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Wo etwas passiert ist Maike Mainwald nicht weit. Auch privat rennt die Fotojournalistin stets dem ultimativen Kick hinterher. Der Discjockey FloPo prahlt bei einem Freund: "Ich habe da aufgelegt. Später habe ich sie flachgelegt." Mit schönen Worten gelingt dies sogar reiferen Liebhabern. Bei einem Fototermin berührt sie irrtümlich die Videotaste. Danach stellt sich heraus, dass sie einen Mord aufzeichnete. Weil sie oft am Rande der Legalität agiert, soll ein Privatdetektiv das Video der Polizei zuspielen. Doch über einen Trojaner in ihrem Rechner erfährt der Täter davon. Da erkennt Maike das Geheimnis der Möbiusschleife: Wer ihrer Faszination erliegt, folgt einer unendlichen Bahn, die nur ins Abseits führt. Gleichzeitig wird ihr klar, dass ihre Sex-Eskapaden sie allmählich einzumauern drohen. Freiheit erlebt sie erst in einer gemeinsamen Nacht mit Tina. Gleichwohl lässt sich Maike Mainwald nach diesem Schlüsselerlebnis erneut mit dem Discjockey FloPo ein. Und gerät in die Gewalt des Mörders
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Seitenzahl: 327
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Über den Autor
Marc Mandel wurde 1948 geboren. Er war jahrelang als Rockmusiker, Discjockey und Hotelpianist unterwegs. Daneben schrieb er Rezensionen, Kolumnen, Glossen. Auf dem zweiten Bildungsweg erwarb er das Abitur; anschließend studierte er Philosophie und Germanistik. Seit zwanzig Jahren arbeitet er als Kulturjournalist, vor allem für das Darmstädter Echo. Monografien: Mädchenlieder (2021 Coortext-Verlag), Morden (Short Stories 2014), Machen (Schreibfibel 2016), Machen 2.0 (Gedichtfibel 2019) – alle im chiliverlag. Er ist Herausgeber des Weihnachtsbuches ‚Dichter-Lichter‘ der Autorengruppe Coortext (erschienen bei BoD 2020).
Möbiusschleife
Wie frei willst du sein?
Marc Mandel
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über die Adresse http://dnb.ddb.de abrufbar.
© 2021 -Verlag, Altheim Buchcover: Germencreative
Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Belin.
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Prolog
Montag 15.7.2013
ternzeit, fünfzehnter Juli.
S Die Stimme schien aus einem Radio zu kommen.
Sie lag auf einem Gynäkologenstuhl.
Ob sie unter Drogen stand? Beständig döste sie weg.
Ihr Oberkörper war halb aufgerichtet, Metallschellen an den Fuß- und Handgelenken, unter dem Kinn ein breites Halsband aus Leder. Nutzlos, an den Fesseln zu zerren.
Einst befanden sich Sternwarten mitten in Städten. Mit zu-nehmender nächtlicher Beleuchtung zog es die Forscheraufs Land.
Jemand träufelte ihr etwas auf den Kopf.
Zaghaft öffnete sie die Augenlider. Der Raum war gefliest wie ein Badezimmer.
Inzwischen gelten nur noch abgelegene hohe Berge als guteStandorte.
Ein Schatten im Halbdunkel. Eine Kapuze mit Augenschlitz. Dahinter dunkle Brillengläser. Szandor. Der Hohepriester. Mit einem Kelch.
»Durst.« Es war nicht mehr als ein Krächzen.
Szandor schob ihr ein Röhrchen in den Mund.
Zwei Mal gelang es ihr, zu saugen.
Es schmeckte nach Metall.
Nachdem die Universität Köln ein Vierteljahrhundert dasKosma-Teleskop in der Schweiz betrieben hat, wurde eskürzlich nach Tibet verlegt.
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Den Rest des Inhaltes goss er ihr schluckweise auf die Stirn.
Es sickerte ihr in die Augen, rann die Nase abwärts, quoll über ihre Wangen – ohne die Lippen zu berühren. Über ihren Hals floss es zum Schlüsselbein.
Mit der Zungenspitze versuchte sie, den einen oder anderen Tropfen seitlich aufzuschnappen.
Kosma ist eine Antennenschüssel von gut drei MeternDurchmesser.
Sie fröstelte; die Männer hatten sie ausgezogen.
Von Neuem der Kelch. Diesmal ergoss er sich über ihre Brust. Der nächste in das Grübchen Ihres Nabels. Ein dritter auf den Bauch.
Sie verspürte den Drang, zu urinieren. Sie würde es unter-drücken. Fest presste sie die Muskeln in ihrem Unterleib zusammen.
Kosma empfängt Submillimeterwellen, die zur Infrarot-strahlung gehören. Diese Strahlung wird vom Wasserdampfin der Atmosphäre absorbiert.
Kaltes Wasser.
Szandor hantierte jetzt mit einer Flasche.
Eiskaltes Wasser.
In regelmäßigen Abständen strömten kleine Mengen auf ihren Körper – Mengen, wie man sie in Schnapsgläser füllte.
Hustenreiz.
Jemand legte ein Tuch über ihre Augen.
War es das, was sie wollte?
Sie hatte geschworen.
Vor einer Stunde?
Vor einem Tag?
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Sie hatte geschworen, sich dem Satan zu unterwerfen.
Das Ritual sollte mit einer Feuerprobe beginnen.
Sie durfte nicht schreien.
Sie würde nicht schreien.
Konnte sie nun endlich auf den Boden des Glases blicken?
Sie roch ein Gemisch aus Lavendel und Jasmin.
Unmittelbar neben ihrem linken Ohr die Stimme Szandors:
»Das Leben ist ein Fluss. Die Reise eines Blinden. Du folgst einem Pfad. So ist es notwendig, denkst du. Weil es ein gerader Weg ist. Weil es ein breiter Weg ist. Weil es der einzige Weg ist. Doch der scheinbar gerade Weg ist ein Bogen. Ein Bogen ohne Schlussstein. Es irrt der Mensch, solang er strebt. Das Definitivum suchst du vergeblich.
Jedes Mal, wenn du glaubst, du hast die schlimmste Hürde überwunden, stehst du auf der falschen Seite einer Mauer.
Kein Weg führt zurück. Und keiner ins Glück. Ergib dich seiner Majestät. Dem Satan. Nur Er kann dich erlösen.«
Fühlte sich so die Luzifer Church an?
Eine andere Radiostimme: die zweite Sinfonie von GustavMahler. Jemand musste den Radiosender gewechselt haben. Fünfter Satz. Molto Misterioso.
Es tröpfelte auf ihren Venushügel, sickerte durch den Spalt der Vagina, zwischen ihren Schamlippen hindurch, über den Damm in die Anusspalte, vermischte sich dahinter mit einigen Tropfen Urin.
Ihr Unterleib ergab sich dem Druck.
Sie ließ dem Schließmuskel freien Lauf.
Warm spürte sie es auf ihrer Haut.
