Moderne Lüste - Detlef Siegfried - E-Book

Moderne Lüste E-Book

Detlef Siegfried

4,7

Beschreibung

Die erste Biografie Ernest Bornemans zum 100. Geburtstag des berühmten Jazzkritikers, Dokumentarfilmers und Sexualwissenschaftlers am 12. April 2015. Borneman, Jungkommunist mit jüdischem Familienhintergrund, emigrierte 1933, sechs Wochen vor dem Abitur, nach London. Sein Geld verdiente er durch Jobs in der Filmbranche, als Journalist und Schriftsteller. Während des Krieges wurde er als »feindlicher Ausländer" inhaftiert und in Kanada interniert. Dort arbeitete er ab 1941 für das National Film Board und drehte eine Reihe von Dokumentarfilmen, darunter Propagandafilme gegen das »Dritte Reich". Gleichzeitig stieg er zu einem einflussreichen Jazzkritiker auf, der nach Kriegsende u. a. als Kolumnist des legendären »Melody Maker" arbeitete. Seit den späten 60er Jahren wurde Borneman zu einem der prominentesten Sexualwissenschaftler im deutschen Sprachraum, der die Idee der »Sexuellen Revolution" propagierte und damit Zustimmung ebenso wie Widerspruch erntete. Einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde er durch seine Bücher (»Das Patriarchat" 1975), Sex-Ratgeberkolumnen in der »Neuen Revue" und zahlreiche Auftritte im deutschen und österreichischen Fernsehen. Mit seinen Themen Jazz, Film und Sex bewegte sich Borneman auf Feldern, an denen die spezifischen Sinneswahrnehmungen der Moderne des 20. Jahrhunderts und die um sie entstehenden Deutungskonflikte deutlich sichtbar werden. Detlef Siegfried zeichnet Bornemans bewegtes Leben nach und stellt sein Wirken aus sinnesgeschichtlicher Perspektive dar.

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Detlef Siegfried

Moderne LüsteErnest Borneman

Jazzkritiker, Filmemacher,Sexforscher

Gedruckt mit Unterstützung derHerbert und Elsbeth Weichmann-Stiftung

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnetdiese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2015www.wallstein-verlag.deVom Verlag gesetzt aus der Stempel GaramondUmschlaggestaltung: Susanne Gerhards, DüsseldorfSG-Collage unter Verwendung folgender Fotos: undatiertes PorträtfotoErnest Bornemans (ca. 50er Jahre) und Rex Stewart (1949), Quelle: StephenBorneman; Ausschnitt aus dem Plakat für Bornemans Film »The BlackGlove« (1954); Filmrolle, Quelle: Coyau@WikimediaCommonsDruck und Verarbeitung: Hubert & Co, GöttingenISBN (Print) 978-3-8353-1673-7ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2751-1ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2789-4

Inhalt

Einleitung

»In mir habt Ihr einen, auf den könnt Ihr nicht bauen.«Konstanten und Konstruktionen

Eva | Was ist wahr? Leben in unsicheren Zeiten | »The Face on the Cutting-Room Floor« | Vorbild Brecht | »In diesem Sinne bin ich ein Jude«. Lob der Diaspora

HörenDie Ethnologie des Jazz

Das schwarze London. Eine transkulturelle Erfahrung | »A History of American Negro Music« | »The Anthropologist Looks at Jazz« | Im Krieg der Kritiker. Blues gegen Swing und Bebop | Jazz in Paris | Jazz im Film | Der Beat ist zurück. Das Blues-Revival in Großbritannien | Jazz in Deutschland | Die spanische Färbung. Kreolischer Jazz | Sound and Vision. Beat im Fernsehen | Schwarzes Licht, weißer Schatten. Free Jazz und Black Nationalism | »Ich möchte wohl ein Neger sein«

SehenDas Leben auf der Leinwand

National Film Board of Canada | Laokoon im Schaffenskampf | Borneman und Grierson | Inhalt und Form | Arbeit und Vergnügen | Verfolgung der Familien | UNESCO | Back to Berlin | »Dear Ernest, live simply.« Zusammenarbeit mit Orson Welles | Freiberuflich für Fernsehen und Radio | In den Chefetagen des britischen Privatfernsehens | Zurück nach Deutschland? | Freies Fernsehen | Geschmackswellen erfinden. Bornemans Konzept | Das Programm | Unterhaltung oder Information? | Programm und Ästhetik des Fernsehens | Familien- oder Zielgruppenprogramm? | »Deutsches« oder »englisches« Fernsehen?

BerührenSex und Gesellschaft

Freiheit von Angst. Die »sexuelle Revolution« | Die Sexuallexika | Kindliche Sexualität | Das veröffentlichte Private. Bornemans Sexleben | »Marx der Frauenbewegung«. »Das Patriarchat« und der Feminismus der 70er Jahre | Die Entstehung des »Hauptwerks« | Bornemans Psychologie und die Verwissenschaftlichung des Sozialen | Die öffentliche Debatte um »Das Patriarchat« | Die Rezeption in der Frauenbewegung | Bornemans Wunschautobiografie. Die »Ur-Szene« | »Sex-Onkel« in den Medien | Neue Revue | Die Auseinandersetzung mit Volkmar Sigusch | Sexualität konkret | Trieb und Strafe | Dauergast in den Talkshows | Pädophilie und Kindesmissbrauch | Aus!

Leichen am WegrandSchluss

Anmerkungen

Abkürzungen

Bildnachweis

Quellen und Literatur

Personenregister

Mein Weltbild ist nicht platonisch, sondern epikuräisch.

Ernest Borneman

Einleitung

Auf Ernest Borneman gestoßen bin ich bei Recherchen zu einem anderen Projekt. Im Archiv von Radio Bremen entdeckte ich, dass er der Erfinder des berühmten »Beat Club« war, der als erstes deutsches Fernsehprogramm Beat- und Popmusik auf den Bildschirm brachte. Dadurch bekam dieses populärkulturelle Phänomen der 60er Jahre plötzlich eine ungeahnte historisch-politische Tiefe. Vage hatte ich den Namen aus den 80er Jahren in Erinnerung, als Propagandist sexueller Emanzipation. Mich interessierte die Allianz von Jazz, Film und Sex, die jedes für sich im 20. Jahrhundert ein wichtiges Element moderner Kultur darstellten, aber in der Person Bornemans offenbar eine Verbindung eingegangen waren, die mir ungewöhnlich schien. Wohl spielen sie im Alltag vieler Menschen eine Rolle, aber als Gegenstand tiefen, teils wissenschaftlichen Engagements sind sie in dieser Kombination wohl selten anzutreffen. Ein gemeinsamer Fokus, von dem aus sie sinnvoll zueinander in Beziehung gesetzt werden können, ist nicht leicht auszumachen.

Es gibt andere Hürden, die mit der Spannung von Dichtung und Wahrheit zu tun haben. Ernest Borneman hat stets polarisiert. Er wurde gefeiert als Vorkämpfer des Jazz und einer befreiten Sexualität, während andere ihn für einen anmaßenden Selbstdarsteller und Hochstapler hielten. Grundlage des Einen wie des Anderen waren seine weitgespannten publizistischen Aktivitäten, seine Arbeit bei Film und Fernsehen sowie seine Präsenz in den Massenmedien. Borneman war ein unermüdlicher Autodidakt, dem eine konventionelle akademische Ausbildung verwehrt blieb, weil er kurz vor dem Abitur im Sommer 1933 aus Deutschland geflohen war und daher nicht studieren konnte. Das Exil in England und Kanada war der Angelpunkt seines Lebens – ein der deutschen Normalerfahrung entrückter Ort, für Borneman Raum politischer, kultureller und wissenschaftlicher Sozialisation ebenso wie Projektionsfläche und phantastische Sphäre ex post. Er betätigte sich als eifriger Arbeiter an seiner eigenen Biografie, schuf die aus Realitätsfragmenten und Imaginationen geformte »biografische Illusion« (Pierre Bourdieu) einer Lebenskontinuität als Außenseiter, um die Validität seiner Auffassungen, nicht zuletzt seine Autorität als unkonventioneller Wissenschaftler zu untermauern. Gleichzeitig haben Zweifel an diesen Darstellungen die Wahrnehmung seiner Person in der Öffentlichkeit beeinflusst. So ist die Arbeit an Bornemans Biografie immer auch eine Auseinandersetzung mit autobiografischen Konstruktionen durch Korrelation mit zeitgenössischen Quellen. Aber auch in dieser Hinsicht sind endgültige Sicherheiten nicht zu erwarten, weil neue Quellen das Bild verändern könnten. Was hier geboten werden kann, ist nicht mehr als ein vorläufiger Stand der Dinge aus einer ganz bestimmten Perspektive.

Wie nähert man sich einer Biografie, die schon auf den ersten Blick so vielfältig ist, so reich an Bezügen zu Politik, Gesellschaft und Kunst des 20. Jahrhunderts? Viele übergeordnete Perspektiven sind denkbar und wären auch für zukünftige Arbeiten fruchtbar: die Prägekraft der Emigration, das Verhältnis von Utopie, Politik und Wissenschaft, die Bedeutung des jüdischen Familienhintergrunds, die autobiografische Konstruktion als Form strategischer Erinnerung. Mein Blick richtet sich, wie schon angedeutet, vor allem auf Ernest Bornemans Interesse an Kulturtechniken der Moderne, die in seiner Zeit als Spitze des Fortschritts betrachtet wurden und denen ein besonderes Reflexions- bzw. Selbstdeutungspotenzial für die Gesellschaft zugeschrieben wurde: Jazz als dem am meisten avantgardistischen und zugleich populären Musikstil über die erste Jahrhunderthälfte hinaus, Film als dem ambitioniertesten Ausdruck der visuellen Kultur des 20. Jahrhunderts, der »sexuellen Revolution« als weitestgehender Umwälzung intimer Körperpraktiken und -diskurse. Angesichts der Tatsache, dass es sich um Modernisierungsvorgänge handelt, die besonders stark die Emotionen berühren, ist es bemerkenswert, dass Bornemans Zugang zu diesen Themen unterfüttert wird durch ein ebenfalls avantgardistisches Selbstverständnis als Marxist – und zwar im Modus einer »neuen Sachlichkeit« im Sinne Bertolt Brechts, die die rational kontrollierte Bearbeitung besonders stark affektiv besetzter Themen ermöglichen sollte. Dabei war er alles andere als ein distanzierter Beobachter. Borneman verfiel diesen Lüsten der Moderne, aber er suchte sie auch theoretisch zu verstehen und praktisch zu gestalten. Daraus entstand eine Spannung von Genuss und Disziplin, die nicht ganz uncharakteristisch für einen bestimmten Typus des Intellektuellen im 20. Jahrhundert war.

