Mohawk - Richard Russo - E-Book

Mohawk E-Book

Richard Russo

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Beschreibung

Die Stadt Mohawk verdankte ihren Aufstieg einst der Lederindustrie und hat teuer dafür bezahlt: Die Krebsrate ist hier um ein Vielfaches höher als im Rest Amerikas, das Leder nicht mehr gefragt, die Stadt vergessen. Es sind die späten Sechziger, doch die wenigsten Menschen haben teil an den großen Veränderungen dieser Zeit. Wer hier lebt, hat keine extravaganten Träume, sondern will einfach nur das Beste für die Familie und eine anständige Arbeit. Anne Grouse geht es ähnlich. Und auch wenn sie mal andere Pläne hatte – mittlerweile sieht sie sich an die Stadt gefesselt. Nicht nur befindet sie sich in einem aussichtslosen Kampf mit ihrer Mutter um die Pflege ihres kranken Vaters, sie muss sich auch um ihren Sohn Randall kümmern, der Schwierigkeiten in der Schule hat. Zu allem Überfluss droht außerdem die Fehde zwischen ihrer Familie und den mächtigen Gaffneys wieder aufzuleben. Von ihrem Ex-Mann, einem leidenschaftlichen Zocker, kann sie keine besondere Unterstützung erwarten. Heimlich träumt sie vom Mann ihrer Cousine, aber Träume kann man sich in Mohawk kaum leisten. Richard Russo hat mit ›Mohawk‹ eine kluge Gesellschaftsanalyse vorgelegt, voller Empathie und Humor.

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Seitenzahl: 800

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North Bath, Upstate New York, steht vor großen Veränderungen: Die Kleinstadt ist eingemeindet worden. Obendrein taucht in einem Hotel genau in der Mitte zwischen North Bath und Schuyler Springs – dem Annektierer – eine Leiche auf. Polizeichefin Charice Bond, die erste Schwarze Frau auf diesem Posten, ist aufs Äußerste gefordert, nicht nur weil sie gemeinsam mit ihrem Ex – und ehemaligem Vorgesetzten – in dem Fall ermittelt. Unterdessen arbeitet sich College-Professor Peter Sullivan immer noch an seinem verstorbenen Vater ab und sieht sich gleichzeitig mit der zerrütteten Beziehung zu seinem Sohn Thomas konfrontiert. Am anderen Ende von North Bath kämpfen Ruth und ihre Tochter Janey darum, ihre Familie zusammenzuhalten. Inmitten all dessen rätseln die Bewohner der Stadt, was es mit der nicht zu identifizierenden Leiche auf sich hat. Wer von ihnen könnte unbemerkt verschwunden sein?

Richard Russo stellt sich in diesem Roman nicht nur der Frage, wie wir dem Fluch entkommen können, dass wir unseren Eltern immer ähnlicher werden – er zeigt den alternden Mann in der Krise und verhandelt Themen wie das Sterben amerikanischer Kleinstädte, Rassismus und Polizeigewalt. In ›Von guten Eltern‹ kehrt er zurück zu den Figuren aus ›Ein grundzufriedener Mann‹ und ›Ein Mann der Tat‹ und zeichnet dabei das Porträt einer Arbeitergemeinde im Wandel.

© Elena Seibert

Richard Russo, geboren 1949 in Johnstown, New York, studierte Philosophie und Creative Writing und lehrte an verschiedenen amerikanischen Universitäten. Für ›Diese gottverdammten Träume‹ (DuMont 2016) erhielt er 2002 den Pulitzerpreis. Bei DuMont erschienen außerdem ›Diese alte Sehnsucht‹ (2010), ›Ein grundzufriedener Mann‹ und ›Ein Mann der Tat‹ (beide 2017), ›Immergleiche Wege‹ (2018), der SPIEGEL-Bestseller ›Jenseits der Erwartungen‹ (2020), ›Sh*tshow‹ (2020), ›Mittelalte Männer‹ (2021) und zuletzt ›Mohawk‹ (2023).

Monika Köpfer war viele Jahre als Lektorin tätig und übersetzt heute aus dem Englischen, Italienischen und Französischen. Zu den von ihr übersetzten Autor*innen zählen u.a. Mohsin Hamid, J.L.Carr, Milena Agus und Agnès Poirier.

Richard Russo

Von guten Eltern

Roman

Aus dem Englischenvon Monika Köpfer

Von Richard Russo sind bei DuMont außerdem erschienen:

Diese alte Sehnsucht

Ein grundzufriedener Mann

Diese gottverdammten Träume

Ein Mann der Tat

Immergleiche Wege

Sh*tshow

Jenseits der Erwartungen

Mittelalte Männer

Mohawk

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2023

unter dem Titel ›Somebody’s Fool‹ bei Alfred A. Knopf, New York.

Copyright © 2023 by Richard Russo

E-Book 2024

© 2024 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Monika Köpfer

Lektorat: Kerstin Thorwarth

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © Joshua K. Jackson

Satz: Fagott, Ffm

E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN E-Book 978-3-8321-8280-9

www.dumont-buchverlag.de

SAMSTAG

Erbe

Die Veränderungen würden sich ganz allmählich vollziehen, jedenfalls wurde es den Leuten so verkauft. Doch kaum war die Eingemeindung von North Bath in die Nachbarstadt Schuyler Springs offiziell geworden, machten bereits Gerüchte von »nächsten Schritten« die Runde. North Bath High, die Beryl Peoples Middle School und eine der beiden Grundschulen von North Bath würden zum Ende des Schuljahrs schließen, also in wenigen Monaten. Ab dem Herbst würden die betreffenden Schüler dann in Bussen nach Schuyler gefahren werden. Nun, nichts davon kam unerwartet. Schließlich ging es bei der Zusammenlegung darum, überflüssige Strukturen abzubauen, also stand das Bildungssystem, der teuerste Faktor, natürlich ganz oben auf der Liste. Dennoch hatten jene, die für die Eingemeindung geworben hatten, behauptet, all das werde Schritt für Schritt vonstattengehen, quasi im Zuge eines natürlichen Schwunds. Man werde keine Lehrer entlassen, sondern die älteren unter ihnen lediglich dazu ermuntern, und zwar mittels Anreizen, in den Ruhestand zu gehen. Jüngere Lehrkräfte könnten sich für die zusätzlich benötigten Stellen im nunmehr vergrößerten Schulbezirk Schuyler bewerben, wo man alle Anstrengungen unternehmen werde, sie unterzubringen. Die ungenutzten Schulgebäude würden in Büros der Regionalverwaltung umgewandelt werden. Dasselbe betraf auch die Polizei. Das niedrige Backsteingebäude, das bislang die Polizeibehörde und das Gefängnis beherbergt hatte, würde einem anderen Zweck zugeführt werden, und der Polizeichef Doug Raymer, der schon seit Jahren davon redete, sich bald von seinem Posten zurückziehen zu wollen, würde möglicherweise ebenfalls einem neuen Zweck zugeführt werden können. Das halbe Dutzend Polizisten, das ihm unterstand, konnte sich um neue Positionen bei der Polizei von Schuyler bewerben. Hey, vermutlich würden sie sogar ihre alten Uniformen behalten können; nur der linke Ärmel bekäme halt ein neues Abzeichen. Klar, weitere Abbaumaßnahmen würden folgen. Zum Beispiel würde man in North Bath keinen Stadtrat mehr brauchen (nun, da es keine Stadt mehr gab) und auch keinen Bürgermeister (was in Bath ohnehin kein Vollzeitjob war). Bereits jetzt bezog der Ort sein Wasser von Schuyler Springs, und das dortige Amt für Abwasser- und Abfallentsorgung würde künftig auch den Müll in Bath einsammeln lassen, wobei sich alle einig waren, dass das eine erhebliche Verbesserung darstellte. Denn noch mussten die Einwohner von Bath ihren Abfall selbst zur Müllkippe bringen – es sei denn, man ließ ihn kostenpflichtig von der altersschwachen Müllwagenflotte der Squeers-Brüder abholen.

Natürlich waren nicht alle für diesen Quantensprung gewesen. Einige meinten, es gebe nur eine wirklich überflüssige Sache, die die Eingemeindung beseitigen würde, und zwar North Bath selbst. Indem es zuließ, von seinem uralten Rivalen Schuyler Springs »geschluckt« zu werden, beging es praktisch Selbstmord, stimmte es statt fürs Weiterleben für seinen eigenen Untergang, und wer, der noch bei Verstand war, tat so etwas? Andere wiederum fanden dieses melodramatische Argument lachhaft und verhöhnten die Bedenkenträger. Wie könne denn ein künstlich beatmeter Patient noch Selbstmord begehen? Ein Jahrzehnt lang sei das Einzige, worüber Bath noch die Kontrolle gehabt habe, die Dosierung der Morphininfusion gewesen, da der stetig wachsende Schuldenberg außer der Tilgung von Zinsen so gut wie keine weiteren Ausgaben mehr zugelassen habe.