Unfähig, ein Glied zu bewegen.
Schnell fühlte sie es kalt.
Es war zu riechen.
Mein Gott, lass‘ es ein Traum sein.
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Schlagartig helleres Licht.
Trotz des Tuches über den Augen merkte sie es.
Sie roch ein Feuer. Hörte das Knistern lodernden Holzes.
Geblendet schloss sie die Augen.
Jemand hatte ihr das Tuch abgenommen.
Szandor war nicht der einzige Mann im Raum.
Sie blinzelte, erkannte ein Metallgebilde, unmittelbar vor ihrem Gesicht. Einen fünfzackigen Stern, umgeben von einem Kreis mit fremden Schriftzeichen, montiert auf einen Metallstab. Ein Brenneisen.
Schwarz.
Erneut das Tuch auf den Augen.
Warten.
Ein stechender Schmerz.
Feuer.
An der Innenseite des rechten Oberschenkels.
Prasseln, zischen, brausen, knistern.
Bestialischer Gestank.
Ein Brandmal.
Der Boden des Glases – er löste sich auf.
Eine Farbexplosion.
Der Satan.
Schwarz.
Die Gruppe Will.I.Am aus dem Lautsprecher.
Scream and shout and let it out.
Sie schrie.
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Kapitel I
Samstag 18.4.2020 – 13:00 Uhr
atte sie soeben geschrien?
Erschrocken schlug Maike Mainwald die Augen H auf.
Alle Fenster ihres Autos waren geschlossen.
Ihr Ampera stand auf dem Parkplatz der Hessischen Staatskanzlei.
Sie musste eingeschlafen sein.
Dreizehn Uhr.
War das ein Traum?
Alles so plastisch. Dreidimensional.
War das wirklich schon sieben Jahre her?
Die Reportage über die Luzifer Church. Geschrieben bei ihrer Mutter in Hamburg.
Einen Tag nach dem Erscheinen kam ein Todesurteil. Ihr Todesurteil. Per E-Mail. Im Namen der Luzifer Church of Suisse. Unterschrift: Szandor II. Sofort erstattete sie Anzeige.
Die Landespolizei des Fürstentums Liechtenstein stürmte den geheimen Tempel der Sekte in Vaduz, traf aber nie-manden mehr an.
Die Schweizerische Depeschenagentur ats-sda meldete eine Woche später, die Suche nach den Tätern habe ihr Ende gefunden. Der Sektenführer der Luzifer Church, Szandor, sei zusammen mit zwei weiteren Priestern bei einem Unfall ums Leben gekommen. Die Männer verbrannten, nachdem ihr Auto in eine Schlucht gestürzt war und Feuer fing.
Vorbei.
Maike Mainwald warf den Kopf zurück.
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Regentropfen prasselten auf das Autodach. Der Kochbrun-nenplatz verströmte die untergegangene Pracht großher-zoglicher Zeiten. Ebenso das ehemalige Grandhotel mit der Hessischen Staatskanzlei.
In drei Stunden hatte sie einen Termin in Frankfurt.
Doch vorher brauchte sie einen Kaffee.
Sämtliche Lokale waren geschlossen.
Sie musste nach Hause.
Als Erstes öffnete sie jedoch den Laptop auf den Beifahrersitz.
OkCupid. Keine neue Nachricht.
Im E-Mail-Postfach lediglich das Kommuniqué des Hessischen Ministeriums für Soziales und Integration. Die für zwölf Uhr geplante Pressekonferenz von Kai Klose sei ausgefallen. Von Corona wegen. Das wusste Maike schon.
Sie startete den Motor.
»Gut, dass sie uns nicht versteht. Hast du mit ihr über Geld gesprochen, Jonas?«
Jonas schaute zu der jüngeren, der beiden Frauen: »Vocȇ
ganha cem euros. Vocȇ concorda?«
Zustimmend strich sie über eine seiner gepolsterten Schultern. »Naturalmente.«
»Sie ist mit einem Hunderter einverstanden. Davon kannst du in Brasilien einen ganzen Monat leben.« Als Security-Mitarbeiter trug Jonas einen dunklen Anzug mit Krawatte.
»Wie soll es laufen, Flo?«
»Sie wird festgebunden, bevor wir über sie herfallen. Alles soll absolut authentisch wirken. Deshalb muss sie sich heftig wehren, sobald wir sie anfassen. Beißen, kratzen, spucken. Keinesfalls zahm werden, bevor sie die Peitsche 10
spürt. Sag‘ ihr das.« Flo goss in alle vier Gläser Rotwein nach.
Auf portugiesisch sprach Jonas Lucida an. »Meu amigo quer tirar fotos de você. Mein Freund Florian will dich unbedingt fotografieren. Er hat sich auf den ersten Blick in dich verliebt. Ihm gefallen deine Haare, deine Augen, deine Figur, alles. Er behauptet, dass er nie zuvor so ein schönes Mädchen sah.« Das Quartett saß in einer kahlen Werkstatt, vier Etagen unter der Alten Oper.
»Diga à ele, eu gosto de posar na frente da câmera. Über-setze ihm, ich posiere gern vor seiner Kamera. Jedoch mein Freund in Sao Paolo liebt mich sehr«, sie blickte zu der anderen Frau, »außerdem erzähltest du mir an dieser Konstablerwache, Flo hat Sabine.« Lucida sah fasziniert in Sabines übergroße Pupillen.
Jonas übersetzte: »Sie arbeitet gern vor der Kamera. Kennt das von Erotikfilmen in Sao Paolo. Giga Augensex. Das erklärte mir Lucida bereits vor drei Stunden an der Konstablerwache. Sie besteht darauf, dass wir sie binden, damit es echt aussieht. Sabine soll sie festhalten.«
»Super, dass du so gut portugiesisch sprichst, Jonas«, Flo wies durch eine offene Doppeltür in eine hell ausgeleuch-tete Halle. »Auf der Werkbank da drüben soll alles passieren. Frag‘ sie, ob sie es schon anal gemacht hat, Jonas.« Er zog die Beine eines Kamerastatives aus.
Jonas fragte auf Portugiesisch: »Você já tirou fotos nuas?
Hast du schon einmal Aktfotos machen lassen, Lucida?«
»Auf keinen Fall«, sie lachte, »höchstens im Badeanzug, in Sao Paolo. Gib mir bitte meine Tasche. Ich will mir die Hände eincremen.«
»Selbstverständlich«, übersetzte Jonas, »in Sao Paolo ist bei jedem Mann damit zu rechnen. Für Luke zwei trägt sie ständig Gleitcreme in ihrer Handtasche.«
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»Gut. Ich schalte die Kamera ein. Ihr hebt sie auf die Werkbank. Du fesselst sie, Jonas. Bist du ebenfalls bereit, Sabine?«
»Let’s do it.«
Jonas hob beide Hände: »Sexualmagie im Namen seiner Majestät des Satans.« Seine Stimme klang nach Heavy Metal. »Ejakulation als Katharsis. Alle Portale sind verschlossen. There is no turning back. Von hier unten klingt kein Laut nach oben.«
Der Opernplatz verdöste diesen Nachmittag unter grauen Wolken. Den ganzen Morgen tröpfelte Nieselregen. Gerade wurde der Himmel heller. Wie erwartet, ignorierte eine Limousine pünktlich um sechzehn Uhr dreißig das Fahr-verbotsschild am Rande des Areals. Erst unmittelbar vor der Freitreppe stoppte sie. Der Beifahrer stieg aus. Er öffnete die hintere Tür, ergriff die Hand einer Dame, half ihr aus dem Wagen und reichte ihr den Arm. Sie schwebte mit ihm zu der breiten Treppe am Eingang des Konzerthauses.