Karikatur von Jean Veenenbos für den Standard

Es fällt auf, dass Ernest Borneman in seiner Selbstwahrnehmung, aus der Sicht von Freunden und Bekannten, aber auch in der Öffentlichkeit als sinnlicher Mann erschien, als ein Hedonist, der das Leben zu genießen wusste. Die obenstehende Karikatur, die ihn in sommerlichem Outfit entspannt an einem Cafétisch zeigt, ist dafür kennzeichnend.

Und das, obwohl er immer wieder beteuerte, er arbeite 14 oder 16 Stunden täglich, ohne Wochenende, ohne Urlaub. Dem Selbstbild des unablässig tätigen Sisyphos standen andere Erzählungen und Praktiken entgegen: das Nachtleben in den Bars von London, Paris und Frankfurt, der ständige Begleiter der späten Jahre – ein handgemachter Lederkoffer mit Platz für zwei Flaschen (Whisky und Wasser) sowie zwei Gläser –, freimütige Berichte über ein reges Sexualleben, die Nähe zu den Stars des Jazz und des Films. Schaut man auf die Themen, die Borneman beschäftigt haben, so behandeln sie jedes für sich spezifische Formen der Sinneswahrnehmung in der Moderne des 20. Jahrhunderts. Damit ist jene »Hochmoderne« gemeint, die, wie Ulrich Herbert sie periodisiert, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts beginnt, um 1990 endet und damit ziemlich genau jene Epoche bezeichnet, in der Film, Jazz und das Ideal einer Liberalisierung der Sexualität ihre Hochzeit hatten.1

Lüste und ihre physiologische Wahrnehmungsgrundlage, die Sinne, haben Geschichte, ebenso wie Politik oder Wirtschaft. Die Art und Weise, in der die Menschen gesehen, gehört, gerochen, geschmeckt und berührt haben – die »sensorische Mentalität« ihrer Zeit (Martin Jay) – hat sich ebenso verändert wie ihre Deutung dessen.2 Die Kämpfe, die darum immer wieder ausgefochten wurden, geben Aufschluss über die Selbstbilder und Ideale der Zeitgenossen. Jazz, Film und »sexuelle Revolution« sind sehr disparate Themen, aber ihnen ist gemeinsam, dass sie spezifische Formen der Produktion von Sinnlichkeit und der Sinneswahrnehmung im 20. Jahrhundert repräsentieren. Die Moderne hat neben neuen Basisprozessen in der Entwicklung von Gesellschaft und Politik – Industrialisierung, Urbanisierung, Rationalisierung, Individualisierung – neue Formen der Kunst hervorgebracht, die diese Umwälzungen reflektiert haben. Der moderne Roman, moderne Malerei, Fotografie haben den Wandel der Zeit anders behandelt als ihre Vorgänger: fragmentierter, abstrakter, alltagsnäher. Manche Künste sind überhaupt erst mit der Moderne entstanden, etwa durch neue technische Erfindungen, und spielten bei der Selbstwahrnehmung der modernen Gesellschaft eine zentrale Rolle: die Schallplatte, der Tonfilm, Radio und Fernsehen. Als technische Medien veränderten sie nicht nur die Klang- und Bildlandschaften des 20. Jahrhunderts, sondern auch die Sinneswahrnehmung. Zwei der Spezialgebiete, auf die sich Borneman geworfen hat, der Jazz und der Film, wurden als typische Ausdrucksmittel der Moderne aufgefasst – eine den Veränderungen in Gesellschaft und Politik angemessene Form der Wahrnehmung und Bearbeitung, die die Emotionen veränderten. In ihrer Frühzeit an der Entwicklung dieser beiden Felder beteiligt, hat Borneman ihre Gestaltung beeinflusst.

Auf dem Gebiet der Musik gehörte der Jazz zu den markanten künstlerischen Ausdrucksformen des 20. Jahrhunderts. Schon zuvor als »moderne Musik« wahrgenommen, avancierte er nach dem Zweiten Weltkrieg, Ingrid Monson zufolge, zur »komplexesten und interessantesten Tonsprache des 20. Jahrhunderts«.3 Für den Historiker und Jazzkenner Eric Hobsbawm war der Jazz das bemerkenswerteste kulturelle Phänomen des Jahrhunderts, weil er den Wandel der Gesellschaft in einem umfassenden Sinne abbildete – neben ihren musikalischen Präferenzen auch »Rassen-« und Klassenverhältnisse, Wirtschaft, Politik.4 Gleichzeitig tobten um den Jazz jene Deutungskämpfe zwischen den Polen Kunst und Populärkultur, wie sie auch beim Film sichtbar wurden. Gehört wurde Jazz auch individuell, aber seine Deutung ging vor allem kollektiv vonstatten – ob man ihn mehr oder minder stark körperlich ausagieren sollte, gehörte zu den umstrittenen Aspekten.

Das Sehen ist aus einer traditionellen westlichen Perspektive der wichtigste Sinn gewesen, mit dessen Hilfe die Menschen ihre Welt konzeptionalisiert haben. Während für die Fotografie ein Authentizitätsvorsprung vor dem Gemälde behauptet wurde, löste seit Ende des 19. Jahrhunderts der Film durch die Präsentation bewegter Bilder eine noch stärkere Wirklichkeitssuggestion aus. Gleichzeitig wurde er zu einer Kunstform und zum idealen Medium für Unterhaltung durch fiktive Geschichten, was wiederum das Postulat vom »Sieg des rationalen Auges in der Moderne« in Frage stellte.5 Die Spannung zwischen dem Anspruch auf Abbildung der Wirklichkeit und der Erzählung erfundener Geschichten spielte in der Geschichte des Films eine bedeutende Rolle, wobei klügere Köpfe schon früh den konstruierten Charakter auch des Dokumentarfilms erkannten. Zunächst im Kino, dann mit noch breiterer Massenwirkung im Fernsehen war der Film das bedeutendste visuelle Medium der Hochmoderne.

Die taktile Wahrnehmung, häufig als minder wichtig betrachtet, hat im 20. Jahrhundert eine enorme Aufwertung erfahren. Seit Sigmund Freud galt Sexualität nicht nur als zentrale Triebkraft menschlichen Verhaltens, sondern auf dem Weg der Sublimierung auch als kulturschaffende Macht. Dies stand einer Auffassung von Sexualität entgegen, wie sie häufig von Staat und Kirche vertreten wurde, die die Gefahren der intimen Berührung in den Vordergrund stellte und Triebunterdrückung forderte. Sexuelle Liberalisierung war das Anliegen von Reformbewegungen in der Weimarer Republik, die durch den Nationalsozialismus abgebrochen wurden und in der Bundesrepublik erst seit den späten 50er Jahren wieder an Kraft gewannen. Durch die Pille, Kommerzialisierung, Medialisierung und die von der 68er-Bewegung vorgetragene Idee der »sexuellen Revolution« erodierten traditionelle Normen, nahm die Toleranz für verschiedenste Neigungen und Praktiken zu, während gleichzeitig neue Grenzen sexueller Freiheit entstanden.

Es ist interessant und kennzeichnend, dass Ernest Borneman gerade Jazz, Film und Sexualität zu seinen Themen erkoren und sie intensiv erforscht und bearbeitet hat. Er war tief verwurzelt in der Sinnenwelt des 20. Jahrhunderts, die zu verstehen und aus einer bestimmten Position heraus zu gestalten er sich bemühte. Dass diese disparaten Felder ebenso wenig im Konflikt zueinander standen wie die unermüdliche Arbeit an ihnen zu einem hedonistischen Habitus, gehört zum Bild. Aus diesem Grunde scheint es mir sinnvoll, eine Biografie Ernest Bornemans unter der Perspektive der Sinne zu betrachten, die ihm nicht nur Lustspender waren, sondern auch Wege zur Erkenntnis und zur Veränderung der Welt eröffnet haben. Sie fragt danach, wie Borneman den Jazz, den Film und die Sexualität gedeutet, wie er sich zu konkurrierenden Interpretationen positioniert und inwieweit er das Verständnis seiner Zeitgenossen beeinflusst hat. Borneman wird hier also nicht nur um seiner selbst willen behandelt, sondern seine Biografie dient auch als Sonde in eine Welt der Wahrnehmungen und Gefühle, die in den vergangenen Jahren auch in der deutschen Geschichtswissenschaft auf Interesse gestoßen ist – nicht zuletzt im Hinblick auf die Geschichte von Bildern, Klängen und Körpern. Folgt man diesem Erkenntnisinteresse, dann kann Bornemans Biografie nicht durchgängig linear erzählt werden, auch wenn die Darstellung auf einem chronologischen Raster ruht. Es versteht sich von selbst, dass nicht alle biografischen Verästelungen, wie sie auch hier teilweise mit einfließen, unter diese eine Perspektive zu zwingen sind.