Wie hatte es nur so weit kommen können? Nun, teils lag es an der Rezession, die das ganze elende Land noch immer fest im Griff hatte, aber nicht wenige meinten, mit der Stadt sei es schon sehr viel länger den Bach runtergegangen. Die meisten gaben Gus Moynihan und den verdammten Demokraten die Schuld, die, nachdem sie an die Macht gelangt waren, das Geld mit vollen Händen ausgegeben hätten. Davor war Bath ein Vorbild in Sachen Haushaltsdisziplin gewesen, und sein Motto hatte gelautet: Keine Ausgaben. Niemals. Für gar nichts. Für keinen Zweck der Welt. Wenn sich mitten in der Fahrbahn ein Schlagloch befand, fuhr man eben um das verflixte Ding herum. Schließlich waren Schlaglöcher ja nicht unsichtbar. Je größer und tiefer sie wurden, umso einfacher waren sie auszumachen. Herrgott, vor nicht allzu langer Zeit waren die Straßen gar nicht asphaltiert gewesen. Nein, die Haushaltsmisere sei einer Kombination aus Selbstüberschätzung und Selbsthass geschuldet, meinten die Eingemeindungsgegner, das unvermeidliche Ergebnis der Versuche von Bath, seinem reichen Nachbarn nachzueifern. Die Demokraten hätten, so wie Demokraten nun mal tickten, gedacht, wenn die Stadt genauso viel Geld ausgäbe wie Schuyler Springs, könnte sie alles bekommen, was Schuyler habe. Man müsse Geld ausgeben, um Geld einzunehmen, oder nicht? Ja klar, konterten die Republikaner, aber was die Demokraten geflissentlich übersähen, sei die Tatsache, dass das vom Glück verwöhnte Schuyler Springs in Geld schwimme. Die Stadt wisse nicht, wohin damit. Dort gebe es ein schickes Restaurant neben dem anderen und Cafés und Museen und Kunstgalerien. Man habe eine Pferderennbahn, ein Tanz- und Theaterzentrum, eine Schriftstellerresidenz und ein versnobtes geisteswissenschaftliches College, und all diese Dinge sorgten für einen steten Geldregen. Wie solle Bath damit konkurrieren?, fragten sie. Mehr noch, warum sollte es das wollen? Schließlich gebe es andere Möglichkeiten, Wohlstand zu messen, andere Quellen des Bürgerstolzes. Schuyler habe vielleicht jede Menge Glück – seine Mineralquellen sprudelten nach wie vor aus der Erde, während die von Bath seit mehr als einem Jahrhundert versiegt waren –, aber seine Haupteinnahmequellen seien von jeher Glücksspiel und Pferderennen und Prostitution (Letzteres behaupteten die fundamentalistischen Kirchen von Bath, obwohl sich das einzige Bordell von historischer Bedeutung im Randgebiet der eigenen Stadt befunden hatte). Und deswegen sei Schuyler voller reicher Arschlöcher und Latte macchiato trinkender Schwuler und unitarischer Kirchen, eine Stadt, in der zu leben sich tugendhafte, gottesfürchtige, hart arbeitende Leute gar nicht leisten könnten. Die Tatsache, dass die Stadt noch nicht ihre wohlverdiente Strafe erhalten habe, heiße nicht, dass das nicht noch kommen werde. Wenn Schlaglöcher und zweitklassige Schulen die Steuern niedrig und degenerierte Leute, Atheisten und Starbucks fernhielten, dann: ein Hoch auf Schlaglöcher.

Genau, Steuern waren auch so ein Thema. Wenn Bath von Schuyler eingemeindet wurde, wie lange würden sie dann niedrig bleiben? Die Eingemeindungsbefürworter räumten ein, dass, ja, wenn Schuyler Springs die Schulden von North Bath übernehme, die Grundstücke und Immobilien in der Stadt irgendwann, an einem gewissen Punkt, neu bewertet werden müssten. Und es sei denkbar, dass die Steuern dann steigen würden. Formulierungen wie »irgendwann«, »an einem gewissen Punkt« und »denkbar« sollten den Eindruck erwecken, diese Folgen würden erst in ferner Zukunft und nur möglicherweise eintreten – statt sofort und unvermeidlicherweise. Doch nun wurde gemunkelt, diese Neubewertung privater und gewerblicher Immobilien würde bereits nächste Woche beginnen. So schnell war »irgendwann« zum Synonym von »morgen« geworden. Und ja, Lehrer und Polizisten und andere Angestellte im öffentlichen Dienst konnten sich jetzt zwar für gleichwertige Stellen im Schuldienst oder bei der Polizei in Schuyler bewerben, aber wie viele von ihnen würden sich, wenn sich ihre Grundsteuer verdoppelte, das Leben hier dann noch leisten können? Klar, die Besitzer der schöneren Häuser in den besseren Gegenden der Stadt würden, wenn sie sie verkauften, einen Reibach machen und wegziehen, aber was war mit allen anderen? Würden sie, wenn sie wegzögen, nicht in irgendeiner anderen Stadt wie Bath enden, die sich öffentliche Dienstleistungen wie Müllabfuhr ebenfalls nicht leisten konnte, nur dass sie dann einen längeren Weg zu ihrem Arbeitsplatz zurücklegen müssten?

Birdie, die Haupteigentümerin der White Horse Tavern, der altehrwürdigen Gaststätte in Bath, hatte die Diskussion unter den Einheimischen mit großem Interesse verfolgt, obwohl sie weder etwas zu gewinnen noch zu verlieren hatte. Ihrer Ansicht nach war sie so oder so angeschmiert. Wenn das Horse neu bewertet würde und sich ihre Steuerlast verdoppelte, würde sie vermutlich nicht nur ihr Lokal, sondern auch ihr Dach über dem Kopf verlieren, weil sie in dem Apartment darüber wohnte. Theoretisch wäre das Lokal dann zwar mehr wert, aber das würde dessen Veräußerung erschweren. Auch wenn es nicht offiziell zum Verkauf stand, war es ein offenes Geheimnis, dass Birdie seit Längerem auf einen günstigen Moment zum Absprung wartete. Vor Kurzem war sie dreiundsechzig geworden, und sie hatte sich an diesem Morgen, wie fast an jedem anderen auch, nach dem Aufwachen wie gerädert gefühlt. Sich zur Ruhe zu setzen, konnte sie sich nicht leisten, aber wie viele Jahre würde sie diese Schufterei noch durchstehen? Vor einem Jahrzehnt hatte das Sommergeschäft sie noch durch den Winter gebracht, aber damit war es jetzt vorbei. Im Sommer war freilich immer noch viel los. Ende Mai, um den Memorial Day herum, öffnete sie den großen Gastraum, heuerte ein paar Servicekräfte und Köche an, die Steaks und Hochrippenbraten aus der engen Küche hervorzauberten, doch nach dem Labor Day im September war schlagartig Schluss damit. Zwar hielt sie den Küchenbetrieb weiterhin aufrecht, servierte aber kaum mehr als Burger und Pizza. Das Lokal brauchte dringend einen neuen Anstrich, und das galt nicht nur für die Wände. Jedes einzelne Teil des Inventars musste ersetzt werden, und die Anschaffung des dringend benötigten neuen Kassensystems schob sie schon seit Jahren immer wieder auf. Auch die Software wollte sie updaten, aber da spielte ihr alter Computer nicht mit. Sie musste der Tatsache ins Auge sehen: Das Horse hing genau wie die Stadt selbst am Beatmungsgerät. Vielleicht war es an der Zeit, endlich den Stecker zu ziehen. Dem Elend ein Ende zu setzen. Vor der Rezession hatte sie noch gehofft – nein, eher dafür gebetet –, dass jemand hereinspaziert käme, der hingerissen vom früheren Charme des Lokals und zugleich blind für den jetzigen heruntergekommenen Zustand wäre. Jemand, der in der Lage wäre, bei geschlossenen Augen eine strahlende Zukunft zu erkennen. Mit anderen Worten: ein romantischer Narr. Doch leider neigten solche Menschen eher dazu, ihr Geld in einen Buchladen oder ein Bed and Breakfast zu stecken statt in eine Gaststätte an einer Ausfallstraße.

Aber man kann nie wissen, dachte sie. Und deswegen verfolgte Birdie mit besonderem Interesse ein anderes Gerücht, das momentan die Runde machte, nämlich über das Sans Souci – das alte Hotel auf einem großen, baumbestandenen Areal zwischen Bath und Schuyler Springs. Dieser Ort hatte schon immer die Gerüchteküche angeheizt. Alle paar Jahre wurde gemunkelt, irgendein Investor aus dem Süden des Bundesstaats habe Interesse daran, der alte Kasten solle renoviert werden, man wolle irgendeinen Starkoch aus Manhattan holen, um im Hotelkomplex ein Sternerestaurant zu betreiben, das Gelände würde in einen Golfplatz oder eine Livemusikstätte umgewandelt werden und dem Tanz- und Theaterzentrum von Schuyler Konkurrenz machen. Andere glaubten, der Staat New York würde einsteigen und das Anwesen in einen öffentlichen Park verwandeln. Aber das neue Gerücht toppte alle vorherigen: Jemand habe das Sans Souci bereits gekauft, und zwar niemand aus dem südlichen Teil des Bundesstaats, sondern ein Milliardär von der Westküste, ein Filmstudiobesitzer, der das Hotel abreißen und stattdessen eine soundstage errichten wolle. Das war das Szenario von letzter Woche gewesen. In dem von dieser Woche war der Käufer ein Tech-Unternehmer aus dem Silicon Valley, der an der Ostküste ein zweites Standbein aufbauen, dafür das Sans Souci abreißen und einen kompletten Campus errichten wolle, was Hunderte, wenn nicht gar Tausende neue Arbeitsplätze bedeuten würde. Von heute auf morgen würde es auf dem verlassenen Gelände von Menschen wimmeln, und sie alle würden nicht nur eine Wohnung oder ein Haus brauchen, sondern auch Lokale, in denen sie ihr Geld für Essen und Trinken ausgeben konnten. War es tatsächlich möglich, dass Birdie dieses eine Mal zur richtigen Zeit am richtigen Ort war? Das war zwar noch nie der Fall gewesen, aber wo stand geschrieben, dass sie nicht wenigstens ein Mal in ihrem Leben Glück haben könnte? Ihr alter Freund Sully war der größte Pechvogel gewesen, den sie gekannt hatte, bis sich das Blatt für ihn auf einen Schlag gewendet hatte. Warum sollte das nicht auch ihr passieren?

