Mitternachtsblüte - Maria Matios - E-Book

Mitternachtsblüte E-Book

Maria Matios

4,8

Beschreibung

Mit Iwankas Geschichte lässt Maria Matios die vielstimmige Ukraine des 20. Jahrhunderts erklingen. Dies ist die Geschichte von Iwanka, dies ist die Geschichte der Ukraine Maria Matios ist eine der bekanntesten Schriftsteller*innen der Ukraine. In klarer Sprache erzählt sie in "Mitternachtsblüte" von der jungen Iwanka, die in einem abgeschiedenen nordbukowinischen Dorf lebt. Sie leidet an Epilepsie, die Bewohner*innen betrachten sie als Sonderling. Doch fühlt sich das Mädchen in ihrer Fantasiewelt wohl, inmitten der Erzählungen und volkstümlichen Weisheiten ihrer Großeltern. Von dort aus beobachtet sie das Miteinander von Ukrainer*innen, Jüd*innen, Pol*innen und Deutschen. Rasch lernt sie, was gut ist und was böse. Bis der Zweite Weltkrieg ausbricht und die "roten Kommissare" einmarschieren, und bald darauf Deutsche und Rumän*innen in Uniformen – das gewohnte Leben ist schlagartig vorbei. Menschen werden aus dem Dorf deportiert, die jüdischen Bewohner*innen bangen um ihr Leben. "'Ich sag Euch, die Menschen und Länder werden aussortiert wie Nüsse. Nicht im Himmel, sondern auf der Erde. Und dann bricht sich einer von den Teufeln da das Genick, und uns werden sie wieder wie Nüsse verlesen. Und die Leut leben weiter auf der Erde wie eh und je, nur immer schwerer wird alles …'" Über die Bukowina rollten jahrhundertelang die Geschichte und ihre Mächte. Allein im 20. Jahrhundert war sie Teil der Habsburgermonarchie, wurde abwechselnd von rumänischen Truppen, der Sowjetunion und vom nationalsozialistischen Deutschen Reich besetzt, in einen nördlichen und südlichen Teil zerrissen. Diese Entwicklungen und Ereignisse hinterließen Spuren. In Form von kulturellen Zeugnissen einer multiethnischen Bevölkerung, aber auch in Form von Wunden: Mit den Umbrüchen und Machtwechseln kamen auch Deportationen von Hunderttausenden in die stalinistischen Lager nach Sibirien, Deportationen in die Ghettos und Konzentrationslager Transnistriens. "Die Ukraine und ihre nahe Vergangenheit werden im neuen Roman von Maria Matios für den europäischen Leser nicht nur begreifbar, sondern förmlich greifbar. Selten wurde das menschliche Leben mit all seinen Freuden und Tragödien, mit all seinen Geschichten von Hass und Liebe in der ukrainischen Literatur in einer so farbenprächtigen Sprache geschildert, wie es Maria Matios meisterhaft gelingt." Andrej Kurkow Aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck

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Maria Matios

Mitternachtsblüte

Roman

Aus dem Ukrainischen von

Maria Weissenböck

Im Andenken an meinen Vater

Wasyl Onufrijowytsch Matios

(05.11.1934–18.07.2013)

Verzeiht …

Denn ich verzeihe.

Allen und alles.

Doch ich erinnere.

Alle und alles.

Und ich will Wahrheit,

denn ohne Wahrheit geht es nicht.

Denn es gibt kein Zuviel an

Wahrheit, Reue und Vergebung.

 Maria Matios

… Iwanka ist auf dem Heimweg aus dem Teufelsgraben, als sich über ihrem Kopf die Sterne zu Dutzenden ausstreuen und der Mond – makellos rund, wie Mutters Bauch gerade – faul in die Mitte des Himmels kriecht, ohne die silbrige Straße, auf der die Tschumaken heute noch Salz bringen, und die vereinzelten Wolkenschwärme zu streifen, die gemächlich dahinziehen und einander liebkosen, wie Milchfohlen einander liebkosen und lecken, wenn sie auf die Weide oberhalb des tosenden Schwarzen Flusses getrieben werden.

Obwohl es schon spät und auch ein wenig unheimlich ist, stellt Iwanka den Eimer mit Milch und den Korb mit Beeren auf dem Weg ab, springt los, fröhlich quietschend, als wollte sie jemanden fangen; dann verwandelt sie sich mit einem Mal in eine Mohnblume, legt den Kopf in den Nacken und bewegt sich langsam, Schritt für Schritt, rückwärts.

Nein, nein, ein Kind, das eine Mutter hat, darf nicht rückwärts gehen! Das sagt die Moskowiterin Seweryna immer: Die Mutter könnte vor der Zeit sterben, wenn ihr Kind gern mit dem Rücken voran geht. »Denk daran, solange du ein Kind bist, Iwanka, denn wenn du erwachsen bist, willst du sowieso nicht mehr rückwärts gehen!«, rief die Moskowiterin Iwanka jedes Mal in Erinnerung, wenn diese ihr Milch brachte.

Ganz langsam dreht Iwanka sich um, schleichend, fast in der Hocke, als wollte sie eine Katze am Schwanz packen. Iwanka spielt aber nicht, sie will ihren Schatten im Mondlicht sehen. Der Mond ist heute so groß. So hell. So wohlgenährt. Aber er wirft keinen Schatten. Oje, was für ein Unglück …

Einmal hat Iwanka in der Scheune mit bloßen Händen eine Ratte gefangen, als die sich an die frisch geschlüpften Küken heranmachte. Und Iwanka hat sich nicht gescheut, den schwarzen Rattenschwanz mit zitternden Händen zu halten. Und jetzt das … Sie kann ihren Schatten nicht fangen.