Bei »Moderne« handelt es sich nicht nur um ein gesellschaftliches und ästhetisches, sondern auch ein politisches Konzept, bei dem die Idee der Demokratisierung eine wichtige Rolle spielt. Als Marxist strebte Borneman Egalität nicht nur im Sinne der repräsentativen Demokratie an, sondern auf allen gesellschaftlichen Feldern, speziell im sozialen Leben. Dies wurde nicht nur in den inhaltlichen Zielen seines Engagements beim National Film Board of Canada und in seinen Arbeiten als Jazzkritiker, sondern auch bei seinen Bemühungen als Sexualwissenschaftler und Geschlechtsforscher deutlich, wo er sich, mitunter zum Unwillen der Betroffenen, besonders für die Emanzipation der Frauen einsetzte. Gleichzeitig griff Bornemans Bezugsrahmen weiter aus, weil er Vorläufer des Modernen in der Vormoderne sah und sich auch an ihnen orientierte. Dies scheint in einem Brief an seine Freundin Eva auf, in dem er Ähnlichkeiten zwischen all den Inspirationsquellen, die sie beide mochten, behauptete: »merkwürdig, wie diese Sammlung Außenstehenden erscheinen muss. Joyce-Hemingway-Blues-Elizabethanische Volkslieder-mittelalterliche Liebeslyrik-Büchner-Brecht-de Coster – das ist wirklich eine Verwandtschaftslinie.«6

Dies alles kann nicht als eindimensionale Fortschrittsgeschichte gelesen werden, wie Bornemans Beschäftigung mit dem Jazz als afroamerikanischer Kultur ebenso zeigt wie seine Arbeiten als Sexualwissenschaftler. In der afroamerikanischen Erfahrung wird die dunkle Seite der Moderne – Sklaverei, Rassentrennung, Ausbeutung und politische Unterdrückung – ebenso sichtbar wie der auch auf der ästhetischen Ebene geführte Kampf gegen Ausgrenzung nach ethnischen Kriterien. Auch auf dem Gebiet der Sexualität hat eine spezielle »Dialektik der Aufklärung«, so die Sexualwissenschaftlerin Sophinette Becker, dazu geführt, dass das Ideal einer »sexuellen Befreiung« berechtigt war und in seiner Absolutheit gleichzeitig gescheitert ist – gegen Bornemans Willen und zu seiner großen Verzweiflung.7

* * *

Man muss nicht besonders egozentrisch sein, um die Zeugnisse des eigenen Lebens aufzubewahren: Briefe, Erinnerungsstücke, selbst verfertigte Texte. Borneman war ein Sammler nicht nur im Hinblick auf seine Arbeitsweise, sondern auch in eigener Sache. Von Beginn an hat er alles aufgehoben, was von ihm produziert wurde oder über ihn Auskunft gab. Und nicht nur das. Er hat routinemäßig Durchschläge der eigenen Briefe an andere angefertigt, so dass nicht, wie sonst üblich, nur die eingegangene Post, sondern oftmals der komplette Briefwechsel überliefert ist. Mitunter hat er Briefpartner darum gebeten, ihm einen handschriftlich verfassten Brief zurückzuschicken, wenn er die dort niedergelegten Gedanken für besonders wertvoll hielt und sie weiter verwenden wollte. Nicht nur seine Briefe an Eva, seine Frau, finden sich in seinem Nachlass (sie sind nach ihrem Tod in seinen Besitz übergegangen), sondern auch seine Briefe an die Eltern, um deren Rückgabe er nach dem Krieg gebeten haben muss. Das alles wurde nach Quellensorten geordnet und – Korrespondenzpartner in alphabetischer Ordnung – in Mappen aufbewahrt, so dass es leicht zugänglich war. Hier war ganz offensichtlich nicht nur ein manischer Enzyklopädist am Werk, sondern auch ein großes Ego. Hinzu kam: Als Freiberufler war Borneman sein eigenes Büro; er konnte nicht auf ein Sekretariat zurückgreifen, sondern musste selbst dafür sorgen, dass sein Material schnell griffbereit war – vor allem die professionelle Korrespondenz und die Manuskripte. So kam es, dass nach seinem Tode, nachdem sein großer Bestand zum Jazz bereits im Archiv der Akademie der Künste gelagert war, noch etwa siebzig große Umzugskartons weiterer Akten nach Berlin gelangten – Bücher nicht inbegriffen. Eine gigantische Masse an Material, trotz der inneren Ordnung schwer zu überschauen, weil es bislang, mit Ausnahme der Quellen zum Jazz, nur sehr grob sortiert werden konnte.8 Eine genaue Verzeichnung steht erst noch bevor. Ich habe den bei weitem größten Teil dieser Quellen gesichtet und zusätzlich Archive in Europa und Nordamerika konsultiert, in denen Borneman Spuren hinterlassen hat – teils, um trotz der Fülle vorhandene Lücken zu schließen, vor allem aber, um das Spektrum an Fremdwahrnehmungen zu erweitern und genauer rekonstruieren zu können, wie er von seiner Umwelt gesehen wurde. Eine weitere Lücke, die durch den Nachlass allein nicht zu füllen ist, stellen seine zahlreichen Publikationen dar, die dort nur zu einem kleinen Teil verwahrt sind. Das hat damit zu tun, dass Bornemans riesige Bibliothek, darunter seine eigenen Bücher und Belegexemplare von Sammelbänden und Zeitschriftennummern, in denen er publiziert hat, an die Bibliothek der Wiener Arbeiterkammer gegangen und dort nicht mehr als separierte Sammlung vorhanden ist, sondern in den Bestand eingepflegt wurde. Wer sich nicht mit den Manuskripten zufriedengeben will, die in unterschiedlichen Versionen vorhanden sind, muss die gedruckten Texte beschaffen. Trotz des überwältigenden Materials ist also Vollständigkeit weder in der Überlieferung noch gar in dieser Darstellung zu erwarten. Erst nach der Ordnung und Verzeichnung des Nachlasses wird man in der Lage sein, zielgerichteter und systematischer Teilbereiche zu erfassen. Insofern wird hier trotz der Möglichkeit einer teilweise sehr detaillierten Rekonstruktion ein unvollständiges Bild gegeben.9

* * *

Bei der Arbeit an diesem Buch habe ich vom Sachverstand und der Hilfsbereitschaft vieler Menschen, von der Großzügigkeit mancher Institution profitiert. Ich danke Werner Grünzweig, dem Leiter der Musikabteilung im Archiv der Akademie der Künste, für seine unschätzbare Hilfe bei der Arbeit mit Bornemans Nachlass. Ich danke Dagmar Herzog, Michael Rauhut und Susanne Regener für die Durchsicht von Teilen des Manuskripts und kritisch-ermunterndes Feedback. Dankbar bin ich auch für die kollegiale Zusammenarbeit mit Rolf Aurich und Wolfgang Jacobsen von der Stiftung Deutsche Kinemathek und für Diskussionen mit Ulrike Heider. Stephen Borneman bin ich verbunden für einen langen Nachmittag in Wien, bei dem ich viel über seine Eltern gelernt habe, und für die Überlassung seiner großen Fotosammlung. Für Auskünfte und Materialien danke ich Franz Altrichter, Norbert Hackbusch, Reinhard Lorenz und Irmi Novak. Sarah Gottschalk und Klara Gade Thomsen haben bei der Archivrecherche und der Zusammenstellung des Literaturverzeichnisses geholfen, René Christensen hat die Digitalisierung der Fotos besorgt. Und schließlich haben Hanna Leitgeb, Stefanie Mürbe und Thedel von Wallmoden dafür gesorgt, dass aus dem Manuskript ein Buch wurde. Ihnen allen danke ich ebenso wie dem Department of English, German and Romance Studies und dem Center for Modern European Studies der Universität Kopenhagen sowie der Herbert und Elsbeth Weichmann-Stiftung, Hamburg, für die finanzielle Unterstützung meiner Forschungsreisen. Die Weichmann-Stiftung hat außerdem durch einen Zuschuss die Drucklegung ermöglicht.

»In mir habt Ihr einen, auf denkönnt Ihr nicht bauen.«

KONSTANTEN UND KONSTRUKTIONEN

Geschrieben hat er von Jugend an. Überliefert ist ein erstes Buchmanuskript, das Ernst Bornemann im Alter von 17 Jahren verfasst hat – 264 Seiten stark und für einen so jungen Autor bemerkenswert wohlformuliert.1 »Fahrt ohne Ziel« ist ein Bericht über eine Reise nach Schweden, die er im Sommer 1932 gemeinsamen mit seinem Freund Herbert Louis Steinthal unternommen hatte, Sohn des Berlin-Korrespondenten der linksliberalen Kopenhagener Tageszeitung Politiken. Das Buch beginnt mit einer Vorstellung der Protagonisten, die Hinweise auf des Autors Selbstwahrnehmung als junger Mann gibt: »Wir – das heißt Louis, siebzehn Jahre alt, dänischer Staatsangehöriger, seit mehr als zehn Jahren in Berlin ansässig, mittelgroß, schlank, ungeheuer höflich […]. Dann ich selbst, Ernst Bornemann, genannt Mac, Mackie oder – mit Fahrtennamen – Schlentiger. Ich bin sechzehn Jahre alt, deutscher Staatsangehöriger und wohne manchmal, wenn ich nicht gerade auf Fahrt bin, in der großen Stadt Berlin. Ich habe zwei Leidenschaften: zu tippeln und Negerlieder zu singen.« Der selbst gewählte Spitzname deutet auf eine Brecht-Affinität hin, Reiselust und Jazzbegeisterung werden lebenslange Passionen bleiben. Auch im weiteren Verlauf enthüllt der »Roman« die geistige Verfassung eines jungen Mannes mit einem starken Interesse für das Moderne in Architektur, Musik und Film, das sich auf der Fahrt von Norrköping über Stockholm, Göteborg und Kopenhagen im Angesicht des skandinavischen Funktionalismus entfaltet. »Endlich einmal neue Sachlichkeit aus Ziegeln, ich habe so lange danach gesucht, das Chilehaus in Hamburg war ja nur eine Zwischenlösung«. »Nirgends beleidigen Stuckornamente des Fin-de-Siècle-Stils das Auge des Beschauers.« Stockholm war für ihn »die leibhaftige Realisation einer Fritz Langschen Metropolisphantasie«, ihm gefiel die »amerikanisierte Atmosphäre« im Städtebau. Für Borneman war diese Reise auch ein »Abschied von der Jugend«, weil seine Eltern glaubten, aus wirtschaftlichen Gründen ihr Geschäft für Kinderbekleidung am Kaiserdamm 116 in Charlottenburg schließen zu müssen, und er, Ernest, sollte von der Schule abgehen und Geld verdienen in einer Stettiner Druckerei. Doch es kam anders.