Während sie über diese rosige Möglichkeit nachsann, hörte sie Peter Sullivan, Sullys Sohn und einer der beiden Minderheitsgesellschafter des Horse, durch den Lieferanteneingang hereinkommen, so wie jeden Samstagmorgen. Peter schien zu glauben, er sei aus einem ganz anderen Holz geschnitzt als sein Vater, worüber Birdie immer schmunzeln musste, obwohl es in mancher Hinsicht vermutlich zutraf. Mit seinem College-Abschluss, seinen schicken Klamotten und seiner kultivierten Ausdrucksweise war er ein typischer Vertreter der White-Collar-Mittelschicht, während Sullys Kragen allenfalls von einem verwaschenen Blau gewesen war. Aber in anderer Hinsicht war er genau wie sein Vater. Wenn man seinerzeit hatte wissen wollen, wo Sully war, hatte man einfach nur auf die Uhr sehen müssen. Um sieben schlug er im Hattie’s auf, um seinen ersten Kaffee des Tages zu trinken. Um halb neun fand man ihn bei der Baufirma Tip Top Construction, deren Besitzer Carl Roebuck ihm mitteilte, welchen widerwärtigen Job er an diesem Tag für ihn vorgesehen hatte, den selbst Sully nicht vermasseln konnte. Um die Mittagszeit herum schaute Sully bei OTB, dem Off-Track-Wettbüro, vorbei, um seine Dreierwette abzugeben und mit den anderen Stammkunden zu quatschen. Gegen sechs war er wieder daheim, unter der Dusche, um sich den Schmutz des Tages abzuwaschen (wobei er den Abstecher nach Hause manchmal, nach einem besonders harten Arbeitstag, ausließ). Ab sieben dann saß er in der Regel auf seinem angestammten Barhocker hier im Horse, wo es immer kaltes Bier gab und im Fernseher oben an der Wand die Gerichtssendung The People’s Court oder irgendein Mannschaftssportspiel lief und wo er natürlich die üblichen Verdächtigen traf – Wirf, Jocko, Carl und all die anderen, die inzwischen nicht mehr kamen, weil sie entweder das Zeitliche gesegnet hatten oder weggezogen waren oder ihr Bier woanders tranken –, denen er so gern auf die Nerven ging. Und dort blieb er werktags bis Mitternacht und an den Wochenenden bis zum Kneipenschluss oder, wenn’s nach ihm ging, gern auch länger, und zwar wenn im Hinterzimmer eine Pokerpartie gespielt wurde. Diesem Tagesablauf blieb Sully fast bis zu seinem Lebensende treu, auch dann noch, als das Knie nach einer Verletzung viele Jahre zuvor so steif und schmerzhaft geworden war, dass die wenigen Menschen, die ihn nicht kannten, eine Prothese als Ursache für seinen humpelnden Gang vermuteten.

Peter schien zu glauben, die Tatsache, dass er im Horse immer am Samstagmorgen Kaffee trank statt wie sein Vater an jedem Abend in der Woche Bier und die New York Times las, statt sich diese Gerichtssendung anzusehen, bedeute, er habe gewissermaßen den Sieg über seine Gene davongetragen. Birdie bezweifelte das allerdings. Von Tag zu Tag ähnelte er seinem Vater mehr, und auch wenn sie nicht ganz genau wusste, wie sein Tagesablauf aussah, so kannte sie seine Aktivitäten doch in groben Zügen: Unter der Woche unterrichtete er am Community College in Schuyler, samstags behinderte er den Fortgang der Renovierungsarbeiten am Haus in der Upper Main Street, das sein Vater ihm hinterlassen hatte, und an den Sonntagen spielte er in einem Fitnessclub in Schuyler Racquetball (was immer das war) oder Tennis. Und abends? Hin und wieder kam er auf einen Martini-Cocktail ins Horse (Birdie hatte extra einen Vorrat seines Lieblingswodkas angelegt), aber in der Regel ging er in diese Hipsterbar in Schuyler, die Art von Lokal, wo man für ein Glas Wein zwölf Dollar hinblätterte und es einen nicht stören durfte, wenn es noch dazu schlecht eingeschenkt war. Kurzum, Peter hatte genauso eingefleischte Gewohnheiten und rückte ebenso wenig von ihnen ab wie Sully seinerzeit, weswegen Birdie ahnte, dass der Kampf gegen seine DNA, den Peter zu gewinnen meinte, in einer schmählichen Niederlage enden würde.

Und wie sehr er sich jetzt schon von dem jungen Kerl unterschied, der nach dem Scheitern seiner Ehe und folglich der Trennung von seiner Familie in den späten Achtzigern nach North Bath gezogen war. Zwar litt er darunter, seine Dozentenstelle an der Universität verloren zu haben, aber noch immer war er von einem dicken Schutzpanzer aus Ironie umgeben, und so gelang es ihm, den Eindruck zu erwecken, sein gegenwärtiges Leben finde, wie ein Baseballspiel nach eingelegtem Protest, nur unter Vorbehalt statt und er gedenke es nach erfolgtem Schiedsspruch in seinem Sinne fortzusetzen. Sicher, vorerst war er in Bath gestrandet, aber er hatte von Anfang an klargemacht, dass er keinen Moment länger als unbedingt nötig hierbleiben würde. Allenfalls ein paar Jährchen. Sobald Will seinen Highschool-Abschluss in der Tasche habe, heiße es »Adios, amigos«. Doch dann begann er, Dinge zu erben. Zuerst erbte er das Haus seiner Mutter, einen bescheidenen Bungalow im Ranchstil mit drei Schlafzimmern in einer früher klassischen Mittelschichtgegend, die jetzt auf dem absteigenden Ast war. Vera, seine Mutter, war eine von Natur aus unglückliche Frau mit einem eisernen Willen gewesen, die ihren Vater, einen promovierten Yale-Absolventen, der den Lehrstuhl für Klassische Studien am Edison College in Schuyler innegehabt hatte, auf ein Podest gestellt hatte. In Veras Augen war dieser Mann absolut makellos gewesen, und folglich konnte keiner der Männer, die in ihrem weiteren Leben eine Rolle spielten, ihm jemals das Wasser reichen. Sully jedenfalls nicht – und es war ein absolutes Rätsel, wie sie auf die Idee hatte kommen können, dass er doch in der Lage dazu wäre. Ganz zu schweigen von Peters Stiefvater Ralph, einem liebenswürdigen, gutmütigen Dussel und dem krassen Gegenteil von Sully. Die heldenhaften Bemühungen des armen Mannes, seine Frau glücklich zu machen – oder jedenfalls weniger unglücklich –, rief an ihren guten Tagen stille Verachtung und an ihren schlechten unverhohlene Wut hervor. Und um ehrlich zu sein: Auch Peter hatte sie enttäuscht. Ja, er war Akademiker geworden, genau wie sein Großvater, aber Vera hatte erkannt, dass er kein echter Vollblutakademiker war, und als es ihm noch nicht einmal gelang, an einer mittelprächtigen staatlichen Universität eine Anstellung auf Lebenszeit zu ergattern, machte sie keinen Hehl daraus, dass er sowohl sie als auch seinen Großvater enttäuscht hatte. Ihre einzige weitere Erwartung an ihn war gewesen, auf ewig einen Groll gegen seinen Vater zu hegen, weil er sie im Stich gelassen hatte, doch es stellte sich heraus, dass Peter selbst dazu nicht fähig war. Statt nach dem Aus seiner Ehe in das Haus seiner Kindheit zurückzukehren und sich eine respektable Arbeit zu suchen, hatte er angefangen, mit Sully (nein, für ihn!) zu arbeiten, und nachdem er ungefähr ein Jahr lang mit seinem Sohn Will in einer Mietwohnung gelebt hatte, war er sogar in das Haus gezogen, das Sully von der alten Beryl Peoples geerbt hatte. Natürlich hatte Peter seiner Mutter versichert, sie damit nicht kränken zu wollen, aber als was hätte sie es denn bitte schön interpretieren sollen, wenn nicht als Schlag ins Gesicht? Wie auch immer, er war ihr einziges Kind. Wem sonst sollte sie das Haus also hinterlassen?