Iwanka würde gern ihren Mondschatten fangen. Dann hätte sie nie wieder Angst. Das hat vor langem die Moskowiterin gesagt. Und Oma Warwara, als sie noch lebte. Aber die Großmutter hat auch gesagt, dass niemand, keine Menschenseele im Dorf, nicht einmal der Herr Pfarrer Onufrij, der mit Gott spricht, wenn er will, der alles weiß und alles kann, dass niemand jemals den eigenen Schatten im vollen Mond gesehen hat.

Irgendwo auf der Erde soll es Menschen geben, die ihrem Mondschatten begegnet sind und sich vor nichts mehr im Leben fürchten. Aber hier gibt es die nicht. Warum, weiß niemand.

Iwanka seufzt, legt wieder den Kopf in den Nacken und schaut lange und aufmerksam zu den hellen Himmelsstreitwagen hinauf, die Sternennebel auf die Erde schleudern, als wollten sie Iwanka ein geheimes Zeichen im schwarzen Wald geben – ein schreckliches, schweigsames und gleichzeitig wohlriechendes Zeichen.

Wegen des prächtigen Sternenhimmels und der ungewöhnlichen Hitze an diesem Juniabend kommt Iwanka zu spät nach Hause, wofür sie vom Vater sicher Schläge bekommen wird, der immer sagt: »Trödel nicht herum!«, »Los, los, im Schweinsgalopp!«

Aber wozu jetzt überstürzt losrennen? Die Oma hat ihr gelernt, gesetzt zu gehen – würdevoll, ohne Eile, damit die Leute Zeit haben dich anzuschauen und damit du die Leute mit deiner Hast nicht erschreckst. »Der Gang sagt einem, der Augen hat und denken kann, sehr viel«, sprach sie. Großmutter Warwara redete viel, über Gott und die Welt. Und sie schimpfte nie mit Iwanka. Nicht wie der Vater: »Los, los, im Schweinsgalopp!«

Doch nicht einmal die bittere Erinnerung an die väterlichen Strafen, wenn sie für einen versehentlichen Ungehorsam auf Maiskörnern in der Ecke knien oder die schmerzhaften Schläge auf den eigenen Hintern laut zählen musste, konnten das Kind dazu bringen, den Blick vom kugelrunden Mond am Himmel loszureißen. Auf dem Mond stehen zwei Brüder mit Mist­gabeln, Aug in Aug, bereit, einander jeden Moment den Bauch aufzustechen.

Iwanka schaudert beim Gedanken an den Streit im Hof ihrer nächsten Nachbarn kürzlich, der Risuns. Worum sich die Brüder dabei gestritten haben, weiß Iwanka nicht, oder hat es vor Schreck vergessen. Sie weiß nur, dass sie sich, die Mistgabeln über dem Kopf erhoben, wie wilde Stiere aufeinander zubewegt haben, als wollten sie ihre Geschicklichkeit messen und herausfinden, welcher Bruder zuerst dem anderen den Leib durchbohren kann.

Zorniges Gebrüll erfüllte den Nachbarhof, bis zum blutigen Zusammenstoß fehlte nicht viel, als Iwanka plötzlich in ihrem Hof loskreischte.

Sie kreischte, als würde sie selbst gleich aufgespießt werden.

Als spürte sie bereits die kalten Zinken auf ihrer Haut.

Da hielten die Brüder inne, verwirrt vom Kindergeschrei oder erstaunt über die eigene Dummheit. Und sie ließen ihre einfachen Waffen sinken, die im nächsten Moment den Bauch des anderen bis zum Rückgrat durchbohrt hätten.

Jetzt schaut Iwanka zum Mond und denkt, dass die himmlischen Brüder, die Mondbrüder, dass Kain und Abel zorniger sind, als Mychail und Wasyl es damals waren. Einen Augenblick noch und ihr Blut würde als rote Beeren vom Himmel fallen. Vielleicht aber fließt es schon und spritzt ihr gleich ins Gesicht?

Sie schließt die Augen und stellt sich vor, wie das Blut des verwundeten Abel vom Mond auf die Erde tropft, und sie will die zornigen Brüder irgendwie trennen. Und wenn es nur mit einem Schrei ist, wie bei den Risun–Brüdern.

Worum kämpfen sie auf dem Mond so wütend? Und worum auf der Erde? Kann man sie nicht mit Worten versöhnen? Und wer könnte das?

Iwanka stellt sich auf die Zehenspitzen, hebt die Hände zum Himmel, als versuchte sie das rasende Paar zu erreichen. Sie spürt, wie stark ihre dünnen Arme werden und wie laut ihr Herz schlägt, fast ist es im ganzen Wald zu hören. Den Schrei aber hält sie in der Kehle zurück: Was, wenn sie jemand hört? Sie beißt sich auf die Zunge. Und reckt die Arme nach oben.

