Modernes Klavierspiel - Walter Gieseking - E-Book

Modernes Klavierspiel E-Book

Walter Gieseking

4,4

Beschreibung

Die von Karl Leimer und seinem Schüler Walter Gieseking begründete und weiterentwickelte Methodik des Klavierspiels hat unter Pianisten und Klavierpädagogen weite Verbreitung gefunden. Aus der Absicht entstanden, der Loslösung des Technischen von der musikalischen Gestaltung entgegen zu wirken, wurde ein System entwickelt, das allen Aspekten des Musizierens wieder gleiche Bedeutung zukommen lässt: der Ausbildung der pianistischen Fähigkeiten ebenso wie der Analyse der Musik und dem Training von Gedächtnis und Gehör. Bedingung aller künstlerischen Gestaltung ist nach Karl Leimer die intellektuelle Aneignung, bei der dennoch die Natürlichkeit des Vortrags nicht vernachlässigt werden darf. Die beiden Arbeiten "Modernes Klavierspiel" und "Rhythmik, Dynamik, Pedal" erscheinen erstmals zusammengefasst in einem Band.

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Modernes Klavierspiel

Karl Leimer / Walter Gieseking

Modernes Klavierspiel

Mit Ergänzung

Rhythmik, Dynamik, Pedal

30. Auflage

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Bestellnummer SDP 139

ISBN 978-3-7957-8563-5

© 2016 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

Alle Rechte vorbehalten

Als Printausgabe erschienen unter der Bestellnummer ED 8707

© 1998 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

www.schott-music.com

www.schott-buch.de

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlags. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung kopiert und in ein Netzwerk gestellt werden. Das gilt auch für Intranets von Schulen oder sonstigen Bildungseinrichtungen.

Coverabbildung: Rolf Stoll

Modernes Klavierspiel

Inhalt

Vorwort von Walter Gieseking

Vorwort des Verfassers zur 3. Auflage

I.   Die Grundlagen meiner Methode

II.  Ausführung von Beispielen

a) Etüde von Lebert-Stark

b) Invention C-Dur von J. S. Bach

c) Dreistimmige Invention C-Dur von J. S. Bach

d) Sonate f-Moll, op. 2, Nr. 1 von Beethoven

III.  Der natürliche Vortrag

IV.  Über das Üben

V.   Über spezielle technische Aufgaben

a) Etüdenspiel

b) Skalen

c) Gebrochene Akkorde

d) Akkordspiel

e) Triller

f) Ruhe in der Bewegung

Einführung in die Methode Leimer-Gieseking von Dr. K. Rolan

Anhang: Sonate f-Moll, op. 2, Nr. 1 von Beethoven

Rhythmik, Dynamik, Pedal

Inhalt

Vorwort

I.    Einleitung und Reflexion für das gedächtnismäßige Erfassen der Allemande aus der Französischen Suite E-Dur von J. S. Bach

II.  Technik durch Kopfarbeit

III. Rhythmik

Pädagogische Winke

Duolen, Quartolen usw.

Der Auftakt

Die Synkope

Das Tempo

IV.  Dynamik

V.  Die Anschlagsarten

Der freie Fall

Wurf und Schlag

Der Schwung

Die Rollung

Der Druck

Allgemeines über die Ausnutzung der Anschlagsarten

Die Haltung beim Spiel

Das Legato

Nonlegato, Portamento, Staccato

Die Anwendung der Anschlagsarten bei technischen Aufgaben

Oktaven, Sexten und Terzen

Anschlag beim polyphonen Spiel und bei Phrasierungsstellen

VI. Phrasierung

Die Bezeichnung der Phrasierung in der Notenschrift

Die Phrasierung beim Vortrag

VII. Pedal

Der Pedalgebrauch zur Erzielung von Klangmassen

Der Pedalgebrauch zur Erzielung von Bindungen, die mit den Fingern allein nicht möglich sind

Benutzung des Pedals zur Hervorhebung charakteristischer Klangunterschiede

Modernes Klavierspiel

Vorwort von Walter Gieseking

Die vorliegenden Aufzeichnungen erörtern diejenige Methode des Klavierspiels, die ich als Grundlage meiner pianistischen Technik bezeichnen muß. Es ist mir eine angenehme Pflicht, darauf hinzuweisen, daß ich Karl Leimer, unter welchem ich von 1912–1917 studierte, meine gesamte Ausbildung als Pianist verdanke.