Da Peter keinerlei Absicht hatte, wieder in das Haus seiner Kindheit zurückzukehren, war sein erster Gedanke gewesen, es um jeden Preis zu verkaufen. Später, wenn Will zum Studium wegzöge, würde Peter das Geld gut gebrauchen können, um für seine eigene Flucht einen gewissen finanziellen Spielraum zu haben. Das Problem war jedoch, dass in das Haus, das früher immer hübsch und gut in Schuss gewesen war, inzwischen jede Menge Arbeit gesteckt werden müsste, sowohl innen als auch außen. Nachdem Ralph, sein Stiefvater, in den Ruhestand gegangen war, war nicht mehr viel Geld da gewesen, und als er krank wurde, oblag es Peter, das Haus in Schuss zu halten, wobei er, wie er einräumen musste, nur das Allernötigste getan hatte. Ja, er hatte die jahreszeitlich notwendigen Arbeiten erledigt: im Sommer den Rasen gemäht und im Herbst und Winter Laub gerecht und Schnee geräumt. Wenn ein Gerät den Geist aufgab oder ein Rohr brach, fuhr er hin und reparierte den Schaden. Doch abgesehen davon machte er einen Bogen um das Haus, und zwar wegen seiner Mutter. Der gesunde Menschenverstand war noch nie Veras Stärke gewesen, aber mit der Zeit wurde sie zunehmend bekloppter. Dass ihr Sohn nun ganz in Bath wohnte, war in ihren Augen Verrat, und häufig genügte ihr allein sein Anblick, um durchzudrehen. Im Geiste sah sie ihren Sohn noch immer im Stil des College-Professors gekleidet, der er gewesen war – mit Chinohose, einem hellblauen Button-down-Hemd, Tweed-Sakko und Loafers –, doch wenn er sich jetzt gelegentlich blicken ließ, um Rasen zu mähen oder einen Rohrschaden zu beheben, kam er immer in Arbeitsstiefeln, ausgewaschenen Jeans, einem robusten Jeanshemd und, um das Ganze auf die Spitze zu treiben, einer Baseballkappe mit dem Logo eines Futtermittelherstellers darauf, als wollte er der ganzen Nachbarschaft verkünden, dass er es trotz all der mütterlichen Bemühungen, einen kultivierten Menschen aus ihm zu machen, vorgezogen habe, ein einfacher Arbeiter zu werden wie sein Vater. »Zieh das aus!«, kreischte sie eines Tages, als er hereinkam, um ein Glas Wasser zu trinken. »Ich ertrage das nicht!« Was sie nicht ertragen konnte, war, wie sich herausstellte, der Anblick des Werkzeuggürtels um seine Hüfte, wo an einer Metallhalterung ein Hammer baumelte. Wenn er einmal unerwartet auftauchte, zog sie sich theatralisch ins Schlafzimmer zurück, schloss die Tür hinter sich und blieb dort, bis er wieder weg war. Bei anderen Gelegenheiten kam sie mit wildem Blick herausgerannt und erging sich in Tiraden darüber, dass sie lieber mit einem nicht von Schnee geräumten Gehweg und ungemähten Rasen lebe, als ihn in diesem Aufzug zu sehen. Solle doch Wasser aus dem geborstenen Rohr sprudeln. Was kümmere sie das? Dann ertrinke sie halt. Ob er nicht mitbekomme, dass sie seit Jahren ertrinke? Solle doch das Haus über ihr zusammenkrachen. Er solle ruhig so weitermachen, dann sei es bald so weit. Ob ihm denn nicht klar sei, dass sie Tag und Nacht darum bete?

Nun, wenn sie tatsächlich darum gebetet hatte, so waren einige ihrer Gebete offenbar tatsächlich erhört worden, schien es Peter, nachdem er das Haus geerbt hatte. Jedes einzelne Fenster musste ersetzt werden, genau wie das Dach. Das Ziegelwerk musste neu verfugt werden. Und im Inneren war alles – die Geräte, Arbeitsflächen, Küchenschränke – heillos veraltet. Sämtliche Tapeten waren verblichen. Wenn es regnete, lief der Keller voll. »Renoviere das Haus doch selbst«, riet Sully ihm. »Es ist ja nicht so, als wüsstest du nicht, wie es geht.« Das stimmte. An der Seite seines Vaters hatte sich Peter die Grundlagen des Bauhandwerks angeeignet. Er wusste, wie man einen Rohbau machte, konnte eine Trockenbauwand hochziehen und mit einer Kreissäge umgehen. Auch einfache Klempnerreparaturen und sogar kleinere Elektrikerarbeiten waren kein Problem für ihn. Mehr noch, anders als Sully hatte er Geduld. Er konnte einen Plan lesen und umsetzen und maß lieber zweimal nach, sodass er nur einmal zuschneiden musste. (Sein Vater neigte dazu, nur einmal zu messen, und zwar falsch, und ein halbes Dutzend Mal neu zuzuschneiden, während er pausenlos »Du Wichser« brummte, wenn das Brett, das gerade noch zu lang gewesen war, sich plötzlich unerklärlicherweise als zu kurz entpuppte.)

Vielleicht weil es der Vorschlag seines Vaters gewesen war, Veras Haus zu renovieren, konnte sich Peter nicht so recht für die Idee erwärmen. (Er war seiner Mutter ähnlicher, als ihr bewusst war; tatsächlich hätte es sie gefreut, wenn sie gewusst hätte, wie sehr er insgeheim mit seinem Vater haderte und wie oft dieses in ihm schlummernde Ressentiment aufflammte.) Nicht lange nach Veras Tod hatte er eine Teilzeitstelle als Dozent am Edison College bekommen, die ihn zeitlich zur Genüge beanspruchte; zwar bezog er als Lehrbeauftragter nur ein mageres Gehalt, hatte jedoch keine hohen Ausgaben. Die Miete, die sein Vater von ihm verlangte, lag weit unterhalb der ortsüblichen Durchschnittsmiete; außerdem musste er nur für sich und Will sorgen. Charlotte, seine Ex-Frau, hatte ein paar Jahre nach der Scheidung wieder geheiratet, wodurch seine Unterhaltspflicht endete, und die niedrigen Kredite, die er für sein Studium hatte aufnehmen müssen, waren inzwischen abbezahlt. Aber Sully hatte natürlich recht. Wenn er die erforderlichen Renovierungsarbeiten vornehmen würde, ließe sich ein besserer Preis für das Haus erzielen, und er hatte samstags ja meistens frei. Warum sollte er die Samstage nicht dazu nutzen, das Haus auf Vordermann zu bringen? Und selbst wenn er ein Jahr brauchte, bis es wieder tipptopp war, na und? Er müsste nur endlich damit anfangen. Und sollte sich herausstellen, dass die Renovierungsarbeiten ihn langweilten, konnte er noch immer Handwerker anheuern, um den Job zu erledigen.

Doch die Arbeit hatte ihn gar nicht gelangweilt. Ganz im Gegenteil. Nachdem er die Woche über Hausarbeiten und Tests korrigiert und benotet hatte, ertappte er sich sogar dabei, wie er sich auf den Samstag freute, darauf, den Werkzeuggürtel wieder umzuschnallen, der seiner Mutter ein solcher Dorn im Auge gewesen war. Sully, inzwischen mehr oder weniger im Ruhestand, bot ihm seine Hilfe an, aber Peter lehnte dankend ab. Auch weil sich seine Mutter im Grabe umgedreht hätte, wenn sie gewusst hätte, dass Sully mit seinen schmutzigen Arbeitsstiefeln in ihrem Haus herumstapfte und sich selbst leise als »Wichser« beschimpfte, aber das war nicht der eigentliche Grund. Letzten Endes lief es darauf hinaus, dass er mit Sullys oder anderweitiger Hilfe schneller fertig geworden wäre, und das wollte er gar nicht. Und es lag auch nicht nur daran, dass er die Arbeit genoss, nachdem er die Woche über Seminare gehalten und Hausarbeiten korrigiert hatte. Noch etwas anderes spielte hinein, aber was genau es war, konnte Peter selbst nicht genau benennen. Vielleicht die Tatsache, dass er nicht gerade eine glückliche Kindheit gehabt hatte – dafür hatten die diversen Neurosen seiner Mutter gesorgt –, aber richtig unglücklich war sie auch nicht gerade gewesen, was größtenteils das Verdienst seines Stiefvaters war, der Peter wie sein eigen Fleisch und Blut behandelt hatte. Also verdiente Ralph es, dass seine Freundlichkeit honoriert wurde. Außerdem hatte Peter nicht lange nach dem Tod seiner Mutter damit begonnen, sich vorzustellen, wie sehr sie gelitten haben musste, wozu er zu ihren Lebzeiten nicht in der Lage gewesen war. Nun, verrückt war sie schon immer gewesen, und das hatte sie gemein werden lassen, vor allem Ralph gegenüber, aber Peter vermutete, dass sie in ihrem Leben nie glücklich gewesen war. Lange war er überzeugt davon, dass sie ihr Unglück selbst verschuldet habe, und vielleicht stimmte das auch, aber was, wenn nicht? Hatte sie gedacht, sie sei in den Augen des von ihr angebeteten Vaters eine Enttäuschung? Was, wenn sie einfach nicht zum Glücklichsein bestimmt war? Anfangs hatten sich die Renovierungsarbeiten an dem Haus für Peter fast wie ein Racheakt angefühlt, so als zahlte er es ihr heim, dass sie so unverhohlen ihre Enttäuschung über ihn demonstriert hatte. Doch nach und nach bekam die Arbeit an dem Haus eine ganz andere Bedeutung für ihn. Während er sich ihren Geschmack, ihre Lieblingsfarben und ihren Einrichtungsstil in Erinnerung rief, ebenso wie ihre Aversionen, bereitete es ihm zusehends Gefallen, die Dinge so zu machen, wie sie es gemocht hätte. Und was steckte da nun wieder hinter? Bat er sie verspätet um Entschuldigung? Er wusste es nicht genau, aber auf alle Fälle hatte er es kein bisschen eilig, zu einem Ende zu kommen, und als schließlich doch alles fertig war, nahm er erstaunt ein starkes Verlustgefühl in sich wahr. Worum es bei diesen Samstagen auch gegangen sein mochte, um Geld ging es jedenfalls nicht, und als das Haus zum Verkauf ausgeschrieben wurde und einen sehr viel höheren Preis erzielte, als er erwartet hatte, konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, eine ungeahnte Schuld beglichen zu haben.

