhält der Chef neue Infos. Es koste Strafe, das Visum zu überziehen, und diese Strafe müsse er zahlen, wenn er die Verantwortung für uns übernähme. Die mehreren tausend Euro könne er sich nicht leisten, weshalb uns nur die Fahrt zurück nach Moskau bleibe. Die dortige Zentrale des FMS sei ohnehin die beste Anlaufstelle. Außerdem habe das Hauptbüro der Agentur in der Hauptstadt »andere Möglichkeiten«, sagt er mit konspirativem Augenzwinkern und erstickt damit alle Nachfragen im Keim. Zu guter Letzt bucht die Agentur zwei Zugtickets nach Moskau und wünscht uns alles Gute.

Wenige Stunden später sitzen wir im Zug. Die Fahrt geht trotz düsterer Gedanken erstaunlich schnell. Was wird aus uns und unseren hohen Plänen? Ich meine das gehässige Lachen schadenfroher Freunde zu hören, sollten wir nach einem Monat Weltreise heimkehren und es nur bis zum Ural geschafft haben. Nein, diese Blöße geben wir uns nicht!

In Moskau angekommen, begeben wir uns zur Botschaft, um unseren Schutzengel zu treffen. Doch man lässt uns nicht ein und bedeutet uns, zu warten. Wir lungern eine Weile vor dem Zaun herum, bis plötzlich ein Deutscher mittleren Alters mit Nickelbrille und schütterem Haar vor uns steht, die Krawatte mit einer Hand gegen den Wind schützend. »Tut mir leid, dass ich Sie nicht hineinbitte. Ich sage das gleich zu Beginn: Egal, was in den nächsten Tagen passiert, Sie haben keinen Kontakt zur Botschaft aufgenommen und ich helfe Ihnen nicht. Zumindest nicht offiziell. Denn wenn die Botschaft da mit hineingezogen wird, dann wird es politisch. Und dann geht gar nichts mehr.« Peer und ich nicken nur stumm und fühlen uns wie kleine, dumme Jungs. So trotten wir brav hinter dem Onkel drein, der uns durch die Schluchten sozialistischer Plattenbauten zu einer »konspirativen Wohnung« führt. »Machen Sie sich keine Sorgen, Sie sind nicht die Ersten, denen das passiert. Da Sie ohne Visum keine Unterkunft bekommen, bringe ich Sie in der Wohnung einer alten Dame unter. Auch das natürlich nicht offiziell. Bitte verhalten Sie sich dementsprechend und machen Sie uns keinen Kummer. Am besten gehen Sie nicht aus dem Haus. Wenn Sie in eine Routinekontrolle der Polizei geraten und kein Visum vorzeigen können, dann bedeutet das Gefängnis.« Wir schweigen betreten und nicken. Dann erklärt der Botschaftsmitarbeiter uns die weiteren Schritte.