Obwohl seither über 12 Jahre verflossen sind, ich daher wohl behaupten darf, daß ich den zu sachlicher Beurteilung notwendigen „Abstand“ gewonnen habe, bin ich noch heute unbedingter Anhänger der Leimerschen Methode, die ich für die beste, rationellste Art, pianistische Fähigkeiten zur Höchstentwicklung zu bringen, halte.

Karl Leimer erzieht den Schüler in erster Linie zur Selbstkontrolle, indem er ihn anweist, sich selbst wirklich zuzuhören. Dieses kritische Selbstzuhören ist m. E. der allerwichtigste Faktor beim gesamten Musikstudium! Stundenlanges Üben ohne Konzentration der Gedanken und des Gehörs auf jede Note der betreffenden Übung ist Zeitverschwendung! Nur ein trainiertes Ohr ist imstande, die feinen Ungenauigkeiten und Unebenheiten wahrzunehmen, deren Vermeidung erst die Technik wahrhaft vervollkommnet. Ebenso kann nur durch immerwährendes Selbstzuhören der Sinn für Tonschönheit und für feinste Klangabstufungen derart ausgebildet werden, daß der Studierende zu einem im heutigen Sinne technisch einwandfreien, d. h. auch klangschönen Klavierspiel befähigt wird. Ein rhythmisch wirklich genaues Spiel wird auch nur durch strenge Selbstkontrolle erzielt. Wie unbefriedigend, ja wie unmöglich ein rhythmisch ungenaues Musizieren für den Zuhörer ist, dessen rhythmisches Gefühl ausgebildet wurde, läßt sich nicht beschreiben. Leider ist besonders in Deutschland ein rhythmisch einwandfreies Spiel sehr selten zu hören und vielerorts sogar als „unkünstlerisch“ verdächtigt. Es wird eben viel zu wenig beachtet, daß genaue, notengetreue Ausführung aller Vorschriften des Komponisten das erste Ziel des Interpreten zu sein hat. Ich bin Herrn Leimer noch ständig dankbar, daß er mich zu unbedingtem Respekt vor den Absichten der Komponisten erzog. Nur genaueste Befolgung aller Vortragsvorschriften ermöglicht das „Einleben“ in die Gedanken- und Gefühlswelt eines Meisters und damit die stilechte Wiedergabe seiner Werke.

In meiner musikalischen Praxis mußte ich erkennen, daß fast nur irgendwie (technisch oder musikalisch) minder begabte Musiker, die den Gehalt eines Werkes nicht voll zu erkennen vermögen, zu Freiheiten und Retouchen ihre Zuflucht nehmen, um ein Stück (welches sie langweilt, weil sie es nicht ganz verstehen) „interessant“ zu machen, was aber stets eine Fälschung ergibt. Der angehende Musiker begreift fast nie, wie schwer es ist, wirklich korrekt zu spielen, d. h. nicht nur fingertechnisch, sondern auch ausdruckstechnisch genau nach Vorschrift des Komponisten. Dieses ist nur möglich bei restloser bewußter Beherrschung aller Anschlagsarten und Nuancen, einer Beherrschung, die so weit führen muß, daß sich die geistige Vorstellung eines Tones bzw. einer Phrase sozusagen automatisch in die zu ihrer Hervorbringung notwendigen Hand- und Armbewegungen umsetzt. Hierbei ist das Leimersche System, alle nicht unbedingt notwendigen Bewegungen zu vermeiden und alle nicht bei der momentanen Spieltätigkeit beschäftigten Muskeln zu entspannen (in Relaxation), unzweifelhaft dasjenige, das dieses Ziel am ehesten erreichen läßt.

Es ist mit auf meine Veranlassung, daß sich Herr Leimer zur Veröffentlichung der Grundsätze seines (bzw. unseres) Systems entschlossen hat, und ich hoffe, daß recht viele Pianisten hieraus Nutzen ziehen werden.