Doch der kleine Kopf malt weiter ein schreckliches Bild an die Wand: Nachdem sie durch Iwankas Hände getrennt worden sind, nimmt sich jeder Bruder sein Stück des Mondes mit. Die runde Schönheit bricht auseinander und ihre beiden Teile irren am Himmel umher; Iwanka versucht sie von der Erde aus zu vereinen, wieder zusammenzufügen …

Denn wie sollen die Menschen ohne Mond leben, ohne diese feine Sichel, ohne diese Kugel rund wie eine Melone? Bei Vollmond könnte sie Beeren sammeln, würde Mama es nur erlauben. Und in der Nacht vor dem Iwan–Kupala–Fest eine Farnblüte suchen. Juhu, nur noch drei Wochen bis Kupala. Da wird Iwan­ka wieder richtig ausgelassen sein im Mondschein.

Das Kind seufzt. Fast so, wie die Großmutter geseufzt hat: tief und kurz. Und blickt zum Mond. Nein, das geht nicht, dass zwei Brüder einander so hassen. Die Leute erfinden allerlei Geschichten über die beiden, um den Kindern zänkischer Familien Angst einzujagen. Im Dorf gibt es viele zänkische Menschen. Wieso? Weiß der Teufel. Iwanka zerbricht sich darüber nicht den Kopf. Sie mag Streit nicht. Sie mag Denken. Aber so, dass es niemand bemerkt.

Doch wenn sich die Brüder auf dem Mond nicht um Grund und Boden streiten, wieso wird der Mond dann von Zeit zu Zeit kleiner? Wieso schrumpft er mir nichts dir nichts vor unseren Augen weg? Die Vorstellung, es könnte plötzlich Mondstückchen regnen, ist furchtbar.

Vielleicht hat Sofijka Dronjakowa ihr doch die Wahrheit gesagt, als sie erzählte, dass da nicht Brüder, sondern Wölfe auf dem Mond leben und so lange an ihm nagen, bis von ihm nur noch ein schmaler Rest übrig ist? Der Mond schwächelt dann eine Zeit, nimmt anschließend wieder zu und am Ende nagen die Wölfe an einem neuen Mondbauch. Und so bis zum Tod.

Bis zu wessen Tod versteht Iwanka allerdings nicht, bis zum Mondtod oder bis zum Wolfstod: Dass Wölfe einmal sterben wie Menschen, das weiß sie. Aber kann der Mond sterben?

Sie ist völlig verwirrt. Und sie denkt nicht gern an Wölfe auf dem Mond.

Wieso sollten sich die Wölfe bis zum Mond durchschlagen, wenn es ringsherum so viel Wald gibt? Lauft bis zum Umfallen, schlaft unter einer Fichte oder einer Buche, stehlt euch ein fettes Schaf aus der Herde, aber beißt euch die Zähne doch nicht am Mondgestein aus. Die Wölfe, sagte Sofijka zu Iwanka, klettern auf den Mond, wenn die Menschen nicht hinschauen, und dann geschehen diese schrecklichen Dinge.

Der Gedanke an Kain und Abel ohne Mistgabeln ist ihr lieber, aber immer noch furchterregend. Irgendwie sind ja auch sie auf den Mond gekommen. Und leben dort. Und sehen alles von oben. Und streiten außerdem aus irgendeinem Grund. Anstatt zu spielen. Sie haben ja Zeit.

Sie müssen ja nicht jeden Morgen und jeden Abend in den Teufelsgraben um Milch gehen.

Sie müssen nicht Unkraut jäten.

Sie müssen die jüngeren Geschwister nicht hüten.

Aber es geht ihnen dort oben nicht gut.

Was sind das nur für Menschen?

Auf der Erde ist es nicht gut.

Auf dem Mond auch nicht.

Wo aber ist es dann gut?

Hier, in dem ringsum dunkel gewordenen Wald, der voll von Geräuschen ist, wo hinter jedem Baum der Waldgeist Tschuhajster hervorguckt und wenn nicht der Waldgeist, dann eine eifersüchtige Teufelin. Hier geht es Iwanka fast gut. Aber wegen diesem Kain und diesem Abel, und dann noch mit Mistgabeln, endet ihre abendliche Mondbeschau beinah in Tränen.

Warum nur hat Oma ihr die angsteinflößende Bruder­mordgeschichte erzählt, und warum hat Iwanka sie sich bis ins kleinste, ja allerkleinste Detail gemerkt, diese Geschichte, die sich, wie Iwanka schien, früher oder später am Abendhimmel ereignen musste? Und ganz bestimmt vor ihren Augen.

Warum erzählen alte Menschen Kindern Geschichten, die Angst einjagen?

So vieles hat ihr die Oma immer wieder erzählt – Schreckliches und Lustiges –, doch an die Geschichte von der Himmelsfeindschaft zweier Brüder kann sich Iwanka am besten erinnern, und die Geschichte nagt an ihr, denn sie versteht nicht, warum es auf der Welt so sein kann. Die Welt ist doch fröhlich und schön!

Um die lästigen Gedanken an den zerteilten Mond zu vertreiben, denkt Iwanka an ihre eigenen Brüder und warme Freude erfüllt ihre Brust: Mit Mistgabeln aufeinander losgehen? Nein, das würde es bei ihnen nicht geben.

Aber ganz so ist es auch nicht: Ihre Brüder sind Schelme. Richtige Schelme sogar. Es kommt vor, dass Iwanka ihre schmächtigen Hinterteile vor Vaters Rute oder Peitsche retten muss. In Wahrheit hätten sie die Strafe ja verdient. Wie war das damals im Winter? Im Teufelsgraben, wo Großvater Iwans Haus auf dem abschüssigen Hang der Sonne zulächelt, glitzerte der Schnee im Licht wie das mit Dachsspeck gefettete Krähenhaar des Trembitaspielers Ostap.