Dann stellte sich heraus, dass Veras Haus erst der Anfang gewesen war, denn zu gegebener Zeit sollte Peter auch das Haus seines Vaters erben. Und als es schließlich passierte, schlugen abermals zwei Herzen in seiner Brust. Miss Beryls altes »viktorianisches Dingsbums«, wie sein Vater es immer genannt hatte, war ein Anwesen in einer der besten Wohngegenden von North Bath. Vor allem dank Wills Bereitwilligkeit, immer alle erforderlichen Arbeiten zu erledigen, war es weitaus besser in Schuss als Veras Haus und dementsprechend auch sehr viel mehr wert. Allerdings war Peter in Bezug auf diesen Ort ein bisschen abergläubisch. Er hatte immer eine Art Fessel in ihm gesehen, die ihn an Bath kettete, dem er hatte entfliehen wollen, sobald sein Sohn zum Studieren weggegangen wäre, um nicht irgendwann als seines Vaters Betreuer zu enden. Nun, Will hatte seine Schuldigkeit getan. Nachdem er sich an verschiedenen Universitäten an beiden Küsten beworben hatte, wurde ihm von allen Seiten ein gebührenfreier Studienplatz angeboten (endlich, aber leider viel zu spät, war da jemand, auf den Vera stolz gewesen wäre), und als er sich für die University of Pennsylvania entschied, rückte Peters eigene Ausstiegsstrategie plötzlich in den Fokus. Sobald Will nach Philadelphia gezogen war, besorgte sich Peter eine Wohnung in New York, das mit dem Zug nur eine Stunde von dort entfernt war, aber weit genug, um seinem Sohn nicht ständig auf die Nerven zu gehen. Obendrein suchten die Colleges und Universitäten im Großraum New York händeringend Lehrbeauftragte wie ihn, die billig zu haben waren. Zunächst konnte er hier einen Kurs geben und dort einen, um mit der Zeit vielleicht etwas Längerfristiges herauszuschlagen. Zwar durfte er sich keine Hoffnung auf eine Beförderung oder Anstellung auf Lebenszeit machen, ja nicht einmal darauf, in den Genuss einer Krankenversicherung zu kommen, aber dank des Verkaufs von Veras Haus hatte er jetzt ein finanzielles Polster. Das würde eine Zeit lang reichen. Wenigstens hatte er es aus dem New Yorker Hinterland herausgeschafft.

Na ja, nicht ganz. Es würde noch vier Jahre dauern, bis er dem Ort endgültig den Rücken zukehren konnte, weil Will sowohl seinen Großvater als auch das Haus in der Upper Main Street liebte und sich besonders auf seine Ferien in Bath freute. Er fand problemlos einen Sommerjob, außerdem konnte er Sully weiterhin beim Renovieren von Häusern helfen und dabei alles übernehmen, was das Klettern auf Leitern oder Treppensteigen erforderte. Peter wäre lieber in der Stadt geblieben, musste jedoch zugeben, dass es Sinn ergab, wenn sie beide die Monate Juni, Juli und August in North Bath verbrachten. Im Sommer waren Dozentenjobs rar gesät, und New York verwandelte sich in eine Sauna. Außerdem hatte er beim Renovieren von Veras Haus festgestellt, wie sehr ihm körperliche Arbeit Spaß machte. Die anderen viktorianischen Häuser in der Upper Main Street wurden nach und nach aufgekauft, und ihre neuen Besitzer machten sich gegenseitig Tischler, Klempner und andere Handwerker streitig. Er konnte in diesen drei Sommermonaten dort vermutlich genauso viel Geld verdienen wie in den restlichen neun Monaten als Lehrbeauftragter in der Stadt, und die harte Arbeit tat seiner Fitness gut, die in letzter Zeit ein bisschen zu kurz gekommen war. Der von ihm ersehnte endgültige Weggang – aus Bath und, ja, auch von Sully – würde also noch etwas warten müssen.

Nur dass ihn im April, drei Wochen bevor Will seinen Abschluss an der Penn machen sollte, der Anruf von Ruth, der langjährigen Geliebten seines Vaters, erreichte, den er schon lange gefürchtet hatte. Sein Vater habe einen Unfall gehabt, erzählte sie. Nein, er sei nicht verletzt, habe aber seinen Kleinlaster zu Schrott gefahren, und – welch Überraschung – Alkohol sei im Spiel gewesen. Und weil dies sein dritter Unfall innerhalb von zwei Jahren gewesen sei (Wie bitte, er hatte noch zwei weitere Unfälle gehabt?), habe man ihm den Führerschein abgenommen, sodass er nicht mehr seine üblichen Runden drehen könne (zu Hattie’s, dem Donut-Shop, dem Wettbüro, dem Horse).

»Willst du mir damit sagen, er braucht einen Betreuer?«, fragte Peter.

Keineswegs überraschend erwiderte Ruth, vor Wut schäumend: »Ich sage dir, dass er seinen Sohn braucht.«

»Tja«, sagte Peter, nicht minder schäumend, »es gab Zeiten, da hätte ich als Kind meinen Vater gebraucht, und wo war er da?« Während er sich das sagen hörte, stellte er sich vor, wie seine Mutter gerade irgendwo ihr grausames, rachsüchtiges Lächeln aufsetzte.

»Zwei Worte«, sagte Ruth. »Werd erwachsen.«

Auch wenn dieser spitze Ratschlag – so es denn einer war – gesessen hatte, ganz unerwartet kam er nicht. Wie oft hatte er in den letzten Jahren erlebt, dass diese Frau seinem Vater die Meinung gegeigt hatte. Wie auch immer – was bringt es, dachte er, sich über sie zu ärgern? Schließlich war es nicht Ruths Schuld, dass er zu lange gewartet hatte, um sich aus dem Staub zu machen. Und wenn er ehrlich war, hätte er ohnehin nicht mehr allzu lange in New York bleiben können. Die steigenden Mieten hätten seiner Existenz als umhertingelnder Lehrbeauftragter ohnehin bald ein Ende bereitet. Und auch wenn es stimmte, dass Sully in seiner Kindheit und Jugend nicht besonders präsent gewesen war, so hatte er ihm an jenem denkwürdigen Thanksgiving vor vielen Jahren ein Rettungsseil zugeworfen, als Peter, seine Ehe in Trümmern, zurück nach Bath geschlichen war, ohne zu wissen, was er mit seinem restlichen Leben anfangen sollte. Schlimmer noch: Er hatte das Rettungsseil ergriffen und dann wegen seiner zu Ende gegangenen akademischen Karriere ungerechterweise einen Groll gegen Sully gehegt, obwohl er selbst sie vermasselt hatte. Also rief er Ruth am nächsten Morgen an und sagte ihr, er werde so bald wie möglich seine Zelte in New York abbrechen und nach Bath zurückkehren. »Aber würdest du mir einen Gefallen tun? Sag ihm nicht, dass ich komme, okay?«

»Okay«, erwiderte sie. »Würde es dir was ausmachen, mir den Grund zu verraten?«

»Ja, würde es.« Etwa weil seine Rückkehr nach Bath zahlreiche Schritte erfordern würde – so musste er seine Kurse zu Ende bringen, Noten einreichen, sich von den verschiedenen Institutionen, an denen er gelehrt hatte, verabschieden, einen Lkw mieten, um das ganze Zeug, das er in der Stadt angesammelt hatte, zu transportieren, Freunden Auf Wiedersehen sagen. Wer weiß, dachte er, wie viel Zeit das alles in Anspruch nehmen wird. Vor allem würde er eine Weile brauchen, um sich mit dem Umzug abzufinden. Er wollte nicht mit einem Gefühl des Bedauerns nach Bath zurückkommen und mit der Entscheidung hadern, die er selbst getroffen hatte.

Überraschenderweise war dann alles viel glatter gelaufen, als er erwartet hatte, und so schlenderte er nach nicht einmal einem Monat ins Hattie’s hinein und rutschte auf den freien Barhocker neben seinem Vater, der ihn, in den Sportteil der Zeitung vertieft, nicht sofort bemerkte. Es war noch nicht so lange her, dass Peter ihn zuletzt – an Weihnachten – gesehen hatte, aber es schien, als wäre sein Vater in den vergangenen Monaten plötzlich zu einem alten Mann geworden, sein Haar und seine drahtigen Bartstoppeln grau, seine Augen feucht.

Als er schließlich bemerkte, wer neben ihm saß, faltete Sully die Zeitung zusammen, legte sie auf den Tresen und sagte: »Du kommst wie gerufen. Du kannst mich zu Rub rüberfahren.«

Wäre es nicht sein Vater gewesen, der das sagte, hätte Peter angenommen, dass Ruth ihr Versprechen gebrochen und Sully auf das bevorstehende Eintreffen seines Sohnes vorbereitet habe, aber nein, das war sein Vater, wie er leibte und lebte. Eines der vielen Dinge, die einen an Sully verrückt machen konnten, bestand darin, dass er nicht so recht an eine Welt außerhalb von Schuyler County zu glauben schien. Trotz Peters Abwesenheit hatte er nie ganz akzeptiert, dass sein Sohn weggezogen war und nun in New York lebte. In seiner Vorstellung war sein Sohn irgendwie die ganze Zeit über immer vor Ort gewesen, nur dass sich ihre Wege nie gekreuzt hatten. Und nun war Peter hier, was bewies, dass er recht gehabt hatte. Daher kein Hallo, schön, dass du da bist. Lange nicht gesehen. Einfach nur: Hier bist du ja. Gut. Ich habe eine neue Aufgabe für dich.