W. G.

Vorwort des Verfassers zur 3. Auflage

Meine Aufzeichnungen über „Modernes Klavierspiel“ haben, wie ich aus zahlreichen Zuschriften aus dem In- und Auslande ersehen konnte, eine sehr weite Verbreitung gefunden. Zustimmungen und Dankschriften haben mir Freude gemacht, einige Kritiken aber veranlassen mich, der neuen Auflage ein ergänzendes Wort beizufügen.

Offenbar erwarteten manche von meinem Buch die Bekanntgabe eines neuen Geheimmittels, durch welches man sich rasch und mühelos zu einem Gieseking entwickeln könnte, und waren enttäuscht, als sie dann Anweisungen zu lesen bekamen, die auf im allgemeinen bekannten Tatsachen beruhen und durchaus nicht leicht durchzuführen sind. Meine Absicht war, in aller Kürze den Weg zu zeigen, den ich mit meinen Schülern einschlage. Auf eingehendere Besprechungen habe ich mich nur da eingelassen, wo ich eine Wiederholung oder Beleuchtung zu besserem Verständnis für vorteilhaft hielt oder wo ich eine ausdrückliche Zustimmung Giesekings feststellen wollte.

Über die brauchbaren Anschlagsarten haben Steinhausen, Breithaupt, Deppe, Tetzel und andere ausgezeichnete Untersuchungen angestellt, die nicht nur aufklärend wirkten, sondern auch vielen beim Klavierstudium geholfen haben. Die genannten Musikschriftsteller werden aber gewiß nicht daran gedacht haben, die von ihnen besprochenen Anschlagsarten als ihre eigene Erfindung zu bezeichnen, ebenso wie ich mir nicht einbilde, daß meine Bemerkung: Technik ist ein Produkt der Geistesarbeit eine in der Musikwelt bislang unbekannte Weisheit bedeutet. Die wirklich intensive Geistesarbeit wird aber gar zu selten im Unterricht benutzt, und die Schüler werden viel zu wenig zur Konzentration erzogen. Ich lasse zur Erlernung der Konzentration und um sie möglichst rege zu halten, das reflektierende Auswendigspielen anwenden. Die Bedeutung dieser so außerordentlich wirksamen Kopfarbeit wird m. E. lange nicht genug erkannt, und ihre Anwendung im allgemeinen ist völlig unzureichend. Daß die einzelnen Bestandteile meines Systems ganz neue Dinge seien, habe ich niemals behauptet: mein System als Ganzes ist jedoch für viele etwas so Neuartiges, daß seine Veröffentlichung wohl gerechtfertigt erscheint, wie mir auch gar manche Zuschriften bewiesen haben. Einem mehrfach geäußerten Wunsch entsprechend, lasse ich eine Zusammenfassung der Hauptpunkte meines Systems am Schlusse des Buches (Seite 50) folgen.

Ich bin überzeugt, daß auch andere Pädagogen als Bestandteil ihrer Lehrmethode manche meiner Prinzipien betrachten. Die erwünschten Ergebnisse bringt aber nur eine systematische, konsequente Durchführung.

Der letzte der Hauptpunkte meines Systems handelt von der Natürlichkeit des Vortrags. Sie ist es, die das Spiel Giesekings besonders kennzeichnet und die es von dem Spiel anderer Pianisten wesentlich unterscheidet, so daß man nach seinen ersten Konzerten fast allgemein von einer ganz neuen Art des Klavierspiels sprach. Mittlerweile hat sein Spiel Schule gemacht, der manierierte, überromantische Vortrag ist immer mehr in Mißkredit geraten, und eine wohltuende Rückkehr zur Natürlichkeit des Musizierens scheint sich anzubahnen. In diesem Zusammenhang möchte ich auch darauf hinweisen, daß die beiden Musiker, die, international betrachtet, den weitestreichenden Erfolg haben: Toscanini und Kreisler durchaus auf Natürlichkeit, Einfachheit und Stilechtheit des Vortrages eingestellt sind. Ich hoffe, daß meine Aufzeichnungen auch mithelfen werden, den manierierten Vortrag zu bekämpfen und für sinn- und notengetreues, einfach schönes Spiel zu werben.