Der Schnee glitzerte.

Die Sonne schien.

Im Haus des Großvaters waren keine Erwachsenen.

Semen, Fedus und Stefko hatten sich einen spaßigen Zeitvertreib ausgedacht: Sie holten die Speckstreifen, die in Fässern eingelegt werden sollten, aus dem Holztrog, legten sie auf den Boden und machten sich mit dem Trog auf zur nahen Anhöhe.

Vom Vorhaus aus konnte Iwanka gut beobachten, wie lustig der alte, kerbige Trog mit den drei jauchzenden Jungen darin den steilen, schneebedeckten Hang hinuntersauste und dann auf dünnen Schultern wieder und wieder auf die kleine Anhöhe hinaufgetragen wurde. So ging es, bis Noahs Küchenarche in Teile zersprang, entweder unter der Last der drei Jungen, oder weil sie gegen den Stamm eines einsamen Haselbaums prallte, der da im Weg stand.

Da schrie Iwanka auf und schlug die Hände zusammen: »He ihr, dafür gibt’s heute Schläge! Dafür gibt’s sicher Schläge!«

Und vermutlich würde Vaters Gürtel am Abend wirklich über die Rücken der Jungen wandern: Im Trog hatte Mutter Brotteig gemacht, im Trog war frisch Geschlachtetes mariniert, waren Dörrpflaumen aufbewahrt worden … Und wer weiß, wozu der Großvater den uralten Trog noch gebraucht hatte, wenn er alleine war. Und nun das!

Am Abend versuchte Iwanka die Hände des Vaters festzuhalten und flehte ihn an, die Brüder nicht zu schlagen, und sie – drei triefende Rotznasen – wischten sich mit den Ärmeln die Tränen weg und bissen bei jedem Schlag mit dem Gürtel die Zähne zusammen: Bei den Borsuks durften die Kinder nicht weinen, wenn sie vom Vater bestraft wurden.

Die Geschichte mit dem Trog ging vorbei und es folgten neue Abenteuer. Fast bei jedem kam Vaters Gürtel ins Spiel. Die Brüder liebten einander wie kleine Wolken am Abendhimmel. Und auch auf Iwanka passten sie stets gut auf.

Es wäre aber schön zu wissen, wie es dort ist, am Himmel …

Hätte sie nur eine Leiter, könnte sie heimlich hinaufklettern und schauen, was da oben los ist,

und über die Wolken wie über frischgemähtes Gras gehen,

und von oben auf den Wald und die Jungpferde auf der Weide hinabschauen,

und die schlimmen Brüder mit erhobenem Finger schelten, die Äpfel abreißen – ganz grüne, und noch dazu vor Apfel–Erntedank zum Fest der Verklärung des Herrn –, ja, das wäre fein!

Aber so eine lange, richtig lange Leiter, die bis zum Himmel reicht, hat niemand im Dorf. Danylo Danyschtschuk hat dort, wo er sein Holz lagert, immer eine ganz lange Leiter liegen, auf der wohl das halbe Dorf Platz fände. Aber die Leiter reicht trotzdem nur bis zum Dach von Danyschtschuks Rutenberg mit dem Heu. Iwanka ist einmal hinaufgeklettert, als Danylo die Leiter dort stehen gelassen hat.

Vom Dach des Rutenbergs hatte man einen ähnlichen Blick auf die Erde wie von der Erde selbst:

Unten scharrten die Hühner im Beet,

Äpfel lagen im Gras,

eine Ziege sprang am Pflaumenbaum hoch,

aber bis zum Himmel war es noch sehr weit.

Doch wenn sie Danylos Leiter gemeinsam mit den Brüdern an den Runden Berg lehnen würde, der mit seinem Bauch den Dorfausgang versperrt! Und noch eine zweite lange Leiter daran befestigen würde, dann könnte es gerade reichen.

Aber bis zum Runden Berg war es weit, um die Leiter dorthinzuschaffen, musste man stark sein. Und Iwanka war noch klein. Sie war nicht so stark.

Iwanka bat den Nachbarsjungen Sisjo Klugman um Hilfe. Der überlegte lange, ohne seine blauen, ja tiefblauen Augen von ihr abzuwenden. Dann rief er einen anderen, etwas älteren, ärmlichen Bengel aus der Nachbarschaft herbei, Jakow Kapetuter.

Jakow hörte sich an, was die beiden zu sagen hatten, und legte den Zeigefinger an die Lippen.

Er schwieg.

Er schaute durch den Zaun zu Danyschtschuks Leiter hinüber.

Er schüttelte den Kopf: »Nein, Iwanka, das klappt nicht.«

Dann maß Sisjo die Leiter mit den Augen ab.