Ernst Bornemann, am 12. April 1915 als einziges Kind von Curt und Hertha Bornemann (geb. Blochert) in Berlin geboren, blieb bis zum Sommer 1933 auf der Karl-Marx-Schule. Die von Fritz Karsen geleitete Reformschule war koedukativ, konfessionsübergreifend und sozial integrativ ausgerichtet und erprobte mit Projekten, polytechnischem Unterricht und Auflösung der Klassen neue pädagogische Formen. Der junge Mann liebte diese Schule, die seine letzte Rettung war, denn schon zwei Mal war er wegen politischer Aktivitäten von anderen Instituten verwiesen worden.2 Er war Mitglied des Sozialistischen Schülerbundes (SSB), einer KPD-nahen Organisation, und Redakteur ihrer Zeitschrift Schulkampf.3 Die Karl-Marx-Schule war eine Hochburg des SSB, an der u. a. die linken Theoretiker Karl Korsch, Siegfried Bernfeld und der KPD-Bildungspolitiker Edwin Hoernle unterrichteten.4 In der Rückschau deutete Borneman seine Sozialisation im SSB als entscheidenden Politisierungsimpuls, die Diskussion zwischen den verschiedenen sozialistisch-kommunistischen Strömungen »gehörten zu den interessantesten, lebendigsten und aufschlussreichsten Erlebnissen meiner Jugend«.5 Im Nachhinein attestierte er sich und seinen Freunden: »Wir waren frühreif: sexuell mit 14, politisch mit 15, intellektuell zwischen 14 und 16.«6

Faschingsfeier der Kunstklasse, Karl-Marx-Schule.Borneman hintere Reihe, Dritter von rechts

Ernest Borneman – so nannte er sich seit der Emigration nach England – ging am 5. Juli 1933, wenige Wochen vor dem Abitur, aus Deutschland fort. Er gelangte mit einem Schülertransport nach London. In seiner 1977 erschienenen Autobiografie erklärte er seine Flucht damit, dass »Mitgliederlisten« von Wilhelm Reichs Sexualkliniken durch die SA beschlagnahmt worden seien, wodurch er gefährdet gewesen sei.7 In älteren Quellen aus der Nachkriegszeit, bei denen es um die Möglichkeit einer Wiedergutmachung ging, ist davon nicht die Rede, sondern es heißt unspezifischer: »Meiner Erinnerung nach geschah das Folgende: Ich empfing eine Warnung, dass ich bereits auf der Gestapo-Liste stand, und versuchte, mit dem Schüleraustausch aus Deutschland herauszukommen, da der Beamte, der sich mit der Liste der erwählten Schüler beschäftigte, ein Sozialdemokrat war, der meinen Namen im letzten Augenblick auf die Liste gesetzt hat.«8 Im Briefwechsel mit seinem Vater, der die Argumentationsmöglichkeiten abwog, wird Wilhelm Reich mit keinem Wort erwähnt, wohl aber ist von einer allgemeinen Bedrohung die Rede. »Dass Du Verfolgungen ausgesetzt warst, kann ich bezeugen. Du bist oft verspätet nach Haus gekommen, weil Euch die Oberschüler anderer Schulen und die älteren Hitlerjungen aufgelauert haben, um Euch zu verprügeln. Das wichtigste Argument aber um zu beweisen, dass die Gestapo bereits ein Auge auf Dich geworfen hatte, war dieses: Im Herbst 1933 […] kamen zwei baumlange Gestapoleute zu uns in den Laden, um Dich zu verhaften. Da Du glücklicherweise nicht anwesend warst, sondern schon in London, fragten sie uns über alles, was Du in den letzten Jahren getrieben hättest, genau aus und behaupteten bei dieser Gelegenheit auch, dass Du in Sowjetrussland gewesen seiest. Ein halbes Jahr später kam noch einmal ein Beamter, um sich nach Deinem Aufenthaltsort zu erkundigen.«9 Die Korrespondenz vom Sommer 1933 macht deutlich, dass die Eltern sich darum bemühten, ihren Sohn zur Rückkehr zu bewegen. Die Mutter schrieb ihm: »Schließlich brauchst Du ja nicht unbedingt raus aus Deutschland, wie so viele andere jetzt.«10 Der Vater meinte, er könne auch ohne Abitur als Volontär bei einer Zeitung unterkommen, allerdings nicht ohne Zugeständnisse an die politische Situation: »Du müsstest dann nur lernen, unpolitisch zu schreiben«.11 Obwohl der 18jährige sich in London wohl fühlte, gab es Phasen, in denen er mit dem Gedanken an eine Weiterreise spielte – New York und Brasilien wurden erwogen –, doch eine Rückkehr nach Berlin kam nicht in Frage.12 Ob nun tatsächlich aus politischen Gründen, aus Gründen der Abenteuerlust oder einer Mischung von beidem, ist nicht klar zu entscheiden. Als er im Frühjahr 1934 kurzzeitig doch die Rückkehr nach Deutschland erwog, rieten die Eltern ihm dringend ab – insbesondere die Mutter, die die Lage realistischer sah als der Vater. Als ein Verwandter, Ernst Levinsohn, 1938 Berlin verließ, berichtete ihm seine Tante Erna von dessen Verhör durch die Gestapo. Die hatte in Levinsohns Notizbuch Bornemans Adresse gefunden. »Hoffentlich schadet es Dir nicht. Er musste auf die Staatspolizei, um sich 4 Stunden kreuz und quer verhören zu lassen, schließlich musste er unterschreiben, dass er zum Herbst aus Deutschland heraus muss. Man hat ihm ganz genau gesagt, dass Du auf der Karl-Marx-Schule warst und sie wollten wissen, wie oft er mit Dir zusammen war, er will gesagt haben, wie eben öfter Verwandte zusammen kommen.«13

Curt und Hertha Bornemann auf dem Wannsee, 1937/38

Als Ernest Borneman 1935 die Aufforderung erreichte, sich in Deutschland der Wehrpflicht zu unterziehen, erschien er nicht.14 1936 meldete er sich beim deutschen Konsulat »zur Erfüllung der aktiven Dienstpflicht und Arbeitsdienstpflicht« und wurde zur Ersatzreserve II überwiesen. Das Dokument trug die Unterschrift des Konsuls, doch das Feld, in dem Borneman hätte unterschreiben müssen, blieb frei.15 Jedenfalls trat er nicht an, woraufhin ihm die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen wurde.16 Die Naturalisierung in Großbritannien gelang vor Kriegsende nicht, aber seit Ende 1945, als er in Kanada eingebürgert wurde, wechselte er mehrfach nicht nur die Länder, sondern auch die Staatsangehörigkeiten: 1959 wurde er schließlich doch British subject, 1961 erkannten die bundesdeutschen Behörden seine deutsche Staatsangehörigkeit an, 1976 wurde er in Österreich naturalisiert. So oder so war die Emigration seine Rettung. Nüchtern schrieb er 1942, mitten im Krieg, seiner Freundin Eva: »If I had stayed home nine years ago I’d have a fair chance of being in my grave now«.17

Eva

Eva Geisel, geboren am 16. Juni 1912 in Barnes, England, und damit drei Jahre älter als Ernest Borneman, kam aus einer jüdischen Familie.18 Ihre Mutter war Engländerin, ihr Vater Deutscher. Nach dem 1931 in Berlin abgelegten Abitur studierte sie Germanistik, Anglistik und Publizistik in Freiburg und Berlin und ging im September 1933 nach London, wo sie u. a. als Film- und Theaterkritikerin beim New Statesman, außerdem bei Fenner Brockways New Leader arbeitete, seit 1937 war sie Mitarbeiterin der Presseabteilung von Columbia Pictures.19 Ihre Eltern folgten ihr nach den antisemitischen Pogromen von 1938 und emigrierten nach England. Während des Krieges war Eva Geisel politisch aktiv, unterstützte jüdische Flüchtlinge, sprach für die BBC Propagandasendungen, die sich an deutsche Frauen richteten, arbeitete für die Freie Deutsche Jugend und bewarb sich – ob mit oder ohne Erfolg, ist nicht bekannt – beim Political Intelligence Service des Foreign Office.20 1943 siedelte sie nach Kanada über, wo sie noch im selben Jahr ihren Freund Ernest heiratete. Am 16. Juli 1947 wurde das einzige Kind des Paares, Stephen, geboren. In Ottawa arbeitete sie, wie ihr Mann, zunächst beim National Film Board, in der Abteilung Information, 1946 beim Information Service der kanadischen Regierung. Seit 1950 zurück in London, wurde sie erneut bei Verlagen tätig, 1960 war sie Leiterin der PR-Abteilung von Oxford University Press.21 Aufgrund ihres deutsch-englischen Elternhauses war Eva Borneman zweisprachig und konzentrierte sich bald nach ihrer Übersiedelung nach Frankfurt 1962 auf die Arbeit als freiberufliche Übersetzerin vom Englischen ins Deutsche und umgekehrt. 1964 wurde sie für viele Jahre Redakteurin des Übersetzer, der Monatszeitschrift des Verbandes deutschsprachiger Übersetzer literarischer und wissenschaftlicher Werke, später Verbandsorgan der Sparte Übersetzer im Verband deutscher Schriftsteller in der IG Druck und Papier. Sie übertrug zahlreiche literarische und wissenschaftliche Werke, darunter Anaïs Nins »Das Delta der Venus«, Erica Jong, Joyce Carol Oates, John Fowles, Sachbücher über Sexualität, Marquis de Sade, Skandinavien, Psychologie und Psychoanalyse. Eva Borneman publizierte Artikel zu Fragen des literarischen Übersetzens und war bei vielen internationalen Treffen ihrer Berufsgruppe präsent. Sie veröffentlichte auch kleinere eigene Schriften, in Kanada »Canadian Image« und »The Arts in Canada and the Film«, in Deutschland 1967 »Liebesrezepte – ein Kochbuch für Liebende und Verliebte«.

Eva Geisel, 1937

Eva und Ernest hatten sich 1933 in London auf einer Party kennen gelernt und waren nach einigem Hin und Her ein Paar geworden. Der Briefwechsel, besonders dicht in den vielen Jahren der Trennung, deutet auf ein inniges, beiderseits liebevolles Verhältnis hin. Es beruhte nicht zuletzt auf dem gemeinsamen Interesse für linke Politik und moderne Ästhetik – Literatur, Film, Musik, Kunst –, wobei sie im Detail keineswegs immer einer Meinung waren. Eva, ihrem Gatten »an intellektueller Schärfe immer ebenbürtig«, hielt ihm nicht nur in den langen Phasen seiner Absens in Kanada, Paris oder Frankfurt den Rücken frei und kümmerte sich um seine geschäftlichen Angelegenheiten.22 Auch in diesem Falle bestätigt sich ein bekanntes Muster: Ohne die Mitwirkung seiner Ehefrau hätte Borneman nicht so effizient arbeiten und sich vermarkten können, wie er es tat. Umso bemerkenswerter, dass sie stets eine eigene Karriere verfolgt hat und damit erfolgreich war.