Karl Leimer

I.  Die Grundlagen meiner Methode

Nach vielen außergewöhnlichen Erfolgen, die ich mit meinen Schülern erreicht habe, bin ich angeregt und gebeten worden, meine Ansichten über modernes Klavierspiel schriftlich festzulegen und die Wege anzugeben, die ich meine Schüler einschlagen lasse, um diese Erfolge zu erzielen. Die folgenden Aufzeichnungen machen keinen Anspruch auf Vollständigkeit und sollen nur in großen Zügen die Grundlage meines Systems wiedergeben; denn den vollständigen Einblick in meine Art der Behandlung des Klavierspiels kann schließlich nur mein persönlicher Unterricht bieten.

Meine Methode hat eine Spielweise gezeitigt, die, besonders hinsichtlich des Vortrags, sich von dem üblichen Klavierspiel stark unterscheidet. Diese Methode beruht auf der sorgfältigen Beobachtung einer Reihe von nach meiner Meinung selbstverständlichen Forderungen; die Art und Weise, wie ich diese Selbstverständlichkeiten anwende und zu einem System geordnet habe, ergibt den kürzesten, wenn nicht den einzigen Weg, um die musikalische Begabung eines Schülers wirklich zur vollen Entfaltung zu bringen und ihm in seinem Spiel zur höchsten Ausdrucksmöglichkeit zu verhelfen. Gewiß wird es nur intelligenten und begabten Schülern möglich sein, die unbegrenzten Entwicklungsmöglichkeiten in Technik und Vortrag, die mein System bietet, voll zu verwerten und zu verwirklichen, aber meine Methode kann mit kleinen individuellen Abweichungen allgemein angewandt werden und wird, wenn sie richtig verstanden ist, jedem Schüler größten Nutzen bringen. Begabte Schüler erzielen sogar Leistungen, die sie selbst aufs höchste überraschen und die sie vorher nicht erhoffen konnten.

Meine Aufzeichnungen sollen keinen polemischen Charakter tragen, sondern nur dasjenige zur allgemeinen Kenntnis bringen, was ich in langjähriger praktischer Erfahrung als richtig erkannt habe. Die folgenden Anweisungen sind nicht für Anfänger bestimmt, sondern für Klavierspieler, die sich als Konzertpianisten oder Musiklehrer betätigt haben oder wenigstens weit fortgeschrittene, ernst strebende Dilettanten sind.

Trainierung des Gehörs

Der Hauptunterschied meiner Unterrichtsweise gegenüber anderen und eine der wichtigsten Grundlagen meines Systems ist die Trainierung des Ohres. Die meisten Klavierspieler hören sich selbst gar nicht richtig! Sie sind wohl daran gewöhnt, falsche Noten, gröbere Verstöße gegen Rhythmus, Tonqualität, Phrasierung usw. zu hören und auszumerzen, das ist aber keineswegs ausreichend, wenn man nach modernen Begriffen einwandfrei spielen will. Die Tonhöhe ist durch die Stimmung des Klavieres gegeben, hierbei eine Änderung vorzunehmen, ist daher nicht möglich; aber die allergrößte Sorgfalt ist der Tondauer, Tonstärke, der Tonqualität zu schenken. Der gesamte Vortrag bekommt bei der minuziösen Beobachtung dieser Toneigenschaften einen ganz bestimmten Charakter (was nur sehr wenigen bekannt ist), der sich von dem in Einzelheiten schwankenden Vortrag durch eine subtile Ausdrucksbildung stark unterscheidet, die auf Anwendung übertriebener Dynamik oder starker rhythmischer Veränderungen verzichten kann. Wie auch Gieseking im Vorwort schreibt, ist das Sichselbstzuhören einer der wichtigsten Faktoren beim gesamten Musikstudium. Man darf allerdings nicht hoffen, diese Fähigkeit von heute auf morgen zu erwerben. Die Fähigkeit, das eigene Spiel kritisch zu hören und den eigenen Anschlag immerwährend unter Kontrolle zu halten, muß systematisch mit äußerster Konzentration entwickelt werden, da diese Gehörausbildung Vorbedingung für schnellen Fortschritt ist.