»Nein, das wird nichts. Und euer lieber Gott könnte uns dafür bestrafen, Iwanka. Man darf nicht zum lieben Gott in den Himmel schauen, der liebe Gott holt in den Himmel, wen Er will.«

»Woher weißt du das, Sisjo?«

»Von der Mutter.«

Iwanka seufzte, »und mir hat die Mutter gesagt, dass man den lieben Gott im Himmel nicht stören darf, und dass der liebe Gott im Himmel nie schläft und alles sieht, alles weiß, denn der liebe Gott schließt niemals die Augen und hört nie auf zu denken. Der liebe Gott aber denkt anders als die Menschen, hat die Mutter gesagt. Und die Menschen hätten gern, dass der liebe Gott so denkt wie sie.«

»Iwanka, dann weiß der liebe Gott also, dass du gerade zu ihm in den Himmel hinaufwolltest und uns um Hilfe gebeten hast?«

»Nein, Jakow, ich wollte nicht zum lieben Gott, ich wollte schauen, was am Himmel los ist, und dann vom Himmel auf unser Dorf und auf die Berge herunterschauen.«

»Am Himmel ist nichts, Iwanka. Was soll es dort geben? Dort sind nur der Mond und die Sonne.«

»Du hast keine Ahnung, Jakow. Am Himmel wohnen die Sonne, der Mond, die Sterne, die Wolken, der Regen, Tag und Nacht, im Himmel wohnen finstere Mächte, die Seelen der Verstorbenen, Engel, die den Lebenden mit den Flügeln zuwinken. Viele wohnen dort oben. Ich würde mich gern bei ihnen umsehen.«

»Was redest du da, Iwanka?«

»Was denn? Ich würde mir den Mond aus der Nähe anschauen. Kain und Abel vielleicht versöhnen. Na ja, wenigstens würde ich ihnen die Mistgabeln wegnehmen. Und außerdem könnte ich vom Himmel aus sehen, wo auf der Erde ein Farn blüht und wo das Gold von Dowbusch vergraben ist. Jakow, ich würde von oben die Kippa auf deinem Kopf mit den Augen streicheln!«

»Reicht es dir nicht, dass du meine Kippa jetzt und auch sonst jederzeit angreifen kannst?«

»Wieso soll ich sie angreifen … Ich streichle besser deine lockigen Locken. Sie sehen aus wie Schustergarn bei dir, Jakow.«

»Und bei mir, Iwanka?«

»Du hast keine Locken, Sisjo. Du hast Flachshaar, sagt unsere Mama.«

»Also, werden wir die Leiter jetzt nicht zum Runden Berg tragen?«

»Nein. Vielleicht kommt der Himmel einmal auf die Erde und dann gehe ich zwischen den Sternen und Engeln spazieren.«

»Was auch immer du sagst, Iwanka–Lachomanka – ich muss lachen.«

»Lach nur, Sisjo, lach, solange es noch zum Lachen ist, sagt unsere Mama. Und außerdem sagt sie, dass Zeiten kommen könnten, in denen uns nicht mehr zum Lachen sein wird.«

»Was weiß deine Mutter schon, Iwanka? Wie sollte uns einmal nicht mehr zum Lachen sein?«

»Lach nur Jakow, lach: Das Wasser fließt den Berg hinauf!«

Da lacht Jakow ohne Grund.

Iwanka nimmt die Maultrommel zwischen die Zähne.

Sisjo zieht die Telenka aus seinem Hosenbund.

Jakow unterbricht sein grundloses Lachen augenblicklich.

»Du dummer Goj! Die Telenka ist nicht unser Ins­trument. Vater hat es dir gesagt!«

»Und wo sind unsere Instrumente, Jakow?«

»Frag den Vater, er sagt es dir.«

»Sisjo, Sisjo, zeig mir deinen Schiss–Po …«

»Jakow schaut nach und sagt es dir, Iwanka!«

Alle drei lachen, halten sich die Bäuche.

Wieso, weiß keiner.

… Iwanka seufzt wieder: Schade, dass sie damals nicht versucht haben, Danylos Leiter an den Runden Berg zu lehnen …

Doch jetzt ist Iwanka schon größer. Jetzt schämt sie sich, den Nachbarsjungen zu sagen, dass sie auch als großes Mädchen noch zwischen den Wolken spazieren gehen will.

Wenn Iwanka mit Milch aus dem Teufelsgraben zurückkehrt und die Welt um sie herum in dichten Nebel gehüllt ist, schwebt sie mit geschlossenen Augen langsam durch den weißen Schaum und denkt, dass sie inmitten der Wolken geht.

Mit einem Ruck bleibt sie stehen, wo sie gerade ist. Während sie den Atem so lange anhält, dass ihr fast schwindelig wird, wippt sie mit seitlich ausgebreiteten Armen langsam von den Fersen auf die Zehen, atmet dann geräuschvoll aus und beginnt leise, aber sehr deutlich zu flüstern: »Hörst du mich, lieber Gott, zeig mir, wo du wohnst! Ich verrate es niemandem, lieber Gott. Und bring mich zu Kain und Abel. Ich will sie versöhnen. Ich mag es nicht, wenn Brüder sich schlagen, da habe ich Angst. Lieber Gott, zeig mir den Weg. Die anderen sehen im Nebel nicht, wohin du mich führst. Und ich verrate es niemandem. Erhöre mich doch, lieber Gott!«

Iwanka spricht lange und leidenschaftlich mit sich selbst und presst dabei ihre gefalteten Hände gegen die Brust, einen Moment lang hält sie inne, als würde sie lauschen, aber um sie herum herrscht die tiefe Morgenstille des noch schläfrigen Waldes, die nur gelegentlich vom fernen, dumpfen Läuten einer Kuhglocke oder von noch fernerem Hundegebell aus einem Weiler hinter den Hügeln gestört wird. Innerhalb von Sekunden verzweifacht, verdreifacht sich das Gebell und die fernen, im Nebel nicht erkennbaren Weiler scheinen Iwanka zu umzingeln, mitsamt ihren Hunden und den rauen Stimmen ihrer Herren, die das Vieh mit Rufen und Peitschenknallen antreiben. Und dem verzauberten Kind ist, als würde es in einem weißen, feuchten Hemd auf dem Weg zum Himmelstor stehen.