»Erinnerst du dich an seine Frau, Bootsie?«, fragte Sully. »Sie ist vergangene Woche gestorben. Hast du davon gehört?«

»Ich fürchte, die Nachricht hat es nicht in die New Yorker Zeitungen geschafft, Dad.«

»Sie hatte einen Herzinfarkt, als sie aus der Badewanne gestiegen ist.«

Ja, Peter erinnerte sich an sie. Eine irrsinnig dicke Frau. Mindestens hundertfünfzig Kilo schwer.

Sein Vater las seine Gedanken. »Ich weiß. Die Frage ist: Wie ist sie überhaupt in die Wanne reingekommen?«

»Das habe ich gar nicht gedacht«, log Peter.

»Klar, hast du«, sagte Sully. »Und weißt du, was du noch gedacht hast?«

»Nein, was?«

»Dass es einen Mordsradau gemacht haben muss, als sie zu Boden ging.«

Das stimmte. Genau das hatte Peter gedacht. Sully legte ein paar Geldscheine auf die Untertasse mit dem Kassenbon, damit sie gleich gehen konnten.

»Hast du was dagegen, wenn ich zuerst noch eine Tasse Kaffee trinke?« Janey, Ruths Tochter und mittlerweile die Inhaberin des Lokals, hatte ihn hereinkommen sehen und schenkte ihm bereits eine Tasse ein.

»Schau mal, wen wir da haben«, sagte Sully zu ihr und ließ schließlich doch noch milde Überraschung erkennen angesichts von Peters unerwartetem Erscheinen auf dem Barhocker neben sich.

Janey stellte eine dampfende Tasse Kaffee vor Peter hin und nickte. »Mein persönlicher Favorit unter all deinen Kindern«, sagte sie todernst.

Während er seinen Kaffee aufpeppte, fragte Peter: »War die Beerdigung schon?«

»Ja, gestern.«

»Der arme Rub«, sagte Peter. Der Kerl hatte ihm schon immer leidgetan, dieser unglückselige Tropf, der Sullys unablässiger Hänselei völlig hilflos ausgeliefert war. »Wie geht es ihm?«

Sein Vater zuckte die Schultern. »Wie würde es dir an seiner Stelle gehen?«

Wieder stellte sich Peter die Frau vor, und wieder las sein Vater seine Gedanken. »Sie war eigentlich ganz nett, wenn man sie ein bisschen näher kannte.«

»Das glaube ich gern.«

»Und mit Rub verheiratet zu sein, war bestimmt nicht einfach«, fügte Sully hinzu.

»Na ja, du musst es ja wissen«, erwiderte Peter grinsend. Denn wenn Rub in den letzten dreißig Jahren mit jemandem verheiratet gewesen war, dann mit Sully. Nachts ging er meistens erst dann nach Hause zu Bootsie, wenn Sully es ihm befahl.

Jetzt musterte ihn Sully, allem Anschein nach endlich bereit, die Tatsache, dass er da war, zu würdigen. »Okay«, sagte er, »was ist los?«

»Wie – was ist los?«

»Was ist los, dass du hier bist?«

Peter trank einen Schluck Kaffee. Dieses Geplänkel, merkte er, machte ihm Spaß. »Ich wohne hier.«

»Seit wann?«

»Noch nicht lange. Seit ein paar Tagen. Und nicht genau hier. Ich habe eine Wohnung in Schuyler gemietet.«

Sully kratzte sich nachdenklich die Bartstoppeln. »Warum?«

»Weil es mir in Schuyler gefällt? Weil dort mehr los ist? Hin und wieder möchte ich gern ins Kino gehen oder Livemusik hören.« Er senkte die Stimme. »Und guten Kaffee trinken.«

»Ja, aber du könntest umsonst in Miss Beryls Haus wohnen«, sagte sein Vater. Peter musste immer lächeln, wenn sein Vater das sagte. Das Haus gehörte ihm jetzt schon seit zwanzig Jahren.

»Im Vergleich zu Brooklyn«, erklärte Peter, »wohne ich zurzeit praktisch kostenlos.«

»Wie du meinst«, sagte Sully. »Ich biete es dir ja nur an. Die obere Wohnung steht leer. Wenn du möchtest, gehört sie dir. Oder wenn dir die untere lieber ist, könnte ich auch wieder hochziehen. Mir ist es egal.«

Peter wusste allerdings, dass es ihm nicht egal war. Sully war widerstrebend hinuntergezogen, weil ihm das Treppensteigen zu anstrengend geworden war.

»Nein, Schuyler passt mir gut«, sagte Peter. »Im Übrigen habe ich den Mietvertrag schon unterschrieben.«

Misstrauisch geworden, sah Sully ihn an. »Woher kommt dein plötzlicher Sinneswandel? Ich meine mich zu erinnern, dass du gesagt hast, sobald Will seinen Abschluss hat und zum Promovieren woandershin zieht, bist du fertig mit diesem Ort.«

»Stimmt, aber ich habe gehört, du brauchst einen Chauffeur.«

»Aha. Dann hat dir also jemand von meinem kleinen Unfall erzählt?«

»Ich habe nur gehört, dass du einen hattest. Was genau ist passiert?«

Sully zögerte, überlegte wohl, so vermutete Peter, wie er etwas, das nur ihm passierte, so darstellen konnte, als könnte es jedem passieren. »Du weißt doch, dass der Parkplatz hinter dem Horse zum Wald hin abfällt?«

Peter rief sich den Parkplatz vor Augen. »Komm schon. Es gibt dort doch Betonbarrieren.«

»Sie haben gesagt, ich bin über eine drübergefahren.«

»Hast du sie nicht gesehen?«

»Ich habe beim Anfahren in die andere Richtung geschaut.«

Peter versuchte, sich das vorzustellen. »Das heißt … bei deinem Pick-up war der Rückwärtsgang eingelegt?«

»Na ja, so erkläre ich es mir jedenfalls«, sagte Sully kleinlaut. »Wie sonst hätte der Truck mit dem Hinterteil in einen Baum krachen können?«

Peter rieb sich die Schläfen. »Du lieber Himmel.«

»Was? Hast du noch nie einen Fehler gemacht?«

Doch, hätte er gern gesagt, jetzt gerade zum Beispiel? Dass ich hierher zurückkomme und mich wieder in die Sully-Welt hineinziehen lasse? Könnte das vielleicht als Fehler durchgehen?

»Okay, dann bist du also wieder da«, fuhr Sully fort. »Und weißt du schon, was du beruflich machen wirst?«

»Unterrichten.«

»Wo?«

»Am SCCC.« Ein Freund vom Edison College hatte ihm von der kürzlich ausgeschriebenen Stelle berichtet, als er ihn angerufen hatte, um herauszufinden, ob es eine Möglichkeit gab, seinen alten Job zurückzubekommen. Diese andere Gelegenheit beim Community College war jedoch besser, da es sich um eine Vollzeitstelle mit Sozialleistungen handelte. »Ich bin der neue Anglistik-Fakultätsleiter.«

»Das hätte deine Mutter gefreut.«

»Nein«, sagte Peter. »Wenn es der Anglistik-Lehrstuhl in Yale wäre, hätte sich meine Mutter gefreut.«

»Warum erzählst du mir erst jetzt davon?«

»Warum hast du mir nicht von deinem Unfall erzählt?«

Da er darauf keine Antwort hatte, kramte Sully ein paar zusätzliche Dollar aus der Jackentasche, um Peters Kaffee zu bezahlen, und warf sie auf den Kassenbon. Janey kam vom anderen Ende des Tresens zu ihnen herüber. »Ab jetzt zwei Sullivans hier?«, fragte sie. »Gott steh uns bei.«

Sully rutschte von seinem Barhocker herunter. »Sag deiner Mutter, ich hab ein Wörtchen mit ihr zu reden. Vor allem darüber, warum sie ihre Klappe nicht halten kann.«

»Ich werd’s ihr sagen, aber ich fürchte, es wird nicht gut für dich ausgehen«, sagte Janey. Sie sah Peter mit hochgezogener Augenbraue an, der ihr aus ganzem Herzen zustimmte.

Draußen ließ Sully kurz den Blick über die am Randstein parkenden Autos schweifen, um herauszufinden, welches davon seinem Sohn gehören könnte. »Der hier«, sagte Peter, während er mit der Fernbedienung den Audi A6 öffnete, für den er vor ein paar Tagen bei einem Gebrauchtwagenhändler in Schuyler viel zu viel Geld bezahlt hatte.

Sein Vater stieg ein, musterte das Wageninnere, schob den Beifahrersitz zurück, um das Bein mit dem kaputten Knie ausstrecken zu können. »Ich war im Krieg gegen Deutschland, weißt du.«

»Ach ja?« Peter drehte den Zündschlüssel um. »Und wer hat gewonnen?«

»Ich«, sagte sein Vater, während der Motor des Audis stotternd ansprang. »Aber eine Zeit lang war es eine knappe Sache.«

Achtzehn Monate. Freilich wusste keiner von beiden, dass dies die Zeitspanne war, die ihnen noch bleiben sollte. Achtzehn Monate, bis Peter eines Morgens ins Hattie’s kam und Janey ihm sagte, Sully habe keine Lust mehr gehabt, auf ihn zu warten, und sei die Straße zum Wettbüro hinaufgehumpelt, um seine tägliche Dreierwette abzugeben. Als Peter dort eintraf, saß Sully draußen auf der Bank und studierte die Ranglisten. Oder besser gesagt: Das hatte er allem Anschein nach getan, ehe sein Herz den Dienst versagt hatte.