Durch scheinbar pedantisches „Feilen“ an Stellen, die von vielen Lehrern kaum beachtet werden, ist eine überraschende Vervollkommnung der Ausführung einer Komposition zu erreichen, die oft erst den wahren Charakter eines Musikstückes erkennen läßt. Bei dieser Art des Selbstzuhörens erkennt der Schüler schnell die immerwährenden Verbesserungsmöglichkeiten, die auszunutzen ihm stets interessant bleiben und ihn auch bei längerem Studium desselben Stückes nicht langweilen wird. Die Aufgabe des Lehrers ist es, unermüdlich darauf hinzuweisen, daß nichts überhört wird. Ich werde auf diese Trainierung des Ohres später zurückkommen und dieselbe an Beispielen demonstrieren.

Trainierung des Gedächtnisses

Eine unerläßliche Voraussetzung für diese Schulung des Ohres ist genaueste Kenntnis des Notenbildes. Es ist daher notwendig, daß wir vor Beginn des Studiums eines Stückes das Notenmaterial vollkommen beherrschen, und dies ist nach meiner Meinung nur dann zu erreichen, wenn wir das Notenbild vollständig im Kopf haben, d. i. das betreffende Stück tadellos auswendig können. Um dies auf schnelle Weise zu erreichen, bedarf es wiederum eines speziellen Trainierens des Gedächtnisses. Ich benutze dazu die Reflexion (systematisch-logisches Nachdenken), und zwar in sehr ausgiebiger Weise. Es ist merkwürdig, daß die Reflexion durchweg nicht richtig und voll ausgenutzt wird und daß sie für alle Schüler, die bis jetzt zu mir kamen, etwas völlig Neues bedeutete; dabei hatte ich sehr intelligente und hochbegabte Schüler, die bei bekannten Musikpädagogen unterrichtet worden waren. Eine praktische Art, das Gedächnis durch Reflexion zu trainieren, werde ich ebenfalls später an Beispielen erläutern, möchte aber jetzt schon darauf hinweisen, daß Gieseking, der unter allen Pianisten vermutlich das größte Repertoire hat und besonders auch die kompliziertesten modernen Kompositionen auswendig beherrscht, alle schwierigen Werke nicht spielend (am Klavier), sondern ausschließlich lesend (also durch Reflexion) seinem von allen Musikern als phänomenal bezeichneten Gedächtnis einprägt.

Bei weiterer Vervollkommnung dieses Verfahrens ist man sogar in der Lage, auch die technische Ausführung durch Reflexion so vorzubereiten, daß ein Stück ohne jede Übung am Instrument auswendig einwandfrei vorgetragen werden kann, und zwar in verblüffend kurzer Zeit. Dies wird von vielen für unmöglich gehalten, wird aber tatsächlich nicht nur von Gieseking und einigen wenigen in ähnlicher Weise begabten und arbeitenden Pianisten ausgeführt, sondern auch von verschiedenen intelligenten Schülern meiner Meisterklasse mit erstaunlichen Resultaten angewendet. Voraussetzung für dieses Einprägen einer neuen Komposition ist neben einem guten Gedächtnis eine längere Trainierung.

Um Mißverständnissen vorzubeugen, bemerke ich, daß ich nicht jedes Stück auswendig studieren lasse, sondern ich verlange das nur von Kompositionen, die für den Konzertsaal vorbereitet werden, und von Etüden, die besonders instruktiv sind, vor allem von Bachschen Werken. Bei Musiklehrern, die möglichst große Literaturkenntnis haben müssen, ist das Auswendigspielen nicht immer durchzuführen, aber ohne Unterbrechung sollte das Gedächtnis durch die Erlernung kleiner Abschnitte trainiert werden. Von Anfängern, selbst von Kindern, ist es ratsam, zu jeder Stunde die sichere auswendige Beherrschung, wenn auch nur von ein, zwei Takten, zu verlangen. Diese Trainierung wird gute Früchte tragen! Natürlich sind auch ohne Auswendigspielen Resultate zu erzielen, doch glaube ich, daß sie denjenigen, die durch die besprochene Kopfarbeit gewonnen werden, lange nicht gleichkommen.