Maike Mainwald wusste, wer hier schwebte: ein Model namens Cora Just. Kaum älter als zwanzig. Eine Fernsehshow kürte sie zu Deutschlands nächstem Superstar. Ge-wandet in Kreationen eines namhaften Pariser Haute-Couturiers stöckelte sie dem Konzert des Jahres entgegen.
Einem Geisterkonzert.
Ihr Begleiter hieß Julian Kleebohm. In einer Kombination aus Seiden-Sakko mit Chino-Hose schritt er ebenso sty-lisch einher.
Das Paar betrat die Treppe, während der weiße BMW genauso leise entschwand, wie er kam.
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Cora Just ging eine Stufe voraus. Julian Kleebohm berührte den Saum ihres Teller-Rockes. Ein Windstoß bauschte das hauchdünne Gewebe über ihre Oberschenkel. Der Begleiter fasste scheinbar geistesgegenwärtig nach der matt schimmernden Seide. Einem zufälligen Passanten wäre aufgefallen, wie linkisch sich der Mann dabei anstellte.
Ausgerechnet in diesem Augenblick schien das zerbrechli-che Mädchen zu stolpern, womöglich über eine feuchte Stufe. Um das Gleichgewicht zu halten, beugte sie sich vor.
Der federleichte Batist hingegen kam den Regeln der Schwerkraft nach, indem er über ihren Rücken glitt. Für Sekunden leuchtete ihr weißes Gesäß völlig entblößt von der Treppe; Unterwäsche trug sie nicht. Durch die Hilfe des Kavaliers kam sie auf die Beine.
Schnell streifte ihre Hand den Stoff glatt, der an der Aufga-be, ihre Sahnehaut zu verhüllen, so grandios scheiterte.
Anmutig wandte sie den Kopf, um dem Kavalier hinter ihr mit einem Handkuss für seine Hilfe zu danken. Die Szene dauerte fünf Sekunden. Zuschauer gab es keine. Das Gast-spiel von Andrea Bocelli begann erst in zwei Stunden; auf dem Opernplatz bewegten sich lediglich einige Tauben.
Gelangweilt richteten sie ihre Blicke auf den Boden, um irgendetwas Essbares zu suchen.
Maike Mainwald saß an einem Café-Tisch auf der anderen Seite des Platzes, gut achtzig Meter von der Freitreppe entfernt. Das Haar schob sie aus dem Gesicht, um sich über die Stirn zu wischen. Obwohl das Thermometer vierundzwanzig Grad anzeigte, trug sie ein langärmeliges Shirt über schwarzen Jeans zu halbhohen Sportschuhen. Ihr einziges Schmuckstück war ein Kreuz mit einem kleinen 13
Ring im Zentrum, das an einem Silberkettchen um den Hals baumelte. Ein Blender – der dem Täter die Illusion einer Beute geben könnte, falls sie jemand überfiel. Ihren schwarzen Anorak hatte sie auf den Stuhl neben sich gelegt.
Normalerweise würde sie hier einen Tee trinken. Das Kaffeehaus war seit Mitte März geschlossen. Wegen des Lockdowns. Die Betreiber hatten die Terrasse mit rot-weißen Flatterbändern abgesperrt. Maike war darunter hindurch-gekrochen.
Bei Außen-Terminen gestaltete sie ihre Garderobe weder geschmackvoll noch originell. Aber praktisch.
Vor ihr stand ein kleines Dreibeinstativ auf der Tischplatte, so hoch wie eine Postkarte. Darauf eine Amateurkame-ra.
Die Verkäuferin am Kiosk mochte sie für eine Touristin halten, die das Gebäude gegenüber besonders liebevoll ablichtete; den historisierenden Nachbau eines klassizisti-schen Theaters.
Dabei schob sich aus dem Gehäuse der Sony-Kamera unauffällig ein Zoom-Objektiv, das bei dieser Distanz die Szene auf der Treppe des Opernhauses formatfüllend auf den Sensor bannte.
Beruhigt begutachtete Maike die Schärfe in Ausschnitten im elektronischen Sucher, ohne das Auge davon zu lösen; unbemerktes Fotografieren folgt seinen eigenen Regeln.
Sie schaltete zurück auf Durchsicht.
Das angehende Topmodel verschwand mit dem Begleiter längst durch das Portal. Im Sucher sah Maike ein halb offenes Milchglasfenster neben der Treppe, knapp über dem Boden. Offensichtlich hatte sie das kleine Stativ um wenige Millimeter verschoben. Intuitiv fuhr sie den Zoom-Tubus ganz nach vorn. Sie schaute in einen Wirtschaftsraum, wo 14
sie den Rücken einer Frau in einem hellblauen Kleid erkannte, die sich soeben umdrehte. Maike drückte den Auslöser halb, damit der Autofokus die Schärfe nachführte. Sie sah in ein unbekanntes Gesicht.
»Ich störe ungern«, unterbrach sie eine fremde Stimme,
»sprechen Sie deutsch?« Der strenge Tonfall stammte von einer Polizistin.
»Guten Tag.« Maike löste ihren Blick von der Szene.
»Es ist verboten, im Bereich der Kaffeehaus-Möbel Platz zu nehmen, solange das Lokal geschlossen bleibt. Die Absperrbänder haben Sie gesehen, oder?«
»Entschuldigen Sie, das wusste ich überhaupt nicht. Ich gehe sofort.«
Als die Gesetzeshüterin verschwunden war, schaute Maike erneut durch den Sucher. Er bildete nach wie vor das Fenster ab. Sonst passierte dort nichts mehr. Sie schaltete den Fotoapparat aus.
Über ihre Schulter hing Maike eine kleine Panasonic-Kamera. Flugs zog sie den Anorak darüber. In der Jacke war für ihre Sony eine Tasche eingenäht, daneben ein Kö-cher für das Ministativ.
Maike hob das rot-weiße Band in die Höhe, bevor sie die Terrasse des Cafés verließ.