Was ist wahr?Leben in unsicheren Zeiten

Auf allen Feldern seines Tuns war Borneman umstritten. Beim Jazz hielt der US-Schriftsteller Calder Willingham, der die Seriosität seiner Deutungen anzweifelte, ihn für einen egomanischen Schwindler und ging aggressiv gegen ihn vor, beim deutschen Fernsehen galt er als »undeutsch«, in der Sexualwissenschaft rümpfte man die Nase über sein Wirken in den Massenmedien, der Frauenbewegung galt er als anmaßender Patriarch.23 Zu Zweifeln an manchen seiner Thesen kam hinzu, dass Bornemans Qualifikation nicht klar nachzuvollziehen war, wie überhaupt manche der Geschichten, die er in seiner »Semi-Autobiographie« (Eva Borneman), der »Ur-Szene«, schilderte, allzu unwahrscheinlich klangen. So viel konnte unmöglich in ein einziges Leben hineinpassen. Borneman dürfe man nicht alles glauben, riet mir, als ich mit der Arbeit an diesem Buch begann, der Psychologe und Sexualaufklärer Helmut Kentler. Später fand ich diese Meinung auch in den schriftlichen Quellen vor. Schon als seine spätere Ehefrau ihn 1933 kennen lernte, hatte man ihr zugeraunt, der da sei ein »18jähriger Hochstapler«, sein eigener Vater kritisierte Ernests Neigung zum »Bluff«, und tatsächlich gehören, wie sich bei meinen Forschungen herausstellte, manche der biografischen Konstrukte, auf die er im Laufe seines Lebens verfiel, in das Reich der Legenden.24 So etwa, dass er »of mixed Norwegian and Canadian descent« sei, »viele Jahre in den USA, Südamerika und Spanien gelebt und gearbeitet« habe, »einmal den Hollywood Oscar für den besten Kurzfilm des Jahres gewonnen« habe etc.25 Derartige Erfindungen entsprangen teils einem Wunschdenken, waren aber meist taktisch motiviert und gelegentlich auch nachvollziehbar, wie etwa das kurz nach seiner Rückkehr nach Deutschland als Programmleiter des Freien Fernsehens 1960 geäußerte Dementi, er sei nicht aus politischen Gründen nach England emigriert, sondern weil »mein Vater mich zum Studium nach London schickte«.26 Diese wahrheitswidrige Behauptung sollte ihn vom Hautgout des verräterischen Emigranten befreien und zugleich einen im Ausland erworbenen akademischen Hintergrund suggerieren. Dass er später das Gegenteil behauptete und eine politische Mission beim Freien Fernsehen als »sozialistischer Goebbels« für sich in Anspruch nahm, lag daran, dass sich der Zeitgeist gewandelt hatte, was ihm die Möglichkeit gab, sich aus einer durch sein Umfeld erzwungenen subalternen Haltung zu lösen und seine Arbeit als deutscher Fernsehmanager ins Offensive zu wenden. Seine Konstruktion von 1960 diente dem Überleben in einer feindlichen Umwelt, seine Konstruktion aus den 1970ern lag schon näher an seiner politischen Sozialisation, überzog aber die Tatsachen ins Vorsätzliche. Vieles deutet darauf hin, dass nicht politische Beweggründe ihn zur Zusage beim Freien Fernsehen motiviert hatten, sondern die Aussicht, sich beruflich verwirklichen zu können – plus politischem Nebeneffekt.

Die Behauptung akademischer Meriten diente dem Selbstschutz in einem System, das nur formale Qualifikationen anerkannte und dadurch Autodidakten ausschloss. Wiederholt erklärte oder suggerierte Borneman, ein Studium in Cambridge absolviert, dort oder anderswo gar seinen PhD gemacht zu haben.27 In einem Lebenslauf von 1957 heißt es: »Diverse Schulen in Genf, Paris, Berlin und Stockholm (Vater Diplomat und ständig auf Reisen)«. Er nannte verschiedene Studienorte: »B. A., M. A., Ph.D.«28 In einem weiteren CV wird behauptet, er habe zwischen 1929 und 1933, also im Alter zwischen 14 und 18, an der Berliner Universität Vergleichende Musikwissenschaft studiert und 1933 eine Abschlussarbeit vorgelegt, für 1934/35 wird »Post-graduate work at Cambridge« verzeichnet.29 Dem Afroamerikanisten Melville J. Herskovits gegenüber datierte er seine Geburt auf das Jahr 1913 zurück, wohl um plausibler zu machen, dass er bis 1933 studiert habe.30 Wie Bornemans Personalakte bei der UNESCO in Paris deutlich macht, schreckte er auch nicht davor zurück, in offiziellen Papieren unzutreffende Angaben zu machen. In dem Bewerbungsformular der Organisation notierte er in der Kategorie »College or University«: »University in Berlin 1930-1933, University of London 1933-1935, Emmanuel College, Cambridge, 1935-1936«.31 Unter »Degrees, Diplomas, or other similar qualifications« gab er an: »Staatsexamen (BA) 1933« – immerhin war hier von einem PhD nicht die Rede. Bei bekannten Wissenschaftlern wie dem Musikethnologen Erich von Hornbostel, dem Anthropologen Bronislaw Malinowski in London, dem marxistischen Archäologen und Vorgeschichtler Vere Gordon Childe in Edinburgh, bei Herskovits in Evanston, der Sexualwissenschaftlerin Helena Wright in London studiert, wie er behauptete, hatte Borneman bestenfalls als Gast oder im Zwiegespräch, aber hauptsächlich im autodidaktischen Sinne – jedenfalls nicht als eingeschriebener Student. Erst 1977 räumte er in seiner »Ur-Szene« offen ein, dass er ohne Abitur kein richtiges Studium habe durchführen können, hielt aber daran fest, »dreizehn Semester« bei den Genannten habe »hören« dürfen.32 1990 war nurmehr davon die Rede, er habe bei Helena Wright »hospitiert«, während in demselben Buch im biografischen Abriss nach wie vor von vielen Jahren »Studium« bei den genannten Kapazitäten die Rede war.33 Dass Borneman nicht, wie üblich, die Universität anführte, sondern sich auf die großen Namen berief, verweist zusätzlich darauf, dass sein Lernen sich vor allem an deren Werken vollzog, die er nachweislich intensiv rezipiert hat. Borneman hob ein persönliches Verhältnis zu den meisten der genannten Professoren hervor, doch in seinem eigenen, allerdings noch nicht endgültig geordneten Nachlass, ist ein brieflicher Austausch mit den meisten von ihnen bislang nicht nachzuweisen. Die Gegenprobe ergibt: In Malinowskis umfänglicher Hinterlassenschaft findet sich kein Schriftverkehr mit Borneman, Korrespondenzen Childes und Helena Wrights sind, so weit zu sehen, nicht überliefert, aber immerhin enthält Herskovits’ Nachlass einen sehr aufschlussreichen Briefwechsel. Sieht man einmal ab von seinen interessanten Inhalten, macht er deutlich, dass ein für 1951 bis 1953 datiertes Studium an der Northwestern University höchst unwahrscheinlich ist. Einem dichten Briefwechsel zwischen 1940 und 1942 folgt nur noch eine kurze Episode von 1947. Danach herrscht Stille, die nicht erklärbar wäre, hätte Borneman sich tatsächlich 1951 nach Illinois begeben, um bei seinem großen Vorbild und Förderer zu studieren. Er hatte dafür auch keine Zeit, denn er war in den frühen 50er Jahren voll und ganz in England beschäftigt – mit Drehbüchern, der Produktion seines Films »Betty Slow Drag« in London und Berichten aus der britischen Jazzszene für den Melody Maker. Auch Bornemans Briefwechsel dieser Jahre, abgeschickt in und adressiert an London, lässt keinen Zweifel, dass er sich nicht in den USA, sondern nach wie vor in der britischen Hauptstadt aufhielt.

Betrachtet man Bornemans biografische Selbstdarstellungen im zeitlichen Verlauf, dann fällt auf, dass in den frühen CVs bis weit in die 60er Jahre hinein nur von einem Studium der Vergleichenden Musikwissenschaft die Rede ist.34 Erst seit den späten 60er Jahren tauchen Studien bei Malinowski, Childe und Wright sowie die Lehranalyse bei Géza Róheim auf, während von Musikwissenschaft nicht mehr die Rede ist.35 Dies alles deutet darauf hin, dass Borneman seine Qualifikationen je nach gegenwärtigem Bedarf zusammengestellt hat. Inwiefern sie auf mehr als flüchtigen Begegnungen mit den genannten Größen beruhen, ist fraglich. Nun sind derartige autobiografische Umschreibungen nach dem jeweils erstrebten Zweck nichts Ungewöhnliches, wobei sie allerdings in der Regel auf Tatsachen beruhen, die dann mehr oder minder stark herausgehoben werden. Auch und vielleicht gerade in der Wissenschaft, so hat jüngst Willi Winkler am Beispiel einer Biografie des Literaturtheoretikers Paul de Man bemerkt, sei Hochstapelei gang und gäbe.36 Allerdings waren hier auch die Empfindlichkeiten besonders ausgeprägt. In die Zwickmühle geriet Borneman vor allem, weil er in der »Ur-Szene« offen eingestand, dass er kein Abitur hatte und daher nicht studieren konnte. Daraus ergab sich automatisch die Fragwürdigkeit der von ihm behaupteten Studien. Und eben darauf beruhten nicht nur die Zweifel der Sexualwissenschaftler an Bornemans Qualifikation, wie sie etwa Helmut Kentler und Volkmar Sigusch äußerten, sondern auch die Attacken autoritär-konservativer Gegner jeder sexuellen Liberalisierung, besonders exponiert Martin Humer, die hier zugleich einen antiintellektuellen Affekt bedienten.