Der wattige Nebel durchdringt lautlos den zitternden Körper, durchspült das feuchte Haar, er durchströmt Iwanka ohne anzuhalten oder langsamer zu werden, als wollte er dem Kind tatsächlich den Weg dorthin bereiten, wohin alle Leitern des Dorfes zusammen nicht reichen.

Da bekommt sie Angst: Was ist, wenn der liebe Gott das Himmelstor öffnet und Iwanka sich plötzlich auf dem Mond wiederfindet?

Hilfe!

Wer sagt Mama und Papa dann, dass ihre Iwanka nicht von irgendeinem Schattenwesen vom Weg abgebracht wurde, sondern dass bloß der liebe Gott sie in den Himmel hineingelassen hat?

Und wird sie Mut genug haben, sich zwischen die Mistgabeln der zerstrittenen Brüder zu stellen? In ihrem rasenden Zorn könnten Kain und Abel Iwanka aufspießen, bevor sie erkannt hätten, dass sie gekommen ist, um die Brüder zu versöhnen. Wenn Menschen streiten, denken sie nicht an andere.

Aber vielleicht sind die Himmelsbrüder gar nicht zerstritten? Vielleicht behaupten das die Menschen auf der Erde nur? Die Menschen auf der Erde streiten gern miteinander, und sie schimpfen gerne mit anderen.

Der Nachbar von Iwankas Eltern, Danylo Danysch­tschuk, beginnt jedes Mal einen schrecklichen Streit mit seiner Frau, wenn der Nachbar Strynada ihren Hof betritt.

Iwanka weiß jedoch, dass es kein echter Streit ist: Die Danyschtschuks wollen nicht, dass Hawrylo sich etwas aus ihrem Schuppen ausleiht. Einmal hörte sie Danylos Frau Anna zu Danylo sagen: »Wenn Hawrylo in unser Haus kommt, schrei mich an, so laut du kannst, vielleicht will er sich dann nicht unsere Haue ausborgen. Soll er doch zum alten Scherf in die Kooperative gehen und sich dort eine kaufen.«

Vielleicht haben auch Kain und Abel am Himmel unechten Streit … aber wieso so lange, und noch dazu mit Mistgabeln …

Iwanka bekreuzigt sich: Warum, zum Teufel, denkt sie wieder an die Mondfeindschaft? Was für eine Nacht plötzlich über sie hereingebrochen ist, was für eine feindliche Dunkelheit über den Wipfeln liegt; und bis zum Dorf ist es noch weit, sehr weit.

Iwanka schüttelt das Himmelsbild von sich ab und lässt ihren Blick über die spitzen Gipfel der umliegenden Berge wandern. Sie kommen aus allen Richtungen näher, wie die Opryschky in Großmutters Erzählung, als wollten sie Iwanka vor ihrer Angst beschützen.

Alles Mögliche hat Iwanka gefürchtet, aber Berge und Wälder noch nie. Sie ist ganze Tage lang wie ein Grashüpfer–Mädchen zwischen fröhlichen Blumen und hohen Gräsern herumgesprungen, hat den Morgentau von tintenblauen Glöckchen oder schneeweißem Dost geschlagen; sie hat einen Trichter aus ihren Händen geformt und ohne Angst in endlose Brombeergeflechte oder zwischen dünne Haselstämme hineingerufen. Die Angst hat sie auch dann nicht eingeholt, wenn der schwarze Wald nur mehr mit Wolfsgeheul zu ihr sprach.

Doch mit einem Mal war die Zeit der Kühnheit, in der die nächtlichen Geräusche freundlich in ihren Ohren raunten, Zweige unter ihren Füßen knackten und trockenes Buchenlaub raschelte, vorüber. Seit kurzem fürchtet Iwanka sich am meisten vor der Dunkelheit. Die schwarze Nacht spricht nun mit hässlichen, furchteinflößenden Stimmen zu ihr, mit dem Rauschen der Bäche, die aussehen wie Hexenhaarsträhnen, mit den Rufen krummschnäbeliger Eulen – die Nacht jagt ihr mit dem Rascheln von Igeln Angst ein, mit den Schatten lang verstorbener Menschen und unbekannter Vampire.

Wäre nicht dieser nächtliche Schreck gewesen, der Iwanka krank und ängstlich gemacht hat, würde sie auch jetzt auf sommerlichen Pfaden nach Heilpflanzen suchen, am eifrigsten aber nach einer Farnblüte, die ihr Kräfte verleihen würde, wie sie ihr Urgroßvater Nykyfir gehabt hat oder die Moskowiterin Seweryna immer noch hat.

Hätte ihr doch jemand verraten, welchen Pfad man entlangschleichen muss, um plötzlich auf einen Farn mit ungeöffneter Blüte zu stoßen, die sich an Iwan Kupala genau um Mitternacht öffnen würde!

Iwanka weiß von der Moskowiterin, dass es nahezu unmöglich ist, einen Farn beim Aufblühen zu beobachten und die Blüte dann ihrem teuflischen Hüter zu stehlen. Vielleicht hat die Moskowiterin deshalb solche Kräfte, weil sie einst in den Besitz einer Mitternachtsblüte gekommen ist?

Nicht einmal Iwanka erzählt sie davon, denn es ist ein Geheimnis, von dem niemand auf der Welt erfahren darf.