Mit dem I-Phone rief sie Marion Mutt an, eine Mitarbeiterin der ‚Zuffenbacher Nachrichten‘. »Stell‘ dir vor: Ich habe Cora Just erwischt, die von DSDS. Mit blankem Po. Auf der Treppe zur Alten Oper. Keine halbe Stunde her.«
»Wie kommst du da hin, Maike?«
»Zufall. Windy Upskirt. No Panties.«
»Her damit.« Gegen eine Provision bot sie Maike Mainwalds Bilder den Agenturen an. »Was ist denn dort los?«
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»Um sieben Uhr steigt in aller Stille ein Geisterkonzert.
Das sollte ursprünglich das Ereignis des Jahres werden.
Dann hat Corona den Yuppies den Spaß verhagelt.«
»Ich rufe dich gleich zurück. Bin ebenfalls auf Termin.
Bleib‘, wo du bist.«
Der Eingang zu dem unterirdischen Parkdeck lag in Sicht-weite. Maikes Ampera stand im ersten Untergeschoss. Als sie die Tür aufschloss, klingelte das Telefon. Marion.
Maike klemmte das Headset fest, während sie den Laptop auf dem Beifahrersitz hochfuhr. »Wiederhole das bitte. Ich bin im Parkhaus. Schlechter Empfang. Ich sehe einen einzigen Balken. Mein Computer lutscht sich gerade die Bilder auf die Festplatte.« Maike schob den Memorystick aus ihrer Kamera in einen Kartenleser.
»Ich sehe hier die Homepage von Frankfurt auf meinem Handy. Da ist ein Hinweis. Ist das dieser Schnulzen-Bocelli?«
»Genau der.«
»Hätte ich dich akkreditieren können. Die müssten dich aber auch so da ‘reinlassen. Kannst du eventuell ein Bild von ihm auf der Bühne machen? Vielleicht kriegst du dabei noch mal Cora Just als Zuschauerin auf die Platte.«
»Selbstverständlich schieße ich ihn. Ja, Andrea Bocelli.« Sie tippte einige Befehle in den Rechner. »Keinen blassen Schimmer, wo Cora Just sitzt, Marion. Ich tue, was geht.«
»Mitte März sagten die Veranstalter alle Termine in der Alten Oper ab. Wieso gibt es da etwas heute?«
»Es handelt sich um ein Konzert für eine private Fernseh-anstalt. Ohne Publikum. In dem riesigen Saal sollen sich höchstens hundert handverlesene Medienvertreter aufhal-ten. Wer zusammengehört, darf nebeneinandersitzen – für alle anderen gilt der Mindestabstand. Lese ich grade auf 16
der Seite der Pressestelle. Ich denke, dass ich ‘reinkomme.
Ich melde mich. Ciao.«
Maike warf einen Blick in ihr Postfach bei OkCupid. Es war leer.
Mit einer Zigarette hinter dem Ohr verließ sie den Wagen.
Fünf Minuten später schob Maike Mainwald am VIP-Schalter des Opernhauses ihren Presse-Ausweis unter einem Kunststoff-Schirm hindurch.
»Fotos sind ausschließlich während der ersten drei Arien erlaubt. Kein Blitz«, die Frau hinter dem Acrylglas spulte ihre Standardsprüche ab. »Bitte unterschreiben Sie hier unten. Ich drucke Ihnen gerade ein Namenskärtchen aus.
Das heften Sie an das Revers Ihrer Jacke. Hier, der Pressetext mit aktuellen Zahlen. Ich gebe Ihnen eine Key-Card für Fotojournalisten. Werfen Sie die Karte später hier hinein«, sie zeigte auf einen Schlitz neben dem VIP-Schalter,
»kennen Sie sich hier aus?«
»Ich bin zu selten hier.«
»Ob sie ein Interview bekommen, entscheidet der PR-Manager. Wünschen Sie, ihn zu sprechen, oder machen Sie ausschließlich Bühnenaufnahmen?«
»Bühnenaufnahmen. Am liebsten aus der Nähe.«
»Sie dürfen zum Orchestergraben. Den Bühnenaufzug finden Sie im Basement bei den Garderoben. Die Ebenen darunter sind gesperrt. Drücken Sie auf ‚Vordere Bühne‘. Die Tür zum Orchestergraben ist beschildert. Fragen Sie eine meiner Kolleginnen, wenn sie unsicher sind.«
Bis zum Beginn blieb für Maike über eine Stunde.
Ob sie noch einmal nach draußen gehen sollte, um eine Zigarette zu rauchen?
Hätte sie das bloß getan.
Maike hielt einer blau Uniformierten ihre Keycard unter den Laserstrahl, hob eine Kordel hoch, schlüpfte hindurch 17
und ging die teppichbelegte Treppe hinunter. Überall dämpften weiche Textilien die Schritte. Das Licht leuchtete weniger warm als oben.
In einem hellen Gang waren die Türen mit ‚Wardrobe‘ sowie fortlaufenden Nummern gekennzeichnet. Gleich links befand sich der Bühnenlift. Die Kabinentüren des Fahrstuhls standen offen. Die ‚Vordere Bühne‘ lag vier Etagen höher. Es gab drei tiefere Ebenen, deren Knöpfe unbe-leuchtet waren. Maike drückte einen. Keine Reaktion.
Wiederholt geriet Maike während ihrer Laufbahn in ir-gendeinen Schlamassel – als Folge kindlicher Neugier ge-paart mit Abenteuerlust. Stets wollte sie irgendetwas auf den Grund gehen. Im Augenblick fragte sie sich, welche Geheimnisse in dieser Kellerkonstruktion verborgen waren, viele Meter unter dem Opernplatz. Sie vermutete wenig Personal derzeit; es arbeiteten gerade diejenigen, die unverzichtbar waren, um den Betrieb aufrechtzuerhalten.
Am Ende des Ganges fiel ihr eine Metalltür ohne Schild auf. Sie war unverschlossen. Niemand zu sehen.
Dahinter eine Betontreppe nach unten.
Es gab weder Schalter noch Lichtschranken, die Leucht-stoffröhren brannten hier ständig.
Bis sie ganz unten ankam, wurden die Stufen kontinuier-lich schmutziger. Einige waren feucht. Ausschließlich die eigenen Geräusche hallten von den kahlen Wänden. Es roch nach Öl.
Eine weitere Feuertür. Der Knopf ließ sich keinen Millimeter drehen.
Ob man von hier das Parkhaus erreichte?
Ein neuer Versuch. Vergebens.
Wenn sie nicht weiterkam, musste sie die drei oder vier Stockwerke über die Treppe wieder zurück nach oben.
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In diesem Augenblick wurde die Tür von innen aufge-drückt.
Maike Mainwald wich zurück.
Ein Mann stand vor ihr. Größer als Maike, schwer be-stimmbares Alter. Schwarzer Anzug, schwarzes Hemd, schwarze Bürste, schwarzer Vollbart, schwarzer Hut in der Hand. Er trug eine rote Krawatte, auf der in weißer Schrift drei stilisierte Sechsen eingestickt waren. Im linken Nasenloch erkannte sie eine Perle. Die Tür hielt er mit dem Oberarm auf.
Der Mann taxierte sie vom Gesicht bis zu den Fußspitzen.