Derartige Autofiktionen konzentrierten sich bei Borneman bis in die 70er Jahre hinein in erster Linie auf akademische Qualifikationen. Dies hatte relevante Gründe, die in der Tatsache der Emigration begründet lagen. Mag sein, dass ihn die Unmöglichkeit des Universitätsstudiums umso mehr antrieb, über den Büchern zu hocken und außerhalb eines akademischen Lehrbetriebes zu studieren, in der British Library und anderen Bibliotheken, aber auch und nicht zuletzt im »richtigen Leben«. Ein Brief aus Kanada an den Vater von 1948 deutet die Motive für den freihändigen Umgang mit diesem biografischen Detail an. Borneman bat ihn, gegenüber einer Kollegin des National Film Board, die ihn in Berlin aufsuchen werde, nicht zu erwähnen, dass er nicht studiert habe: Für einen Job beim NFB sei ein abgeschlossenes Studium erforderlich, und ohne es zu behaupten, habe er die Leute dort in dem Glauben gelassen, er habe vor langer Zeit in Berlin Musikwissenschaft studiert.37 Erst spät, als er schon viele Bücher publiziert hatte und der Zeitgeist auf Öffnung der vormals elitären höheren Bildungsanstalten drängte, erhielt Borneman trotz der fehlenden Hochschulreife eine Gelegenheit zur Promotion. Erst nach 1975 ging er offener mit seiner fehlenden akademischen Formalqualifikation um. Dennoch: Ihm, der seine Meriten abseits der akademischen Welt erworben hatte, fehlte der Stallgeruch, und dabei blieb es. In der Frankfurter Rundschau war die Rede von einem »starken Behauptungsdruck«, dem Borneman seit seiner Übersiedelung in die Bundesrepublik ausgesetzt gewesen sei – »was seinen Behauptungswillen wiederum stets aufs neue zu bisweilen feldzugartigen Konterattacken beflügelt« habe.38

Mit der Promotion fiel jedenfalls endlich der Grund fort, sich mit akademischen Lorbeeren zu schmücken, die es nicht gab – was allerdings nicht zur Folge hatte, dass er dies künftig durchgängig unterließ. Sachlich betrachtet, wären derartige Behauptungen schon lange vorher nicht mehr nötig gewesen, denn Borneman hatte umfangreiche Manuskripte verfasst, die z. T. durchaus akademischen Standards entsprachen. Einen zweiten Komplex stellt seine ein Leben lang sichtbare Neigung dar, sich in einen Arbeits- oder Freundschaftszusammenhang mit berühmten Persönlichkeiten zu stellen. Schier endlos ist die Liste der Namen von Jazzmusikern, Film- und Fernsehkoryphäen, Schriftstellern und Wissenschaftlern, die seine Autobiographie zieren. Anders als im akademischen Feld lassen sich jedoch die meisten der Geschichten, die Borneman in der »Ur-Szene« erzählte und die man in dieser Ballung kaum hatte glauben wollen, durch zeitgenössische Quellen oder Aussagen Dritter verifizieren: die Freundschaft mit den schwarzen Revolutionären der »Dritten Welt«, die zum Sprung an die Spitze der postkolonialen Staaten Afrikas und Lateinamerikas ansetzten, die Bekanntschaft mit zahlreichen Größen des Jazz und seine international herausragende Rolle als Jazzkritiker, der Erfolg als Buchautor, seine Arbeit als Dokumentarfilmer in Kanada, die Zusammenarbeit mit Orson Welles in Rom und Nordafrika, die Freundschaft mit französischen Intellektuellen wie Charles Delauney und Boris Vian während seiner Arbeit bei der UNESCO in Paris, die Erfindung von Radio Bremens »Beat Club« usw. Dass er dabei mit seinen Pfunden wucherte und mal das eine, mal das andere Profil herausstellte und seine Vorreiterrolle betonte, ist nicht weiter verwunderlich. Aber nicht immer war seine Selbstverortung an der Spitze des Fortschritts zutreffend: Dass er sich zum politischen Vordenker aufschwang und etwa »der erste« gewesen sein wollte, der »den Volksfrontgedanken systematisch ausgearbeitet« habe, dass er über »die absolut längste Fernseherfahrung aller lebenden Deutschen« verfüge, dass er den Begriff der Beatmusik geprägt habe etc., ist, gelinde gesagt, übertrieben.39 Derartige Selbstherrlichkeiten haben ihm mitunter harsche Kritik eingebracht. Dass man mit ihnen auch anders umgehen konnte, zeigt die Besprechung der »Ur-Szene« durch Hans Krieger, der die leicht durchschaubare Anmaßung, die in der Selbstwahrnehmung als der ewige Erste lag, mit einem Schmunzeln quittierte: Na und?40 Dennoch bleibt die Frage: Gab es einen anderen Hintergrund für Bornemans autobiografische Erfindungen?

Tarnen und Täuschen hatten als generelle Verhaltenslehren zwischen den Kriegen eine profunde Begründung erhalten, die auch danach ihre Gültigkeit nicht grundlegend einbüßte. Bornemans großes Vorbild, Bertolt Brecht, hatte den Rahmen gezimmert für die Ästhetik und Arbeitsweise des jungen Berliners: die umfängliche Sammlung des Materials, der Habitus der genauen empirischen Arbeit, die sachlich-kühle Darstellung, die konkrete, schmucklose Sprache, der distanzierte Blick, das Interesse für ferne Kulturen ebenso wie für die Sprache des Volkes. Auch das Lebensgefühl des Exilierten teilte Borneman. Und so mögen die autobiographischen Erfindungen nicht nur den Erwartungen von Arbeitgebern geschuldet oder pathologisch begründet, sondern auch eine nachvollziehbare Reaktion auf ein Leben in ungewissen Zeiten gewesen sein. »In mir habt Ihr einen, auf den könnt Ihr nicht bauen«, so hatte Brecht in seinem Gedicht »Vom armen B. B.« eingeräumt – gesprochen zu den von ihm eroberten Damen, aber durchaus mit übergeordneter Bedeutung. Brecht vertrat ein antiessentialistisches Menschenbild und nahm damit eine postmoderne Attitüde vorweg, gefolgt etwa von Bob Dylan, der – »It Ain’t Me, Babe« – ähnlich erfinderisch mit seiner Biografie umging. Bornemans autobiographische Konstruktionen waren nicht nur durch ein klares Bewusstsein von der Flüchtigkeit seiner jeweiligen Lebensumstände im Hinblick auf Wohnort, Job und Liebesverhältnisse zustande gekommen. Seine Praxis entsprang einer Überlebensstrategie, der Haltung gegenüber einer Welt, die sich in großen Teilen als feindlich, zumindest als etwas anderes erwies, als sie zu sein vorgab. In einem autobiografisch gefärbten Brief an einen Freund lobte Borneman die aus der Situation der Diaspora für die Juden »erwachsenen Stimuli«: »die Provokation, die von der feinlichen Umwelt auf das Hirn des entwurzelten, nicht an ein Land, eine Nation, eine ›Rasse‹ gebundenen Einzelmenschen ausgeübt wird«.41 Aus seiner »Reaktion auf die Vertreibung« resultierte die »Größe des Judentums«. Brechts »großartige Sammlung von Parabeln«, die »Geschichten vom Herrn Keuner«, erschien ihm als eine hervorragende Anleitung für das Leben in gefährlichen Zeiten: »immer wieder wird Nachgeben als Pflicht derjenigen beschrieben, die überleben wollen. So kehrt sich der Drang zur Selbstunterwerfung um und stellt sich vernünftigerweise als sein Gegenteil heraus.«42 Maskeraden waren unumgänglich, für ein schlechtes Gewissen gab es keinen Anlass. Auch anderen empfahl er bei Bewerbungen um Jobs, »Erfahrungen zu erfinden«, um die Behauptung einer bestimmten Qualifikation zu unterfüttern.43 Als Arbeiter war Borneman keineswegs unzuverlässig – im Gegenteil. Auch wäre es falsch, ihm in Liebesdingen den Stempel »untreu« aufzudrücken und es dabei zu belassen. Im Politischen war er kein Parteisoldat, aber zeitlebens Marxist, der den Strömungen links von der Sozialdemokratie zugetan blieb – links und frei, wie Willy Brandt es einmal formulierte.

»The Face on the Cutting-Room Floor«

Bornemans Finten gründeten tiefer. Klarer als irgendwo sonst zeigt sich dies an seinem ersten Roman »The Face on the Cutting-Room Floor«, der einen hohen Grad an Reflexion über die existenzielle Unsicherheit in der Moderne aufweist. Er belegt, dass schon der 20jährige ein klares Bewusstsein von der Unmöglichkeit von Authentizität und Selbstbestimmung in unsicheren Zeiten hatte. Der Text, an dem er von November 1935 bis August 1936 arbeitete, war von Anfang an auch für die Verfilmung gedacht und ist entsprechend verfasst.44 »Dieser Roman versucht, die Methoden der modernen Filmtechnik auf traditionelle Prosa anzuwenden. Er entwickelt sich nicht allmählich, wie es der normale Roman tut, sondern abrupt wie ein Drehbuch, dessen Zusammenhang durch die Aufeinanderfolge sorgfältig ausgewählter Elemente von Action und Dialog aufgebaut ist.«45 Borneman versuchte zuerst 1939, dann wieder 1950 und in den 60er Jahren, daraus einen Film zu machen. Verschiedene Story Outlines finden sich in seinem Nachlass, doch keine davon wurde verwirklicht. Stattdessen wurde das 1937 erschienene Buch sein größter literarischer Erfolg und zugleich ein Longseller – nichts weniger als »bei weitem der erfolgreichste englischsprachige Roman eines Exilautors in Großbritannien«.46 1940 waren bereits 36.000 Exemplare verkauft, das Buch erlebte 1974 und 1986 zwei Neuausgaben sowie zahlreiche Auflagen.47 Die Fachwelt war begeistert. Der Kriminalschriftsteller Julian Symons bezeichnete »The Face on the Cutting-Room Floor« als »Detektivgeschichte zur Aufhebung von Detektivgeschichten« und »einzigartige Zauberkiste«. John Archer betrachtete das Buch noch fünfzig Jahre nach seinem Erscheinen als »nach wie vor eine der interessantesten Kriminalgeschichten, die jemals geschrieben wurden«.48

Der Text, vom Autor selbst als Fingerübung zum Erlernen der englischen Sprache deklariert, bedient sich der Form des Detektivromans, um sie sogleich zu durchbrechen, klassische Rollenzuweisungen – Opfer, Täter und Detektiv – zu destruieren und in ein Verwirrspiel aufzulösen, bei dem nichts mehr sicher scheint.49 Schon der vermeintliche Autor – Cameron McCabe, ein Pseudonym und Anagramm aus den Buchstaben des Nachnamens und dem Spitznamen Mac, das des Autors Status als Exilant kaschieren sollte – war ein Mysterium. Erst knapp vierzig Jahre später, nachdem 1974 eine Neuausgabe des Buches erschienen war, klärte der Londoner Verleger Frederic J. Warburg, ein Freund Bornemans, dies auf. Der Roman spielt in der Londoner Filmwelt und lebt von der Spannung zwischen äußerst detailgenauen Darstellungen von Topographie und Milieu auf der einen, undurchschaubaren Indentitätskonstruktionen der Figuren auf der anderen Seite. Nicht nur die Integrität der Figuren stellt sich als brüchig heraus, sondern auch die Moral der britischen Gesellschaft und ihres Rechtssystems, das an der Wahrheitsfindung nicht interessiert ist.