Entspannung der Muskeln

Um auf eine möglichst natürliche, also am wenigsten anstrengende Art Klavier zu spielen, ist es in erster Linie wichtig, die Fähigkeit zu erlernen, die Muskeln jederzeit bewußt anspannen zu können und (noch wichtiger!) bewußt erschlaffen zu lassen. Der Weg, den ich hierbei einschlage, ist wiederum von dem vieler Pädagogen verschieden. Ich versuche, das Gefühl für die Relaxation (Entspannung der Muskeln) von innen heraus zu erreichen (während dieses Ziel im allgemeinen durch die äußeren Bewegungen angestrebt wird), da ich alle überflüssigen Bewegungen für schädlich halte und danach strebe, die Tätigkeit des Klavierspielens mit dem kleinstmöglichen Aufwand an Muskelarbeit ausführen zu lassen.

Zunächst muß der Schüler die Erschlaffung (Relaxation) der Armmuskeln, wie sie beim gewöhnlichen Gehen unwillkürlich eintritt, bewußt empfinden lernen. Ich hebe zu diesem Zweck den ausgestreckten Arm des Schülers bis Schulterhöhe, ohne daß dabei die Muskeln benutzt werden; darauf ziehe ich die Handstütze weg, und der Arm muß wie tot herunterfallen. Durch solche Übungen kann das Gefühl der Muskelerschlaffung erworben werden.

Körperhaltung

Die Hand hat beim Gehen normalerweise eine leichte Krümmung, die niemals ermüdend auf die Muskeln wirkt, während das Ausstrecken oder stärkeres Krümmen der Finger auf die Dauer etwas ermüdet und anstrengt. Die natürliche Haltung der Hand, wie sie bei völliger Erschlaffung der Muskeln beim Gehen eintritt, benutze ich als Grundhaltung beim Klavierspiel. Die Finger sollen beim Spiel im allgemeinen die leichte Krümmung beibehalten, ein Durchdrücken ist tunlichst zu vermeiden.

Der Sitz ist am besten auf dem vorderen Teil des Stuhles einzunehmen. Anlehnen ist zu vermeiden. Der Oberkörper ist etwas nach vorn geneigt, der Oberarm hängt mit einer Beugung nach vorn lose im Schultergelenk. Der Sitz soll so hoch sein, daß der gehobene Unterarm etwa in der Ebene der Klaviatur liegt.

Ein weiterer wichtiger Punkt, in dem sich meine Spielweise von der allgemein üblichen unterscheidet, besteht in der Vermeidung aller unnötigen Bewegungen. Ruhe und Sparsamkeit in der Bewegung sind unbedingt erforderlich, wenn man in wirklich bewußt ausgeführter Tonqualität spielen will. Jede Unruhe gefährdet nicht nur den Ton, der gerade angeschlagen wird, sondern auch die nachfolgenden Töne.

II.  Ausführung von Beispielen

Einprägung der Noten

a) Etüde von Lebert-Stark

Gehen wir nun zur Erläuterung des vorhin Gesagten an das Studium einer einfachen Komposition. Wir wählen eine Etüde aus dem 2. Band der Lebertschen Klavierschule (s. Beilage). Unsere erste Aufgabe ist die Einprägung des Notenbildes, d. h. das Stück auswendig zu lernen,

Etüde

aus der Klavierschule von Lebert-Stark

und zwar so weitgehend, daß wir es aus dem Gedächtnis aufschreiben können.