Ein Blick, gedrungen wie seine Schultern.
Maike schloss den Anorak.
»Ah, ein Sweetie in Schwarz.« Er schob die Hand unter ihr Halskettchen. »Gierig nach Black Metal?« Die letzten Worte stieß er guttural aus.
»Was meinen Sie?«
»Du trägst das Mittsommerkreuz.« Es geschah zum zweiten Mal, dass jemand aus der Metal-Szene sie auf das Rad-kreuz ansprach, das vor ihrer Brust schaukelte. Der Hype war doch längst vorbei, oder? Auf dem nächsten Floh-markt musste ein anderes Schmuckstück her. »Might is Right.« Seine Stimme klang wie von einer Mayhem-CD.
»Lust und Freiheit.« Er hob die Brauen. Drei Finger stri-chen wie Werkzeuge über ihren Arm.
Maike schüttelte die Hand ab. »Ich bin dienstlich hier.«
Im Bruchteil einer Sekunde wirbelte sie herum. Mit einem Sprung erreichte sie die zweite Treppenstufe. Dass die Fläche glitschig war, realisierte sie erst, als sie abrutschte.
Hart schlug sie mit dem Knie auf eine Betonkante.
Der Mann ergriff ihren Arm. »Darf ich behilflich sein, gnä-dige Frau?« Er wuchtete sie hoch. Ruckartig drehte er ihren Körper zu sich. Maike nahm einen leichten Jasminge-19
ruch wahr. Oder Lavendel. Mit der rechten Hand umarmte er sie von hinten. »Auf dem Kärtchen steht, du bist Journalistin. Ich sah dich nie zuvor. Bist du etwa illegal hier unten?«
»Wer sind Sie eigentlich?« Das Knie tat höllisch weh.
»Schlechtes Gewissen? Gestatten, Jonathan B, Security.«
Ein Blick in sein Gesicht. »Seltsamer Name.« Sie fasste nach dem Knie. Bestimmt war die Haut weg.
»Du findest den Namen bei XHamster. Oder PornHub.«
Maike wollte den Oberkörper nach hinten beugen.
Der Mann hielt sie umklammert.
Griff fester zu.
»Jonathan B befriedigt alle ordentlich. Außerdem duldet er keinen Widerspruch.«
Hart presste er sie an seinen Körper.
Maike glaubte, jeden seiner Muskeln zu spüren.
Er lockerte den Griff: »Freunde nennen mich Jonas.« Damit erfasste er ihren Arm, trat einen Schritt zurück und riss sie mit sich in den halbdunklen Gang. »Komm, wir machen es uns gemütlich.«
Die Feuertür fiel hinter ihnen ins Schloss. Der Flur war eng.
»Lass mich.«
Er drückte sie mit seinem schweren Körper an die Wand, küsste sie auf den Mund.
Maike presste die Lippen zusammen. Sie drehte den Kopf.
»Mistkerl.«
Jonas fasste in ihre Haare.
»Sprich weiter. Außer mir gibt es keinen, der dich hier unten hört.«
Er schob sie in einen hell erleuchteten Raum.
Brutal quetschte er sie an ein Regal. Den rechten Arm bog er ihr auf den Rücken. Mit der anderen Hand betastete er 20
ihren Oberkörper. Offenbar bemerkte er die Kamera in der Jacke. Fest schaute er in ihre Augen, zog bedächtig den Zip des Reißverschlusses nach unten, schob die Jacke auseinander, griff ihr satt zwischen die Oberschenkel.
Tausend Gedanken schossen Maike durch den Kopf. Um ihn loszuwerden, brauchte sie Abstand.
Er ertastete die kleinen Brüste unter dem dünnen Shirt, begann mit beiden Händen, sie zusammenzudrücken.
Zu spät nahm er wahr, dass Maike die Beine anzog.
Mit beiden Schuhen sprang sie auf seinen rechten Fuß.
Gleichzeitig drehte sie den Oberkörper und stieß die flache Hand nach seinem Kehlkopf.
Er taumelte zurück.
Maike riss das rechte Bein hoch.
Der Mann sprang zurück, knallte gegen einen Schrank.
Sie hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten.
Jonas ergriff einen länglichen Gegenstand, schleuderte ihn zu ihr.
Maike duckte sich. Sie spürte einen Luftzug. Das Rohr, oder was es war, knallte hinter ihr an die Wand. Sie hechtete ihm entgegen, warf ihn gegen den Schrank, sprang zurück.
Jonathan B richtete sich auf. Er packte einen Hammer.
Maike holte mit dem rechten Fuß aus. Sie wusste, dass man den Chucks nicht ansah, wie hart sie treffen konnten.
Das Blut in ihren Adern wandelte sich in Gift. Ein fester Tritt in die Eier.
Ein animalischer Schrei. Sein Oberkörper klappte vor.
Mit der rechten Hand grapschte sie ihm ins Haar und schlug seinen Kopf auf ihr Knie. Den Hammer ließ er fallen.
Sie riss irgendeine Tür auf.
Ein Treppenhaus.
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Mit einem rekordverdächtigen Spurt erreichte sie das erste Podest.
War das die Tür unten?
Maike rutschte auf einer feuchten Stufe ab, fiel erneut auf die Knie. Ein stechender Schmerz.
Laute Schuhe ein paar Stufen tiefer.
Ein Blick zurück. Sie hörte ihn, bevor sie ihn sah.
Bloß fort. Nach oben.
Der nächste Treppenabsatz.
Sie musste die Geräusche ausblenden, die von unten kamen.
Ein weiteres Podest. Eine Tür mit Klinke. Dahinter ein Durchgang.
Geräusche von unten. Sie kamen näher.
Hier war sie nie zuvor. Sie rannte durch einen endlosen Flur.
Bloß nicht umdrehen.
Rechts ein Gang mit einem offenen Tor. Dahinter eine Rampe.
Das Lieferantenportal auf der Rückseite.
Hinaus.
Maike sah sich um.
Waren das schnelle Schritte hinter ihr?
Sie lief um das ganze Gebäude herum.
Die Umrisse der Freitreppe.
Sie spähte nach allen Seiten.
Niemand folgte ihr.
Gierig zündete sie eine Zigarette an.
Ein Lungenzug. Weg mit der Kippe. Weiter.
Sie rannte in das Parkhaus.
Wenige Augenblicke später zog Maike die Fahrertür ihres Autos zu, betätigte die Zentralverriegelung, lehnte sich zurück, legte beide Hände auf das Lenkrad. Nach drei Mi-22
nuten schlug ihr Herz ruhiger. Das Knie schmerzte. Sie schob sich das Kettchen über den Kopf.
Verflucht. Mit der rechten Hand berührte sie ihr Auge. Die Kontaktlinse war verrutscht.
Das kam selten vor. Aber viel sah sie nicht in diesem Zustand.
Maike kniff das rechte Lid nach unten und wechselte ein-äugig auf einen Frauenparkplatz.