Achtzehn Monate. Kaum genügend Zeit für Sully, um Peter begreiflich zu machen, dass er nicht nur Miss Beryls Haus und das Sparkonto seines Vaters erben würde.

Dazu stehen

»Und? Wie fühlt es sich an?«, fragte Dr.Qadry, während sie Raymer mit ihren blassblauen Augen ansah. »Gestern war doch Ihr letzter Arbeitstag, richtig?«

Richtig. Tatsächlich hatte es ein Foto von ihm sogar auf die Titelseite der Tageszeitung geschafft, und die Überschrift lautete: »Eine Ära geht zu Ende«. Die Aufnahme zeigte ihn, wie er inmitten von Umzugskartons an seinem Schreibtisch saß. Hinter ihm an der Wand hing ein gerahmtes Zitat, das leider gut zu lesen war: »Wir sind erst zufrieden, wenn Sie nicht zufrieden sind.« Sein Urheber? Douglas Raymer, Polizeichef von North Bath, 1989.

Was der Satz ausdrückte, war natürlich das genaue Gegenteil von dem, was Raymer hatte sagen wollen. Bürgermeister Gus Moynihan hatte ihm seinerzeit gesagt, dass er einen Wahlkampfslogan benötige, einen kernigen Spruch, kurz genug, um auf eine Visitenkarte zu passen, und etwas Besseres als »Wir sind erst zufrieden, wenn Sie zufrieden sind« war ihm nicht eingefallen. Noch immer war ihm schleierhaft, wo dieses überflüssige »nicht« hergekommen war. Der Drucker hatte Stein und Bein geschworen, dass sie genau das, was er geschrieben habe, auf die Karte gedruckt hätten. Schließlich liege es in Raymers Verantwortung, zu sagen, was er meine, und nicht in ihrer, es herauszufinden. Dieselbe Position hatte auch seine Englischlehrerin in der achten Klasse vertreten. (Seine Gedanken waren gut gemeint, aber ungeordnet gewesen, sein Schreibstil nachlässig – ein Manko, das seine anderen Lehrer nicht gestört zu haben schien, aber Beryl Peoples sehr wohl. »Sage, was du meinst!«, pflegte sie an den Rand seiner Schularbeiten zu schreiben. »Meine, was du sagst! Du sollst nicht annehmen! Lies deine Texte Korrektur!«) Was Letzteres betraf, so hatte die Druckerei ihm durchaus die Gelegenheit dazu gegeben, aber er hatte offenbar nicht ausreichend Gebrauch davon gemacht. Er erinnerte sich noch, dass er kurz bei dem Wort »Sie« verweilt hatte. Sollte es im Plural nicht kleingeschrieben werden? Aber nein, natürlich nicht, »Sie« war absolut korrekt. (Wieder dachte er an Miss Beryl und daran, wie sie ihn bei gewissen wiederkehrenden grammatischen Problemen so lange korrigiert hatte, bis er es endlich begriff.) Jedenfalls hatte er das überflüssige »nicht« irgendwie übersehen. Leider übersahen es auch die ersten circa fünfzig Wähler, an die er seine Karten ausgeteilt hatte, doch irgendwann bemerkte es jemand, und er wurde über Nacht berühmt. Die Menschen sprachen ihn auf der Straße an und hinterließen ihm Nachrichten auf seinem privaten Anrufbeantworter. Selbst auf der Titelseite der Zeitung wurde sein Fauxpas kurz erwähnt. »Endlich einmal ein ehrlicher Polizist«, meinte der scharfzüngige Kolumnist. Und die Leute hatten es nicht vergessen. Dr.Qadry erinnerte sich noch ein Jahrzehnt später an den Vorfall, als er zum ersten Mal ihre Praxis aufsuchte, und sie war es auch, die vorschlug, das Zitat rahmen zu lassen und es in seinem Büro aufzuhängen. Auf diese Weise, argumentierte sie, stehe er zu dem Zitat.

Überhaupt hob Dr.Qadry immer wieder darauf ab, wie wichtig es sei, zu gewissen Dingen »zu stehen«. In den sporadischen Therapiesitzungen bei ihr tauchte dieser Ausdruck wieder und wieder auf. Jeder mache Fehler, sagte sie gern, aber gehe es einem nicht besser, wenn man sie sich eingestehe? Wenn man zu einer Fehlleistung stehe, könne man sie wirksam neutralisieren, behauptete sie, und ihr so die Macht entziehen, einen zu verletzen. Mehr noch, er zeige auf diese Weise der ganzen Welt, dass er über sich selbst lachen könne, und nehme dadurch Leuten, die über ihn spotteten, den Wind aus den Segeln. Für Raymers Empfinden hinkte dieses Argument jedoch. Erstens machte nicht jeder Fehler. Dr.Qadry zum Beispiel. Seit etwa zehn Jahren ging er zu ihr, und er hatte nicht ein einziges Mal erlebt, dass sie irgendetwas Dummes gesagt oder getan hatte. Sie schien die Fähigkeit zu besitzen, ihre Worte zu redigieren, noch ehe sie ihr über die Lippen kamen. Und zweitens, stimmte es wirklich, dass das Lachen über sich selbst andere Menschen davon abbrachte, sich über einen lustig zu machen? Raymers Erfahrung nach stimmte es nicht, und er hatte reichlich davon. Nicht dass er es je ausprobiert hätte, aber wenn man wirklich wollte, dass die Leute nicht mehr über einen lachten, täte man dann nicht besser daran, ihnen eine zu langen? Das würden sie nicht so schnell vergessen.

Aber was wusste er denn schon? Vielleicht hatte Dr.Qadry ja doch recht. Jedenfalls war sie eine kluge Frau, und er war sich sicher, dass sie es gut meinte. Er konnte selbst nicht so recht sagen, warum er ihre Ratschläge fast nie befolgte, falls das, was sie ihm sagte, überhaupt Ratschläge waren. (Sie sagte nie: So, ich sage Ihnen jetzt, was Sie tun müssen, oder: Versuchen Sie es doch mal so.) Ihre Empfehlungen waren oft äußerst theoretisch. Nicht nach dem Muster Lassen Sie es sich von jemandem gesagt sein, der weiß, wovon er spricht, denn das hätte ja eine gemeinsame Erfahrung vorausgesetzt, ein tiefes Verständnis für Idiotie. Eher schien sie ihm sagen zu wollen: Sehen Sie, das habe ich mal in einer Fachzeitschrift gelesen. Ich hatte noch keine Gelegenheit, es selbst zu versuchen, aber wer weiß, vielleicht funktioniert es ja. War das der Grund, warum er so viele ihrer Vorschläge kurzerhand in den Wind schlug?

Wobei sein größter Fehler natürlich darin bestanden hatte, Charice von ihrer Anregung bezüglich »Wir sind erst zufrieden, wenn Sie nicht zufrieden sind« zu erzählen, die sofort losgegangen war und sie in die Tat umgesetzt hatte, ohne es mit ihm abzusprechen. »Und rühr es nicht an«, warnte sie ihn, nachdem sie das gerahmte Zitat an die Wand gehängt hatte. »Das ist mein Geschenk an dich.«

»Aber …«, begann Raymer.

»Was: aber?«, fragte Charice, die Hände in die Hüften gestemmt – eine Warnung an ihn, ja nichts Dummes zu sagen, eine Warnung, der er nie widerstehen konnte.

»Aber … wenn’s ein Geschenk ist, gehört es dann nicht mir? Kann ich dann nicht damit tun, was ich will?«

Zusammengekniffene Augen. »Was zum Beispiel?«

»Nun … zum Beispiel, es mit der Vorderseite nach unten in einer Schreibtischschublade einschließen?« Denn genau das war das Problem: Das meiste dessen, wozu er, wenn es nach den beiden Frauen ging, stehen sollte, würde er am liebsten verleugnen. Es gab sogar Zeiten, in denen er gern sein ganzes Selbst verleugnen würde, wenn so etwas möglich wäre. Weil die beiden so oft einer Meinung waren über das, was ihm zu schaffen machte und was er dagegen tun sollte, fragte er sich bisweilen, ob sie unter einer Decke steckten. War es denkbar, dass Charice nach seinen Therapiesitzungen Dr.Qadry anrief, um herauszufinden, worüber sie geredet hatten? Natürlich wäre es ein Verstoß gegen die Schweigepflicht von Psychotherapeuten, aber die Tatsache, dass sie sich so oft einig waren, legte die Vermutung nahe, dass sie ihn gemeinsam in die Zange nahmen.

»Weißt du, was ich denke?«, wollte Charice eines Tages wissen, als er meinte, er halte die meisten von Dr.Qadrys Ratschlägen für reichlich exzentrisch. »Ich glaube, dass eine Therapie in deinem Fall Zeitverschwendung ist.«

Dem konnte Raymer nicht widersprechen. Seine Sitzungen bei Dr.Qadry waren zwar recht angenehm, aber nutzten sie ihm auch? Der Grund, warum er weiterhin zu ihr ging, war, dass er sie ganz gern mochte; außerdem bezahlte die Stadt North Bath den Großteil ihres Honorars. Im Übrigen holten ihn diese Sitzungen hin und wieder hinter seinem Schreibtisch hervor. Auch wollte er Dr.Qadrys Gefühle nicht verletzen, indem er ihr sagte, dass die Therapie zu nichts führe, schien sie doch vom Gegenteil überzeugt zu sein. Häufig sah sie ihn gegen Ende einer Stunde ernst an und sagte: »Ich glaube, wir haben heute Fortschritte gemacht«, woraufhin er pflichtschuldig antwortete: »Ich glaube auch«, während er am liebsten gesagt hätte: Was für Fortschritte? War es möglich, dass sie vielleicht doch vorankamen und er es nur nicht mitbekam? Warum konnte sie ihm nicht sagen, worin diese angeblichen Fortschritte bestanden, damit er sich selbst eine Meinung bilden konnte?