Pulp Fiction. Frühe Ausgabe des Bestsellers

Es gibt nicht nur keine Lösung des Falles; Gut und Böse sind ebenso wenig klar voneinander zu scheiden wie Richtig und Falsch. Buchstäblich nichts ist, wie es zu sein scheint, alle Erwartungen des Lesers werden enttäuscht. Stattdessen wird er auf sich selbst und sein eigenes Urteilsvermögen verwiesen. Schon hier kristallisiert sich ein Grundsatz von Bornemans Ästhetik heraus: Der Rezipient kann zu den tatsächlichen Verhältnissen nur vorstoßen, indem er einbezieht, was nicht gesagt wird. In der Metareflexion der literarischen Figur Dr. Müller ist von einer »dialektischen Methode« die Rede: »die Dinge werden erst einmal aufgebaut, um wieder abgerissen zu werden: in einer Fassung wird neues Beweismaterial entdeckt, in der nächsten sofort als wertlos erkannt«.50 Ganz im Sinne des Brechtschen Realismuskonzepts, das mit Brüchen in der Narration und anderen Verfremdungseffekten arbeitet, wird das Erwartete dekonstruiert, um Bewusstseinsprozesse auszulösen, die zu einer kritischen Haltung gegenüber Authentizitätsbehauptungen führen sollen. In der Einbeziehung des Abwesenden, der Abkehr von einer linearen Erzählweise, dem offenen Ende, seiner Intertextualität, der permanenten Selbstreflexion und dem durchgehenden Dekonstruktionsvorsatz ist »The Face on the Cutting-Room Floor« ein Vorläufer des experimentellen Nouveau Roman der 50er und 60er Jahre sowie der postmodernen Literatur.51 Gleichzeitig stand das Buch in der Tradition Brechts, den Borneman zu Recht für einen Meister des verdeckten Spiels hielt: »fast nichts von dem, was Brecht sagt, kann für bare Münze genommen werden; fast alles hat eine zweite oder dritte Bedeutung«.52 Als Vorbilder spielten auch Ernest Hemingway und James Joyce, die Borneman ebenfalls ausführlich rezipierte, eine wichtige Rolle. Mehrfach werden sie im Roman selbst herangezogen, um dessen Figurenzeichnung und literarische Form zu erklären. Joyce und Hemingway waren erfolgreich aufgrund ihrer »großen Affinität zu ihrer Zeit: die gleiche komplizierte Struktur, der gleiche dialektische Aufbau, die gleiche Mannigfaltigkeit der Form, um der Instabilität des Lebens in der Nachkriegsepoche Ausdruck zu geben.«53 Dr. Müller fasst die Condition humaine zusammen, die der Roman vom Menschen der Gegenwart zeichnet, für den »Ungewissheit und Unbeständigkeit« Rahmenbedingungen seiner Existenz sind: »Nichts steht fest, nichts bleibt, wie es war, nichts gilt als erwiesen. Alles ist im Fluss, verändert sich, wird abgebaut, zerstört: ein wahrheitsgetreues Bild des Mannes und seines Zeitalters. McCabe, den moralisch Entwurzelten, fasziniert alles Unbeständige, Unsichere, Zweideutige, Doppelsinnige, Vielfältige«.54 Hinsichtlich der Form als Kriminalroman berief sich Borneman auf die Tradition des neuen Realismus um das US-Magazin Black Mask der 20er und frühen 30er Jahre, begründet von Dashiell Hammett. Den stärksten Einfluss bei der Abfassung von »The Face on the Cutting-Room Floor« schreibt er Hemingway und Hammett zu.55 In dieser Tradition und im Gegensatz zu Raymond Chandler und der britischen Schule des Kriminalromans betrachtete Borneman den Detektiv nicht als positive Figur. Im Gegensatz dazu zeichnete sich Black Mask, und da stimmte Borneman der Tendenz der Zeitschrift zu, durch unverhüllte Amoralität aus: »Es ist eine Welt, in der es für den Tugendhaften keinen Triumph und für den Gerechten keinen Sieg geben kann.«56 Hammett, so Borneman, hatte von Hemingway gelernt, der wiederum Anregungen von Joyce aufgenommen hatte und sich gelegentlich auf Hammett bezog, wodurch sich der Zirkel schloss. Black Mask enthüllte »den Einfluss des Avanciertesten auf das Populärste in der Gegenwartsliteratur.«

»The Face on the Cutting-Room Floor« reflektiert Bornemans Situation als Exilant nicht nur durch die grundsätzliche Thematisierung existenzieller Unsicherheit, sondern auch, indem er das Personal in der international geprägten Filmwelt ansiedelt und ihm transnationale Biografien verpasst. Öfter als die Schuhe die Länder wechselnd – diese Brechtsche Beschreibung der Lebensumstände des Emigranten sollte zu einer Konstante in Bornemans Leben werden, immer wieder verbunden mit dem Misstrauen der Einheimischen gegenüber dem Immigranten. Borneman selbst verspürte die damit verbundenen Belastungen – insbesondere die Trennung von Eva – schmerzlich, aber er schätzte auch die Erfahrung des Fremden, die Begegnung mit Menschen aus aller Welt. Das unterschied ihn zum Teil von seinen Freunden, die hauptsächlich das Problematische sahen, wie etwa Hannes Hiller, der ihm schrieb: »Mittlerweile denke ich, dass Unsicherheit der Krebs ist, welcher an unseren Leben frisst, und Du hast Deinen Anteil mehr als erfüllt.«57 Borneman sah darin weniger ein tödliches Geschwür als ein Lebenselixier und schrieb noch 1948, nach mehreren Ländern, von Paris aus: »Ich hasse Dauerhaftigkeit, und ich will sehr viel mehr von der Welt sehen, bevor ich zu alt zum Reisen werde.«58

Nachdenklich beim Lesen. England, 50er Jahre

Durch das Jonglieren mit autobiografischen Fakten entzog er sich einem kulturellen System, das nur formale Qualifikationen und Prominenz gelten ließ. Hier ging es um Macht, von der bestimmte Gruppen der Gesellschaft ausgeschlossen waren: Angehörige unterprivilegierter Sozialschichten, denen der Zugang zu höherer Bildung verweigert wurde, in Bornemans Wahrnehmung vor allem Menschen aus der Arbeiterklasse, Schwarze, Juden und Angehörige anderer Minderheiten. Aus dem Defizit des nicht vorhandenen Abiturs rührte keineswegs mangelndes Selbstbewusstsein – im Gegenteil. Die Vorstellung, dass es so etwas wie »Identität« oder »Authentizität« überhaupt geben könnte, erschien ihm mehr als fragwürdig. Zwar spielten Volkskulturen in Bornemans ethnologischer Arbeit eine große Rolle. Er bemühte sich um ihre Aufzeichnung und Beschreibung, aber er war sich darüber im Klaren, dass es reine Formen niemals gab, sondern dass es sich immer um Hybride handelte, um Kombinationen aus den verschiedensten Quellen, in hohem Maße um Konstrukte. Auch die Idee, dass man »die Wirklichkeit« filmisch festhalten könne, wie es das Prinzip des Dokumentarfilms suggerierte, mit dem er in Kanada intensiv arbeitete, war eine Fiktion. Borneman war, wie sein erster Roman ganz am Beginn seiner Karriere überdeutlich zeigt, alles andere als naiv. Er hatte einen klaren Blick für soziale Ungleichheiten, Interessen, Machtverhältnisse, die in sich widersprüchliche Komplexität des Lebens und glaubte nicht an Authentizitätsbehauptungen. Wie hätte seine eigene Existenz anders sein können: rein, wahr, identisch?

Vorbild Brecht

Für Borneman war Bertolt Brecht zeitlebens ein zentraler Orientierungspunkt, nicht nur in ästhetischer Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf seine »sachliche« Verhaltenslehre. Im Sommer 1930, als 15jähriger, hatte er Brecht bei den Proben zu dem Lehrstück »Der Jasager« kennen gelernt, zu der Mitglieder Berliner Schulchöre eingeladen worden waren. In diesem als »Schuloper« deklarierten und damit, Kurt Weill zufolge, der »Einfachheit und Natürlichkeit« verpflichteten Stück geht es um die Opferung eines krank gewordenen jugendlichen Mitreisenden, der seiner Tötung zustimmt, um nicht den Erfolg der Expedition zu gefährden, die einer großen, überlebenswichtigen Sache gewidmet ist.59 Die Frage, ob sie die Handlung für glaubwürdig hielten, verneinten die Schüler. Ihre Argumente sind auszugsweise in einem Heft der Versuche abgedruckt. Manche von ihnen nahm Brecht ernst – zum Beispiel die Anregung, den Jungen vor der Zustimmung zögern zu lassen, um nicht blinden Gehorsam zu heroisieren –, er schrieb das Stück um und verfasste ein Alternativmodell, »Der Neinsager«, das experimentell eine andere Variante durchführte: die Nichtzustimmung.60 Von diesem Vorgang habe er, Borneman, viel gelernt, nicht nur über Taktik.61 Anschließend sei er mit ein paar anderen in Brechts Wohnung eingeladen worden, wo ihn besonders der ebenfalls anwesende deutsche Meister im Schwergewichtsboxen, Paul Samson-Körner, beeindruckt habe. Was auch auf Brecht abfärbte: »Ein Dichter, der mit Boxern auf du und du verkehrte, war ernst zu nehmen.«62 Drei Jahre später, im Sommer 1933, habe Brecht mit Schülern der Karl-Marx-Schule, darunter Borneman, »Die Rundköpfe und die Spitzköpfe« geprobt. Im November und Dezember 1934 arbeiteten sie, nun in London, bei zwei Projekten zusammen: Borneman unterstützte Brecht bei einer Neuübersetzung des »Dreigroschenromans«, die 1937 und 1938 in London und New York erschien, und Brecht half dem jungen Mann bei der Abfassung seines ersten Theaterstücks »The Windows of Heaven«.63