Wir orientieren uns über Takt und Tonart: 2/4 und C-Dur. Die Rechte beginnt auf dem zweiten Sechzehntel mit der Sexte e’’– c’’’. Dann folgen in Sechzehntel abwärts die skalenförmigen Sexten durch zwei Oktaven bis zum kleinen e–c’. Im 3. und 4. Takt geht der skalenförmige Sextengang vom kleinen d–h durch zwei Oktaven bis e’’–c’’’. Der 5. und 6. Takt ist gleich dem ersten und zweiten, nur daß der Sexte jedesmal die Terz eingefügt ist. Takt 7 ist gleich dem 3., ebenfalls mit eingefügter Terz. Der 8. Takt bringt die Sexten des 4. Taktes bis g’–e’’ und schließt mit den beiden Sexten f’–d’’ e’– c’’. Als Begleitung haben wir für diese Stelle in der linken Hand den gebrochenen C-Dur-Dreiklang. Im ersten Takt C als Viertelnote mit darauffolgender Viertelpause, im zweiten, dritten und vierten Takt E G c und je 1/4 Pause. Die Takte 5 bis 8 sind in der linken Hand gleich den ersten vier Takten. Durch Reflexion sind also diese 8 Takte nach genauem Durchlesen ohne Noten leicht unmittelbar zu spielen. In der rechten Hand kommt im 9. Takt der Unterdominantakkord c’’ f’’ a’’ als Viertel mit folgender Viertelpause, im 10. Takt derselbe Dreiklang, aber ohne Terz (c’’ f ’’ c’’’) als Viertel, im 11. Takt der C-Dur-Dreiklang c’’ e’’ g’’, im 12. Takt derselbe Dreiklang ohne Terz (c’’ g’’ c’’’) als Viertelnoten immer mit nachfolgender Viertelpause. Die Linke beginnt im 9. und 10. Takt nach einer Sechzehntelpause mit einer Sextenfolge vom Ā F aufwärts bis a f ’. Die nächsten beiden Takte beginnen wieder mit einer Sechzehntelpause, es folgt dann eine abwärts gehende Skala in Sexten von g–e’ durch 2 Oktaven bis –E. Der 13. Takt beginnt in der linken Hand mit der nächsttieferen Sexte ( D), die Rechte beginnt zwei Oktaven höher mit demselben Akkord, dem skalenförmige Sexten durch zwei Oktaven aufwärts folgen. Der 15. Takt bringt in der Linken die Dominate und in der Rechten nach einer Sechzehntelpause die noch fehlenden Dominantdreiklangtöne (d, h) mit nachfolgendem Sextengang bis d’’–h’’. Die Takte 17 bis 20 sind wieder gleich den ersten vier. Die vier Schlußtakte sind gleich den Takten 5 bis 8, nur eine Oktave höher und in der Weise abgeändert, daß die Linke vom 2. Viertel des 21. Taktes an dasselbe eine Oktave tiefer unisono spielt.

Durch diese Reflexion, dies Durchdenken des Stückes, wird jeder in der Lage sein, die ganze Etüde aufzuschreiben, er wird sie also gedächtnismäßig völlig beherrschen. Die meisten meiner Schüler waren bei intensiver Konzentration fähig, die ganze Etüde nach wenigen Minuten ohne Noten, also aus dem Gedächtnis zu spielen. Sie waren alle höchst erstaunt, daß dies möglich war.

Das reflektierende Lesen gewährt dem Schüler gleichzeitig den besten Eindruck in die kompositorische Form des zu lernenden Stückes. Die eben besprochene Etüde ist z. B. in dreiteiliger Liedform komponiert: zunächst ein 8taktiger Satz, dann ein 8taktiges Mittelstück, am Schluß die Wiederholung der ersten acht Takte in etwas veränderter Form. Dies Erkennen des Aufbaus jeder Komposition ist nur einer der vielen Vorzüge des Auswendiglernens durch reflektierendes Lesen, und die systematische Trainierung des Gedächtnisses in der angegebenen Weise erlaubt uns, schneller an schwierigere Aufgaben mit Erfolg heranzutreten, und lehrt uns, nach und nach alle möglichen Anhaltspunkte herauszufinden, die das Auswendiglernen von Kompositionen erleichtern. Dieses anfangs etwas mechanische Verfahren wird den Schüler, besonders wenn er musiktheoretische Kenntnisse hat oder zugleich erwirbt, bald dahin führen, eine Komposition beim Durchlesen auch dem geistigen Inhalt nach zu erfassen.