Aber die Moskowiterin ist nett, sie hat ihr beigebracht, wie man dem Teufel die Zauberblüte abnimmt. Und wenn Iwanka alt, oder zumindest so alt wie Seweryna ist, wird sie sich trauen, mit einem geweihten Messer in den nächtlichen Wald zu gehen und ein besticktes Tuch um den Farn herum auszubreiten, auf dem die Mutter bereits zwölf Mal Osterbrot weihen ließ.

Das Ostertuch der Borsuks lag immer an ein und demselben Ort, ganz unten in Großmutters Truhe, die unter dem Bild mit der Muttergottes stand. Den Schlüssel der Truhe bewahrte Mama in der obersten Schublade der Holzkredenz auf, im großen Zimmer, dem für die Gäste …

Und würde das Tuch schließlich um die Farnpflanze gelegt sein, müsste Iwanka mit dem Messer zwölf Mal einen Kreis um das Tuch beschreiben, dann das Messer mit geweihtem Wasser beträufeln und zu beten beginnen.

Sie kennt unzählige Gebete. Und könnte alle nacheinander herunterbeten.

Aber nein. Für so einen Anlass würde Iwanka ihr liebstes, ihr tägliches Gebet zu Jesus Christus wählen, das Oma Warwara selbst erfunden und Iwanka beigebracht hat:

»Herr Jesus Christus! Ich kann dich weder um ein Kreuz noch um Freude bitten. Ich stehe vor dir, und mein Herz ist offen nur für dich. Mein Vater Jesus Christus! Du kennst meine Sünden und kennst meine Nöte, die ich selbst nicht kenne. Richte über mich mit Gnade und nach deinem Willen. Aber schenke mir ein Wort des Glaubens, Vater! Und bitte für mich. Amen.«

Und obwohl Iwanka wenig von Großmutters Gebet versteht, würde sie Jesus Christus zehn Mal am Tag bitten, und er würde wissen, dass sie auf ein Wunder wartet, auf eine Farnblüte zu Mitternacht.

Während sie in ihrem, mit dem geweihten Messer gezogenen Kreis stehen und Jesus ohne Unterbrechung anrufen würde, kämen verführerische Teufel zu ihr: wie sich schlängelnde Nattern; würden Steine nach ihr werfen, mit Gewehren auf sie schießen und wie Hunde bellen.

Aber Iwanka würde die Farnpflanze nicht aus dem Blick lassen, nicht atmen und sich nicht vor den Schreckgestalten fürchten. Seweryna hat ihr beigebracht, dass die Teufel nur außerhalb des geweihten Kreises Macht haben. Sie würde den Kreis um nichts in der Welt verlassen und ein Gebet nach dem anderen sprechen, denn sie kennt unzählige; und um Mitternacht würde die heiße Blüte der Farnpflanze einen Augenblick lang vor Iwankas Augen aufflammen und anschließend auf das ausgebreitete Ostertuch fallen.

Oh nein, Iwanka würde keine Zeit verschwenden. Schnell würde sie Mutters weites Hemd, das sie in weiser Voraussicht angezogen hat, öffnen und den Schatz an ihrer Brust verbergen.

Nein, nein … Sie würde es anders machen: Mit dem geweihten Messer würde sie flink einen Schnitt in ihre linke Handfläche machen und die Blüte darin verstecken.

Danach würde sie durch den Wald laufen, ohne sich umzuschauen und ohne Angst zu haben vor dem, was zwischen ihren Füßen kreucht und fleucht, ohne Angst vor dem Wolfsgeheul und all dem, was sich der Teufel sonst noch einfallen lässt.

… Aber mit der Zeit schwindet Iwankas Hoffnung auf eine Farnblüte.

Seit letztem Sommer liebäugelt sie mit anderen Pflanzen, die auch um Mitternacht ihre allmächtige Zauberblüte entfalten.

Denn es gibt eine weniger geheime Pflanze in ihren Wäldern – Marienschuh heißt sie –, die ebenso wie der Farn ihre Zauberkraft nur an denjenigen weitergibt, der ihr Aufblühen miterlebt. Schon vor ihrer Krankheit hat Iwanka an den Tagen vor Iwan Kupala manchmal zwischen den dichten Almkräutern nach den rosaroten Blütenköpfen gesucht.

Warum hatte sie nicht früher daran gedacht? Oma Warwara hat einmal gesagt: Das ist so ein Kraut! So ein Kraut mit einer Blüte, die ein eisernes Sensenblatt zerschellen lässt, wenn der Bauer sie im Gras erwischt. Und wenn man gemähtes Gras ins Wasser wirft, schwimmt alles mit der Strömung, nur der Marienschuh schwimmt dagegen, solche Kräfte hat er. Kräfte gegen das Böse und gegen Krankheiten. Aber nur wenige Menschen machen Jagd auf diese Blüte, alle wollen die Farnblüte.

Oh, vielleicht ist er das ja? Gleich am Wegrand, der blasse, unscheinbare Marienschuh, der Iwanka so ins Auge sticht. Vielleicht will er wirklich unter die Haut ihrer kleinen Handfläche gelangen?