Da über diese Zusammenarbeit im Exil bis dahin nichts bekannt war und nur Bornemans Aussage vorlag, stellte Jahrzehnte später Wilhelm Sternberg, der Mitverfasser des ersten Handbuchs zur deutschen Exilliteratur, in dieser Sache Nachforschungen an und erhielt vom Sekretariat Helene Weigels die Auskunft, in Brechts Nachlass gebe es keinen Hinweis auf eine Zusammenarbeit, auch habe der Meister Bornemans Namen nirgends erwähnt. Brechts Mitarbeiterin Elisabeth Hauptmann hingegen meinte, es sei gut möglich, dass Borneman 1934/35, als der Stückeschreiber in London war, an dem Rohentwurf des »Dreigroschenromans« gearbeitet habe. Immerhin hatte Borneman anlässlich eines Gastspiels des Berliner Ensembles in London 1956 Hauptmann die seinerzeitige Korrekturfassung mit Brechts Anmerkungen als Geschenk übergeben.64 Dieses Manuskript ist weder im Bertolt-Brecht-Archiv noch im Nachlass von Elisabeth Hauptmann erhalten, wohl aber belegt ein im Brecht-Archiv aufbewahrter Nachweis die gemeinsame Arbeit an der Übersetzung zweifelsfrei: ein kleiner Zettel, der offensichtlich ursprünglich durch eine Büroklammer an ein Manuskript geheftet war (ihre rostigen Konturen sind deutlich sichtbar), auf dem in Brechts Handschrift vermerkt ist: »3groschenroman von Bornemann!«65 Zurück in Berlin, bat Hauptmann um einen Beitrag Bornemans für das nach Brechts Tod geplante Sonderheft der DDR-Literaturzeitschrift Sinn und Form. Borneman selbst verfolgte bei der Zusammenarbeit mit Hauptmann zwei andere Vorhaben: die Übersetzung und Produktion des »Galileo« für seine britische Fernsehgesellschaft und die Verfilmung des »Dreigroschenromans« für die DEFA.66 Elisabeth Hauptmann reichte Bornemans Anfrage zu dem Filmprojekt an Helene Weigel weiter mit der Bemerkung, die davon ausging, dass Weigel sich erinnerte: »Du weisst, Borneman, ehemaliger Schüler der Karl-Marx-Schule, ›Ja-Sager‹, jetzt England«.67Sinn und Form brachte Bornemans Artikel, während andere Beiträger wie Hans Henny Jahnn oder Arnold Zweig zurückstehen mussten. Mitte der 60er Jahre versuchte er nochmals, dieses Mal über seinen Freund aus der Londoner Emigration, den jüdischen Kommunisten und späteren PEN-Präsidenten der DDR, Heinz Kamnitzer, eine Zusammenarbeit mit der DEFA zu erreichen, ebenso wie eine Übersetzung seiner Bücher in der DDR. Leider, so Kamnitzer nach der Lektüre von »The Compromisers« und »Tomorrow Is Now«, habe man dort für »das menschliche Verständnis der Erotik, besonders wenn abseitig, […] nicht viel Sinn«, so dass es für die Übersetzungen noch zu früh sei.68 Auch aus den Filmprojekten – dabei ging es um einen Jazzstoff für die DEFA und um eine Verfilmung des Müntzer-Stückes für den Deutschen Fernsehfunk – wurde nichts.

Ebenfalls im Brecht-Archiv findet sich das Manuskript »The Windows of Heaven. A Play in Three Acts by Ernest Borneman« – jenes in der Zeit des Bauernkrieges spielende Stück, das Borneman, in der Hoffnung, es am Berliner Ensemble realisieren zu können, in London ebenfalls Elisabeth Hauptmann übergeben hatte.69 Eine deutsche Übersetzung, in den späten 50er Jahren von Arno Reinfrank begonnen, wurde nicht abgeschlossen.70 Der Autor warb für das Stück nicht zuletzt mit der Mitarbeit des berühmten Theatermannes und schrieb Jahre später dem Leiter der Abteilung Fernsehspiel beim NDR: »Es liest sich heute, als ob der späte Brecht ein Stück im Stil von ›Baal‹, ›Trommeln in der Nacht‹ oder ›Im Dickicht der Städte‹ geschrieben hätte: die Gedankenwelt stammt aus der Zeit der ›Mutter Courage‹, der Stil aus der Zeit von ›Baal‹.«71 Der Gutachter des Ost-Berliner Henschel Verlages, an den Kamnitzer das Manuskript zur Verwaltung der Rechte weitergereicht hatte, war begeistert und urteilte im Vergleich zu Friedrich Wolfs Müntzer-Schauspiel: »Im Großen und Ganzen scheint mir Bornemans Stück viel realistischer zu sein, gleichzeitig aber von großer, dichterischer Kraft. Borneman […] wählt das Altenglische, die Bibelsprache, um der Zeit des 16. Jahrhunderts und besonders der Religionsgebundenheit voll gerecht zu werden. Und daran tut er gut. Es ist im höchsten Grade erstaunlich und zu bewundern, wie schön Bornemans Sprache klingt und wie er, ein ehemaliger Deutscher, sich in den englischen, d. h. hier altenglischen Sprachschatz eingefühlt hat. Seine Sprachbilder sind lyrisch, aber keiner sentimentalen Gefühlsduselei unterlegen, sondern kraftvoll und plastisch. […] Die Gestalt Müntzers, die in Wolf’s Stück holzschnitthafte Züge trägt und daher etwas unwirklich anmutet, wurde von Borneman menschlicher und selbstverständlicher gezeichnet.«72 Allerdings war der Verlag skeptisch, ob sich dieses Stück in naher Zukunft verwirklichen lassen würde, da nach mehreren Vorläufern zur Bauernkrieg-Thematik das Publikumsinteresse erlahme.73 Dennoch wollte man es behalten, um bei Gelegenheit doch noch einmal darauf zurückkommen zu können. 1970 waren Ernest und Eva Borneman dann noch einmal in Sachen Brecht tätig, als sie für eine von John Willett herausgegebene Sammlung ausgewählter Stücke in englischer Sprache das frühe Stück »Lux in Tenebris« neu übersetzten.74

Die Begegnung zwischen Brecht und Borneman im Jahre 1934 endete unglücklich, als der junge Mann, mit Eva zu Gast bei dem Dichter und seiner Frau, Brecht mit Hemingway verglich, was den Hausherrn auf die Palme brachte: »Hemingway! Unmöglich! Raus!« Schützenhilfe erhielt der von Helene Weigel, die mit der Bratpfanne in der Hand aus der Küche gestürmt kam: »Wenn Brecht brüllt, hast Du unrecht!«75 Damit war auch die Zusammenarbeit beendet, was allerdings Bornemans Verehrung keinen Abbruch tat. Ausgelöst durch des Dichters Tod im Spätsommer 1956 hat er sich in mehreren Texten, die zwischen 1957 und 1960 erschienen, ausführlich mit Brecht beschäftigt.76 Mit der notwendigen deutschen Literatur wurde er von seinem Vater versorgt, der ihm von Berlin aus alles Greifbare von und über Brecht schickte.77 Diese Schriften rekapitulieren nicht nur die Stationen ihrer Zusammenarbeit, sie offenbaren auch ausgezeichnete Kenntnisse über Brechts lyrische und dramatische Produktion sowie seine Theatertheorie. Auch hier hob Borneman die ihm selbst so wichtige Ambiguität hervor. »Mehrdeutigkeit war das formale Prinzip seiner Arbeit, der Schlüssel zu ihrem Zauber, das Geheimnis seines Erfolgs.«78 Er lobte Brechts Aversion gegen Gefühligkeit ebenso wie seine »soziale« Emotionalität – das Engagement für die Schwachen. Daher auch seine Begeisterung für das epische Theater, für den Versuch, eine distanzierte Haltung des Zuschauers zu erzeugen, Einfühlung und Identifikation zu verhindern, um so das Publikum zu aktivieren. Dazu passend die Theaterpraxis, die mit Verfremdungseffekten arbeitete: die karge Bühne, die Banner und Projektionen, der kommentierende Chor, die Musik, die Songs, die direkte Ansprache des Publikums. Borneman war fasziniert von Brechts sachlichem Stil, der Ablehnung allen schmückenden Beiwerks ebenso wie der Metaphysik. »Er verabscheute gereimte Philosophie: er glaubte, dass wie in der Mathematik so auch in der Literatur die knappe Darstellung auch die schöne sei. Wenn eine vollständige Darstellung in einer ungewöhnlich geringen Anzahl von Wörtern gegeben werden konnte, dann war das Dichtung.« Vollkommen zutreffend hob Borneman Brechts Faszination für das Fremde hervor, die aber nicht romantischer Sehnsucht entsprang, sondern seiner Theatertheorie. Sie diente der »absichtlichen Entromantisierung einer absichtlich gewählten romantischen Kulisse«.79 Er war auch fasziniert von Brechts persönlichem, funktionalen Stil: die schmucklose, betont einfache Kleidung, seine schlichte Brille, der Kurzhaarschnitt, die braune Lederjacke, wie sie für gewöhnlich Chauffeure oder Motorradfahrer trugen, der Verzicht auf Luxus in seiner privaten Umgebung, die groben Zeitungsausschnitte an der Wand, die Vorliebe für die Farbe Grau. Zeitlebens blieb Borneman ein Anhänger der Avantgarde; das »bürgerlich-demokratische Erbe«, wie es in der DDR hochgehalten wurde, interessierte ihn nicht, und er kritisierte die Versuche, Brecht des »Formalismus« anzuklagen. Dessen Tragik habe darin bestanden, dass sein Theater letztlich diejenigen angezogen habe, die er eigentlich ablehnte: die Dichter, die Intellektuellen, den Westen, während er das von ihm erwünschte Publikum nicht habe gewinnen können: die Arbeiterklasse, die Partei, den Osten.80

Wilhelm Sternbergs Anfrage bei Elisabeth Hauptmann hatte einen Hintergrund, der grundsätzliche Fragen des Exils berührte. Wer konnte als exilierter Schriftsteller gelten? In der ersten, 1962 erschienenen Ausgabe der »Bio-Bibliographie« zur deutschen Exilliteratur war Bornemans Name nicht erwähnt worden, in der zweiten Auflage von 1970 ist ihm ein ausführlicher Abschnitt gewidmet.81 »Stark erweitert«, wie der Verlag notierte, wurde das Buch, weil sein Erscheinen eine Welle von Neuentdeckungen auslöste, aber auch weil Betroffene sich nicht berücksichtigt fühlten, so dass die ursprünglich 1.500 Einträge um 400 ergänzt wurden. Borneman hatte 1968 bei der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, in deren Regie das Unternehmen vonstatten ging, angefragt, ob zu den Exilierten nur solche gerechnet würden, die fortgesetzt in deutscher Sprache publiziert, aber nicht jene, die es in der Sprache des aufnehmenden Landes getan hätten.82