»Wie wäre es, wenn du, anstatt all ihre Ratschläge zu ignorieren«, sagte Charice, die sich, wie nicht anders zu erwarten, auf Dr.Qadrys Seite schlug, »zur Abwechslung mal auf diese Frau hören würdest? Du hast nun mal dieses Problem«, fuhr sie fort und deutete auf das gerahmte Zitat, als wäre es ein Beweis, »und sie versucht, dir dabei zu helfen, aber du lässt es nicht zu.«

»Was für ein Problem?«, fragte er, nicht weil er etwa glaubte, keins zu haben, sondern weil es ihn interessierte, welches genau Charice mit solcher Sicherheit ausgemacht haben wollte. Dass er besser Korrektur lesen sollte? Dass er in der Regel selbst sein ärgster Feind war?

»Dein Problem ist«, erklärte sie, »dass du glaubst, du könntest beeinflussen, wie andere dich sehen. Aber das kann niemand.« Sie machte eine Pause, um ihre weisen Worte bei ihm sacken zu lassen. Raymer kannte Charice zu gut, um anzunehmen, dass sie fertig sei, also wartete er darauf, dass sie die Katze aus dem Sack ließ. »Und am wenigsten du.«

Herrje, wie er sie vermisste.

»Haben Sie sich schon Gedanken über die nächsten Schritte gemacht?«, wollte Dr.Qadry wissen. Sie meinte seine Zukunftspläne. Nun, da eine Ära zu Ende ging.

»Nicht wirklich«, sagte Raymer. Das war gelogen. Seit Wochen dachte er an kaum etwas anderes. Früher hatte er sich Sorgen gemacht, weil er in diesen Sitzungen so häufig log. Denn welchen Sinn ergab es, zu einem Arzt zu gehen, wenn man nicht ehrlich in Bezug auf die Symptome war? Einmal hatte er dieses Thema sogar indirekt gegenüber Dr.Qadry zur Sprache gebracht, indem er sie fragte, woran sie merke, ob ihre Patienten die Wahrheit sagten, und ihre Antwort hatte ihn überrascht. Es spiele vermutlich keine Rolle, meinte sie, weil unehrliche Antworten genauso erhellend sein könnten wie wahrheitsgetreue, manchmal sogar erhellender. »Für mich ist es nicht wirklich wichtig, zu wissen, ob Sie mir die Wahrheit sagen«, meinte sie, womit sie das Thema von der hypothetischen Ebene herunterholte. »Aber für Sie ist es wichtig.« Was bei ihm die Frage aufwarf, und zwar nicht zum ersten Mal, wofür genau er (und die Stadt North Bath) sie eigentlich bezahlte. Sich selbst konnte er gratis belügen.

»Also kommt es für Sie nach wie vor nicht infrage, bei der Polizei von Schuyler zu arbeiten?«, fragte sie jetzt. »Können Sie mir nochmals erklären, warum Sie das nicht wollen?«

»Nun, dort hat man ja bereits eine hervorragende Polizeichefin«, sagte er, was ein süffisantes Lächeln hervorrief.

»Müssen Sie unbedingt derjenige sein, der das Sagen hat?«

»Nein, nicht unbedingt.« Wobei in diesem speziellen Fall …

»Hätten Sie Probleme damit, die Befehle einer Frau zu befolgen?«

»Nein, natürlich nicht«, sagte er, als wäre diese Annahme beleidigend für ihn. Aber erneut, in diesem besonderen Fall …

Dr.Qadry lächelte. Sie sagte nichts. Das war, so vermutete er, ihre Art, ihn daran zu erinnern, dass sie ihn keineswegs gefoppt hatte. Es machte ihr wirklich nichts aus, wenn er sie anlog.

Aber log er sie tatsächlich an? Hatte er nicht auch Bürgermeister Moynihan dessen ewige Ratschläge und Einmischung in die Angelegenheiten der Polizei übel genommen, schon lange vor dem Fiasko mit den Visitenkarten? Und was war mit Richter Flatt gewesen? Hatte sich Raymer nicht über jeden herabsetzenden Kommentar seines alten Erzfeindes geärgert? »Sie wissen, warum ich es für keine gute Idee halte, Schwachköpfen eine Waffe in die Hand zu geben«, hatte er einmal von seiner Richterbank herab gesagt, nachdem Raymer, damals noch ein junger Polizist, aus Versehen einen Schuss aus seiner Waffe abgegeben hatte und die auf Abwege geratene Kugel beinahe eine alte Frau getroffen hätte, die einen halben Häuserblock entfernt auf der Toilettenschüssel gesessen hatte. »Wenn man einen bewaffnet, muss man sie der Fairness halber alle bewaffnen.« In Sachen Autorität empfand sich Raymer als genderneutral: Er war nachtragend gegenüber Männern und Frauen.

Doch als er jetzt darüber nachdachte, kam er zu dem Schluss, dass Dr.Qadry vielleicht auf etwas ganz Bestimmtes hinauswollte. Es stimmte schon, dass er einen wohlmeinenden Rat nicht immer als solchen erkannte, wenn er von einer Frau kam. Das hatte er sogar schon zugegeben, als sie in einer ihrer ersten Sitzungen auf seine Mutter zu sprechen gekommen waren. (Natürlich war dieses Thema zur Sprache gekommen. Gäbe es ohne Mütter überhaupt Therapien?) Raymers Mutter war eine ständig in Angst lebende Frau gewesen, die als Kind hatte mit ansehen müssen, wie ihr Vater, ein Dieb, von der Polizei verhaftet worden war. Nie machte sie einen Hehl aus ihrer Furcht, dass Raymer das Dieb-Gen ihres Vaters geerbt habe und irgendwann ein ähnliches Schicksal erleiden würde. Selbst seine Entscheidung, in der Strafverfolgung zu arbeiten, konnte die Frau nicht gänzlich von der Vorstellung befreien, er könne womöglich eine kriminelle Laufbahn einschlagen und genau wie sein Großvater in Handschellen auf der Rückbank eines Streifenwagens enden. Folglich hatte er von früher Kindheit an gelernt, niemals dem Rat seiner Mutter zu trauen. War es möglich, dass seine Beziehung zu ihr irgendwie die späteren Beziehungen zu anderen Frauen in seinem Leben getrübt hatte? Wieder musste er an Miss Beryl denken, seine Lehrerin in der achten Klasse, die die vielen Kämpfe, die er sowohl zu Hause als auch in der Schule ausfocht, intuitiv erfasst zu haben schien. Sie hatte versucht, ihm zu helfen, indem sie ihm Bücher schenkte, von denen sie glaubte, sie würden ihm zusagen und er würde sich nach der Lektüre vielleicht weniger einsam in der Welt fühlen. Damals hatte er nicht verstanden, dass sie einfach nur nett zu ihm sein wollte. Tatsächlich war er jedem ihrer Geschenke gegenüber misstrauisch gewesen, sicher, dass die alte Dame irgendeinen Hintergedanken verfolgen müsse, auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, was für einer es sein mochte. Vielleicht lag es an den Büchern, die sie für ihn auswählte. Warum schenkte sie ihm ausgerechnet Große Erwartungen? Wollte sie ihn erschrecken? Denn genau das hatte das Buch bewirkt. Diese düsteren Szenen im Marschland, in denen der entflohene Sträfling Magwitch dem jungen Pip so viel Angst einjagte: Eine Woche lang hatte Raymer Albträume davon gehabt. Überzeugt, Magwitch würde, obwohl in Ketten abgeführt, zurückkommen und Pip erneut bedrohen, ihn möglicherweise sogar ebenfalls zu einem Kriminellen machen, hatte Raymer die Lektüre abgebrochen und das Buch ganz hinten im Schrank versteckt, damit seine Mutter es nicht finden und ihn des Diebstahls bezichtigen konnte. Es war, als hätte Miss Beryl tief in seine Seele geblickt und wäre zu dem Schluss gekommen, dass seine Mutter recht hatte. Er würde als Krimineller enden, und deswegen hatte sie ihm diesen Paraderoman von Dickens geschenkt, um ihn vielleicht doch noch auf den rechten Pfad zu lenken. Hatten diese prägenden Erlebnisse mit Frauen ihn für immer verdorben? War er nach wie vor, selbst als Mann in mittleren Jahren, misstrauisch gegenüber klugen Frauen wie Charice und Dr.Qadry?

»Und?«, sagte Letztere jetzt. »Sind Ihre Pläne, von hier wegzuziehen, weiterhin aktuell?«

»Keine Ahnung«, erwiderte er. »Ich glaube schon. Ich wüsste nicht, was mich hier noch hält.« Wobei in Wahrheit alles ihn hier hielt.

Dr.Qadry, die erstaunt wirkte, schien sich seine Antwort durch den Kopf gehen zu lassen und blätterte dann in ihren Notizen der vorangegangenen Sitzungen. »Beim letzten Mal sagten Sie, dass es wahrscheinlich an der Zeit sei, etwas Neues zu beginnen, aber ich glaube, Sie bezogen das auf Ihr Liebesleben.«

Okay, dachte Raymer, jetzt geht das