Ohne nachzudenken schlitzt Iwanka in einer schnellen Bewegung mit dem Pilzmesser die dünne Haut ihrer linken Handfläche auf, verschmiert vor Schmerzen das Blut und drückt dann ein rosarotes, fast durchsichtiges Blütenblatt in die Wunde; sie presst die Hand zu einer Faust zusammen und stürmt, so schnell sie kann und ohne sich noch einmal umzusehen, den Pfad entlang nach Hause, damit der Teufel sie nicht einholen und ihr die allmächtige Blüte wieder wegnehmen kann …

Die angeschwollene, verletzte Handfläche juckt und brennt, doch damit niemand etwas bemerkt, öffnet Iwanka die Hand zu Hause nur heimlich hinter der Scheune und blickt ohne mit der Wimper zu zucken auf den schlampigen, vereiterten Schnitt.

Es wäre gut zu wissen, was für Schuhe die Muttergottes da trägt, die mehr Macht haben als Gebete? Die Eltern erlauben Iwanka nur an Ostern, Mariä Geburt, Mariä Schutz und Fürbitte und an Dimitrios (wenn noch kein Schnee liegt) beim Kirchgang ihre hübschen Schuhe zu tragen, doch die Gottesmutter hat wahrscheinlich besondere Schuhe, die sie das ganze Jahr über tragen kann, denn wieso sollte sie sonst im Sommer, wenn alles blüht, Schuhe tragen?

Iwanka sitzt mucksmäuschenstill im Klettengestrüpp hinter der Jauchegrube und wartet, bis niemand im Haus ist, dann geht sie leise ins Zimmer, wo die Wand zwischen den beiden Fenstern fast vollständig mit Ikonen behängt ist. In der Mitte, zwischen Jesus und dem heiligen Nikolaus, prangt ein Bild der Gottesmutter.

Die Gottesmutter blickt sanft und etwas traurig, mit gesenkten Lidern auf Iwanka herab, und dem Kind scheint, als würde das goldene Tuch aus Brokatstoff auf ihren Schultern ein wenig zittern, und als würde sich der winzige Jesus in ihren Armen fester an die mütterliche Brust drücken – auch er schaut Iwanka mit großen traurigen Augen an.

Iwanka macht einen Schritt zurück, hin zur Tür. Sie betrachtet die Bilder aus der Ferne. Und alle Heiligen folgen ihr gleichzeitig mit den Augen.

Ihre Blicke sind aus irgendeinem Grund düster.

Die Gesichter unbeweglich.

Die Lippen fest aufeinandergepresst.

Nur die Muttergottes scheint der verzauberten Iwanka leicht zuzulächeln.

Das Kind vergisst einen Moment lang sogar ihre Hand. Die unschuldigen Augen gleiten über die Ikone.

Was?!

Wieso hat die Muttergottes auf der Ikone weder Füße noch Schuhe?

Kann sie bloßfüßig unter Leute gehen?

Iwankas Vater und auch ihre Mutter gehen nie barfuß unter Leute und auch die Kinder lassen sie barfuß nicht hinaus, damit die Leute nicht sagen können, dass sie arm sind und keine Schuhe haben. Barfuß gehen dürfen sie nur auf den eigenen Gemüsebeeten und im Hof. Die Stiefel aller Borsuks liegen in einem Regal in der Kammer, unter dem Balken mit Kleidern, bedeckt mit zerriebener Minze und Haselblättern vermischt mit Kornblumen, damit sich im Wollfutter und im Pelz keine Motten einnisten.

Und die Opanken sind im Vorhaus aufgereiht: von den kleineren bis zu Vaters großen.

Aber das eine sind doch die Menschen, und das andere ist die Muttergottes! Wo hat sie ihre Schuhe gelassen?! Wie kann sie mit Jesus auf dem Arm bloßfüßig unter Leute gehen? Iwanka macht noch einen Schritt in Richtung Tür. Fast stößt sie mit den Schultern gegen den Türrahmen.

Doch keiner der Heiligen auf den Ikonen hat Füße und Schuhe.

Das Kind erstarrt: Warum hat sie nie darüber nachgedacht?

Dann schlägt sie sich mit der gesunden Hand auf die Stirn: Wie kann denn die Muttergottes Schuhe anhaben, wenn sie ihre Schuhe für die Menschen im Wald zurückgelassen, sie in wundertätige Blumen verwandelt hat, damit jemand sie findet und ungeahnte Kräfte erlangt!

Und sie, Iwanka Borsuk, Tochter des Pawlo, hat vor ein paar Tagen diese rosa Blüten, leicht wie Federn, gepflückt, und vielleicht geht die Kraft der Blüten schon jetzt in ihr Blut über und in ein, zwei Tagen ist sie so stark, dass sie Bäume ausreißen könnte, zum Wohl der Menschen.

Die Oma hat einmal gesagt, dass bei den Menschen alles vergeht, nur Gut und Böse bleibt.

Aber wie soll man wissen, was gut und was böse ist.

Gemeinsam mit ihrem Bruder Semen hat Iwanka den Boden mit Schmalz eingefettet, damit er glänzt, und sie dachten, es sei gut, aber der Vater schlug sie wegen dem Schmalz und sagte, dass sie etwas Böses getan hätten …

Iwanka bekreuzigt sich drei Mal, verbeugt sich vor den Ikonen bis zum Boden und geht leise hinaus in den Vorraum, und sie spürt, wie ihre Hand schmerzt.

Sie würde es Mama ja sagen, aber sie hat Angst, weil sie in ihrer Hast auch das Pilzmesser verloren hat,

und das Kleid in den Brombeeren zerrissen hat,

und weil ihre Hand krank geworden ist.

»Muttergottes …«, bittet Iwanka lautlos und wendet den Blick zum Himmel. »Muttergottes, hilf mir, mach meine Hand wieder gesund.«