Nach mehreren Versuchen gelang es ihr, die Linse zu korrigieren.
Maike sank in den Autositz. Sie schloss beide Augen.
Keine hundert Meter weiter unterbrach um siebzehn Uhr dreißig ein Kaffeelöffel die Stille des Samstagnachmittags.
Er schlug auf die Steinfliesen eines Brunnens, von wo er noch etwas weiter hüpfte. Ein fröhliches Quartett hatte sich hier niedergelassen. Durch ein Überdach war dies der einzige trockene Platz im Park.
Auf einem Mäuerchen saß Bodo Graf Carl von Zuffen, Chefredakteur der ‚Freien Post‘. Neben ihm die Gräfin Angela, seine Gattin. Sie bewachte einen traditionellen Picknick-korb. »Niemals habe ich so eine ungewöhnliche Feier erlebt.« Angela räumte das Kaffeegeschirr ab.
»Wir lassen uns von so einem Lockdown nicht ins Bocks-horn jagen. Wie unsere Altvorderen picknicken wir im Park.« Der Graf fasste nach einer Flasche Dom Pérignon.
»Entkorken wir den Champagner.«
Die Gräfin verteilte Gläser. Von ihrem Mann ließ sie sich die geöffnete Flasche reichen, um einzugießen.
Gegenüber auf einer Bank saß das Ehepaar Schellfisch. Die beiden kannten Bodo bereits. Bianca Schellfisch fragte 23
sich, ob er in Gegenwart seiner Frau eine seiner schlüpfri-gen Anekdoten anschnitt.
Bodo von Zuffen enttäuschte sie nicht, indem er zugleich seiner Vorliebe für altphilologische Kalendersprüche frön-te: »Gar langsam steigen die Temperaturen. Es sind die Laster der Nymphe, der wir diesen Anflug von Vorsommer verdanken.« Er wies mit seinem Glas zu einer ersten feuchten Rose am Wegesrand.
Angela von Zuffen rollte mit den Augen: »Wovon spricht mein Gebieter?«
Maximilian Schellfisch hob das Glas. Unauffällig stieß er mit dem Fuß seine Bianca an, bevor sie einen ihrer flapsi-gen Kommentare zum Besten geben konnte.
Bodo von Zuffen bemerkte es offenbar nicht: »Ich erwähnte, wie der Gedanke an den Lenz das Ansinnen der Nymphe Flora ins Wollüstige wandelte. Die Griechen nannten sie Thallo. Kaum hatte sie uns Menschen den Frühling erhaucht, gewann ihre Libido die Oberhand: Sie wandte sich ab von den Menschen, um sich dem Zephyr hinzuge-ben.«
»Von wegen Hingabe«, seine Frau fiel ihm ins Wort, »der lüsterne Zephyr hat sie besprungen – oder fragte er sie etwa?«
Unschuldig spitzte Bodo die Lippen: »Von Missbrauch ist bei Ovid keine Rede, meine Liebe.« Traumwandlerisch steuerte er den Verlauf des Gespräches ins Schlüpfrige.
»Gewalt gegen Frauen war in der Antike weiterverbreitet als das ‚Anflirten‘ pubertierender Jungs, von dem unsere Töchter den ganzen Tag reden«, parierte Angel von Zuffen.
»Zugegeben. Frauen hatten den Status eines Haushaltsge-rätes. Dieses ‚Anflirten‘, wie du es nennst, war wohl so selbstverständlich, dass es nie erwähnt wurde.«
»Frauen waren Gebärmaschinen.«
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»Hesiod und Ovid lassen in ihren Werken Kupido, den Sohn der Venus, durchaus seine Pfeile abschießen. Auf der anderen Seite: Zephyr, der vom Berge kommende, der mil-de Westwind also, ist ausgesprochen sanft. Zephyr, erzählt Ovid, verfolgte die Nymphe Flora, um sich mit ihr, na? – zu ver-mäh-len.«
»Wobei so eine Hochzeit sicher anders ablief als heute.«
»Zephyr folgt jedenfalls den herrschenden Sitten, bevor er die Nymphe, ähm, begattet.« Herr von Zuffen schob die Ärmel der Armani-Jacke betont achtlos zurück. »Und was geschah, als Flora unbedarft den Mund öffnete? Oooh«, zu einer Kunstpause spitzt er die Lippen, »da entschlüpften ihr die Frühlingsrosen.« Gemächlich stand er auf, brach die Rose ab und hob sie an seine Nase.
»Mein Souverän, du bist ein Erotomane.«
»Wenn von geöffneten Lippen die Rede ist, vermutet mein humanistisch geschultes Weib natürlich sofort, dass da-raufhin – flutsch – ein Phallus in den Mund der anmutigen Nymphe schlüpft.« Er überreichte Bianca die Rose. »Einen Fellatio-ähnlichen Vollzug deutet Ovid derweil bedauerli-cherweise nirgends an.«
Bianca wurde warm; sie öffnete den obersten Knopf ihrer Bluse.
»Niemand könnte dein anzügliches Innuendo missverste-hen, mein Regent. Ich weiß, woran du denkst, wenn es um die alten Römer geht«, Frau von Zuffen zwinkerte mit dem linken Auge. »Genießen wir lieber den herrlichen Ausblick über den Platz auf das wunderschöne Gebäude, dessen Wiederaufbau sich die Bürger erkämpft haben. Nach so einem Regen sieht alles aus, wie frisch gewaschen.«
»Honi soit qui mal y pense.« Halb gebückt warf Bodo aus den Augenwinkeln einen Blick in Biancas Blusenaus-schnitt. »Darf ich mich für ein paar Minuten entschuldi-25
gen? Ich will dort drüben die sanitären Anlagen inspizie-ren.« Er verließ den Platz am Brunnen, um zu einem Toi-lettenhäuschen zu schlendern.
Bianca drehte sich zu Frau von Zuffen: »Das ist ganz schön nervig, dich zu siezen, Angela.«
»Das spreche ich gleich an, Bianca. Ich möchte allerdings vorläufig vermeiden, dass er von unserem Shooting erfährt. Es genügt, wenn er später die fertigen Bilder sieht.«
»Ist okay so«, Bianca grinste, »du bist die Chefin.«
Als Bodo von Zuffen sich erneut dem Brunnen näherte, sprach seine Frau ihn direkt an: »Ich denke, wir sollten uns privat duzen, Bodo.«
»Einverstanden. Morgen bin ich wie gehabt der Herr Chefredakteur der ‚Freien Post‘.« Die ‚Post‘ war das Leib- und Magenblatt von Weiterstadt. Er hob das Sektglas. »Mein Name ist Bodo.«
Bianca registrierte ein runenhaftes s-förmiges Muttermal auf dem rechten Handrücken. Und dass der schwere Siegelring an seinem rechten Ringfinger deutlich eine Rose zeigte. Am linken Arm erkannte sie das gleiche Motiv auf dem goldenen Armband einer Rolex.