Natürlich wählte ich als erstes Beispiel zur Erlernung des Auswendigspielens nach dem bloßen Lesen ein sehr einfaches Stück. Unsere Etüde ist deshalb gut geeignet, weil in ihr außerdem auch eine ganze Reihe von wichtigen Problemen der Technik zu lösen sind, auf die ich mich jetzt einlassen will.

Der Anschlag mit dem ganzen Arm

Ich zeige als erstes technisches Problem den Anschlag mit dem ganzen Arm, der vielen merkwürdigerweise nicht geläufig ist. Der Schüler muß sich über die Art und Weise der Ausführung vollkommen im klaren sein, wenn er sie bewußt richtig ausführen will. Die Finger (1, 5) sind bei unserer Etüde für die Sexten zu fixieren, und zwar in dem Maße, daß ein Durchdrücken ausgeschlossen ist. Die Krümmung der Finger ist eben die, die – wie schon gesagt – beim Gehen mit herunterhängendem Arm eintritt. Das Handgelenk ist zu fixieren, aber nicht mehr, als notwendig ist, um es mit dem Unterarm parallel der Klaviaturebene zu halten. Von krampfigem Festhalten darf natürlich gar keine Rede sein. Das Ellenbogengelenk ist in derselben Weise zu fixieren, so daß der ganze Arm nur im Schultergelenk gehoben wird. Wir heben ihn so hoch, daß der fixierte erste und fünfte Finger in der Höhe von etwa 5 cm über der Klaviatur schweben. Der Anschlag geschieht nun durch den sogenannten beherrschten freien Fall (nach Deppe), und zwar in der Weise, daß die Taste so tief niedergedrückt wird, bis man „Grund fühlt“, wie Rubinstein gesagt haben soll. Der Arm muß also jedesmal auf der Taste sozusagen ausruhen. Diese Vorschriften sind wörtlich zu nehmen und absolut exakt auszuführen. Die Anschlagsart des freien Falles ist eine der wichtigsten und häufigsten, da sie uns gestattet, das stärkste Fortissimo und das leiseste Pianissimo auszuführen. Wenn dieser Anschlag jedesmal aus gleicher Höhe erfolgt, so wird die gleiche Tonstärke der beiden Akkordtöne leichter erzielt. Die Ausführung geschieht durch den großen Hebel des ganzen Armes viel leichter und exakter als durch den Anschlag aus dem Ellenbogengelenk oder gar aus dem Handgelenk. Im Gegensatz zu anderen Lehrern lasse ich den Anschlag aus dem Handgelenk sehr, sehr selten benutzen, da er viel unsicherer ist als der eben beschriebene. Auch ist es beim Anschlag aus dem Handgelenk am schwierigsten, die Relaxation des Armes durchzuführen. Der mir manchmal gemachte Vorwurf, ich ließe mit steifem Handgelenk spielen, ist durchaus nicht zutreffend, da die Fixierung gelinde sein soll und niemals in Versteiftheit und Verkrampftheit ausarten darf.

Kontrolle durch das Gehör

Die Töne der linken Hand lasse ich in der angegebenen Etüde in derselben Weise anschlagen wie die Akkordtöne der Rechten. Beim Spielen der Etüde beginnen wir nun mit der Ausbildung des Ohres, die nach zwei Richtungen zu erfolgen hat. Beachtung: 1. der Tonqualität und 2. der Tondauer. Ich habe bis jetzt noch nicht einen einzigen Schüler gefunden, dessen Ohren für genaues Hören gründlich geschult waren, so daß sie mir alle nach 8 bis 14 Tagen zugaben, völlig andere Ohren bekommen zu haben. Sie waren alle nicht darauf eingestellt, die feinen Unterschiede in der Stärke der einzelnen Töne und die Unterschiede der Tondauer herauszuhören. Ich muß sogar sagen, daß die meisten Musiker, die glauben, gute Ohren zu haben, in dieser Beziehung versagen, weil ihre Ohren eben nicht darauf, sondern nur auf die Reinheit der Tonhöhe trainiert sind.