»Ich bin Max.« Maximilian Schellfisch zog den schwarzen Seiden-Rolli zurecht. Ausnahmsweise trug er eine gebügel-te Hose darunter. Der Lokalreporter arbeitete seit einem halben Jahr in der Redaktion.
Erst als Max schwieg, schaute Bianca zu Bodo. So ruhig wie möglich, nannte sie ihren Vornamen. »Bianca.« Es war das zweite Mal, dass Maximilians Chef Bianca und Max einlud. Lediglich die journalistische Crème de la Crème wurde zu diesem Geisterkonzert zugelassen – wie ihr Max versicherte. Bianca wusste es zu schätzen.
Frau von Zuffens Augen strahlten. »Ich mag diesen Namen.
Das wollte ich dir schon beim Geburtstag sagen. Bianca, 26
die Weiße, die Reine, die Glänzende. Ein Name wie ein Gedicht. In mir wogen lyrische Wonnen wachsweicher Wörter: Bi-an-ca – welch willkommene Wortwabe.« Biancas Gesichtsfarbe wechselte. »Nennt mich Angela.« Sie wies auf ihren Gatten: »Ich bin der persönliche Engel seiner Majestät des Satans.«
Bodo strich sich über das dünne Haar. »Manche Engel sind schön wie Mephisto.«
»Wenn Engel zu Teufelinnen werden, sind sie sogar klüger als der Satan.« Gazellenhaft warf Angela die dunkelblonde Mähne zurück. »Kein Wunder, dass sie uns einst als Hexen verbrannten.« Täglich trieb sie Sport, wie sie Bianca gestand; die Glätte ihrer Haut verdankte sie fähigen Chirur-gen. »So ist, was ihr das Verworfene nennt, mein eigentliches Element.«
Bodo musste Angela übertreffen: »B-i-an-ca. Rundlich wölbt sich das B vor einem fließend weichen I, dem sich ein lyrisch erstauntes A anschließt.« Bianca wusste von Max, dass Bodo sich mit der Produktion moderner Lyrik beschäftigte, ebenso wie seine Frau. Ein befreundeter Verleger publizierte ein schmales Gedicht-Bändchen der Ehe-leute.
»Vorsicht: Bodo ist der Fürst der Finsternis. Es bleibt deshalb nie bei schönen Namen, die er mit allen Sinnen ver-schlingt«, Angela drehte sich zu Bianca, »sondern explizit Boobs and Butts.«
Bodo lachte mit dem ganzen Oberkörper – bis er sich Champagner über die Finger goss.
Angela bemerkte es: »Von weiblichem Liebreiz lässt er seine Skelettmuskulatur so leicht irritieren, dass manch guter Tropfen daneben geht.«
»Da werden Gläser zu Fontänen«, Bodo leckte seine Finger ab, trocknete sie an der Hose, erhob sich, blieb hinter Bi-27
anca stehen: »Schaut her. Ein Rosenverkäufer.« Er sagte es so laut, dass es wahrscheinlich überall im Park zu hören war.
Alle schauten zu dem Mann mit den schulterlangen Locken.
Lautlos schob Bodo von hinten seine Hand über Biancas Schulter am Hals vorbei in ihren Blusen-Ausschnitt und fasste kraftvoll zu – ein Griff, den Bianca nur zu gut kannte.
Blitzartig zog er die Hand zurück.
Bianca atmete mit geschlossenem Mund. Sie drehte den Kopf zu ihm.
Bodo setzte seinen Hundeblick auf; wie die anderen schaute er zu dem Rosenverkäufer.
Angela lachte: »Schön, dass es das noch gibt.«
Bodo stellte sich neben Angela. »Da fällt mir ein: Ich denke, dass der VIP-Schalter geöffnet ist. Entschuldigt mich bitte für ein paar Minuten. Ich kläre die Lage unserer Plätze.«
Maike Mainwald streckte sich im Autositz.
Dieses Gesicht. Ihr war das Gesicht des Mannes im Tiefge-schoss des Konzerthauses bekannt vorgekommen. Sie drückte den Bildschirm des Computers hoch. Mit unterschiedlichen Schreibweisen fragte sie die Suchmaschine.
Google fand einen ‚Jonathan B‘ bei XHamster. Der war schlanker. Ohne Bart. Längere Haare. Das gleiche Ergebnis bei PornHub. Sie verließ das Sex-Portal. Die Suchmaschine spuckte unter ‚Jonathan B‘ ältere Fotos von einem Leicht-athletikwettbewerb aus. Dort hieß er Jonas Barkendorff.
Der Typ im Keller nannte sich doch Jonas, oder?
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Ein Facebook-Eintrag mit diesem Namen war überschrie-ben: »Schöne Frauen nennen mich Viagra.« Das Foto war unscharf. Über dreihundert Freunde. Sie klickte sich durch die Bilder. Da stieß sie auf ein bekanntes Gesicht: DJ FloPo.
Ihr FloPo. Florian Poslowsky. Den würde sie sich einmal vorknöpfen.
Später.
Aktuell wartete ihr Auftrag.
Maike Mainwald ging zum Kofferraum, streifte ihre Jacke ab, legte die beiden kleinen Kameras in eine Tasche. Das Knie tat ihr weh.
Sie litt öfter unter Kopfschmerzen. Deshalb trug sie stets Ibuprofen in ihrer Jacke. Ob dieses Medikament auch gegen Knieschmerzen half?
Immer wieder blickte sie sich um. Glücklicherweise funk-tionierten beide Augen wieder. Sie hing sich ein schweres Gehäuse mit einem lichtstarken Objektiv über die Schulter.
Erneut zog sie den Anorak an. Maike griff nach einem zweiten Gehäuse des gleichen Kalibers, auf das sie ein zwanzig Zentimeter dickes Tele-Objektiv schraubte. Sie klappte den Kofferraum langsamer zu als gewöhnlich.
Während sie das Parkhaus verließ, schaute sie beständig nach allen Seiten.
Neben der blau uniformierten Hostess am Eingang stand kurz vor sieben ein Sicherheitsmitarbeiter, der sich ihren Presseausweis zeigen ließ. Auf dem Weg zum Aufzug im Basement flogen ihre Augen durch den Flur.
Da sah sie ihn.
Jonathan B.
Er stand direkt vor dem Lift. Unterhielt sich mit einer Hostess.
Maike drehte sich um, huschte die Treppe hoch, hob die Kordel an, schlüpfte darunter hindurch.
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Sie fragte eine Uniformierte nach der vorderen Bühne.
»Kommen Sie. Ich bringe Sie hin.«
Maike atmete tief durch.
Überall weißer Marmor, dicke Vorhänge.
Von Jonathan B war nichts zu sehen.
Im Orchestergraben rieb sie sich das schmerzende Knie.
Es war nicht aufgeschlagen. Aufmerksam drehte sie sich um. In der Reihe eins, keine drei Meter entfernt, saß Cora Just, das angehende Topmodel. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke.
Hier war keine Security zu sehen.
Maike Mainwald legte den Fotoapparat mit dem Tele-Objektiv auf die Parkett-Dielen. Sie holte die Kamera unter der Jacke hervor. Als Maike das Knie beugte, spürt sie sofort einen Stich. Sie ging üblicherweise beim Fotografieren zwischendurch in die Hocke. Das würde sie diesmal bleiben lassen.
Cora Just entdeckte die Fotografin. Sie setzte sich gerade, schlug bedächtig die Beine übereinander, verwandelte ihre nachdenkliche Physiognomie in ein einstudiertes Lächeln.
Musiker stimmten ihre Instrumente. Der Dirigent streifte Maike Mainwald, als er zum Pult schritt. Sie zuckte zusammen. Niemand trug eine Maske. Erst ein paar Tage später würde das Tragen dieser Masken zur Pflicht.
Sie machte Übersichtsaufnahmen, um die vielen leeren Sitzplätze zu dokumentieren. Bis der Star erschien.
Großaufnahme der Bühne mit Bocelli vor dem Orchester.
Etwa in der Mitte des ersten Liedes ließ sie die Kamera unter dem Anorak verschwinden. Nun arbeitete sie mit dem schweren Objektiv.
Der blinde Andrea Bocelli schloss häufig seine Lider. Zeitweise verdeckte das Mikrofon Teile des Gesichtes. Dennoch gelang es ihr irgendwann, ihn mit halb offenen Augen 30
abzubilden, das Mikrofon in kurzem Abstand vor den geöffneten Lippen. Eine scheinbar natürliche Pose, wie sie die Bildredakteure liebten.
Gleich einer Diebin verließ sie den Konzertsaal.
In ihrem Schlafzimmer präparierte Sabine Klaarens eine Pfeife. Sie zündete sie mit einem Streichholz an, schob den Vorhang des Baldachins zur Seite und glitt in die Kissen.
Bedächtig hielt sie den Rauch im Mund, bevor sie die Lippen öffnete.
Das Herz hämmerte in ihre Schläfen.
Nach drei Minuten legte sie die Pfeife zur Seite.
Sie schaute in den Posteingang ihres Telefons. Vor vierzehn Tagen bekam sie eine SMS von Maike Mainwald. Nach langer Zeit. Sie habe Kapazitäten frei. Im Klartext: Maike brauchte dringend Geld.
Als Volontärin lernte Maike bei Sabine das journalistische Handwerk. Sabine erkannte schnell, dass Maike eine seltene Gabe besaß: Jedes Geschehen konnte sie in Windeseile im Kopf in zweidimensionale Bilder umwandeln. Andere Fotografen brauchten Jahre, um das zu lernen.
Nachdem Maikes Volontariat endete, verloren sie sich aus den Augen. Vor sechs Jahren? Vor sieben? Bisweilen trafen sie sich bei Außenterminen.
Ob Maike erreichbar war?
»Schön, dass du anrufst, Sabine. Ich komme soeben von einem Shooting.«
»Wann hast du das Interview bei Belda?«
»Am Mittwoch früh. Danke für den Tipp mit der Filmproduktion. Wie lange machst du das schon?«
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»Seit Anfang des Jahres. Prinzipiell ist es lukrativ, als Kamerafrau zu arbeiten. Die Honorare in den Printmedien rutschen momentan ins Lächerliche. Bei Belda solltest du achtzig in der Stunde aufrufen. Zahlt er mir auch. Mach‘s keinesfalls drunter. Nachmittags oder abends kannst du andere Termine wahrnehmen.«
»Wie viele Stunden kommen denn pro Woche zusammen?«
»Ein Dreh dauert drei Stunden. Es gibt vier Drehs pro Woche, manchmal fünf. Dazu kommen drei bis vier Stunden fürs Schneiden. Also fünfzehn Stunden die Woche, gelegentlich zwanzig.«
»Hört sich gut an. Das Fotografieren bringt weniger ein.«
»Es sei denn, du fotografierst Kunst.«
»Das erwähntest du. Wie kommst du dazu?«
»Da ist Anja Seffken unterwegs, meine beste Freundin.
Anja ist Malerin. Bisweilen organisiert sie Happenings. Ihr trefft euch morgen. Hat sie mir erzählt. Du coverst die Per-fomance mit den Wasserpistolen. In letzter Zeit konzentriert sich Anja Seffken auf Installationen für die großen Kunsthallen. Wer drin ist, ist drin. Das ist eine andere Welt.«
»Kann ich mir kaum vorstellen.«
»Kürzlich reproduzierte ich Bilder für einen Kunstkatalog.
Da verdiente ich in vier Tagen so viel, wie sonst im ganzen Monat.«
»Gibt es Folgeaufträge?«
»Erstaunlicherweise. Ein Sammler in Basel bat mich, alle seine Kunstwerke zu fotografieren. Damit bin ich bestimmt ein halbes Jahr beschäftigt. Ähnliche Kataloge wollen die Museen haben. Es sieht gerade so aus, als könnte ich mir in diesem Bereich einen Namen machen. Da gibt es Platz zum Arbeiten, Blitzlichtanlagen mit polarisiertem 32
Licht, überall Menschen im Kittel, die beim Umräumen helfen. Alles sehr komfortabel.«
»Glückwunsch. Wann willst du in der Filmproduktion aufhören?«
»Zum Ende des Monats habe ich bei Jan Belda gekündigt.
Als Nachfolgerin dachte ich sofort an dich. Videos machst du schon, für die Abendschau. Das Schneiden lernst du schnell. Ich bringe es dir bei.«
»Schön. Hast du in den nächsten Tagen etwas vor?«
»Ja. Morgen früh muss ich um halb acht ‘raus. Ausnahmsweise. Wir drehen diesen Sonntag in einer Mall in Rüsselsheim. Weil die ab Montag wieder geöffnet ist. Das Set ist dort schon drei Tage; die Mall ist seit Mitte März geschlossen. Am Montag geht es dann in einem geschlossenen Klub weiter. Da sind wir bis Freitag täglich vormittags.
Wir beide treffen uns am besten, wenn du mit Belda gesprochen hast. Vielleicht Mittwochnachmittag. Oder Donnerstag.«
Das Gespräch mit Maike tat ihr gut.
Bis halb acht waren es zwar noch zwölf Stunden; doch ihr Herz führte sich auf, wie eine dieser Dampframmen beim U-Bahn-Bau.
Wie lange war das her mit der U-Bahn? Dreißig Jahre? Es war im wilden Osten. Wie hieß dieses Animierlokal damals? Maxim. In Dresden. Maxim, genau. Sabine auf der Bühne. In einer Peepshow. Unfassbar.
Sabines Blick fiel auf den großen Spezialkoffer, in dem ihr Violoncello steckte. Ob sie ihre Freundin Anja besuchen sollte, die sie auf dem Akkordeon begleitete? Wenn Andreas da wäre, könnte der ihr in seinem Büro eine Line legen, ohne dass Anja das mitbekäme.
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